Die Träume des Jonathan Jabbok - Ralf Isau - E-Book
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Die Träume des Jonathan Jabbok E-Book

Ralf Isau

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Beschreibung

Im ersten Teil der »Neschan«-Triologie von Ralf Isau dreht sich alles um Jonathan. Jonathan gilt als Einzelgänger, der sich am liebsten in seine Bücher vergräbt. Niemand ahnt, dass er in seinen Tagträumen in eine fantastische fremde Welt wandert, in der er unzählige Abenteuer erlebt: Die Welt Neschan ist ein geheimes, von erbarmungslosen Feinden bedrohtes Reich. Dort lebt er als Junge namens Yonathan. Nach und nach bemerkt er aber, dass er sich mit jeder Abenteuerreise in seiner anderen Existenz weiter von der Realität entfernt. Aber hat er eine Wahl? Schließlich ist Yonathan auserwählt, eine alte Prophezeiung zu erfüllen: Er soll den Haschevet, einen geheimnisvollen Stab, in den Garten der Weisheit bringen – und ist somit der Einzige, der es verhindern kann, dass die bösen Mächte Neschan in ewiger Finsternis versinken lassen ... »Wenn Freunde des fantastischen Genres großen Appetit haben, sind sie mit Ralf Isaus gewichtigem Dreiteiler gut bedient.« (Süddeutsche Zeitung) Der Auftakt zu vielgelobten »Neschan«-Triologie von Autor Ralf Isau.

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Seitenzahl: 636

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Ralf Isau

Die Träume des Jonathan Jabbok

Fantastischer Roman – Teil 1 der Neschan-Trilogie

Roman

Für Mirjam Bithja Labsal für den Geist, damit er nie versage. Balsam für das Herz, auf dass es immer schlage. Feuer für die Liebe, möge sie nie erkalten. All das, so wünsch ich mir, möcht ich für Dich erhalten.

Prolog

Die Tränenland-Prophezeiung

(aus dem Buch Yenoach, 1. Buch der Richter Neschans)

„… Yehwohs Bote nahm mich mit sich und führte mich in ein fremdes Land. Auch sprach er zu mir: ‚Alles, was du siehst, schreibe auf, es ist ein Spiegel künftiger Dinge.‘

So wandte ich meine Aufmerksamkeit dem Land zu, in das der Bote mich geführt, und siehe, da war ein König. Er regierte sein Volk nicht nur mit Macht, sondern auch in Weisheit, mit Liebe und in Gerechtigkeit, so dass es glücklich war unter seiner Herrschaft.

Und ich hörte die Stimme des Königs, der sprach: ‚Das Land ist groß und das Volk ist zahlreich geworden. Ich will die Menschen fragen, ob es ihnen gut ergeht unter den Fürsten, die ich über sie bestellt habe.‘

So rief der König Boten aus allen Völkern zu sich, und sie erstatteten ihm Bericht. Neunundsechzig gaben ein gutes Zeugnis, und der König freute sich über den Wohlstand seiner Untertanen. Dann aber erschien der siebzigste und fiel ihm zu Füßen. ‚Mein König!‘, rief er mit klagender Stimme. ‚Der Fürst, den du uns gabst, behandelt uns schlecht. Unser Land leidet Not, und kein Reisender kann den Bezirk unbeschadet durchqueren, weil der nichtsnutzigen Männer viele geworden sind.‘

Und der König wurde zornig, als er den ganzen Bericht gehört hatte, und er hob an und sprach: ‚Ich will einen Verwalter zum Fürsten eures Landes senden, mit meinem Zepter in der Hand, damit eine jede Seele ihn erkenne. Er soll meinen Gesetzen Recht verschaffen und den Fürsten tadeln, auf dass er umkehre von seinem verkehrten Wege. Auch will ich sieben Wachttürme errichten lassen, damit ihre berittenen Posten das Land reinigen von allen schadenstiftenden Männern. Den Bezirk aber werde ich Tränenland nennen, weil ich meine Tränen vergossen habe, wegen all der Abscheulichkeiten darin. Erst, wenn euer Gebiet wieder eins ist mit meinem übrigen Reich und wenn es wieder Frieden hat von all der Bedrückung, werde ich ihm einen neuen Namen verleihen, und es wird genannt werden Land des Trostes.‘

Alsdann sandte der König seinen Verwalter in die besagte Gegend, einen Mann von treuem Herzen und starker Hand. Er baute die Wachttürme und tat nach allem, was der König geheißen hatte. Der Fürst des Bezirks war jedoch weiterhin böse in allen seinen Taten, und er achtete nicht auf die Anordnungen des königlichen Verwalters, so dass das Volk nicht vollends Ruhe fand und es entzweit blieb, zwischen seinem König und dem Fürsten des Tränenlandes.

So beschloss der König einen anderen Verwalter zu schicken. ‚Vielleicht werden sie auf diesen eher hören als auf den ersten‘, sagte er sich.

Aber weder der zweite, noch vier weitere, die der König hinsandte, konnten das ganze Volk zur Umkehr bewegen. Es blieb gespalten, denn der untreue Fürst verschaffte sich zahlreiche Anhänger durch Lüge und Bestechung.

Da erzürnte der König sehr und sprach: ‚Nicht mehr länger will ich mitansehen, wie dieser nichtsnutzige Knecht sich als Herr über mein Volk aufspielt und es dazu verleitet, das königliche Recht zu brechen. Ich will einen siebenten Verwalter auswählen, und obwohl noch jung an Jahren, wird er doch mit eisernem Stabe den Fürsten aus meinem Land vertreiben, auf dass das Volk umkehre und mir wieder mit ungeteiltem Herzen diene.‘

So füllte der König die Hand seines siebenten Verwalters mit Macht, worauf dieser auszog und den Fürsten in Ketten legte und ihn vor den Thron des Königs brachte, damit er Rechenschaft ablege, wegen all seiner Taten der Rebellion. Und der König verurteilte ihn und ließ ihn in einen tiefen Turm werfen.

Alsdann ging der König hin und sprach: ‚Von nun an wird mein Volk wieder Ruhe haben und ich werde meinen treuen Verwalter als Fürsten über das Land setzen, das nicht mehr länger Tränenland genannt werden soll; denn in meinen Tränen wurde es getauft, auf dass nun sein neuer Name Land des Trostes sei.‘ Und weil er wusste, dass das Volk den siebenten Verwalter besonders liebte, fügte er als Mahnung hinzu: ‚Sieben waren es, die euer Ungemach trugen und sieben, die dem Handeln des bösen Fürsten Einhalt geboten. Wie ein Haus mit sieben Flächen – einem Boden, vier Wänden und zwei schrägen Dachhälften – habe ich sie um euch gebaut. Wohl ist der siebente Verwalter das Fundament – und ohne Grundlage kann kein Haus im Sturm bestehen –, was aber nutzt ein starker Unterbau ohne Wände und Dach? Nur alle sieben können ein Ganzes bilden. Nur in der Einheit wird der Zweck vollkommen erfüllt.‘

Das Volk hörte die Worte des Königs und handelte freudig danach, denn das vereinte Wirken der sieben Verwalter war auch ein Vorbild für sie selbst. Nie wieder ließen sie sich spalten durch Neid und Eifersucht.

So hatte das Land fortan Frieden und die Menschen lebten wieder in Glück und Wohlstand. Der böse Fürst aber blieb bis zu seinem Tode gefangen, und kehrte nie mehr in das Land des Trostes zurück.“

Kapitel 1 Der Stab

O nein! Das durfte einfach nicht wahr sein. Was für ein Pech! Nein, was für eine Riesendummheit!

Yonathan gehörte zu den eher sanftmütigen und besonnenen Naturen, sonst hätte er sich jetzt wohl sämtliche Haare ausgerauft. So aber saß er da und zerbiss sich die Unterlippe, um nicht laut loszuschreien, aus Ärger und Wut über die eigene Gedankenlosigkeit.

Nachdem der erste Schmerz verflogen war, gelang es ihm, seine Situation klarer einzuschätzen: Er saß in einer dunklen, anscheinend geräumigen Grube.

Erst wenige Augenblicke zuvor war er aus dem Finkenwald herausgetreten. Der herrliche Anblick einer ihm bisher unbekannten Wiese hatte ihn unvorsichtig gemacht. Das kniehohe Gras war übersät von wunderschönen, bunten Wildblumen. Schmetterlinge schaukelten in der frischen Brise. Der blaue Himmel war zerzaust von Wolken, die in Yonathans Fantasie Gestalt annahmen: gewaltige Drachen, behäbige Elefanten, elegante Segelschiffe … Und während er so, die Hände in den Hosentaschen, über die Wiese geschlendert war, hatte sich plötzlich der Boden unter seinen Füßen aufgelöst.

Zum Glück war Yonathan unverletzt. Er hatte sich geistesgegenwärtig zur Seite rollen lassen. Jetzt saß er auf dem Grund des Erdloches, die Hände auf den Boden gestützt und den Blick nach oben zu der Öffnung gerichtet, die ihn so unerwartet verschluckt hatte. Wie durch ein Kerkerfenster konnte er hoch oben das Blau des Himmels im Wechsel mit dem zarten Weiß der eilig vorüberziehenden Wolken sehen; Wolken, die ihren Zauber für ihn nun verloren hatten. Yonathan dachte nur noch an eines: so schnell wie möglich wieder aus dieser muffigen Grube herauszukommen.

Er schätzte die Entfernung bis zum Rand des Loches – mindestens zehn Fuß, wahrscheinlich mehr. Mit seinen fast vierzehn Lebensjahren war er größer als die meisten seiner Altersgenossen. Immerhin maß er bereits fünfeinhalb Fuß – fast jedenfalls. Aber je länger er zu dem hellen Durchschlupf emporspähte, desto schmerzhafter wurde ihm bewusst, dass er es durch Springen allein nicht schaffen konnte. Was sollte er also tun?

Auf dem Boden fühlte er Humus und vermoderte Blätter. Diese lockere Schicht hatte seinen Sturz zum Glück abgemildert – sofern man in seiner Situation von Glück sprechen konnte.

Yonathan versuchte, die Wände des Erdloches zu erkennen. Vielleicht konnte er eine Stelle entdecken, die genügend Halt bot, um hinauf ins Freie zu klettern. Dumpfe Beklemmung stieg in ihm auf. Er sah nichts als Schwärze. Sollte dieser Raum mehr als eine Grube sein? Vielleicht befand er sich in einem riesigen Höhlensystem, einem lichtlosen Irrgarten. Andererseits, so machte er sich selbst Mut, konnte es ja sein, dass eine dieser unterirdischen Verästelungen an die Oberfläche zurückführte.

Yonathan begann mit der Suche nach einem Höhlengang. Er hob die Arme wie ein Schlafwandler und entfernte sich vorsichtig von dem Lichtkegel, der durch die Öffnung in der Höhlendecke fiel. Während er vielleicht sechzig oder siebzig Fuß weit durch die Dunkelheit tappte, wunderte er sich über den Boden, der – abgesehen von dem Humushügel unter dem Loch – ungewöhnlich eben war.

Konnte es sein, dass er in die Behausung irgendeines unbekannten Höhlenbewohners gestürzt war? Ein kalter Schauer lief ihm über den Rücken. Er schluckte. Schon oft hatte er im Finkenwald den Luchs und manchmal sogar den Bären beobachtet, wie sie auf ihrer Suche nach Beute von den Bergen herabkamen und sich den Siedlungen der Menschen näherten. Auch erzählte man sich allerlei Schauergeschichten von schrecklichen Ungeheuern, die in den Tiefen der Wälder ihr Unwesen treiben sollten. Freilich konnte kaum jemand im Dorf diese Bestien beschreiben. Und diejenigen, die behaupteten, einmal solche Wesen gesehen zu haben, wurden von den anderen als Wirrköpfe angesehen.

Der alte Navran Yaschmon, der Yonathan vor vielen Jahren in sein Haus auf den Klippen aufgenommen hatte, war einer von diesen Fantasten. Manche Leute im Dorf erzählten sich, er sei nicht mehr ganz richtig im Kopf. Andere wiederum sahen in ihm einen Weisen, suchten seinen Rat und behandelten ihn mit großer Ehrfurcht. Yonathan liebte den alten Yaschmon wie ein Sohn seinen Vater, und er wusste, dass dieses Gefühl auch erwidert wurde. Obwohl Navran Yaschmon selten viel redete, konnte er doch, einmal am Zuge, von den herrlichsten Abenteuern und schrecklichsten Ungeheuern erzählen, die ihm in seinem langen Leben begegnet waren.

Die Erinnerungen an Navran Yaschmons Erzählungen erwachten in Yonathans Fantasie zu neuem Leben. Er glaubte, einen eisigen Atem in seinem Nacken zu spüren und erstarrte, wagte kaum zu atmen. Angestrengt lauschte er in die Dunkelheit. Kein Laut war zu hören, kein Ungeheuer zu sehen. Langsam entspannte er sich wieder. Der kalte Lufthauch war wohl nur ein Windstoß gewesen, der sich in die Höhle verirrt hatte.

Yonathan atmete tief durch, dann machte er sich wieder an die Erkundung seiner neuen Umgebung. Nach drei oder vier Schritten fühlte er die Wand der Höhle. Sie war unangenehm feucht. Er ertastete Fels und starke, krumme Wurzelstränge – wahrscheinlich von der umgestürzten Eiche, die er beim Verlassen des Waldes auf der Wiese gesehen hatte.

Langsam tastete er sich an der Wand entlang. Mit den Füßen suchte er dicht über dem Boden nach einer Öffnung. Da das Loch in der Decke die Form eines Halbkreises beschrieb, konnte er den Fortschritt seines Erkundungsganges gut verfolgen. Seine Hände begannen zu schmerzen; die Felsen waren voller Ecken und Kanten. Bald war es gewiss: Er saß in der Falle.

Er fühlte Verzweiflung in sich aufsteigen. Doch er wendete sich in einem Stoßgebet an Yehwoh, den Vater aller Dinge. Vielleicht konnte er ihm helfen. Yonathan gehörte nicht zu den Menschen, die nur in Notfällen zu ihrem Gott beteten. Sein Verhältnis zu Yehwoh war wie zu einem Vater: respektvoll und freundschaftlich. Und in der Kraft und Ausgeglichenheit, die er aus den Gebeten schöpfte, erkannte er die Antwort seines Gottes.

So blickte er auch jetzt etwas ruhiger und gefasster auf den schwachen Lichtschimmer, der durch die Deckenöffnung zu ihm herabsickerte. Die Abenddämmerung. Wie die Zeit verging! Ob oben immer noch die Drachen, Elefanten und Segelschiffe über den Himmel zogen?

Jonathan zuckte zusammen. Er musste kurz eingenickt sein. Wie viel Zeit war vergangen? Draußen dämmerte es noch immer. Oder schon wieder?

Ihm war kalt, und er fühlte sich zerschlagen. Schwerfällig stellte er sich auf die Beine, massierte die steifen Glieder. Sein Magen knurrte.

„Wie komme ich hier nur heraus?“, fragte er laut. „Soll ich mit bloßen Händen einen Hügel aufhäufen, bis ich durch das Loch da oben hinausklettern kann?“ Wahrscheinlich würde er vorher verhungern.

Ein Lufthauch streifte seinen Nacken. Wieder musste er unwillkürlich an den kalten Atem eines hässlichen Erdbewohners denken. Aber bestimmt gab es eine vernünftige Erklärung für diesen Luftzug. Vielleicht befand sich ein Gang dicht unter der Decke, außerhalb der Reichweite seiner Hände und Füße.

Erneut machte er sich mit wunden Händen auf die Suche. Plötzlich fühlte er etwas Fremdartiges in seiner Linken. Es war kalt, aber nicht feucht wie die übrige Erde. Mit beiden Händen untersuchte er den Fund. Es war kein Wurzelholz, vielmehr schien es aus Metall zu bestehen und ragte etwa anderthalb Spannen aus der Wand. Vermutlich hatte er einen geeigneten Gegenstand zum Abklopfen der Höhlenwände gefunden. Jetzt musste er ihn nur noch aus dem Fels bekommen.

Yonathan stemmte seinen rechten Fuß in eine kleine Mulde und packte das Ende des Gegenstandes fest mit beiden Händen. Dann zählte er laut bis drei, holte tief Luft und zog mit aller Kraft.

Einen Wimpernschlag später fand er sich auf seinem Hinterteil sitzend am Höhlenboden wieder. Obwohl der Gegenstand so fest in der Wand zu stecken schien, hatte er keinen Widerstand gespürt.

Überrascht hielt Yonathan den Gegenstand in seinen Händen. Es war ein völlig gerader Stab von etwa fünf Fuß Länge. Am oberen Ende befand sich ein metallener Knauf, der möglicherweise einen Kopf darstellte. Zur Spitze hin verjüngte sich der Stecken in schraubenförmigen Windungen. Gleich einem Band, das man um den Stab gewickelt hatte, waren Einlegearbeiten zu sehen, die wie Schriftzeichen aussahen. Sie glänzten matt in derselben Farbe wie der Knauf und die Spitze, aber ihre genaue Form war in der Dunkelheit nicht zu erkennen.

„Erkennen?!“, entfuhr es Yonathan. Verwirrt kreiste sein Blick durch die Höhle und landete dann wieder auf dem Stab. Er konnte jetzt viele Einzelheiten erkennen, die er vorher nur mit seinen tastenden Händen wahrgenommen hatte.

Er schaute zur Deckenöffnung hinauf, und das Licht stach ihm schmerzhaft in die Augen.

Langsam erhob er sich und ging vorsichtig auf den Mittelpunkt des Raumes zu, um zu erforschen, was diese plötzliche Aufhellung im Innern der Höhle verursacht hatte. Er erwartete, in das gleißende Licht der Sonne zu schauen, sah aber nur den gewohnten Wechsel von blauem Himmel und weißen Wolken – nur war alles heller als zuvor. Yonathan wusste nicht, warum es so war, aber es kam ihm gelegen.

Gleichzeitig glaubte er, seit er den Stab in den Händen hielt, die Nähe von etwas Bedrohlichem wahrzunehmen, etwas, das es auf ihn abgesehen hatte. Es war höchste Zeit, einen Weg nach draußen zu finden.

Er wandte sich wieder der Stelle zu, wo er den Lufthauch gespürt hatte. Tatsächlich glaubte er jetzt, in knapp zehn Fuß Höhe eine dunkle Vertiefung zu erkennen. Schnell hatte er auch einige Wurzelschlingen und andere Haltepunkte entdeckt, die ihm den Aufstieg ermöglichen würden. Aber würde der Stab ihn nicht behindern? Er wollte ihn nicht in dem Loch zurücklassen. Er gehörte ans Licht, zu den Menschen, das wusste Yonathan.

Er trat zwei Schritt zurück, wog noch einmal das Gewicht des Stabs in seinen Händen und warf ihn dann mit einem gut gezielten Schwung genau in das schwarze Loch hinein. Noch während das Wurfgeschoss durch die Luft flog, verdunkelte sich Yonathans Umgebung wieder wie vor der Entdeckung des seltsamen Stabes.

Ein Kribbeln lief ihm den Rücken herab, und seine Nackenhaare stellten sich auf. Das war nicht nur ungewöhnlich, das war unheimlich. Konnte der Stab etwas mit dem Dämmerlicht zu tun haben, das ebenso jäh verschwunden war?

Zwar sah Yonathan jetzt nichts mehr, aber es bereitete ihm keine Schwierigkeiten, die Wurzelschlingen und Felsvorsprünge wiederzufinden, die sich seinem Gedächtnis eingeprägt hatten. Er zog sich in den Tunnel hinein und suchte dort auf allen vieren kriechend nach dem Stab.

Diesmal war er vorbereitet. Sobald er den Stecken in seiner rechten Hand fühlte, verwandelte sich das Nichts in graues Dämmerlicht. Aufmerksam konzentrierte er alle Sinne auf die neue Umgebung. Da! Er hatte den erhofften Gang gefunden! Aus der Tiefe des Höhlenganges stieg ein feuchter Luftzug herauf und mit ihm ein schwacher, aber unangenehmer Geruch. Er hörte weit entferntes Tropfen.

Doch da war noch etwas. Yonathan konnte es weder sehen noch hören. Aber es war da! Etwas Unheilvolles, das irgendwo in dem Dunkel vor ihm lauerte.

Wer hatte die so auffällig runde Höhle geschaffen, der er soeben entstiegen war? Und wie war dieser Gang entstanden, dem er sich nun anvertrauen musste? Der Fußboden war fast eben, die Wände ragten rechts und links senkrecht empor, und die Decke war bogenförmig ausgearbeitet – bestimmt kein Werk des Zufalls.

Der Gang neigte sich nun leicht nach unten, blieb aber in seiner Höhe von etwa sechs Fuß unverändert, so dass Yonathan darin aufrecht gehen konnte. Hinter der ersten Biegung konnte er etwas weiter den Tunnel hinabblicken. Seine Rechte klammerte sich fester um das eigenartig warme Holz des Stabes. Immer stärker fühlte er die Gegenwart von etwas anderem. Etwas Nichtmenschlichem.

Er umrundete die nächste Biegung. Wenige Ellen entfernt befand sich eine Gabelung. Was sollte er tun, wenn dieser Weg sich wieder gabelte? Er würde sich in einem Netz von Gängen verlaufen und nie mehr zurückfinden.

Von links spürte er deutlich einen Luftzug, also schlug er diese Richtung ein.

Obgleich längst kein Tageslicht mehr in diesen Teil des Gangsystems vordringen konnte, war er immer noch in der Lage, etwas zu erkennen. Decke und Wände schienen leicht zu schimmern. Wiederum stand er an einer Verzweigung und prüfte den Luftstrom. Plötzlich hörte er ein Geräusch! Es klang wie das Rollen eines Steines. Yonathan lauschte angestrengt in die Richtung, die er gerade hatte einschlagen wollen. Das leise Klicken musste von dort gekommen sein. Aber er konnte nichts mehr hören.

Er umklammerte den Stab und konzentrierte alle Sinne auf den vor ihm liegenden Gang. Und tatsächlich! Mit einem Mal spürte er die Bedrohung. Und dann sah er etwas: Weit voraus schimmerten zwei grüne Punkte, mehr zu erahnen als zu erkennen. Sie kamen näher und wurden deutlicher. Ohne den Abstand zueinander zu verändern, pendelten sie langsam hin und her. Yonathan drückte sich eng an die Felswand und starrte angestrengt in die Richtung der kleinen grünlichen Flammen. Sein Atem ging schnell, aber flach. Ein paar hastige Herzschläge später erkannte er einen dunklen Schatten, der den gesamten Gang ausfüllte.

Ein Erdfresser! schoss es durch Yonathans Kopf. Yonathan hatte schon öfters von ihnen gehört, ihre Existenz aber bezweifelt – harmlose Schauergeschichten, Ausgeburten der Fantasie einsamer Waldläufer. Jeder Mensch würde solchen Wesen, ‚die einem das Mark aus den Knochen saugen‘, aus dem Weg gehen. Und jetzt sah er sich selbst einem solchen Untier gegenüber.

Er verspürte wenig Lust, diesem Jäger der Dunkelheit als Mahlzeit zu dienen. Aber was sollte er tun? Wenn er zurück zu dem kreisförmigen Höhlengewölbe rannte, gab es kein Entrinnen mehr. Sich dem Erdfresser gleich hier entgegenzustellen, hätte sicher noch weniger Sinn. So stürzte er in den einzig verbleibenden Gang. Der Erdfresser stieß einen markerschütternden Schrei hinter ihm aus.

Die Jagd hatte begonnen.

Den Stab fest in der Hand, stolperte Yonathan vorwärts. Hinter sich hörte er das Stampfen massiger Beine und ein Scharren von Klauen. Mit diesen Krallen und ihrem diamantharten Gebiss gruben sich die Erdfresser durch härtestes Gestein. Nicht auszudenken, was sie da erst mit menschlicher Haut anstellen konnten!

Schon hörte Yonathan den Atem des Ungeheuers und stellte mit Entsetzen fest, dass der Erdfresser aufholte. Als er sich kurz umwandte, erkannte er einen wuchtigen Schädel mit spitzem Hornzahn. Aus dem Maul troff schaumiger Geifer.

Yonathan gab sein Letztes. Während er weiter durch die Dunkelheit hastete, kam das Schnaufen des Verfolgers immer näher. Der Erdfresser schien nicht zu ermüden, während Yonthan schon die Kräfte verließen.

Als er sich abermals umdrehte, war das Ungetüm nur noch wenige Schritte von ihm entfernt. Wieder brüllte es triumphierend. Yonathan wirbelte hastig herum, streifte mit dem Knauf des Stabes die Felswand, und … im selben Augenblick strahlte ein blauer Blitz durch den Tunnel, Felsbrocken und loses Erdreich flogen mit ohrenbetäubendem Lärm in den Höhlengang hinein.

Als sich der Staub gelegt hatte, sah Yonathan zwischen sich und dem Ungeheuer eine Geröllbarriere. Sie war nicht sehr hoch, und der Erdfresser würde sie bald beseitigt haben.

Vor seinen Augen tanzten bunte Lichtflecken. Yonathan hetzte weiter.

Je tiefer er in das scheinbar endlose Höhlensystem eindrang, umso stickiger wurde die Luft. Es roch nach Verwesung. Schon bald vernahm er wieder das Stampfen des Untiers. In der Hoffnung, die Bestie irre zu führen, stürzte er in einen kleineren Seitengang, der vom Hauptweg im rechten Winkel abzweigte. Der Gestank wurde immer unerträglicher. Yonathan kämpfte gegen eine starke Übelkeit an.

Plötzlich weitete sich der schmale Tunnel zu einer kleinen Kammer. Nur schemenhaft erkannte er, dass der Raum angefüllt war mit Knochen und Tierkadavern.

Offensichtlich war Yonathan in die Speisekammer des Erdfressers geraten. Yonathan überwand seinen Ekel, weil schon wieder das schreckliche Schnaufen zu hören war, und suchte Deckung in den vor sich hinfaulenden Kadaverteilen. Er betete zu Yehwoh, dass er ihn aus dieser Situation befreien möge, und gelobte, ihm bis zu seinem Lebensende zu dienen, wenn er nur einen Ausweg für ihn fände. Kaum hatte er sein Stoßgebet beendet, da zeigten sich auch schon die beiden grünlich leuchtenden Augen des Erdfressers im Höhlengang. Die ‚Speisekammer‘ des Raubtieres mochte einen Durchmesser von dreißig Fuß haben, klein genug, um die Bestie genau zu erkennen. Das Tier hatte schwarze, schuppige Haut, die einem undurchdringlichen Panzer glich. Vom Rücken bis hinunter zur Spitze des kurzen breiten Schwanzes reihten sich Hornplatten aneinander. Die kurzen, stämmigen Beine wurden von mächtigen Pranken mit messerscharfen Klauen getragen.

Die Bestie schaute sich um und reckte die Nase vor, um Yonathans Witterung aufzunehmen. Der Gestank war aber offensichtlich selbst für den Erdfresser zu stark, um noch irgendetwas anderes zu riechen. Yonathan wagte kaum zu atmen, als das Tier sich aufrichtete, um den Raum besser überblicken zu können. Absolute Stille. Nur das grüne Glühen suchender Augen.

Schon dachte Yonathan, der Erdfresser könnte es sich anders überlegen, da begann das Untier sich durch Knochen und Fleischteile zu wühlen. Er kam schnell voran.

Yonathan umklammerte den Stab mit aller Kraft. Irgendetwas musste geschehen, wollte er nicht in den Klauen dieses Monstrums enden – und zwar sofort! Er fühlte ein Kribbeln in der Hand. Verwundert blickte er auf den Stab, um den sich eine leuchtend blaue Aura ausbreitete. Wollte der Stab seine Aufmerksamkeit auf sich lenken? Er schien zu vibrieren. Nein, das war absurd!

Oder vielleicht doch nicht? Immerhin hatte er eben erst die Felsen des Tunnelgewölbes in Schutt verwandelt.

Wenn er mir einmal helfen konnte, warum nicht auch ein zweites Mal?

Wie ein Schwert packte Yonathan den Stab dicht unter dem Knauf, richtete sich auf und hielt dem Erdfresser die blau schimmernde Spitze entgegen.

Die Wirkung war verblüffend. Das Tier wich erschrocken einige Schritte zurück. Doch dann warf die Bestie den Kopf voller Wut in den Nacken und trompetete, dass es von den Wänden hallte.

Aber Yonathan ließ sich nicht entmutigen. Er wollte nur eines: überleben. Er nutzte die Konfusion des Gegners und erklomm mit wenigen Schritten einen Hügel mit Unrat, wodurch er dicht unter die Höhlendecke gelangte. Einen Augenblick lang kämpfte auf dem glitschigen Untergrund um sein Gleichgewicht. Doch dann holte er aus und schmetterte den Stab mit aller Kraft gegen die Felsen über seinem Kopf.

Unter lautem Getöse und zuckenden, blauen Blitzen verwandelte sich das Gewölbe in Geröll.

Yonathan konnte sich durch einen beherzten Satz vor den herabfallenden Trümmern in Sicherheit bringen. Gleißendes Licht ergoss sich in den Raum – Sonnenlicht! Einen Augenblick lang kämpften seine geblendeten Augen gegen die Helligkeit. Er war schon wieder auf den Beinen, als der sich langsam setzende Staub den Blick auf den Widersacher freigab.

Der Erdfresser stand auf den Hinterbeinen und brüllte laut. Yonathans Sinne und Muskeln waren bis in die letzte Faser angespannt. Er konnte die Gefühle seines Gegners spüren. Die Überlegenheit war daraus verschwunden. Wut und Furcht machten das gewaltige Höhlentier unvorsichtig.

Diese blinde Wut war wohl auch die Ursache für die plötzliche Unvorsichtigkeit des Erdfressers: Als er – hoch aufgerichtet und mit entblößten Fangzähnen – in den Kegel des gleißenden Sonnenlichts trat, wurden seine empfindlichen Augen geblendet. Diesen kurzen Moment nutzte Yonathan. Er sprang vorwärts, direkt auf die Bestie zu, und trieb ihr die Spitze seines Stabes bis zum Knauf in die ungepanzerte Brust. Keuchend stolperte er zurück.

Einen unerträglichen Augenblick lang geschah nichts. Hatte er das Herz des Erdfressers verfehlt?

Dann zerriss ein markerschütternder Todesschrei die Stille. Yonathan zuckte zusammen, ein blau gleißender Blitz erfüllte den Raum. Der Erdfresser stürzte vornüber.

Langsam verblasste der übernatürliche Glanz des Stabes, und Yonathan öffnete blinzelnd die Augen. Während er schwer atmend auf dem Boden kauerte, stiegen Rauchwolken von dem toten Körper auf. In kürzester Zeit fiel er in sich zusammen.

Inmitten der spärlichen Überreste des eben noch so furchterregenden Jägers lag unversehrt der Stab. Wie leicht die Spitze seiner Waffe in den Körper des Untiers eingedrungen war!

Vorsichtig, ja ehrfürchtig, hob Yonathan den Stecken vom Boden auf. Jetzt konnte er ihn bei Licht betrachten: ein Zeugnis großer Kunstfertigkeit, wie er verblüfft feststellte. Der Stab war aus einem Holz gefertigt, das einen warmen roten Farbton besaß. Der Knauf an seinem Ende glänzte wie pures Gold. Vier Gesichter waren zu erkennen: das eines Menschen, eines Adlers, eines Löwen und eines Stiers. An der Unterseite besaß der Knauf eine runde Fassung, die den Schaft des eigentlichen Stabes umschloss. Er bestand aus einem geraden, aber in sich gedrehten Holz. Diesen Schraubenwindungen folgend, waren goldene Buchstaben in das Holz eingelegt. Navran Yaschmon hatte Yonathan gelehrt, diese alten Schriftzeichen zu lesen, denen man im täglichen Leben auf Neschan nur noch selten begegnete.

Yonathan stellte verblüfft fest, dass es sich um die Namen der Richter von Neschan handelte. Er war sehr erstaunt, dass sich sieben Namen auf dem Stab befanden. Bisher hatte es nur sechs Richter auf Neschan gegeben; der letzte, der den Namen Goel trug, lebte fernab von dem Ort Kitvar, wo Yonathan mit dem alten Navran wohnte. Der siebte Name lautete Geschan. Wahrscheinlich war dies ein Wort aus der Sprache der Schöpfung, vermutete Yonathan. Er beherrschte nur ein paar Brocken dieser alten Sprache. Der Sinn des Wortes war ihm jedoch unbekannt.

Der ganze Stab war von makelloser Schönheit! Erstaunlicherweise hatte ihm weder die Zeit in der Erde noch der Kampf gegen den Erdfresser etwas anhaben können. Das Kunstwerk sah aus wie neu. Wie konnten Gold und Holz derart widerstandsfähig sein? Noch etwas anderes verwunderte Yonathan: Der Stab war wesentlich leichter, als er aussah. Obwohl er ihm bis an die Schulter reichte, wog er kaum mehr als ein Schilfrohr.

Viele Fragen ergaben sich aus dieser Entdeckung! Yonathan grübelte aber nicht länger, sondern trat den Heimweg an. Navran Yaschmon war weise, sicher konnte er ihm mehr über den Stab erzählen.

Der gute alte Navran, bestimmt machte er sich schon große Sorgen um Yonathan.

Kapitel 2 Der Träumer und ein höllischer Streit

Der Horizont streifte sein rosarotes Morgengewand über, als Jonathan erwachte. Er fühlte sich überhaupt nicht schlaftrunken, sondern lag mit offenen Augen im Bett, spielte gedankenverloren an seinem Ohrläppchen und vergegenwärtigte sich noch einmal den Traum der vergangenen Nacht. Obwohl hellwach, fühlte er sich erschöpft und ausgelaugt von der anstrengenden Hetzjagd durch die unterirdischen Höhlengänge.

Er wischte diese eigenartige Vorstellung beiseite, um den Kopf für Näherliegendes frei zu bekommen: Heute würde Mister Garson im Religionsunterricht die Jungen wieder mit seinen Höllengeschichten ängstigen. Es war Jonathan unbegreiflich, wie so viele Menschen an einen solchen Humbug glauben konnten. Konnte ein liebender Gott fähig sein, Menschen auf ewig den fürchterlichsten Qualen auszusetzen? Für ihn war diese Lehre nichts weiter als ein Trick der Kirche, sich das einfache Volk gefügig zu machen.

Nicht nur einmal hatte er sich tödlich gelangweilt, wenn Pastor Garson ein großartig angekündigtes, neues Unterrichtsthema mit gewohnt-routinierter Eintönigkeit bedeutungslos machte. Doch heute hatte sich Jonathan vorgenommen, dem feisten Religionslehrer ein wenig behilflich zu sein und die Stunde etwas unterhaltsamer zu machen. Deshalb hatte er sich auch den gestrigen Nachmittag über in der Bibliothek vergraben.

Vielleicht nicht nur deshalb. Als er gestern früh erwacht war, hatte er eine seltsame innere Unruhe gefühlt, die den ganzen Tag über nicht mehr von ihm weichen wollte. Schuld daran waren seine Träume von Yonathan. Noch nie zuvor hatte er ein so intensives Bedürfnis verspürt, bei diesem Yonathan zu bleiben, einfach in seinen Träumen zu verweilen und nicht mehr zu erwachen.

Auch andere Jungen erzählten gelegentlich von Träumen, die gerade an der spannendsten Stelle endeten und nach dem Erwachen zu Nichts zerfielen. Diese Träume waren eher Stippvisiten, die die Jungen ihrer Traumwelt mal hier, mal dort, ohne bestimmtes Ziel, abstatteten. Einige wurden auch von wiederkehrenden Alpträumen geplagt.

Jonathans Träume waren anders. Seit einer bestimmten Nacht während seiner schweren Erkrankung, als alle dachten, er würde vielleicht nie wieder erwachen, kannte er diesen Yonathan aus seinen Träumen. Damals träumte er, in einem kleinen Boot – hilflos und dem Kentern nahe – auf stürmischer See zu treiben. Wie durch ein Wunder legte sich dann aber der Sturm, die Sicht wurde klar, und Yonathan erblickte eine Bucht, in der sich ein kleiner Hafen befand. Die aufkommende Flut trieb ihn genau dorthin, und bald hatte er wieder festen Boden unter den Füßen.

Von diesem Tage an lebte er bei Navran Yaschmon, einem alten Fischer, der für ihn wie ein Vater wurde. Das Leben von Jonathans zweitem Ich war voller Abwechslung. Aufregende und alltägliche Erlebnisse reihten sich aneinander, und so wie Jonathan allmählich heranwuchs, so blieb auch der Yonathan seiner Träume nicht der kleine Achtjährige, als der er damals zum ersten Mal in seinem Bewusstsein aufgetaucht war. Äußerlich begannen sich die beiden Jungen immer mehr zu unterscheiden. Der Knabe in Jonathans Traumwelt hatte einen kräftigen Körper, was er dem einfachen Leben und gesunder körperlicher Arbeit verdankte. Jetzt mit fast vierzehn Jahren, hätte man ihn gut zwei oder drei Jahre älter schätzen können. Jonathan dagegen war klein, zart und kränklich. Seit er vor nun beinahe sechs Jahren die Fähigkeit zu laufen eingebüßt hatte, war sein Zustand noch schlechter geworden. Mit dem großen, starken Jungen aus seinen Träumen schien Jonathan nur noch das dunkelbraune, lockige Haar und die fast schwarzen Augen gemein zu haben. Doch in ihren Anlagen und in ihrer Wesensart waren sich beide sehr ähnlich: Ihr wacher Verstand machte sie zu besonderen Knaben und ein großes Herz zu außergewöhnlichen Menschen.

Wenn Jonathan sich wegen seiner Behinderung mutlos fühlte, wandte er seinen Blick nach innen, zu jenem anderen Yonathan. Dies und das enge Verhältnis zu Gott halfen ihm, so manche dunkle Wolke aus seinem Geist zu vertreiben. Oft nahm er dann die Flöte, die er als kleiner Junge von seinem Vater geschenkt bekommen hatte, und spielte ein Lied, das ihn wieder aufmunterte. Manchmal wusste Jonathan nicht, ob die Melodien, die er seinem Instrument entlockte, irdischen Ursprungs waren oder ob sie von Neschan stammten, der Welt, in der sein Traumbruder lebte.

Dieses merkwürdige Verhältnis zu dem Zwilling seiner Träume kapselte ihn bisweilen von der Umwelt ab. Obgleich wach, glitt er immer wieder hinab in jene Traumwelt. Kein Wunder, dass die anderen ihn ‚den Träumer‘ nannten.

Wenn Jonathan nicht träumte, dann las er Bücher – über die Wunder der Natur, aber auch solche, die fantastische Geschichten erzählten. Gullivers Reisen hatte er dreimal gelesen!

Sein Verhältnis zur Schule war zwiespältig. Nicht, dass ihm das Lernen zuwider gewesen wäre. Im Gegenteil, er liebte es, sich stundenlang unter einem Berg von Büchern zu vergraben, um einer Frage genau auf den Grund zu gehen. Infolgedessen war er seinen Mitschülern in fast allen Fächern weit überlegen. Nur die Lehrer, die getreu den Richtlinien von Sir Malmek Korrektheit, Ordnung und Pünktlichkeit oft über den eigentlichen Zweck des Unterrichts stellten, trübten bisweilen die Freude am Kennenlernen neuer Dinge.

Im Religionsunterricht, der von Pastor Garson geleitet wurde, gab es gelegentlich Ärger, weil sich Jonathan nicht den Ansichten der Kirche beugen wollte. Das, was ihn sein Vater über Gott gelehrt hatte, war zu tief in seinem Herzen verankert, als dass er es für eine bequemere Lehre über Bord geworfen hätte. Gelegentlich machte sich Jonathan einen Sport daraus, den Pastor mit vernünftigen Bemerkungen aus der Fassung zu bringen.

So kam es, dass Jonathan oft in Büchern Zuflucht suchte. Es half ihm, seine traumzerzausten Gedanken auf ein festes, reales Ziel zu konzentrieren. Und dieses Ziel war heute der Religionsunterricht zum Thema Höllenlehre, abgehalten von Herrn Pastor Garson.

Ein Klopfen an der Tür riss Yonathan aus den Gedanken. Gleich darauf erschien im Türspalt Samuel Falters weißer Haarschopf.

„Bist du wach?“

„Ja“, antwortete Jonathan kurz angebunden. Er hatte das Netz seiner Überlegungen noch nicht fertig geknüpft; wenn er es jetzt losließ, würde alles wieder zu einem wirren Knäuel von Gedankenfäden zerfallen.

Aber Samuel blieb beharrlich. „Du solltest jetzt langsam aufstehen. In einer halben Stunde wird gefrühstückt, und du weißt ja, dass Sir Malmek keine Verspätungen duldet.“

Jonathan lächelte nur widerwillig. Aber der Hausdiener hatte natürlich recht. Mit Sir Malmeks Hang zur Pünktlichkeit war nicht zu spaßen.

„Komm mein kleiner Prinz“, sagte Samuel sanft und zugleich unerbittlich. Er hob Jonathan mit einer Leichtigkeit aus dem Bett, als trüge er eine Spielzeugpuppe. Nach alter Gewohnheit setzte er seinen Schützling in den Rollstuhl und schob ihn zur Waschschüssel hinüber. Während Jonathan sich mit dem kalten und nassen Wasser peinigte, legte der Hausdiener die Kleidungsstücke für den Tag heraus.

„Du weißt ganz genau, dass du mich nicht ‚kleiner Prinz‘ nennen sollst, Samuel! Ich bin jetzt schon vierzehn Jahre alt, und ein Prinz bin ich schon lange nicht.“

Der alte Samuel lächelte, und seine Stimme klang sanft und freundlich, als er erwiderte: „Dreizehn Jahre alt bist du, Jonathan, vierzehn wirst du erst in drei Monaten. Du bist nun schon seit beinahe acht Jahren hier in unserem Knabeninternat. Ich glaube, für mich wirst du immer der kleine Prinz bleiben, der du damals warst, als du in unser Haus kamst.“

„Ja, aber wer hat schon mal einen Prinzen im Rollstuhl gesehen?“, entgegnete Jonathan traurig.

„Quäl dich nicht, kleiner Prinz“, entgegnete Samuel. „Viele bedeutende Männer in der Geschichte waren keine großen Athleten. Nicht Muskeln, sondern Geist und Herz bestimmen den Lauf der Welt, und von beidem besitzt du mehr als die meisten anderen Jungen, die ich kenne. Glaube mir: Es waren oft die sogenannten ‚klugen Köpfe‘, die der Menschheit Fortschritt brachten – oder großes Leid.“

Bei den letzten Worten huschte ein Schatten über Samuels Gesicht. Als der Große Krieg die ganze Welt ins Chaos stürzte, hatte auch er viel Schreckliches erlebt. Gleich nach dem Krieg starb seine Frau an der Spanischen Grippe, eine der furchtbaren Folgen dieses erdumfassenden Gemetzels. Seitdem war er allein für die Erledigung all der häuslichen Pflichten im Knabeninternat verantwortlich. Er pflegte den Garten, führte Reparaturen durch und erledigte alle sonstigen Besorgungen. Nur für die Küche und die Wäsche hatte man nach dem Tod seiner Frau eine Haushaltshilfe eingestellt.

Als Jonathan nach einer schweren Erkrankung nicht mehr laufen konnte, erhielt Samuel Falter eine weitere Aufgabe: Er hatte sich um den Enkel Lord Jabboks zu kümmern – eines wichtigen Wohltäters des kleinen Knabeninternats von Loanhead. Samuel war diese Arbeit keineswegs lästig. Aufopferungsvoll kümmerte er sich um den Knaben, und im Laufe der Zeit entwickelte er eine tiefe Zuneigung zu dem Kind. Er betrachtete ihn fast als eigenen Sohn. Und es tat ihm oft weh, dass er seine Gefühle der Zuneigung nicht so offen zeigen konnte, wie er dies gerne täte – immerhin gehörte der Junge dem Adel an. Der strenge Internatsleiter, Sir Malmek, achtete peinlich auf die Einhaltung standesgerechter Umgangsformen.

So hatte sich ein seltsames Verhältnis zwischen den Schülern und dem Hausdiener entwickelt. Samuel behandelte die oft lärmende Knabenschar wie hohe Herrschaften, mit all dem Respekt, den die Etikette forderte. Und die Jungen schätzten den alten Mann als schweigsamen Vertrauten und verrieten ihm ihre haarsträubendsten Streiche. Und wenn sie es einmal gar zu bunt trieben, hörten sie sogar auf seine Ermahnungen, was Sir Malmek nicht selten neidvolle Bewunderung abrang. Insgeheim, versteht sich. „Denkt an euren Stand!“, war seine offizielle Devise, die er stets verkündete, wenn er die Knaben wieder mal beim Tuscheln mit dem Diener erwischt hatte.

Die täglichen Hilfeleistungen Samuels brachten für Jonathan glücklicherweise viele Gelegenheiten, der Aufsicht Sir Malmeks zu entkommen. In diesen Freiräumen war ein enges Verhältnis entstanden, eine Freundschaft, die keine Geheimnisse kannte. Schon bald wusste der weise Hausdiener mehr über das bewegte Innenleben seines jungen Schützlings als jeder andere – mit Ausnahme des alten Lord Jabbok vielleicht.

Jonathans Vorfahren stammten ursprünglich aus dem Heiligen Land. So nannte man die Gegend um Jerusalem, die in ferner Vergangenheit von zahlreichen Kreuzfahrern heimgesucht worden war. Zu dieser Zeit kämpften die Jabboks an der Seite eines schottischen Truppenführers in der Armee von Richard Löwenherz. Als der Kreuzzug vorüber war, begleiteten sie die überlebenden Recken in ihre Heimat. Im wilden Hochland Schottlands empfingen sie aus der Hand des Lehnsherren, dem sie so treu gedient hatten, ein kleines Stück Land, auf dem sie fortan Schafe züchteten. Jahrhunderte später hatte ein anderer Jabbok der Königin Anna Stuart einen wertvollen Dienst erwiesen, wofür er in den Adelsstand erhoben und mit umfangreichen Ländereien in den schottischen Highlands belohnt wurde. Die Jabboks dienten auch weiterhin der englischen Krone, was ihnen über Generationen hinweg Feindschaft eintrug, da viele der alten Clans die englische Oberherrschaft nicht hinnehmen wollten.

Die Jabboks waren stolz auf das Familienwappen. Es war mit Mut und Treue gegenüber der Krone erkauft worden, mit dem eigenen Blut.

Dann aber begaben sich verhängnisvolle Ereignisse, die nicht nur das Denken des alten Lord Jabbok, sondern auch das Leben Jonathans nachhaltig beeinflussen sollten. Alles begann, als der gegenwärtige Führer des Jabbok-Clans von seinem Sohn Jacob erfuhr, dass dieser Jennifer Leftshore heiraten wolle. „Die Tochter eines Fischers ist keine standesgemäße Partie für einen Jabbok!“, urteilte der Lord über die angehende Schwiegertochter. Jacob bestand auf seiner Heirat, woraufhin sein Vater ihn kurzerhand vom Familiensitz jagte.

Daraufhin zog Jacob Jabbok in das Fischerdorf Portuairk, dem Heimatort seiner Ehefrau, und lebte fortan vom Fischfang. Obwohl die Netze, die er gemeinsam mit dem Schwiegervater, Morton Leftshore, einholte, oftmals kaum genug enthielten, um davon satt zu werden, bereute er seine Entscheidung niemals. Er liebte seine Frau, und diese Liebe wog mehr als alle Reichtümer der Welt.

Das junge Paar erlebte drei glückliche Jahre. Dann wurde der kleine Jonathan geboren, und sein Vaters erhielt den grausamsten Schlag: Die Mutter starb nur zwei Stunden nach der Geburt.

Obwohl Jacob Jabbok diesen Preis für seinen Sohn bezahlen musste, liebte er das schreiende Bündel. Der kleine Jonathan war das wertvollste Andenken, das ihm die geliebte Frau hinterlassen konnte. Eigentlich sollte man diese Zuneigung von jedem Vater erwarten, aber Jonathan zweifelte nie daran, dass die Liebe seines Vaters etwas Besonderes war, ein wertvolles Geschenk, das ihm niemand stehlen konnte, weil er es in seinem Herzen trug.

Neben dem Vater sorgten auch Großvater und Großmutter, die Schwiegereltern seines Vaters, für die Geborgenheit, die ein Kind braucht. Von ihnen erfuhr Jonathan viel über seine Mutter. Manchmal glaubte er, sie genauer zu kennen als die meisten seiner Altersgenossen ihre Eltern.

Großvater Jabbok blieb für Jonathan lange ein unbeschriebenes Blatt. Der alte Mann hatte sich auf Jabbok House, dem Familiensitz, hinter seiner verstockten Haltung verbarrikadiert. Sogar die Geburt des nach ihm benannten Enkelsohnes drang nicht zu ihm durch.

Möglicherweise hatte Jacob ein wenig vom Starrsinn seines Vaters geerbt; jedenfalls verließ auch er Portuairk nur noch, um zusammen mit Großvater Morton aufs Meer hinaus zu fahren. Großmutter Hazel umsorgte derweil den kleinen Knaben. Immer, wenn es Jonathans Vater möglich war, verbrachte er die Zeit mit seinem Sohn. Er sprach dann oft von dem Schöpfer, der Himmel und Erde gemacht hatte, und flößte so dem Knaben einen tiefen Respekt vor den Gaben des Allmächtigen ein. In den grauen Tagen und langen Abenden des Winters, wenn die Stürme das Meer peitschten, erzählte der Vater auch häufig Begebenheiten aus der Heiligen Schrift. Wenn er und der Großvater die Netze flickten, saß der kleine Jonathan dabei, spielte mit Stricken und Schwimmern und lauschte den biblischen Geschichten. Er sah, wie Samson die Säulen des Dragon-Tempels zum Einsturz brachte und wie die Heere Pharaos in den zusammenstürzenden Wassermassen des Roten Meeres versanken. Im Lichte der Petroleumlampen entflammte in ihm die Fantasie, durch die er sich in Welten versetzen konnte, die er wohl niemals in Wirklichkeit würde sehen können – vor allem jetzt, da er im Rollstuhl saß.

Eines Tages, als Jonathan sechs Jahre alt war, kehrte das Boot von Großvater Morton vier Tage lang nicht in das Fischerdorf zurück. Als es dann doch in den kleinen Hafen von Portuairk einlief, lag Jonathans Vater wie tot im Boden des kleinen Seglers. In einem heftigen Sturm hatte sich der Großbaum losgerissen und Jacob an der Brust getroffen. Er war mit dem Hinterkopf gegen das Dollbord geprallt und in tiefe Bewusstlosigkeit gesunken. Wie durch ein Wunder gelang es Großvater Morton, das stark beschädigte Boot allein aus der bewegten See in den Heimathafen zurückzusteuern. Am Abend kam Jonathans Vater zwar wieder zu Bewusstsein, war jedoch zu schwach, um zu sprechen oder sich aufzurichten.

In den folgenden Wochen setzten die Herbststürme ein. Und so, wie die Tage immer kürzer wurden und alles Leben mit dem hereinbrechenden Winter zu ersterben schien, wich auch beim Vater die Lebenskraft. Er ahnte, dass er nicht mehr gesunden würde, und so lastete die Sorge um seinen Sohn doppelt schwer auf ihm. Großvater Morton fühlte dies und schickte nach dem alten Lord Jabbok. Diesem tat längst leid, was früher geschehen war, und die Nachricht, die er jetzt empfing, zerriss ihm beinahe das Herz. Noch am selben Tage machte er sich auf die Reise nach Portuairk. Als er dort ankam, bestand für seinen Sohn keine Hoffnung mehr.

Vor der Tür der kleinen Hütte traf der Lord auf Großvater Morton. Voller Mitgefühl legte der alte Fischer die Hand auf die Schulter des Mannes, den er jetzt zum ersten Mal sah. Wortlos deutete er mit dem Kopf auf die Eingangstür.

Als sich Vater und Sohn – nach allem, was geschehen war – anschauten, herrschte tiefes Schweigen. Dann umarmten sie sich, und das Zerwürfnis war vergessen. Die Freude über das Wiedersehen gab Jonathans Vater sogar die Kraft, sich aufzurichten. Aber der alte Lord erkannte, dass sein Sohn vom Tode gezeichnet war.

Er wandte sich zum Fenster. „Ein herrlicher Ausblick! Ich wusste gar nicht mehr, wie überwältigend der Blick auf das Meer sein kann.“

„Jonathan meinte, es würde mir gut tun, wenn ich etwas Ablenkung fände. Deshalb bat er Morton, mein Bett ans Fenster zu rücken.“

Großvater Jonathan bemerkte erst jetzt, dass an der gegenüberliegenden Wand noch ein zweites, kleineres Bettgestell stand. „Wer ist dieser …“ Es fiel ihm offensichtlich schwer, den eigenen Namen auszusprechen „… Jonathan, und wo ist deine Frau?“

Ein Schatten legte sich auf das Gesicht des Kranken. „Jenny ist bei Jonathans Geburt gestorben.“

„Du hast sie wohl sehr geliebt“, sagte Großvater mit bebender Stimme. Die Nachricht vom Tod seiner Schwiegertochter und von der Existenz eines Enkelsohns hatten ihn aufgewühlt. „Was für ein Narr war ich doch, als ich mich weigerte, Jennifer kennenzulernen! Aber sag doch“, fuhr er lebhaft fort, „wo ist der kleine Jonathan, mein Enkel? Ich möchte ihn gerne sehen! Wie alt ist er? Und wie groß ist er? Sieht er dir ähnlich?“

Ehe sein Vater antworten konnte, flog die Tür auf und der kleine Jonathan kam hereingestürzt. Er trug Holzscheite auf dem Arm für den gusseisernen Ofen, der in der Ecke des Zimmers stand. Mitten im Lauf erstarrte der Junge und schaute den fremden Besucher aus großen, fast schwarzen Augen an. Der stattliche alte Mann blickte kaum weniger erstaunt, unfähig, ein Wort zu sprechen.

„Sag deinem Großvater guten Tag, Jonathan“, forderte der Vater den Kleinen auf.

Jonathan legte das Brennholz neben dem Ofen ab und ging zögernd auf den Fremden zu. Dieser streckte dem Knaben beide Hände entgegen, um ihn in die Höhe zu heben und an sich zu drücken. „So“, sagte er, „du bist also der Stammhalter der Jabboks.“

„Warum hast du Tränen in den Augen? Hast du geweint?“, fragte der Junge.

„Ein Jabbok weint doch nicht, kleiner Jonathan. Ich hab wohl ein wenig Zug abbekommen“, antwortete der Großvater mit brüchiger Stimme. Er stellte seinen Enkel wieder auf die Füße und wandte sich an dessen Vater: „Ich glaube, wir sollten einiges besprechen, Jacob.“

Nun erklärte Jonathans Großvater seinem Sohn, dass er alles tun wolle, um seinem Enkel eine gute Erziehung und Ausbildung angedeihen zu lassen.

Kurz darauf starb Jacob Jabbok; friedlich schlief er ein. Bevor er jedoch die Augen für immer schloss, sagte er zu seinem Sohn: „Jonathan, denke immer an das, was ich dir beigebracht habe. Achte stets alles Leben, und vergiss vor allem nicht die Liebe zu deinem Schöpfer. Lass dich von seinem Wort leiten. Er ist die Liebe in Person, und ich weiß, dass in deinem Herzen eine Menge Platz ist für diese edelste aller Eigenschaften.“

Zwei Tage später – nachdem Jacob Jabbok neben seiner Ehefrau Jennifer beigesetzt worden war – machten sich ein ernster, alter Lord und sein sechsjähriger Enkel auf die Reise nach Bridge of Balgie. „Du wirst einmal Jabbok House erben, den Besitz unserer Familie. Dazu benötigst du eine gute Erziehung“, entschied der alte Lord.

Nach sechs Wochen betrat Jonathan zum ersten Mal die Eingangshalle des Knabeninternats, das am Ortsrand von Loanhead lag, auf der Straße nach Edinburgh. Ehrfürchtig blickte er um sich. Die kleine Schule von Portuairk, in der er sein erstes Schuljahr verbracht hatte, war gegen dieses Anwesen eine ärmliche Fischerkate. Er hatte das kleine, weißgetünchte und mit Ried gedeckte Gebäude, in dem es nur ein einziges Klassenzimmer gab, gemocht. Wie oft hatte er auf seiner Holzbank gesessen und gelauscht, wenn der alte Mr. Cruickshank den älteren Schülern etwas erklärte. Und oft hatte er bemerkt, dass er den schwierigen Stoff schneller begriff als diese.

Im Gegensatz zur Elementarschule von Portuairk verströmten die ruhigen, etwas muffigen Räume des neuen Knabeninternats Ehrwürdigkeit und pedantische Ordentlichkeit. Großvater hatte es für das Beste gehalten, wenn auch Jonathan in diesem traditionsreichen Haus auf das Leben vorbereitet würde, in dem schon der Vater, und etliche Jabboks zuvor, erzogen worden waren.

„Jonathan! Du träumst ja schon wieder. Jetzt müssen wir uns aber beeilen; gleich beginnt das Frühstück.“

Der alte Hausdiener schob Jonathan aus dem Zimmer, hinaus auf den Gang und hinüber in den Speisesaal, in dem schon die anderen Jungen versammelt waren. Eigentlich befanden sich die Schlafräume im ersten Stock des Gebäudes. Jonathan bewohnte jedoch ein Zimmer, das sich zu ebener Erde befand. Das Internat, früher einmal ein Herrenhaus, war überwiegend aus Natursteinen errichtet, der obere Teil jedoch, einschließlich der Giebel, aus Fachwerk. Einige Wirtschaftsgebäude gehörten ebenfalls zu dem Anwesen. Die Bauwerke standen in einem gepflegten Park, der von den Fenstern des Speisesaals aus gut zu überblicken war.

Als Jonathan in den großen Raum rollte, war es Punkt sieben. Er fühlte, wie sich alle Blicke auf ihn richteten. Wieder einmal erschien er als letzter Schüler zum Frühstück, zu einer Zeit, die eigentlich dem allmorgendlichen großen Auftritt von Sir Malmek vorbehalten war. Diese Szenen brachten immer etwas Abwechslung in die sonst sehr eintönigen Mahlzeiten, weil sie dem strengen Heimleiter Gelegenheit boten, seine rhetorischen Fähigkeiten vorzuführen.

Nicht, dass die Mitschüler Jonathan wirklich etwas Schlechtes wünschten, aber ihr Bedauern für seine Behinderung hielt sie nicht davon ab, ihn auch hin und wieder zu hänseln; einerseits wegen Samuel, der seinen Schützling wie ein Leibdiener umsorgte, andererseits wegen Jonathans Verschlossenheit und seiner Neigung, den eigenen Gedanken nachzuhängen. Wenn er sich auf seinen geistigen Streifzügen befand, konnte man ihn ansprechen, ohne dass er eine Reaktion zeigte. Dieser Eigenheit verdankte er den Beinamen „der Träumer“.

Samuel hatte Jonathan noch nicht ganz bis zu dem ihm bestimmten Platz gerollt, als schon Sir Lucius Malmek den Raum betrat, der Mann, der sich selbst bescheiden als den „führenden Kopf des Internats“ bezeichnete.

„Aha! Jonathan Jabbok hat es wieder einmal für nötig befunden, seinen eigenen wichtigen Geschäften nachzugehen. Deshalb konnte er natürlich seinen Terminplan nicht so einrichten, dass ein pünktliches Erscheinen zum Frühstück möglich gewesen wäre“, leitete Sir Malmek das bekannte Ritual ein. Es bestand aus einem fein ausgeklügelten System aus Freundlichkeit und Tadel, das sich der Direktor über viele Jahre hinweg erarbeitet hatte, um, wie er meinte, lebenstüchtige junge Männer heranzubilden.

Nach Jonathans Erfahrung war eine zur Schau getragene Demut in dieser Situation das beste Rezept.

„So ist das also! Der junge Lord Jabbok hat nichts zu seiner Verteidigung vorzubringen“, fuhr Sir Malmek triumphierend fort. Dann ließ er sich aus über die Verpflichtung der gehobenen Gesellschaft zu Ordnung, Korrektheit und Pünktlichkeit. Mit der Formel „Pünktlichkeit ist die Höflichkeit der Könige!“, beendete er seine Ausführungen.

Sir Malmek verzichtete auf eine Bestrafung, ein Zugeständnis an Jonathans Behinderung. Der Gerechtigkeit war genüge getan, und niemand konnte ihm nachsagen, die ehernen Grundsätze des Internats ließen sich mit Jonathans Rollstuhl beiseite rücken.

Bevor sich das Arrangement aus einfachen und nahrhaften Speisen unter dem Zugriff der hungrigen Knabenmeute in nichts auflöste, sprach Sir Malmek ein Gebet. Er bat um Gottes Segen für das Mahl und für den König. Jonathan senkte wie die anderen das Haupt, betete aber für sich. Sein Vater hatte ihn gelehrt, nicht einfach irgendwelche auswendig gelernten Worte daherzusagen, für die man weder Herz noch Verstand benötigte. Außerdem war Gott weder Brite noch Schotte; er segnete alle Menschen, die ihm aufrichtig dienten, ob es sich dabei um Bürger des Vereinigten Königreiches oder um Menschen irgendeiner anderen Nation handelte.

Nachdem Sir Malmek sein Amen gesprochen hatte und dieses von den Jungen wiederholt worden war, rückten sie dem gerösteten Weißbrot zu Leibe. Dazu gab es Käse und Marmelade, Obst und Milch. Alles verlief normal, was heißen soll, dass kein Wort gesprochen wurde. Nur wenn es Sir Malmek beliebte, etwas anzumerken, durften die Jungen nach Aufforderung zustimmen.

„Nachdem wir in den letzten Lektionen einiges über die gerechte Strafe Gottes für die durch die Erbsünde verurteilten Individuen gelernt haben, wollen wir uns heute abschließend noch dem Zitat eines katholischen Werkes zuwenden.“

Pastor Garson sprach stets in getragenem Ton, so als stünde er in der Kirche und predige zu seiner Gemeinde.

Jonathan verdrehte die Augen. Es fiel ihm schwer, den Pastor ernst zu nehmen. Für ihn war der Religionslehrer kein Hirte, wie es das Wort „Pastor“ ja eigentlich ausdrückte. Deshalb redete er ihn stets nur mit „Mister Garson“ oder „Sir“ an, was immer den Unmut des Geistlichen nach sich zog.

Auch die äußere Erscheinung Pastor Garsons erforderte nicht gerade Respekt – eher Heiterkeit. Er war äußerst beleibt, und sein feistes Haupt überstrahlte eine stets makellos spiegelnde Glatze, die cäsarengleich von einem dünnen Reif grauer Haare gekrönt war, von den Jungen schlicht „der Heiligenschein“ genannt. Garson war immer schwarz gekleidet, abgesehen von dem kleinen weißen Kragen, der seinem Gewand nur wenig Abwechslung verlieh. Das Gesicht des Geistlichen war breit und rund; einzig die Knollennase und das vorstehende Kinn, das einem kleinen Kricketball glich, erhoben sich als markante Punkte aus seinem Antlitz. Überraschend war die Stimme, die aus dem massigen Leib erklang: Sie war dünn und hoch.

„Wie wir bereits erfahren haben“, fuhr Pastor Garson fistelnd fort, „beschreiben Dante in seiner Göttlichen Komödie und John Milton in seinem Werk Das verlorene Paradies die Hölle als einen Ort fürchterlichster Qualen für diejenigen, die nicht durch die Taufe im heiligen Hort der Kirche Schutz gefunden haben. Auch werden die Sünder, die keine Absolution erhielten, die Strafe der höllischen Qualen erleiden.“

Es schien dem „Hirten“ seltsame Wonnen zu bereiten, seine Zuhörer mit diesem Thema zu peinigen. Sein theatralischer Vortrag erreichte einen Höhepunkt, als er fortfuhr: „Als treffend müssen wir aus diesem Grunde die Worte der XXVI. Betrachtung aus dem Werk Apparecchio alla morte empfinden.“ Er räusperte sich und holte tief Luft, wobei er den Kreis seiner Zuhörer fixierte, als wolle er sie in Hypnose versetzen. Dann las in getragenem Ton: „Die Hölle ist von Gott ausdrücklich zu dem Zweck geschaffen worden, die Verdammten zu quälen. Sie werden ins Feuer getaucht wie ein Fisch ins Wasser, doch sind sie nicht nur vom Feuer umgeben, sondern das Feuer dringt auch in ihr Eingeweide ein, um sie zu quälen. Ihr Leib selbst wird zu einer Feuerflamme, so dass das Eingeweide im Unterleib brennt, das Herz in der Brust, das Gehirn im Kopf, das Blut in den Adern und sogar das Mark in den Knochen; jeder Verdammte wird selbst zu einem Feuerofen.“

Nach kurzer Kunstpause schlug er das Buch knallend zu. Die Schüler zuckten erschrocken zusammen. Ohne den Blick vom ledernen Einband des Werkes zu erheben, fügte er hinzu: „Zitat Ende.“

Allgemeines Schweigen.

„Wir sehen also, dass es sich lohnt, darüber nachzudenken, ob wir den durch die Kirche geäußerten Willen Gottes tun oder ob wir ihm in rebellischer Weise Widerstand leisten wollen.“

Diese letzte Bemerkung war zweifellos an Jonathans Adresse gerichtet, dessen gelangweiltes Gesicht keine Wirkung zeigte von diesem infernalischen Vortrag.

Jonathan räusperte sich.

„Nun, ich sehe, die eben gehörten Worte haben auch bei unserem kritischen, jungen Freund Eindruck hinterlassen.“ Zufriedenheit spiegelte sich in Pastor Garsons breitem Gesicht.

„Oh, das haben sie gewiss, Sir“, entgegnete Jonathan. „Ich habe nämlich eine Frage.“

„Eine Frage hast du?“ Pastor Garson zeigte Erstaunen. „War denn das eben Gehörte nicht deutlich genug?“

Jonathan öffnete den Deckel seines Schultisches und zog ein Buch hervor. „Deutlich war es schon. Ich habe nur gestern etwas in diesem Buch hier gelesen. Es heißt Die Religion Babylons und Assyriens und wurde von einem Mister Morris Jastrow jr. geschrieben …“

„Ich glaube, das gehört wohl nicht zum Thema“, unterbrach der Pastor.

„Mister Jastrow schreibt hier“, fuhr Jonathan unbeirrt fort, „dass schon in alten babylonischen und assyrischen Überlieferungen die Unterwelt ‚als Ort des Grauens dargestellt‚ wurde, welcher ‚von grimmigen, sehr mächtigen Göttern und Dämonen beherrscht wird. ‘“ Er schaute vom Buch auf und bemerkte scheinbar gedankenverloren: „Ich frage mich nur, wie es kommt, dass sich ausgerechnet die Bibel über einen feurigen Ort des Strafgerichts Gottes ausschweigt. Jeder scheint so eine Hölle oder Unterwelt gehabt zu haben, wie Sie sie uns vorhin beschrieben, Mister Garson – die Ägypter, die Buddhisten, die Griechen … Man könnte denken, all diese Glaubensansichten besitzen einen gemeinsamen Ursprung. Und was ist mit all jenen Christen, die die Absolution nur um Haaresbreite verpasst haben, weil bei ihrem Tod gerade kein Priester zur Hand war? Oder diese einhundertzwanzigtausend Menschen, die neulich bei diesem furchtbaren Erdbeben in Japan ums Leben gekommen sind. Das waren ja keine Christen, sondern ungetaufte Heiden, wie Sie immer zu sagen pflegen, nicht wahr, Sir? Da wird es aber Gedränge geben in der Hölle.“

„Genug!“, kreischte Pastor Garson. Zornesröte verlieh seinem Gesicht Ähnlichkeit mit einem riesigen Radieschen. Während der Worte des unbequemen Schülers hatte sich nach und nach diese Verfärbung vollzogen. Als dann die Jungen anfingen, sich gegenseitig anzustoßen und sehr erheiternde Flüstereien auszutauschen, war es zu dieser Entladung gekommen.

Dem Ausbruch folgte eine Pause – der Geistliche sammelte sich, rang nach Fassung, machte Atemübungen. Dann erklärte er ruhig, aber drohend: „Es ist nicht das erste Mal, dass du mit frechen Bemerkungen den Unterrichtsfluss störst, Jonathan Jabbok. Maßt du dir etwa an, die Auslegung der Heiligen Schrift, wie sie über Jahrhunderte hinweg von den gelehrten und ehrwürdigen Kirchenvätern festgelegt wurde, neu zu schreiben?“ Er vollzog eine umfassende Geste, als wolle er jeden seiner Schüler einladen, die Qualen der Hölle durch einen gläsernen Boden im Klassenzimmer selbst in Augenschein zu nehmen. „Habe ich euch allen nicht genug Verse aus Gottes heiligem Worte vorgelesen, die deutlich zeigen, dass die Hölle dort einen angestammten Platz hat? Erinnert euch doch nur an das Gleichnis unseres Herrn Christus von dem reichen Mann und von Lazarus! Hat nicht der reiche Mann mitten aus der Hölle Glut Lazarus, der sicher in Abrahams Schoß ruhte, um einen einzigen Tropfen Wasser gebeten, damit seine Pein gelindert würde?“

„Nein“, versetzte Jonathan. „Wie Sie selbst sagten, Sir, sprach Jesus in einem Gleichnis. Er sprach also in Bildern, um eine bestimmte Sache besser erklären zu können. Aus der Handlung des Gleichnisses ist leicht zu erkennen, dass es nicht buchstäblich gemeint ist. Oder wie sonst könnte ein einziger Wassertropfen jemandem, der die von Ihnen so anschaulich geschilderten Qualen erleiden muss, Linderung verschaffen? Nach der Bibel ist die Seele nichts weiter als der menschliche Körper oder sein Leben und die Hölle der Ort, wohin die tote Seele geht: ein kühles, stilles Grab. Ich finde, das passt auch viel besser zum Bild des liebevollen Gottes als die Vorstellung, er könnte seine Geschöpfe in alle Ewigkeit quälen. Oder glauben Sie als Kirchenmann, Sir, dass die Bibel sich in allen diesen Dingen widerspricht? Ich kann Ihnen gerne zeigen, welche Bibelverse ich meine …“

Dieses freundliche Angebot war für Pastor Garson denn doch zu viel. Seine Festung aus gelehrten aber nebulösen Erklärungen war von Jonathan so schnell gestürmt worden, als hätte er vergessen, rechtzeitig die Zugbrücke hochzuziehen. Alles, was er jetzt noch in die Waagschale werfen konnte, war die Autorität seines Amtes.

„Willst du etwa wagen, du grüner Knabe“, explodierte er, „mir, der ich acht lange Jahre lang Theologie studiert habe, die Heilige Schrift zu erklären? Mit deiner Rebellion vergiftest du nicht nur deinen Geist, sondern auch den deiner Mitschüler. Ich verbiete dir, mit diesem Unsinn fortzufahren. Du bekommst einen Tadel für dein respektloses Verhalten; vielleicht kann dir das dein freches Mundwerk stopfen.“

Jonathan wusste, dass er den Bogen nicht überspannen durfte und schwieg. Bis hierher hatte ohnehin alles geklappt: Der eine oder andere Mitschüler hatte gewiss erkannt, dass nicht alles, was ihm von Garson aufgetischt wurde, der Weisheit letzter Schluss war.

„So“, fuhr Pastor Garson gefestigt fort, „ich glaube, jetzt können wir endlich mit dem normalen Unterricht fortfahren. Ihr habt noch einige Minuten Zeit, eure Bilder zum Thema „Wie stelle ich mir die Hölle vor?“ zu vollenden. Wenn ihr fertig seid, legt es mir bitte auf mein Pult.“

Es folgte stille Geschäftigkeit. Einige hatten ihre Darstellung zu den von Pastor Garson so plastisch geschilderten Qualen bereits fertig und deponierten sie auf dem Lehrerpult. Andere brachten noch letzte Verbesserungen an. Dabei variierten die Bilder von naiven Zeichnungen bis hin zu aufwendigen Kompositionen in Wasserfarbe, die schon fast barock anmuteten.

Jonathan hatte ein Blatt Papier hervorgeholt, auf dem sich – nichts befand. Dann hatte er alle Malutensilien ausgebreitet und begann nun, das Blatt mit langen Strichen aus einem breiten Borstenpinsel zu überziehen. Das Wasser, in das er immer wieder seinen Pinsel eintauchte, war bald so undurchsichtig wie ein Stück Kohle. Einmal summte er leise vor sich hin. Als er Pastor Garsons strafenden Blick bemerkte, verstummte er jedoch wieder. Schließlich trocknete er die Farbe, indem er geräuschvoll gegen das Blatt pustete und es hin und her wedelte. Zufrieden betrachtete er sein Werk.

Jimmy, ein Mitschüler mit roten Haaren und Sommersprossen, kicherte, als er über Jonathans Schulter spähte und das Gemälde erblickte. Pastor Garson wurde aufmerksam.

„Wie sieht es aus, Jonathan Jabbok? Bist du fertig mit deinem Bild?“

„Sofort, Sir. Es muss nur noch trocknen.“

„Das kann es auch hier auf meinem Pult. James, bring bitte das Bild von Jonathan zu mir nach vorne.“

Der Junge, der hinter Jonathan saß, erhob sich von seinem Platz und tat, wie ihm geheißen. Grinsend trug er das Bild zum Lehrerpult. Als Pastor Garson das Kunstwerk in Empfang nahm und begutachtete, schienen seine Augen aus den Höhlen zu quellen.

„Was soll das?“, quiekte er schrill. „Willst du mich zum Narren halten?“

„Wieso?“, fragte Jonathan unschuldig. „Habe ich das Thema nicht richtig verstanden, Sir?“

„Das ist wohl noch die harmloseste Umschreibung für das, was du mir hier abgeliefert hast!“ Garson hielt das Bild in die Höhe, so dass alle Jungen es sehen konnten. Ein Raunen und Kichern ging durch den Raum.

„Das Bild ist schwarz. Einfach nur schwarz!“, gellte der Pastor, dem Kollaps nahe. Das Thema lautete: „Wie stelle ich mir die Hölle vor?“ Und was soll das hier sein?“

„Nun, die Heilige Schrift sagt nicht, dass der Mensch eine Seele hat, sondern dass er selbst die Seele ist. Nach dem Tod kann man sie daher auch nicht in einer Feuerhölle quälen, sondern nur in ein dunkles Grab legen. Erst wollte ich das Blatt ja weiß lassen, Sir. Aber dann habe ich mir gedacht, Sie würden dies als Arbeitsverweigerung ansehen. Deshalb habe ich es dann schwarz gemalt. Ich glaube“, beglückwünschte Jonathan sich selbst, „dadurch habe ich das Nichts noch viel besser getroffen. Finden sie nicht auch, Sir?“

Pastor Garson stand da wie versteinert. Er hatte die Augen geschlossen und atmete tief, um sich nicht erneut aus der Fassung bringen zu lassen. Als er Jonathan wieder anschaute, klang seine Stimme trügerisch ruhig. „Die Note, die du für dein Bild bekommst, wird dir meine Antwort geben.“

Zur Schonung seiner angegriffenen Nerven beschloss der Pastor, den Unterricht zu beenden. Jonathan lächelte zufrieden. Alles hatte sich planmäßig entwickelt.

Aber die Sache war für ihn noch nicht ausgestanden.

„Du begibst dich auf deine Kammer. Dort bleibst du, bis Sir Malmek dich rufen lässt.“

Mehr sagte Pastor Garson nicht. Wie die in Marmor gehauene Statue eines dicken Cäsaren stand er neben seinem Pult und zeigte Jonathan, wo sich die Tür befand.

Der tat das Beste, was man angesichts eines solch grimmigen „Feindes“ zu tun vermag: Ohne ein Wort des Protestes bewegte er seinen Rollstuhl in die bezeigte Richtung und verließ das Klassenzimmer. Draußen rollte er den Flur entlang zu seinem Zimmer, und erst als er die Tür hinter sich geschlossen hatte, atmete er erleichtert auf.

Kapitel 3 Der Auftrag

Lemor der Hirte