Der Leuchtturm in der Wüste - Ralf Isau - E-Book

Der Leuchtturm in der Wüste E-Book

Ralf Isau

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Beschreibung

Der zwölfjährige Felix hat ein Problem: Er hat das Wünschen verlernt! War er einst Experte im Wünschen, so ist nun plötzlich sein Wunschkanal verstopft und er weiß einfach nicht mehr so recht, was er sich noch wünschen soll. Um seine besorgten Eltern nicht weiter zu beunruhigen, wünscht er sich, auf einem weißen Kamel durch die Wüste zu reiten. Dort gerät er in einen fürchterlichen Sandsturm und was als Notlösung gedacht war, ist der Anfang eines Abenteuers, in dem nur ein besonderer Wunsch die Rettung bringen kann ...-

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Seitenzahl: 168

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Ralf Isau

Der Leuchtturm in der Wüste

 

Saga

Der Leuchtturm in der Wüste

 

Copyright (c) 2022 by Ralf Isau, vertreten von AVA international GmbH, Germany

(www.ava-international.de)

Die Originalausgabe ist 2004 im Thienemann Verlag erschienen

Coverbild/Illustration: Shutterstock

Copyright © 2004, 2022 Ralf Isau und SAGA Egmont

 

Alle Rechte vorbehalten

 

ISBN: 9788728390306

 

1. E-Book-Ausgabe

Format: EPUB 3.0

 

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für gewerbliche und öffentliche Zwecke ist nur mit der Zustimmung vom Verlag gestattet.

 

www.sagaegmont.com

Saga ist Teil der Egmont-Gruppe. Egmont ist Dänemarks größter Medienkonzern und gehört der Egmont-Stiftung, die jährlich Kinder aus schwierigen Verhältnissen mit fast 13,4 Millionen Euro unterstützt.

Das Labyrinth des Lebens

ist voller Sackgassen.

Meide die Abkürzungen.

Für Mirjam

Der versiegte Wunschbrunnen

»Was wünschst du dir eigentlich zur Versetzung in die siebte Klasse?«

Felix starrte seine Mutter aus großen Augen an. Jetzt war es geschehen. Sie hatte ihn gefragt. Etwas Furchtbareres konnte es nicht geben. Davon war er fest überzeugt. Er fühlte sich wie ein Fisch ohne Wasser. Zwar konnte er noch die Lippen bewegen, brachte aber kein einziges Wort heraus.

Geschweige denn einen Wunsch.

Stumm blickte er in das Gesicht seiner Mutter. Die ließ nur unwillig von der Mikrowelle ab, in der sie gerade einen Teller Spaghetti für ihn aufwärmte, und beugte sich zu ihm herab. Wie gewöhnlich war sie sehr in Eile. Um vier Uhr, in wenigen Minuten also, müsse sie zu einer unheimlich wichtigen Besprechung, hatte sie gesagt. Felix konnte sich nicht mehr erinnern, worum es heute ging. Hatte sie nicht schwangere Kröten erwähnt, die von Autos platt gefahren wurden? Oder setzte sie sich wieder für sterbende Bäume ein? Erst letzte Woche hatte sie sich an irgendeine hundertjährige Linde gekettet, um sie vor einer gefräßigen Motorsäge zu retten. Möglicherweise ging es auch wieder um Zebrastreifen, die es noch gar nicht gab. Die Grundschullehrerin Julia Corvus sorgte sich um viele Dinge, im Moment sogar um ihren Sohn, der das Mittagessen heute nicht angerührt hatte, obwohl Spaghetti seine Lieblingsspeise waren.

Wenn auch nur im Entferntesten mit seinem nicht enden wollenden Zaudern zu rechnen gewesen wäre, hätte sie sich natürlich gehütet, ihm die verhängnisvolle Frage zu stellen. Felix kannte seine Mutter. Wann immer es ihre Arbeit und die schwangeren Kröten zuließen, las sie ihm jeden Wunsch von den Augen ab. Meist ersparte er ihr jedoch die Mühe, denn bis zu diesem Tag waren die Wünsche nur so aus ihm hervorgesprudelt. Doch plötzlich hatte sich alles geändert.

Ihre Ungeduld mehr schlecht als recht überspielend, lächelte sie flüchtig, strich ihm eine semmelblonde Strähne aus der Stirn und wiederholte langsam sowie übertrieben deutlich: »Was wünschst du dir zur Versetzung in die siebte Klasse, Felix? Die Frage ist doch ganz einfach. Sonst fallen dir immer gleich einhundertundelf Dinge ein, ohne die du den nächsten Tag nicht überleben kannst, und jetzt tust du gerade so, als wärst du plötzlich stumm wie ein Fisch.«

Viel schrecklicher, dachte Felix, während ihm heiß und kalt wurde. Er kam sich vor, als würde seine Haut vom Scheitel an abwärts mit rasender Geschwindigkeit austrocknen. Wenn sie erst völlig verkrustet wäre, würde er sich darin überhaupt nicht mehr rühren können. Warum antwortete er nicht? Irgendetwas. Die Frage war doch nicht so schwer. Was er sich zur Versetzung wünsche, die er mit Ach und Krach geschafft hatte? Kein Problem. Er wünschte sich ein ... Etwas richtig ... Tolles ... Großes ...

Nichts. Sein Kopf war wie ein ausgeblasenes Ei. Zwischen seinen Ohren gab es nur gähnende Leere. Und das machte ihm Angst. War er noch derselbe Elfjährige, von dem seine Großmutter erst gestern wieder, halb scherzhaft, halb tadelnd, behauptet hatte, er werde zweifellos die Goldmedaille im Marathonwünschen gewinnen, sobald man daraus eine olympische Sportart mache?

Mit dieser Einschätzung mochte sie bis jetzt durchaus richtig gelegen haben. Auf seine Weise glich ihr Enkel tatsächlich einem Athleten. Ein Wettkämpfer, der etwas auf sich hält, geht früh ins Bett, trinkt wenig Alkohol, raucht keine Zigaretten, isst massenhaft Grünzeug, ja, er tut alles, damit sein Körper gesund und stark wird. Ähnlich streng ging Felix mit sich um.

Die Beanspruchung beim Hochleistungswünschen ist freilich eine ganz andere als beim Kugelstoßen oder Hammerwerfen. Um sowohl seine Ausdauer auf den Langstrecken als auch seine Antrittskraft im Sprintwunsch zu steigern, mied er alles, was ihn vom Entdecken und Befriedigen eigener Sehnsüchte ablenken könnte. Und für ihn stand fest, dass jeder in der Familie Opfer bringen muss, wenn ein Kind zu Höherem auserkoren ist, etwa zur Eiskunstlaufprinzessin, zum Fußballprinzen oder eben zum Wunscholympioniken. Ob sein Vater, der Schiffbauingenieur und Werftleiter war, nun abends zu Hause noch arbeiten wollte – was beinahe täglich der Fall war – oder seine Mutter Hilfe beim Ausräumen der Geschirrspülmaschine brauchte, Felix konnte darauf keine Rücksicht nehmen. Seine Leidenschaft für die eigenen Belange ging grundsätzlich vor. Wahrscheinlich hatte er längst verlernt, die Bedürfnisse anderer überhaupt zu sehen. Außer Lisa leistete er sich auch keine Freunde. Die wären ihm nur lästig gewesen und er wollte sich nicht verzetteln.

Doch nun, obwohl er sich so viel um sich selbst gekümmert hatte, fühlte er sich unversehens leer. Wie ausgepumpt. Felix verstand die Welt nicht mehr. War er noch derselbe Junge, den man nachts aus dem Schlaf reißen und nach einem Wunsch fragen konnte und mindestens ein Dutzend genannt bekam? Ja, steckte er noch in der Haut jenes dünnen Knaben, der auch dann ungeduldig war, wenn er gerade kein Geschenk erwartete, der nie länger als eine halbe Minute stillsitzen konnte und ständig Dinge umwarf und von den Möbeln fegte, weil er wie ein Wirbelwind durch die Wohnung raste? Er, der für seine Eltern stets ein unversiegbarer Wunschbrunnen gewesen war, aus dem sie ewig schöpfen konnten, wusste plötzlich nicht mehr, was er haben wollte. Schlimmer noch, ihm fehlte sogar die Lust, sich etwas Neues auszudenken.

Ehe ihn das Entsetzen völlig lähmen konnte, rannte er aus der Küche.

 

Das geräumige Kinderzimmer glich einer Lagerhalle für erfüllte Wünsche. Es befand sich im oberen Stockwerk des großen Hauses, das in einem weitläufigen Garten dicht am Flussufer lag. Felix ließ sich wie ein nasser Sack auf den dicken Teppich fallen. Dabei zerschrammte er sich den rechten Arm an einem der herumliegenden Plastikbausteine, mit denen er nach der Schule ein Containerschiff hatte bauen wollen – nach ungefähr drei Minuten war ihm die Lust vergangen. Wütend kickte er ein Fernlenkauto zur Seite und trat nach einem Gabelstapler.

Hinter dem Fenster zogen Ozeanriesen vorbei. Echte Öltanker und Frachter. An manchen Sonntagen vertrieb er sich die Zeit damit, zu erraten, welches dieser Schiffe sein Vater gebaut hatte.

Aber nicht an diesem Tag.

Er rollte sich zwischen seinen wahllos über den Boden verstreuten Spielsachen auf den Rücken, starrte die Decke an und wartete darauf, jeden Moment zu sterben. Ein Junge, der keine Wünsche mehr hatte, musste unweigerlich verenden wie jener berühmte Fisch ohne Wasser. Daran führte kein Weg vorbei. Jedenfalls glaubte Felix das. Bevor es jedoch zum Schlimmsten kam, hörte er über sich eine krächzende Stimme.

»Wünsch mir was!«

Der Vorschlag erscholl aus einem großen vergoldeten Käfig, der zur Linken des Jungen an einem gebogenen Ständer hing. In dem Bauer lebte Korax, ein Kolkrabe. Ziemlich genau vor einem Jahr hatte sich Felix den Vogel gewünscht und zur Versetzung in die sechste Klasse von seinen Eltern geschenkt bekommen. Seit dieser Zeit versuchte er ihm den Satz »Wünsch dir was!« beizubringen. Er hatte die Vorstellung einmal ungemein witzig gefunden, diese Worte zu hören, wenn er in sein Zimmer kam.

Aber nun nicht mehr.

Aus einem unerfindlichen Grund konnte Korax den Satz immer noch nicht richtig aussprechen. Vielleicht war er zu dumm dazu. Oder zu störrisch. Wenn er überhaupt etwas krächzte, dann: »Wünsch mir was!«

»Blöder Rabe!«, murmelte Felix mit bebenden Lippen, verschränkte die Arme über der Brust und drehte den Kopf zur Seite, weg von dem Vogel.

»Wünsch mir was!«, beharrte Korax.

»Leicht gesagt«, jammerte der Junge. Eine Träne tropfte aus seinem Augenwinkel auf den Teppich, wo sie rasch versickerte. Felix schniefte. Er war wunschlos unglücklich.

Seine Gedanken trieben träge wie ein dunkler Fluss dahin. Auf dem Grund dieses Stroms lag ein Schatz begraben, ein unerfüllter Wunsch, das spürte Felix, aber er konnte ihn nicht heben. Plötzlich riss ihn die Hausklingel aus seinem Dämmerzustand.

»Wünsch mir was!«, knarrte Korax.

Im Nu war Felix hellwach. Das musste Lisa sein! Sie gingen beide in dieselbe Klasse. Das braun gelockte Mädchen wohnte gleich nebenan. Als er heute in der großen Pause auf dem Schulhof vor sich hin geträumt hatte, war sie von hinten an ihn herangeschlichen.

»Kommst du heute Nachmittag raus zum Skateboardfahren?«

»Wegen mir«, antwortete er nicht gerade überschwänglich. Er hatte sich erschrocken wie ein auf frischer Tat ertappter Tresorknacker.

Felix mochte Lisa ganz gern. Sie war immer die Erste, die seine neuesten Geschenke zu sehen bekam. Mit ihren riesigen dunklen Augen konnte sie Bauklötze staunen. Das gefiel ihm. Manchmal verlangte er für seine Vorführungen Einblick in ihre Hausaufgaben. Obwohl er schnell begriff, machte ihm die Schule überhaupt keinen Spaß. Sie war für ihn eine Anstalt, in der man Kinder zum Stillsitzen zwang.

»Felix! Lisa ist da. Sie hat ihr Skateboard dabei und fragt, ob du kommst«, hallte die Stimme seiner Mutter durchs Haus.

Er stellte sich tot.

»Nun komm schon! Lisa wartet. Etwas frische Luft tut dir gut«, drängte die Stimme von unten.

»Ich bin krank. Schick sie weg!«

Einen Moment lang hörte er noch undeutliches Gemurmel, dann klappte die Haustür. Schritte kamen die Treppe herauf und seine Mutter steckte den Kopf durch die Tür.

»Du bist doch nicht wirklich krank, junger Mann. Dürfte ich jetzt bitte erfahren, was du hast?«

»Verstopfung«, erwiderte Felix knapp, ohne den Blick von der Decke zu nehmen.

»Wünsch mir was!«, schnarrte Korax.

»Wie wär’s mit einem Löffel Rizinusöl?«, fragte die Mutter und Felix war sich nicht ganz sicher, ob sie es als Scherz oder Drohung meinte.

»Bei meiner Art von Verstopfung nützt das nichts«, entgegnete er rasch.

»Ah!«, neckte sie ihn. »Dann haben wir es hier wohl weniger mit gewöhnlicher Darmträgheit zu tun als vielmehr mit einem seltenen Fall von Obliteration.«

Felix hasste es, wenn seine Mutter die Lehrerin herauskehrte. Zumindest hatte sie es geschafft, dass er sie ansah. »Keine Ahnung, wovon du sprichst.«

Sie blickte auf ihre Armbanduhr. Ein kurzes Zögern. Dann ging sie neben ihm in die Hocke, fuhr mit den Fingern ihrer rechten Hand wie mit einem grobzinkigen Kamm gegen den Strich durch sein helles Haar und erklärte: »Eine Obliteration ist eine ›Verstopfung von Körperhohlräumen‹. Was geht dir im Kopf herum, Felix? Was fehlt dir?«

Er seufzte, als lasteten auf seinen schmalen Schultern alle Sorgen der Welt. Seine Antwort kam leise. »Wünsche.«

Julia Corvus runzelte die Stirn. »Was?«

Der Junge drehte das Gesicht zur Seite und schluchzte: »Ich habe keine Wünsche mehr, Mama.«

Er hörte ein Japsen, wie Mütter es nur von sich geben, wenn sie aus heiterem Himmel eine erschütternde Nachricht mitgeteilt bekommen, in der Art wie: Ihr Sohn war an der Entführung eines Passagierflugzeugs beteiligt. Oder: Felix hat sämtliche Fische im Fluss vergiftet. »Wie meinst du das?«, stammelte sie und begann mit einem Mal zu reden wie ein Wasserfall. »Ist doch nicht so schlimm, wenn dir nicht gleich einfällt, was wir dir zur Versetzung schenken sollen. Schlaf eine Nacht drüber, Felix. Notfalls suchen Papa und ich etwas Schönes für dich aus und überraschen dich damit. Ein neues Skateboard vielleicht ...«

»Ich will kein anderes Brett.«

»Oder einen ferngesteuerten Hubschrauber. Du hast ein Auto, drei Schiffe, aber nichts, das fliegen kann ...«

»Doch. Korax.«

»Der Rabe zählt nicht. Er sitzt im Käfig und tut nichts. Du könntest einen richtigen, brummenden, benzinbetriebenen ...«

»Aber wenn ich mir keinen Hubschrauber wünsche?«, unterbrach Felix seine Mutter und auf seinem Gesicht lag ein Ausdruck tiefster Verzweiflung. »Ich möchte ...«

»Ja?«, fragte sie hoffnungsvoll.

Er schüttelte den Kopf. Alles kam ihm so sinnlos vor. Wann hatte er sich zuletzt länger als einen Tag über ein Geschenk gefreut? Er konnte sich nicht erinnern. Traurig sagte er: »Ich möchte mir ein Mal etwas Richtiges wünschen können.«

 

»Herrje, jetzt sitz endlich still, Felix! Ein Zappelphilipp ist ja eine Schlaftablette gegen dich.« Der Vater ließ seine Zeitung los, um mit der Faust auf den Tisch zu schlagen. Als er jedoch Julias strengen Blick bemerkte, besann er sich eines Besseren. Anstatt die Tassen tanzen zu lassen, schüttelte er nur den Kopf und versteckte sich wieder hinter dem Wirtschaftsteil.

Felix wusste, wie unverzichtbar die morgendliche Zeitungslektüre für seinen Vater war. Niemand durfte ihn dabei stören. Die Nachrichten seien lebenswichtig für ihn und für die ganze Familie, hatte er seinem Sohn einmal erklärt. Als Werftleiter müsse er ständig auf dem Laufenden sein. »Wer nichts weiß, kann auch nichts«, lautete sein Wahlspruch. Früher hatte der begabte Severin Corvus einmal davon geträumt, elegante Segelschiffe zu entwerfen, doch man ließ ihn nur plumpe Frachter konstruieren. Inzwischen besaß er einen Doktortitel und befehligte ein Heer von Ingenieuren und Arbeitern. Die zu beschäftigen sei schwieriger, als eine Klasse von Abc-Schützen bei Laune zu halten, pflegte er zu klagen.

Seit dem Beginn des neuen Schuljahres waren fast zwei Monate vergangen. Die Herbstferien standen vor der Tür. Der Wind scheuchte bunte Blätter durch den Garten. Selbst wenn Felix gewollt hätte, wäre es unmöglich gewesen, seinen neuen ferngesteuerten Hubschrauber zu starten. Aber das war ihm auch egal. Die anderen Geschenke, die er inzwischen bekommen hatte, lagen ebenfalls unbeachtet im Haus herum.

Felix war von seinen Eltern schon seit der Kindergartenzeit mit den Vorzügen eines geregelten Lebens vertraut gemacht worden. Wenn die Schule vorbei und die Hausaufgaben erledigt waren, dann begann für ihn das Freizeit-Pflichtprogramm. Derzeit gehörten der Fußballverein dazu, die Nachhilfe in Mathe, der Flötenunterricht und die Sprachförderung. Seine Eltern vertraten die Ansicht, dass mit diesem ausgewogenen Plan seine körperliche und geistige Entwicklung zur angestrebten Höchstform gelangen werde. Die jüngste Störung im Wunschverhalten ihres Kindes hatte sie jedoch beunruhigt. Und so war Felix auf dem Weg zum Superman eine Zwangspause verordnet worden.

Diese Unterbrechung verfolgte nicht etwa den Zweck, ihm Zeit zum Spielen zu verschaffen. Vielmehr wurde nur eine andere Art von Terminen in seinen ledergebundenen Kalender eingetragen. In den letzten Wochen hatte ihn seine Mutter zu einer nicht enden wollenden Reihe von Ärzten geschleppt, die sich alle Mühe gaben, der beunruhigenden Wunschlosigkeit des Jungen auf den Grund zu gehen. Sie schlugen mit Hämmerchen auf seine Knie und Ellbogen ein, folterten ihn mit Spritzen, verkabelten ihn mit hektisch kritzelnden Maschinen und quälten ihn mit sonderbaren Fragen. Bisher hatte niemand die Ursache für seine »Verstopfung« herausgefunden. Felix war eher noch hibbeliger geworden. Er konnte stundenlang herumrennen, Dinge umwerfen, die andere mit großer Sorgfalt aufgestellt hatten, und Krach machen, wenn seine Eltern ihre Ruhe haben wollten, ohne die geringsten Anzeichen von Ermüdung zu zeigen. Nur sein Mitteilungsbedürfnis war nicht mehr so grenzenlos wie früher. Eher im Gegenteil. Er redete von Tag zu Tag weniger.

Felix’ Mutter schlang ihr Marmeladenbrötchen hinunter und korrigierte nebenbei Hefte.

»Ich will Kakao«, sagte er, obwohl sein Saftglas noch halb voll war.

»Im Kühlschrank steht welcher«, antwortete sie, ohne von ihren roten Strichen aufzublicken.

Der Junge überlegte, ob er sein Glas umstoßen sollte. Das würde die beiden ein bisschen in Schwung bringen. Er entschied sich aber dagegen und kippelte stattdessen mit dem Stuhl so lange vor und zurück, bis er sich von der Anrichte hinter ihm ein buntes Magazin angeln konnte. Das schlug er dann an einer beliebigen Stelle auf und tat so, als würde er wie seine Eltern lesen. In Wirklichkeit betrachtete er nur die Bilder.

Die Illustrierte berichtete über den neuesten Film von Marco DiFalsico. Felix schwärmte für den Schauspieler. In seinen Filmen war Marco DiFalsico ausnahmslos der mutige Held, dem nichts und niemand etwas anhaben konnte, der alle Gefahren überwand, der einfach großartig war. Nur zu gerne wäre Felix wie er! Im neuen Film spielte Marco DiFalsico den Wüstenfürsten Salafim, der vorzugsweise auf einem weißen Kamel die Sanddünen hoch- und wieder hinunterpreschte und mit seinem blitzenden Krummsäbel Bösewichten das Fürchten lehrte. Unvermittelt hörte Felix die Zeitung seines Vaters rascheln und gleich darauf vernahm er dessen Stimme.

»Möchtest du auch gerne einmal auf einem Kamel reiten?«

Felix blickte misstrauisch über den Rand des Magazins. Wenn sich seine Eltern einmal im Jahr für ihn einige zusammenhängende Tage freinahmen, dann bedeutete das für sie jedes Mal eine übermenschliche Kraftanstrengung, ein Opfer, das mit dem Verlust eines Armes oder eines Beines gleichzusetzen war – dieses Gefühl vermittelten sie jedenfalls ihrem Sohn. Dennoch oder gerade deshalb ragten die Sommerferien an der Nordseeküste (sie fuhren nie woanders hin) in seiner Erinnerung wie Inseln der Glückseligkeit aus dem von Terminen gepeitschten Alltagsozean. Aber in diesem Jahr hatten die beiden ihre Schuldigkeit schon getan, die gemeinsame Zeit am Wattenmeer war abgehakt. Die Frage des Vaters konnte also nur ein Scherz sein. Es sei denn, er wollte seinem Sorgenkind eine Eintrittskarte für den Zoo kaufen. Oder ihm einen Kamelritt im Zirkus spendieren. Felix schob das Kinn vor und entgegnete forsch: »Ja, aber nur, wenn es in der Wüste ist.«

Das Gesicht seines Vaters erhellte sich. Die Antwort schien ihm zu gefallen. Er nickte lächelnd und sagte: »Gut. Die Werft baut gerade ein Schiff für Achmet Abu Asmah, einen Ölscheich im Nahen Osten. Ich muss ihn nächste Woche besuchen. Wie wär’s, wenn du und Mama mich begleitet? Ihr könntet ein oder zwei Tage am Hotelpool faulenzen, bis ich aus dem Emirat zurück bin, und anschließend miete ich für jeden von uns ein Wüstenschiff und wir unternehmen einen Ausflug ins Dünenmeer.«

Felix’ Kinnladen klappte herunter. Abgesehen von dem Streifzug durch die Folterkammern der Ärzte war das Angebot seines Vaters die erste echte Überraschung in den letzten acht Wochen. Irgendwie kam es Felix jedoch verdächtig vor. Seine Mutter grinste, als hätte sie bereits von den Reiseplänen gewusst. Vermutlich hatten sich die beiden verschworen, in ihm einen Wunsch zu wecken, und sahen sich jetzt kurz vor der Ziellinie. Zugegeben, es war eine verlockende Aussicht, selbst wie ein Wüstenfürst auf einem Kamel zu reiten. Misstrauisch fragte Felix: »Gibt es dort, wo wir hinfahren, auch wirklich Kamele und Wüstensand?«

Sein Vater schmunzelte. »Falls nicht, bestelle ich sie für dich.«

Wie ein Wüstenfürst

Wie oft schon hatte sein Vater ihm etwas versprochen! Mal den gemeinsamen Besuch eines Fußballspiels, ein andermal den eines Kinos, in dem Marco DiFalsicos neuester Film lief. Am Ende wurde fast nie etwas daraus. »Die Pflicht ruft!« Mit dieser Begründung versuchte Dr. Severin Corvus seinem Sohn begreiflich zu machen, dass ihm seine Schiffe wichtiger waren als alles andere. Doch diesmal kam es anders.

Seit jenem Morgen am Frühstückstisch, als er sich nach langer Wunschlosigkeit zum ersten Mal wieder richtig auf etwas gefreut hatte, waren noch keine zehn Tage vergangen, als Felix durch das Bullauge eines Flugzeugs auf ockerfarbene Sanddünen hinabblickte. Die Wüste! Unter ihm zogen Pyramiden und eine Sphinx vorbei. Wahnsinn! Seit die Reisepläne feststanden, hatte er sich mindestens zwei Dutzend Sachbücher aus der Stadtbücherei geholt und alles über die Wüste gelesen. Er war bereit, in Salafims Rolle zu schlüpfen. Alles, was ihm zu seinem Glück noch fehlte, war ein weißes Kamel. Innerlich jubelte er. War das eben nicht wieder ein ...? Ja, endlich sprudelte sein Wunschbrunnen wieder!

 

Um es gleich vorwegzunehmen: Das Kamel war gelb. Nachdem der Werftleiter Severin Corvus sich mit dem Scheich Achmet Abu Asmah getroffen und ihm noch einen weiteren gigantischen Öltanker verkauft hatte, kam endlich der Tag des heiß ersehnten Ausflugs in die Wüste. Felix hätte gerne noch etwas länger geschlafen, aber sein Vater kannte keine Gnade. Früh am Morgen führte er die Familie zu den Pyramiden, wo die Kamelvermieter ihre Tiere parkten oder wie immer man das vorübergehende Abstellen von Trampeltieren und Dromedaren nannte.

Die Sonne stach bereits unbarmherzig vom Himmel. Zum Schutz hatte der angehende Wüstenfürst eine blaue Baseballkappe auf dem Kopf. Außerdem trug er kurze sandfarbene Hosen, ein rotes T-Shirt und eine dicke Schicht Sonnencreme. Letztere hatte ihm seine Mutter aufgelegt. Sie beschattete ihre empfindliche Haut mit einem wagenradgroßen Strohhut, der mit einem geblümten Stoffband unter dem Kinn befestigt war. Ihre lange Hose und die luftige Bluse bestanden aus weißem Leinen. Felix’ Vater dagegen, der von jeher zu Übertreibungen neigte, hatte sich für den Ausflug extra neu eingekleidet. Ganz in Khaki gehüllt, sah er unter seinem runden Tropenhelm ein bisschen aus wie der britische Forschungsreisende David Livingstone vor einhundertfünfzig Jahren.