Die Masken des Morpheus - Ralf Isau - E-Book

Die Masken des Morpheus E-Book

Ralf Isau

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Beschreibung

London im Jahr 1793. Der siebzehnjährige Illusionist, Akrobat und Zirkusstar Adrian Pratt staunt nicht schlecht, als er eines Tages eine besondere Gabe entdeckt: Er kann mit anderen Menschen den Körper tauschen. Ungewollt findet er sich im Körper eines zwielichtigen Fremden wieder, der sich prompt in Adrians Körper davonmacht. Um seinen eigenen Körper zurückzuerlangen begibt Adrian sich in den nebligen Gassen Londons auf die Suche nach dem Fremden und trifft dabei auf Mira. Mit ihrer Hilfe stößt er auf ein dunkles Geheimnis, das ihn auf eine abenteuerliche Reise nach Paris führt, mitten in den Hexenkessel der Französischen Revolution.-

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Ralf Isau

Die Masken des Morpheus

Roman

Saga

Die Masken des Morpheus

 

Copyright (c) 2022 by Ralf Isau, vertreten von AVA international GmbH, Germany

(www.ava-international.de)

Die Originalausgabe ist 2013 im cbj Verlag erschienen

Coverbild/Illustration: Shutterstock

Copyright © 2013, 2022 Ralf Isau und SAGA Egmont

 

Alle Rechte vorbehalten

 

ISBN: 9788728390313

 

1. E-Book-Ausgabe

Format: EPUB 3.0

 

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für gewerbliche und öffentliche Zwecke ist nur mit der Zustimmung vom Verlag gestattet.

 

www.sagaegmont.com

Saga ist Teil der Egmont-Gruppe. Egmont ist Dänemarks größter Medienkonzern und gehört der Egmont-Stiftung, die jährlich Kinder aus schwierigen Verhältnissen mit fast 13,4 Millionen Euro unterstützt.

Jeder sieht, was du scheinst.

Nur wenige fühlen, wie du bist.

Niccolò Machiavelli

Prolog

Wie alles begann.

Bamberg, 10. März 1776

 

Im Jahr des Herrn 1776 war man den Anblick von Löwen in den Gassen von Bamberg nicht gewohnt. Schon gar nicht im Winter. Was nicht wenige fromme Leute in der oberfränkischen Bischofsstadt als Heimsuchung des Teufels ansahen, hielt Tobes Pratt für einen mörderischen Angriff, der allein ihm und seiner jungen Familie galt.

Wer die Geheimnisse der geheimen Bruderschaft kannte, sah die Raubkatze mit ganz anderen Augen. Sie verhielt sich nicht wie ein Tier. Das Biest jagte ihn und seine Lieben mit der Heimtücke eines verschlagenen Menschen, und er hatte einen furchtbaren Verdacht, um wen es sich dabei handelte.

Vom nächtlichen Himmel schneite es in dicken Flocken auf sie herab, während sie von der Inselstadt flohen. Tobes trug eine Laterne vor sich her, die im Schneegestöber kaum fünf Schritte weit leuchtete. Mehr als um sich selbst war er um seine Frau und den kleinen Arian besorgt, vor sieben Wochen erst hatte Salome ihn zur Welt gebracht. Er war ein ungewöhnliches Kind, das einigen nicht minder ungewöhnlichen Menschen irgendwann gefährlich werden konnte. Deshalb suchten sie wohl nach seiner Mutter, um seine Geburt zu verhindern. Woher sollte die Bruderschaft auch wissen, dass der Knabe schon geboren war?

»Ich kann den Löwen nicht mehr sehen. Haben wir ihn abgehängt?«, keuchte Salome, den Säugling an ihre Brust drückend. Der Schnee hatte ihr braunes Haar weiß gefärbt. Ihre zierliche Gestalt ließ kaum erahnen, wie zäh sie war. Sie hatte ein Schultertuch über den Jungen gebreitet, damit es nicht in sein Gesichtchen schneite und er womöglich zu weinen anfing.

»Lauf weiter, Liebes. Zoltán wird nicht aufgeben, ehe er uns gefunden hat.« Tobes hatte den Arm um seine Frau gelegt und schob sie mit sanfter Unnachgiebigkeit auf die Obere Brücke. Ein schneidender Wind wehte ihnen ins Gesicht. Vor ihnen ragte das Rathaus wie ein stolzes Schiff aus der Regnitz auf, dahinter erhob sich der Domberg. In ihrem Rücken läuteten die Feuerglocken Sturm und übertönten sogar das Rauschen des Flusses. Aufgeregte Stimmen drangen von der Insel herüber. Bald würde die ganze Stadt auf den Beinen sein, um den Löwen zu töten.

»Du glaubst, dass dein Oheim uns jagt?«, fragte Salome.

»Vielleicht hat sein kleiner Bruder auch einen gewieften Meuchler in den Pelz gesteckt. Mein Großvater schickt sicher den besten, den er finden konnte, um seinen Urenkel zu ermorden.«

»Warum, Tobes? Er ist ein unschuldiges Kind.« Sie durchquerten den überwölbten Durchgang des Rathausturms und betraten den östlichen Teil der Brücke.

»Das weißt du doch, Liebes. In ihm verschmelzen die Kräfte zweier Geschlechter, die seit Jahrtausenden verfeindet sind. Arian ist einzigartig.«

»Ich weiß nur, dass es einzigartig stinkt, wenn er in die Wickeltücher macht.«

»Du kannst nicht leugnen, dass sich in ihm unsere Talente vervielfachen und Neues hervorbringen. Schon vor seiner Geburt hat er mich damit überrascht. Oder hast du vergessen, wie du vor zwei Monaten von innen heraus geleuchtet hast? Und gleich nach deiner Niederkunft brachte er mich zum Strahlen. Irgendwann könnte dieses Feuer meinen Großvater vernichten. Das ahnt er und deshalb verfolgt er uns.«

Löwengebrüll drang von der Insel herüber. Ein Schuss hallte durch die Nacht.

»Vielleicht haben sie ihn erlegt«, sagte Salome.

»Lass uns den Jungen zu Kord bringen. Sein Wagen müsste im Hof des Wirtshauses stehen, wo er seine Vorstellungen gibt. Es ist hier gleich rechts, ein Stück die Gasse hinab.«

Sie stapfte weiter geradeaus. Schnee umwirbelte ihre Füße. »Niemals überlasse ich meinen Sohn einem Puppenspieler.«

»Du tust so, als wären wir etwas Besseres als er, dabei sind wir auch nur Gaukler.«

»Bei dir ist es aber nur Tarnung. Er bekommt Arian nicht.«

»Kord soll ihn ja nicht behalten, sondern nur auf ihn aufpassen, bis die Gefahr vorüber ist.«

Sie schüttelte den Kopf. »Wir fliehen in den Dom, so wie besprochen.«

»Das war von Anfang an keine gute Idee. Es ist nach Mitternacht. Wahrscheinlich sind sämtliche Pforten verschlossen. Und selbst wenn wir dort Einlass finden – ich glaube nicht, dass Zoltán oder wer immer in dem Löwen steckt, sich von Weihwasser und Heiligenbildern abschrecken lässt. Du kennst Kord. Er ist vertrauenswürdig und wird auf den Jungen aufpassen, solange es nötig ist.«

Schnaubend bog Salome nach rechts in die Herrenstraße ein.

Tobes legte wieder schützend seinen Arm um sie und atmete erleichtert auf. Er war erst fünfundzwanzig und liebte seine Frau über alles. Trotzdem waren ihre Gefühlsschwankungen für ihn manchmal wie ein Buch mit sieben Siegeln.

Die Stille zwischen den Fachwerkhäusern war geradezu unheimlich. Der Schnee dämpfte sämtliche Geräusche, selbst den Lärm von der Inselstadt. Wenig später erreichten sie das Schlenkerla in der Dominikanerstraße 6. Im Hof des Gasthauses fanden sie den gesuchten Reisewagen, ein blaues Holzhaus auf vier Rädern mit Runddach und aufgemalten Puppengesichtern, einige lachend, andere weinend. Kord war nirgends zu sehen.

»Er wird ein Gästezimmer genommen haben«, sagte Salome.

»Unwahrscheinlich«, wunderte sich Tobes.

»Ich lasse mein Kind nicht allein ...« Ein furchterregendes Brüllen ließ sie erschrocken innehalten.

»Der Löwe hat den Fluss überquert«, raunte Tobes. »Wir müssen ihn von dem Jungen fortlocken. Leg ihn in den Wagen.«

»Aber ...«

»Bitte, Salome! Sie wissen wahrscheinlich nichts von seiner Geburt. Hier ist er sicher. Ich hinterlasse Kord eine Nachricht.«

Ihr Widerstand erlahmte. Gestützt auf seine Hand stieg sie in die Kutsche.

Während Salome dem Kind ein warmes Lager aus Kissen und Decken bereitete, suchte Tobes zwischen Marionetten und Kulissen nach Schreibzeug. Bald hatte er einen Bleistift und Papier gefunden und kritzelte eine kurze Mitteilung auf das Blatt.

Lieber Kord!

Gildemeister Zoltán trachtet unserem Sohn Arian nach dem Leben. Salome und ich lassen ihn in Deinew Wagen zurüch und hoffen, euch bald wohlbehalten wiederzusehen. Sollte uns etwas zustoßen, bring ihn bitte nach Paris zu Baladur du Lys. Seine Frau Marie hat selbst gerade ein Töchterchen geboren, die rleine Mira. Ich wieß, unsere Freunde würden sich um Arian rümmern, als wäve es ihr eigener Sohn. Für etwaige Ausgaben lege ich Dir meine goldene Taschenuhr bei. Im hinteren Decrel findest Du ein Bild von mir, damit unser Schatz seinen Vater nie vergisst. Adieu.

Tobes Pratt

Während er das Blatt um die Uhr herum faltete, stopfte sich Salome ein Kissen unter den Mantel. Als sie seinen fragenden Blick bemerkte, lächelte sie grimmig. »Der Scherge wird eine hochschwangere Frau sehen. Dann kommt er gar nicht erst auf die Idee, nach Arian zu suchen.«

In ihren funkelnden braunen Augen sah Tobes, dass sie sich in das Unvermeidbare gefügt hatte. Ihr Mut rührte ihn. Er drückte sie an sich und küsste sie. »Ich werde alles tun, um euch zu beschützen.«

Erneut hallte das Löwengebrüll durch das Viertel.

Rasch verbarg er Uhr und Brief in den Tüchern, die das schlafende Kind wärmten, und streichelte sanft dessen rosiges Gesichtchen. Tobes’ Wangen waren feucht von Tränen.

Salome legte ihre Hand auf seinen Arm. »Wir müssen gehen, Schatz.«

Beide küssten zum Abschied ihren Sohn, dann liefen sie wieder auf die Dominikanerstraße hinaus. Es schneite unvermindert heftig. Abermals hallte das Brüllen des Löwen herüber, diesmal aus größerer Nähe.

»Wohin?«, fragte Salome.

»Zur Residenz«, antwortete er. »Vielleicht können wir ihn vor die Flinten der bischöflichen Wache locken.«

Hand in Hand eilten sie den Katzenberg zum Dom hinauf. Zweimal hörten sie Schüsse hinter sich, und noch öfter das Gebrüll des Löwen. In der Durchfahrt des Torschusters, des oberen Burgturms, entglitt die Laterne Tobes’ klammen Fingern.

Salome wollte sie für ihn aufheben.

»Lass sie liegen.« Er zog sie weiter.

Sie eilten auf den Domplatz. Vor ihnen ragte die gewaltige Basilika auf, zur Rechten erstreckte sich die fürstbischöfliche Residenz, die das weitläufige Areal an zwei Seiten umschloss. Zwischen Kirche und Palast kämpften einige Lichter gegen das allmählich nachlassende Schneegestöber an. Er deutete auf die Gebäude. »Die Alte Hofhaltung. Dort finden wir bestimmt Unterschlupf.«

Als sie vor den beiden Osttürmen des Doms nach rechts schwenkten, dröhnte hinter ihnen erneut die Stimme des Löwen. Tobes warf den Kopf herum und stolperte vor Schreck. Die Raubkatze war riesig, größer als alle, die er je an Königs- und Fürstenhöfen gesehen hatte, ein männliches Tier mit stolzer Mähne. Es setzte in der Durchfahrt des Torschusters mit einem Sprung über die fallen gelassene Laterne hinweg.

Tobes fing im letzten Augenblick seinen Sturz ab und zerrte an Salomes Arm. »Schneller!«

Sie rannten auf das Portal zu, das in die Innenhöfe der ehemaligen Kaiserpfalz führte. Hoffentlich war es nicht abgeschlossen. Als Tobes sich abermals umdrehte, sah er den Schatten der Katze vor dem Hintergrund Dutzender von Lichtern. Die Rotte nahte – so nannten die Bamberger ihre Stadtwache. Er zückte seinen Dolch und wünschte, es wäre ein Spieß oder wenigstens ein Degen.

Mit einem wütenden Knurren warf er sich gegen das eisenbeschlagene Tor. Der rechte Flügel gab nach. Tobes zog seine Frau in einen kleinen, von Laternen beleuchteten Innenhof. Er hatte die Tür schon fast wieder geschlossen, als er plötzlich Widerstand spürte. Der faulige Gestank eines großen Fleischfressers wehte durch den Spalt. Eine Löwenpranke schob sich hindurch ...

Tobes stemmte sich mit aller Kraft gegen die massive Holztür und presste ein gequältes »Lauf!« hervor.

Salome schüttelte den Kopf. »Ich bleibe bei dir.«

Schüsse hallten über den Domplatz.

Er rammte seinen Dolch in die Tatze. Die Raubkatze brüllte, zog ihre Pranke zurück und entriss ihm dadurch die Waffe. Sie fiel zu Boden. Unerreichbar für ihn.

Wütend donnerte das Tier gegen die Tür.

»Lass mich mit ihm allein«, ächzte Tobes vor Anstrengung. »Du blockierst meine Macht. In deiner Gegenwart kann ich mit der Bestie nicht den Körper tauschen und sie bändigen.«

Salome küsste ihn auf den Mund und lief zu einem gewölbten Durchgang, der in den Haupthof der Anlage führte. Sie verschwand gerade in den Schatten, als sich der Löwe mit solcher Wucht gegen das Tor warf, dass Tobes samt der Tür herumgeschleudert wurde. Er spürte einen Schlag am Hinterkopf und sank benommen zu Boden. Alles um ihn herum drehte sich. Auf einmal war da das mächtige Haupt des Raubtiers ...

Aus großen Bernsteinaugen sah es ihn an. Er meinte in dem feindseligen Blick etwas wiederzuerkennen. Oder jemanden? Tobes versuchte sich hochzustemmen und streckte die Hand nach der Löwenmähne aus.

Das Tier wich vor ihm zurück. Es schien zu wissen, dass dieser Mann ihm mit einer kleinen Berührung die Macht rauben konnte. Ohne ihn weiter zu beachten, folgte es Salomes Spur.

Ein Gefühl der Hilflosigkeit überkam Tobes. Ihm war zum Erbrechen übel. Aus dem großen Innenhof erscholl ein Schrei.

Salome! Wütend kämpfte er gegen die Ohnmacht an, kroch auf allen vieren zu dem Dolch, kam ächzend wieder auf die Beine. In seinen Ohren brauste ein Sturm. Undeutlich vernahm er Stimmen. Das Haus erwachte. Vielleicht war es noch nicht zu spät.

Er taumelte durch den zweiten Torweg und gelangte in den Haupthof. Auf den Balkonen der umgebenden Gebäude brannten einige Laternen. Ihr Licht verschaffte ihm den furchtbarsten Anblick seines Lebens.

Salome rannte auf einen viereckigen Brunnen zu. Ihre Hand hielt das Kissen, das sie unter dem Mantel trug. Der Löwe folgte ihr dichtauf.

»Rühr sie nicht an, du Ungeheuer!«, brüllte Tobes und rannte auf die beiden zu.

Mit einem mörderischen Satz war die Raubkatze bei seiner Frau und riss sie mit ihren Pranken um. Salome kreischte. Das Raubtier grub seine Fänge in ihren Nacken und schleuderte sie wie eine Strohpuppe herum, geradewegs in den Brunnen. Ihr Kopf schlug gegen die steinerne Umfriedung, und sie fiel in die Tiefe.

Die Raubkatze war abgelenkt, sie hatte nur Augen für ihre Beute. Tobes holte sie ein und warf sich auf sie. Er wollte sie nur noch töten, wollte seinen Dolch bis zum Heft in ihrem Hals vergraben. Doch plötzlich wich sie zur Seite aus und die Klinge stieß ins Leere. Nur seine Linke streifte kurz ihre Mähne. Sofort spürte er das vertraute Ziehen, das jeden Körperwechsel begleitete. Im nächsten Augenblick steckte er im Pelz des Löwen.

Sein eigenes Gesicht, das er so oft im Spiegel gesehen hatte, grinste ihn an.

Unbändiger Zorn packte ihn. Der erste Tausch raubte einem gewöhnlich die Besinnung, aber dieser eiskalte Killer war nicht einmal benommen. Er hatte offenbar Erfahrung mit Swappern. Ein tiefes Grollen entstieg Tobes’ Löwenrachen. Er stürzte sich auf den Mörder seiner Frau. Dass er mit ihm auch den eigenen Körper töten musste, war ihm egal, jetzt, wo er Salome verloren hatte.

Als seine Krallen den Leib von Tobes Pratt zerrissen, hallte plötzlich ein Schuss durch den Innenhof. Eine gewaltige Faust, so schien es, schleuderte ihn zur Seite. Er spürte ein Feuer in der Brust, das gierig sein Herz verzehrte. Als es aufhörte zu schlagen, sah er vor seinem inneren Auge ein Bild aus seiner Erinnerung: Salome, wie sie müde und glücklich ihr neugeborenes Kind an sich drückte.

Du musst leben, Arian!, war Tobes’ letzter Gedanke. Nur du kannst dem Wahnsinn ein Ende machen. Tu es für deine Mutter und tu es für mich ...

1.

Wie ein junger Gaukler sein Publikum verzaubert

und sich plötzlich selbst verliert.

London, 7. Juni 1793

 

An den Ufern der Themse lebte Ende des achtzehnten Jahrhunderts ein junger Gaukler namens Arian Pratt, der zu den rätselhaftesten Menschen seiner Zeit gehörte, obwohl diese mit Rätselhaftem ohnehin reich gesegnet war. Wegen seiner erstaunlichen Fähigkeiten hielten ihn manche für einen Engel. Andere wollten ihn lieber als Sohn des Teufels auf dem Scheiterhaufen brennen sehen, wenngleich diese Unsitte allmählich aus der Mode kam. Sogar er selbst fühlte sich manchmal als Verfluchter. Ungewöhnlicher noch als seine Begabungen waren aber die Ereignisse, die im Sommer 1793 ihren Anfang nahmen und das Leben des damals Siebzehnjährigen gründlich auf den Kopf stellten. Danach war er nicht mehr derselbe und das ist durchaus wörtlich gemeint.

Es war ein schöner Junitag, noch nicht so heiß, dass einem der Gestank aus den Sickergruben den Atem raubte. Nur wenige Schleierwolken zogen am strahlend blauen Himmel über Westminster entlang. Insekten brummten durch die Luft, schwer beladen mit Blütenstaub. Die Vögel zwitscherten in den Bäumen. An den entspannten Gesichtern der Leute ließ sich erkennen, wie sehr das schöne Wetter ihre Stimmung hob. Die besten Geschäfte macht man mit guter Laune, pflegte der Sergeant Major zu sagen. Oder mit der Angst. Arian verstand sich gleichermaßen auf beides.

Sergeant Major Philip Astley war sein Adoptivvater. Der ehemalige Kavallerieoffizier hatte dem Dekan der Westminster Abbey die Erlaubnis zur Benutzung zweier Bäume auf dem umzäunten Rasen von Dean’s Yard abgerungen, damit Arian dort sein Balancierseil aufspannen konnte. Zweifellos wäre es nie dazu gekommen, hätte der oberste Priester der Stiftskirche die unseligen Folgen seiner Einwilligung auch nur erahnt.

Der idyllische Platz südlich des großen Westportals der Kirche, die im Volksmund einfach die Wabbey hieß, eignete sich vorzüglich für Arians Darbietung. Er wollte für Astley’s Amphitheatre Reklame machen. Die aus einer Reitschule entstandene Spektakelschau war eine der großen Attraktionen Londons. Zum Ensemble gehörten Kunstreiter, Clowns, Jongleure, Seiltänzer und weitere Akrobaten. Als Bühne diente ihnen eine kreisrunde Arena, die Philip den »Ring« nannte. Die darin wirkenden Fliehkräfte gestatteten Reitern den Kopfstand im Sattel und noch atemberaubendere Kunststücke.

Arian war ein begnadeter Puppenspieler. Bei der Schau trat er mit seinem Freund Eibo auf, einer Puppe in Gestalt eines zwergenwüchsigen Jünglings. Er hatte sie mit vierzehn Jahren aus Eibenholz, Kautschuk und anderen Materialien gebaut. Sobald während der Vorstellung die Theaterbeleuchtung bis auf wenige Öllampen erlosch und er, im hautengen nachtschwarzen Anzug fast unsichtbar, seine Figur zum Leben erweckte, hielt das Publikum den Atem an. Die Puppe schien dann tatsächlich beseelt zu sein. Und wenn er ihr seine Stimme lieh und sie im schnoddrigen Ton eines Dockarbeiters über die großen und kleinen Skandale der Stadt schwadronierte, lachte der ganze Saal.

An diesem sonnigen Mittag saß Eibo im Gras, barfuß, ein Bein angewinkelt, den Rücken an einen der Ahornstämme gelehnt, die das Seil hielten. Es sah aus, als verfolge er gebannt die Vorstellung. Arian hatte die Puppe, passend zu ihrer grobschlächtigen Rolle, mit einer dunkelblauen Jacke, einer gelben Weste und mit weißen Pantalons ausgestattet, jenen röhrenförmigen, knöchellangen Hosen der einfachen Schiffsleute und Arbeiter.

»Kommt und staunt!«, rief er. Unter seinen Füßen schaukelte das Balancierseil. Er tat so, als koste es ihn Mühe, das Gleichgewicht zu halten. Das schürte bei den Zuschauern die Hoffnung, ihn im Dreck landen zu sehen – auch Schadenfreude eignete sich zur Hebung der Laune. Immer mehr Passanten blieben stehen. Aus den Augenwinkeln taxierte er sein Publikum.

Er hatte inzwischen einen recht sicheren Blick dafür, wer von Adel war oder wer sich dem aufstrebenden Bürgertum zurechnete. Die blaublütigen Lords und Ladys nutzten jede Gelegenheit, ihren ererbten Reichtum spazieren zu führen. Sie hüllten sich gerne in Samt, Brokat und Seide. Frauen schützten ihre schneeweiße Haut mit ausladenden Hüten oder Sonnenschirmen und trugen Kleider mit gepolsterten Hüftringen, die ihren Hinterteilen bisweilen eine groteske Fülle verliehen.

Understatement – die Kunst sich bescheiden zu geben, ohne es zu sein – war eher ein Merkmal des Bürgertums. Wer sein Vermögen dem eigenen Fleiß verdankte, neigte weniger zu Prunk und Verschwendung. Solche Leute bevorzugten den zurückhaltenden Stil des Landadels: schlichte Wollanzüge in gedeckten Farben bei den Herren und lange Baumwollkleider bei den Damen.

Unter den Schaulustigen befanden sich überdies etliche Uniformträger. Im Rock des Königs war man immer passend gekleidet, zumal in Zeiten wie diesen – seit Jahresbeginn standen England und Frankreich miteinander im Krieg.

Von der Westminster School hallte Geschrei herüber. Jungen in Kniebundhosen kamen herbeigelaufen. Die Schüler verbrachten auf Dean’s Yard, den sie das Grün nannten, ihre unterrichtsfreie Zeit, sofern sie nicht andernorts die Gegend unsicher machten. Du musst die Kinder begeistern, dann hast du auch die Eltern gewonnen, pflegte der geschäftstüchtige Sergeant Major zu sagen.

Arian wollte gerade seine Bekanntmachung verkünden, als die Menschenmenge zu wogen begann, wie eine vom Wind gepeitschte See. Einige Leute äußerten lautstark ihren Unmut, weil sich ein Mann mit versteinerter Miene rücksichtslos nach vorne drängelte. Er mochte weit über sechzig sein, war mittelgroß und schlank, hatte halblanges graues Haar und sehr bewegliche Ellenbogen, die er wie Rammböcke einsetzte. Die Hände behielt er dabei seltsamerweise in den Jackentaschen seines groben, braunen Wollanzugs, der ihm das Aussehen eines schottischen Landlords verlieh.

Die Empörung der Menschen beschränkte sich auf Proteste. Niemand stellte sich dem Mann in den Weg, noch wagte jemand, ihn festzuhalten. Es schien, als umgebe ihn eine Aura der Unantastbarkeit. Als er es bis in die vorderste Reihe geschafft hatte, fixierten seine blassgrauen Augen das Gesicht des Seiltänzers, so als wolle er ihn hypnotisieren. Irgendetwas an dem Alten beunruhigte Arian. Er musste sich zwingen, ihn nicht unentwegt anzustarren.

Endlich verebbte die Entrüstung über den Störer und eine gespannte Ruhe kehrte ein. Arian breitete die Arme aus und rief in der Manier eines Marktschreiers: »Besuchen Sie Astley’s Amphitheatre an der Westminster Bridge! Genießen Sie ein paar schöne Stunden mit singenden Clowns und tanzenden Hunden. Erleben Sie den Flämischen Herkules und andere überraschende Attraktionen, die es sonst nirgends auf der Welt gibt. Eine kleine Kostprobe gefällig?«

Er holte übertrieben tief Luft und spie Feuer wie ein leibhaftiger Drache.

Durch die Menge ging ein Raunen. Manche hielten erschrocken den Atem an. Einige Frauen stießen spitze Schreie aus. Nur der Grauhaarige in der vordersten Reihe blieb, zumindest äußerlich, völlig unbeeindruckt. Er lächelte lediglich, als kenne er genau das erstaunliche Geheimnis des Feuerspuckers.

Der fand den Mann dadurch nur noch unheimlicher. Fast verlor er das Gleichgewicht, so sehr lenkte ihn der rätselhafte Fremde ab. Arians Füße schaukelten wild hin und her. »Du liebe Güte, ist das windig heute!«, lenkte er von seiner Unsicherheit ab.

Die Leute lachten. Abgesehen von dem Alten.

Arian erlangte die Kontrolle zurück und machte weiter im Text. »Auf vielfachen Wunsch zeigen wir morgen Abend noch einmal das Hippodrama ›Gefecht von La Maddalena oder wie der mutige Bootsmann Domenico Millelire die Franzosen verjagte‹.« Spektakelstücke mit Pferden – die Hippodramen – waren eine Spezialität im Amphitheater des Philip Astley. Arian wechselte in den übermütigen Ton eines Clowns. »Wollt ihr mal sehen, wie Domenico den Froschfressern Feuer unterm Hintern gemacht hat?«

»Ja!«, riefen Alt und Jung im Chor.

Nur der geheimnisvolle Alte nicht.

Arian holte abermals tief Atem und beugte sich auf dem Seil weit zurück. Sein Geist durchmischte sich mit der Luft, wie Tinte in Wasser zerfließt. Zur Hebung der Spannung wartete er noch einen Moment, während er in seinen Gedanken das Bild einer Lohe entfachte. Dann ließ er eine Flammenzunge mindestens zehn Fuß hoch himmelwärts schießen. »So hat er ihrem Anführer, diesem Lieutenant-Colonel Napoleone Buonaparte aus Korsika das Hinterteil versengt.«

Einige johlten vor Vergnügen. Anderen blieb das Lachen im Halse stecken oder sie stießen Laute des Erstaunens aus. Vermutlich fragten sie sich, wie der Feuerspucker das machte. Er hielt weder Fackel noch Kerze in der Hand, um daran seinen Atem zu entzünden. Wie sollten sie auch ahnen, dass die Flammen nur eine Illusion waren?

»Wo versteckst du das Feuer?«, schrie ein neunmalkluger Dreikäsehoch.

Arian wandte sich seinem hölzernen Freund zu. »Was meinst du, Eibo?«

Alle blickten gebannt zu der am Baum lehnenden Puppe.

»Ein Zauberkünstler verrät doch nicht seine Tricks«, antwortete sie aus halb geöffnetem Mund.

Der geheimnisvolle Fremde lächelte wissend. Die übrigen Schaulustigen reagierten entzückt, manche auch verschreckt. Eine Puppe, die spricht? Wie ist das möglich? Arian nannte es Telebauchreden. Er verstand selbst weder, wie er seine Stimme an jeden beliebigen Ort in Sichtweite versetzen konnte, noch, wie er Luft scheinbar in Feuer verwandelte oder andere seltsame Illusionen erzeugte. Diese Dinge gehörten zu den unerklärlichen Begabungen, die er im Laufe der Jahre an sich entdeckt hatte.

Arian kürzte seine Vorstellung ab, um endlich dem stechenden Blick des geheimnisvollen Fremden zu entkommen. Er rief die Anfangszeit der Nachmittagsvorstellungen aus, bedankte sich artig beim Publikum für die Aufmerksamkeit und sprang mit einem Rückwärtssalto vom Seil. Die Zuschauer applaudierten begeistert. Er verbeugte sich tief und lang, insgeheim hoffend, der unheimliche Alte möge nicht mehr da sein, wenn er sich wieder aufrichtete.

Die Fähigkeit, sich unliebsame Dinge oder Personen wegzuwünschen, gehörte jedoch nicht zu den vielfältigen Talenten des jungen Gauklers. Der Mann stand nach wie vor da, und jetzt, wo die anderen Leute sich entfernten, wirkte seine Gegenwart noch beklemmender als zuvor. Arian wandte sich ab, ging zu Eibo und tat so, als müsse er die Kleider der Puppe ordnen.

»Das war beeindruckend, Master Pratt«, sagte hinter ihm eine Stimme, die knarrte wie eine schlecht geölte Tür.

Arian erschauerte. Äußerlich ließ er sich nichts anmerken. Er zupfte weiter an Eibos Jacke herum, so als fühle er sich von dem Fremden gar nicht angesprochen. Bestenfalls eine Handvoll Menschen wusste, wie er tatsächlich hieß. Auf den Plakaten des Amphitheaters wurde er immer als »Mike« angekündigt. Auf seiner Adoptionsurkunde stand der Name Michael Astley. Seine Eltern waren kurz nach seiner Geburt im fränkischen Bamberg ermordet worden. Er hatte nur überlebt, weil sie ihn im Wagen eines Puppenspielers versteckten, mit dem er danach viele Jahre kreuz und quer durch Europa gezogen war.

Von heftigen Gefühlen aufgewühlt, griff Arian verstohlen in den Halsausschnitt seines weißen Leinenhemdes und zog seinen kostbarsten Besitz hervor. Es war die goldene Taschenuhr, die einzige Hinterlassenschaft seiner Eltern. Er öffnete den Deckel, so als wolle er die Zeit ablesen. In Wahrheit betrachtete er das hinten in dem Gehäuse verborgene Miniaturgemälde, ein Porträt seines leiblichen Vaters Tobes Pratt.

»Hat Ihnen niemand beigebracht, dass ein Mann mehr Respekt verdient als eine Puppe?«, schnarrte der Fremde.

Arian stöhnte. Warum verschwand dieser Kerl nicht endlich? Er klappte die Taschenuhr wieder zu, ließ sie in seinem Ausschnitt verschwinden. Provozierend langsam drehte er sich zu dem Grauhaarigen um, dessen Hände nach wie vor in den Jackentaschen steckten. »Reden Sie mit mir, Sir?«

»Sehe ich so aus, als spräche ich mit Bäumen?«

»Das kann ich nicht sagen, Sir. Ich kenne niemanden, der diese Angewohnheit pflegt. Sie haben mich Patt genannt ...«

»Nein«, korrigierte ihn der Alte. »Ich sagte Pratt. Sie sind doch Arian Pratt, nicht wahr?«

»Ich bin Mike. Michael Astley, der Sohn von Philip Astley.«

»Meines Wissens heißt der John.«

»Der Sergeant Major hat mich adoptiert. John Philip Conway Astley ist sein leiblicher Sohn. Er ist neun Jahre älter als ich und leitet unser Haus in Dublin ...«

»Nachdem das Amphithéâtre Anglais wegen der Revolution schließen musste und er Paris verlassen hat.«

»Offenbar sind Sie über das Familienunternehmen bestens unterrichtet, Mister ...?«

»M.«

»Emm?«

»M. wie der dreizehnte Buchstabe des Alphabets – ich hoffe, Sie fassen das nicht als schlechtes Omen auf. Ich bin in einer Mission unterwegs, die äußerste Diskretion erfordert. Deshalb möchte ich meinen Namen vorerst für mich behalten, Master Pratt.«

»Ich heiße Astley. Michael Astley.«

»Jaja.« Der Grauhaarige lächelte süffisant »Man erzählte mir, Sie hätten momentan im hiesigen Amphitheater das Sagen, weil der gute Philip nach der französischen Kriegserklärung wieder in seine alte Einheit bei den 15. Leichten Dragonern eingetreten ist.«

»Sagt man das?« Arian traute dem leutseligen Gerede nicht. Wahrscheinlich wollte ihn dieser Wichtigtuer nur aushorchen, um sich Geschäftsgeheimnisse des Sergeant Major zu erschleichen. Vielleicht ließ er sich ja mit ein paar Banalitäten abspeisen. Arian setzte sein starres Theaterlächeln auf. »Nun, zweifellos sind Sie auch darüber im Bilde, dass Sergeant Major Astley bereits einundfünfzig ist, Mister M. Da kämpft er nicht mehr auf dem Schlachtfeld. Höchstens als Berichterstatter schnuppert er ab und zu den Pulverrauch. Doch er tut viel zur Hebung der Kampfmoral im Regiment und man schätzt sein Wissen über Pferde. Zurzeit hält er sich in London auf. Wenn Sie also etwas von ihm wollen, dann fragen Sie im Theater nach ihm. Oder vereinbaren Sie in Hercules Hall einen Termin mit seinem Sekretär.«

»Eigentlich bin ich gekommen, um Sie zu treffen.«

»Mich?« Arian musterte Mister M. argwöhnisch. »Stecken die beiden Charlys dahinter?«

»Wer?«

»Charles Hughes und Charles Dibdin. Die Konkurrenz. Versuchen Sie mich abzuwerben?«

Mister M. lachte, was gleichwohl mehr nach einem Husten klang. »Ich kenne diese Gentlemen nicht einmal, Master ... Wie lautet übrigens Ihr richtiger Name?«

»Astley. Michael Astley.«

»Sie sind trotz Ihrer Jugend ganz schön auf Zack. Ich meinte eigentlich, wie Sie früher hießen.«

»Das ist zu persönlich, um es einem Fremden zu erzählen.«

»Man sagt, Sie seien ein meisterhafter Kunstreiter.«

»John ist viel besser als ich.«

»Als Seiltänzer haben Sie mir jedenfalls gefallen. Sie sollen sich auch auf allerlei Hokuspokus verstehen.«

»Nur Taschenspielertricks. Ich benutze sie manchmal bei meinen Auftritten.«

»Mit der Puppe?« Mister M. deutete auf Eibo. »Stimmt es, dass Sie jeder Figur Leben einzuhauchen vermögen?«

Als jüngster Meisterspieler aller Zeiten hätte ich früher sogar ein Kastanienmännchen zum Leben erwecken können, heute ist mir davon nur das Bauchreden geblieben, dachte Arian, und fast wäre es ihm auch herausgerutscht. Er biss sich auf die Unterlippe, wütend darüber, dass dieser glattzüngige Alte es beinahe geschafft hätte, ihn zu überrumpeln. »Ich bin sehr beschäftigt, Sir. Wenn ich noch etwas für Sie tun kann ...«

Er verstummte. Gerade hatte er zwei kräftig gebaute Männer in schwarzen Anzügen bemerkt, die sich aus Richtung der Wabbey kommend zielstrebig ihren Weg durch die Passanten bahnten. Wer ihnen nicht sofort auswich, wurde grob zur Seite geschoben. Die Kerle waren offenbar auf Schwierigkeiten aus.

Der größere, ein richtiger Riese mit einem enormen Zinken im Gesicht, fasste sich ungeniert in den Schritt, als müsse er dort zunächst Ordnung schaffen, ehe er sich anderweitig betätigte. Er näherte sich Mister M. von rechts. Der kleinere und dickere – sein Körper hatte die Form einer Birne – wählte die andere Seite. Etwas Brutales, Bedrohliches ging von den beiden aus. Unwillkürlich wich Arian an den Baum zurück und griff nach der Puppe.

Sein Verhalten weckte den Argwohn von Mister M. Er drehte sich zu den Männern um, die ihn inzwischen fast erreicht hatten. Zu ihren schwarzen Kniehosen, den Culotten, trugen sie Frocks – lange Röcke aus Wolle mit Schößen, die bis in die Kniekehlen reichten. Ihre schwarzen Stiefel waren abgeschabt und die Halstücher schmutzig. Die Dreispitze auf ihren Köpfen saßen so tief, dass ihre Gesichter dunkel umschattet waren. Wie freundliche Postboten sahen sie nicht aus. Mister M. wich ebenfalls vor ihnen zurück. Dabei zog er langsam die Hände aus den Taschen ...

Arian hielt den Atem an. Er hatte sich schon die ganze Zeit gefragt, was der Alte in seinem Rock versteckte. Ein Messer vielleicht? Oder eine kleine Pistole? In banger Erwartung zog Arian den Kopf ein, starrte auf das, was da zum Vorschein kam – und wurde enttäuscht.

Es waren nur Hände, haarig und übersät mit dicken, bläulichen Adern. Und leer.

Während Mister M. auf ihn zutrat, raunte er: »Hier trennen sich unsere Wege, Master Pratt.« Dann stolperte er.

Unwillkürlich streckte Arian den Arm aus, um den Fallenden zu stützen. Mister M. ergriff seine Hand und schrie wie ein verängstigter Greis: »Bitte helfen Sie mir!« Einen Herzschlag lang trafen sich ihre Blicke, und was Arian in den Augen des anderen sah, rief in ihm eine unerklärliche Furcht hervor.

Ihm war plötzlich, als fahre er mit gewaltigem Ruck aus seiner Haut heraus. Nie zuvor hatte er so furchtbare Schmerzen und solche Seelenpein empfunden. Ihm wurde schwarz vor Augen. Alles um ihn herum drehte sich. Anstatt jedoch die Besinnung zu verlieren, klarte sein Blick rasch wieder auf. Aus der Dunkelheit schossen tanzende Sterne. Seine Beine fühlten sich wie Fremdkörper an, die ihm weder gehörten noch gehorchten. Sie drohten ihm einzuknicken.

Und dann sah er in sein eigenes Gesicht.

Anfangs war es zu verschwommen, um den verwirrenden Anblick als real zu empfinden. Er meinte, jemand halte ihm einen Spiegel vor. Die strahlenden blauen Augen, die ausgeprägten Wangenknochen, die gerade schmale Nase, das rabenschwarze lockige Haar – das alles war eindeutig er. Auch das ohne Halstuch getragene weite, helle Leinenhemd, die sandfarbenen Kniebundhosen, die einigermaßen weißen Strümpfe aus Baumwollgarn und die braunen Seiltänzerschuhe mit den weichen Sohlen stimmten. Mittlerweile sah Arian wieder genug, um den Irrtum zu erkennen. Der Doppelgänger war kein Spiegelbild. Er war echt.

Aber ... wer bin dann ich?

Sein Gegenüber sah ihn an, als stellte es sich gerade dieselbe Frage. In den blauen Augen des falschen Gauklers flackerte nicht die Spur von Panik, es war eher ein Ausdruck überraschten Verstehens. Er presste die Lippen zusammen, als empfinde er Verärgerung über einen missglückten Streich.

Hektisch riss sich Arian von seinem Ebenbild los und starrte schockiert seine Hände an. Oben waren sie behaart und mit einem Netz dicker, bläulicher Adern überzogen. Ich bin er und er ist ich!, schoss es ihm durch den Kopf. Das war so verwirrend, so unglaublich, so ... widernatürlich.

Ihm brach der Schweiß aus, kalt und stinkend. Das Schwindelgefühl wurde wieder heftiger. Irgendwie hatte ihm Mister M. den Körper gestohlen, und damit doch auch sein Wesen – mit einem halben Ich ist man keine ganze Seele mehr. Ja, dieser Unhold war ein Seelendieb! Was für ein Albtraum! Arian fühlte sich um sein Leben betrogen. Im welken Leib eines alten Mannes stand er mit einem Fuß schon so gut wie im Grab. Er öffnete den Mund, um sein Entsetzen herauszuschreien ...

In diesem Augenblick griffen kräftige Hände wie Schmiedezangen nach seinen Oberarmen. »Keinen Mucks oder ich schlitze dich auf!«, zischte ihm jemand ins Ohr. Der Atem des Todes wehte ihm in die Nase.

2.

Arian soll an einem heiligen Ort für die Sünden eines Fremden büßen

und ohne Beichte in die Hölle fahren.

London, 7. Juni 1793

 

Der Verwesungsgestank war nur Mundgeruch, allerdings von der übelsten Sorte. Arian spürte ein Stechen in der linken Seite und sah erschrocken an sich herab.

Der kleinere Kerl drückte ihm grinsend ein gewaltiges Messer in den Leib. Die im Sonnenlicht schimmernde Klinge sah schäbig, aber scharf aus. So als würde sie regelmäßig über einen Wetzstein gezogen.

»Was wollen Sie ...? Au!« Arian biss die Zähne zusammen, um nicht laut loszuschreien, als die Messerklinge in seine Haut eindrang. Tränen schossen ihm in die Augen.

»Ich würde tun, was Slit sagt«, brummte der Hüne zu seiner Rechten mit walisischem Akzent. Er war größer als Philip Astley – maß also deutlich mehr als sechs Fuß – und hatte eine kräftigere Statur als der Flämische Herkules. Sicher hätte es ihm wenig Mühe bereitet, einen Tanzbären in zwei Stücke zu reißen. Arian fügte sich vorerst stumm in die Rolle des wehrlosen Greises. Vielleicht konnte er den beiden doch noch entwischen.

Grob zerrten ihn die Muskelprotze weg von dem Seil und seinem Körper. Anstatt um Hilfe zu rufen, lächelte ihn sein eigenes Gesicht aus dem Schatten des Ahornbaumes nur hinterhältig an. Vermutlich hätte ohnehin niemand gewagt, gegen diesen Slit und seinen Kumpan aufzubegehren – so weit ging die Sensationslust der Leute nun auch wieder nicht. Die Menschenmenge verlief sich in den Zugängen von Dean’s Yard, so wie einem Wasser zwischen den Fingern zerrinnt. Einige Passanten schauten bewusst weg. Vielleicht dachten sie, der Himmel strafe zu Recht einen verknöcherten Rüpel für sein ungehöriges Benehmen.

»Na siehst du, geht doch!«, sagte Slit gut gelaunt. Man hätte meinen können, er freue sich über das Wiedersehen mit einem alten Freund, den er am liebsten gar nicht mehr loslassen wollte. Der Dicke stank nach Schweiß und sein baumlanger walisischer Kumpan nach Kohlsuppe.

Während sich Arian unter den mächtigen Zwillingstürmen der Kirche hindurch wie ein Lamm zur Schlachtbank führen ließ, spürte er etwas, das er im Aufruhr der Emotionen bis dahin nicht bemerkt hatte: ein unangenehmes Prickeln, das an seinen Nerven zerrte und sein Herz schneller schlagen ließ. Es glich diesem Ich-fühle-mich-von-jemandem-beobachtet-Gefühl, das einen unruhig werden lässt, obwohl man niemanden sieht. Nun, seinen gestohlenen Körper sah er durchaus, und je weiter er sich von ihm entfernte, desto mehr schwächte sich die seltsame Wahrnehmung ab. Es musste die Präsenz des Seelendiebs sein. Sie war dunkel wie eine Gruft und schwer wie ein Grabstein. Nie zuvor hatte er etwas Derartiges empfunden.

»Wo bringen Sie mich hin?«, wagte er leise zu fragen. Die beiden schleppten ihn zur nordöstlichen Ecke des Platzes. Da gab es keinen Ausgang, nur die Gebäude der ehemaligen Benediktinerabtei.

»Das wirst du gleich sehen«, antwortete der Waliser.

»Kannst ihm ruhig sagen, dass ihn ein schönes warmes Plätzchen erwartet, Hooter, wo er einige alte Bekannte treffen wird«, fügte Slit hinzu und lachte.

»In der Kirche?«, wunderte sich Arian. Er konnte sich keinen Reim auf die seltsame Antwort des Schlitzers machen. So deutete er dessen Spitznamen, der wohl aus dem einschlägigen Gebrauch seines riesigen Messers entstanden war. Der andere hieß bestimmt auch nicht wirklich Hooter. Wahrscheinlich wollten die beiden ihn nur beruhigen. »Sie verwechseln mich, Sir. Ich bin nicht der, der ich zu sein scheine.«

»Hört, hört!«, schnarrte Slit belustigt und stimmte einen Gassenhauer an.

Bow, wow, wow,

Wessen Hund bist du?

Klein Turtlenecks Hund,

Bow, wow, wow.

»Turtleneck? Mit dem habe ich nichts zu schaffen«, wunderte sich Arian. Der Liedtext war falsch. Eigentlich hätte es »Tom Tinkers Hund« heißen müssen. Besagter Turtleneck war ein stadtbekannter Halunke, der König der Gauner von London. Angeblich arbeiteten für ihn Gesetzlose jeder erdenklichen Couleur: Taschendiebe, Freudenmädchen, Straßenräuber, Schmuggler, Falschmünzer, Mordbrenner ... Nachweisen konnte man ihm freilich nichts. Wie er mit kostbaren Tüchern seinen faltigen Schildkrötenhals verstecke, munkelte man, so verberge er seine verwerflichen Machenschaften hinter einer Fassade großbürgerlicher Noblesse.

»Wir nehmen das mal als Geständnis«, amüsierte sich Slit.

Inzwischen hatten sie einen Durchgang erreicht, ein steinerner Spitzbogen, den eine schmiedeeiserne Pforte versperrte. Hooter zog daran. Sie öffnete sich quietschend. Er schob seinen Gefangenen weiter.

Arian schöpfte Hoffnung. Von früheren Besuchen der Kirche wusste er, dass links hinter dem Einlass eine Spitzbogentür zu den Räumen des Kirchenvorstands führte. Wollten ihn die beiden etwa dem Dekan vorführen? Warum sonst sollten sie ihn in die Wabbey bringen?

Slit versetzte ihm einen Stoß gegen die Schulter. »Geradeaus.«

»In den Kreuzgang? Hören Sie, Sir. Das alles ist ein furchtbarer Irrtum ...« Arian spürte einen entsetzlichen Stich in der Seite. Der Schmerz raubte ihm fast die Besinnung. Allein die Todesangst hielt ihn davon ab, laut zu schreien. Diesmal war die Klinge tiefer eingedrungen als beim ersten Mal.

»Quatsch nicht dumm rum. Geh!«, befahl ihm der Schlitzer.

Arian blutete heftig. Ein feuchter, dunkler Fleck breitete sich auf seiner. Weste aus. Würden Kirchendiener so brutal und rücksichtslos mit jemandem umspringen? Was führten die Kerle im Schilde? Ihm brach der Schweiß aus. Seine Beine waren wachsweich. Wie hatte das alles passieren können? Warum steckte er im Körper eines alten Mannes fest und musste für dessen Sünden zahlen?

Hinter einem weiteren Durchgang zerrten die Ganoven ihn nach links in den westlichen Korridor des Kreuzganges. Die mit Kreuzrippen überwölbten Arkaden rund um den quadratischen Innenhof waren früher das Zentrum des klösterlichen Lebens gewesen. Jetzt hielt sich keine Menschenseele darin auf. Es schien, als habe da jemand den Rest der Welt ausgesperrt, um an diesem geheiligten Ort ungestört seinem ganz und gar unheiligen Treiben nachzugehen.

Ein Zittern durchlief den hinfälligen Leib, in dem Arian gefangen war. Nicht zu wissen, was mit ihm geschah, machte ihn fast wahnsinnig. Die Furcht lähmte seine Gedanken wie Gift. Benutze deine Talente und überrasche sie!, beschwor er sich. Arian verstand sich auf die Verwandlung der klassischen Elemente Feuer, Wasser, Erde und Luft. Nicht dass er tatsächlich Steine entflammte oder aus Luft Mauern erschuf. Alles, wozu seine Fähigkeiten reichten, waren täuschend echte Illusionen, so wie das vermeintliche Feuerspucken, mit dem er die Leute auf Dean’s Yard verblüfft hatte. Doch womit konnte er so hartgesottene Burschen wie Slit und Hooter bis ins Mark erschrecken, um ihnen zu entkommen?

Gnadenlos trieben sie ihn durch das Seitenschiff. Er hinkte stark, weil die Messerwunde immer heftiger schmerzte. Seine Kräfte schwanden schneller, als er es je für möglich gehalten hätte. Der eben noch im Saft der Jugend stehende Arian Pratt war jetzt alt und – er blickte sich zu der glänzenden roten Spur um, die er hinter sich herzog – schwer verletzt. Es ist nur das Blut von Mister M., beruhigte er sich. Du holst dir deinen Körper zurück. Nur wie sollte er das anstellen?

Er biss die Zähne zusammen und versuchte sich in eine Feuersäule zu verwandeln. Die dazugehörige Hitze konnte er leider nicht vortäuschen. Vielleicht genügte es trotzdem, um die Kerle zu verscheuchen.

Sonst kostete es ihn nur ein Lächeln, Bilder aus seinen Gedanken in die Wirklichkeit zu versetzen. Jetzt überschwemmten Schmerzen seinen Geist. Vor Anstrengung verkniff er das Gesicht.

Nichts geschah. Er brachte nicht einmal züngelnde Flämmchen zustande. Kaltes Entsetzen packte ihn. Er hatte zu lange gezögert. Seine Kraft war erschöpft.

Die Stützpfeiler zur Rechten verschwammen vor seinen Augen. Im Kampf gegen die Ohnmacht verlor er die Orientierung. Unbarmherzig wurde er von seinen Peinigern weitergeschleift, über die Gräber der Mächtigen und Berühmten hinweg, die hier unter dicken Steinplatten lagen. Hatten sie ihn deshalb in die Wabbey gebracht? Weil die Kirche ein Haus der Toten war?

Aus dem Nebel seines schmerzumwölkten Bewusstseins tauchte eine Tür auf. War das der Zugang zum Südwestturm? Sie öffnete sich und eine Gestalt mit schwarzem Gewand und weißem Kragen erschien darin. Arian war zu benommen, um sie klar zu erkennen.

»Was ist mit dem Alten?«, fragte eine hohe Männerstimme. Ein Priester?

»Ihm ist nur schlecht, Reverend«, antwortete Slit in vergnüglichem Ton. »Wir bringen ihn an die frische Luft. Da verfliegt seine Übelkeit wie nichts.«

»Ist das da Blut auf dem Boden?«

»Hier, die versprochene Spende, Vater. Vergesst bitte nicht unsere Abmachung«, überging Hooter die Frage und drückte dem Mann etwas in die Hand.

»Jaja. Ich habe nichts gesehen, nichts gehört und nichts bemerkt«, schnarrte der Schwarzrock mürrisch und gab den Weg frei. Seine eiligen Schritte hallten durch das Kirchenschiff, während er sich entfernte.

Die Halunken zerrten ihren Gefangenen in den Turm und schlossen hinter sich die Tür.

»Jetzt geht’s ein Stück in den Himmel hinauf. So lohnt sich nachher wenigstens die Reise hinab in die Hölle«, scherzte Slit.

Arian sank kraftlos in sich zusammen. Selbst wenn er gekonnt hätte, er wollte den Mordbuben nicht helfen. Um ihn vom Turm zu stürzen, mussten sie ihn erst einmal hinaufschleppen. Vielleicht käme er dabei wieder etwas zu Kräften.

»Beweg gefälligst deine Füße oder ich schlitz dich gleich hier auf«, drohte Slit.

Arian rührte sich nicht. Sein Kinn lag auf der Brust. Wie besinnungslos hing er im Griff der Killer.

»Unser Befehl lautet aber, dass wir ihm Flügel machen sollen«, zischte Hooter.

»Ich kann ihm ja welche schnitzen.«

»Jetzt fass schon mit an, Slit. Sonst sage ich dem Boss, dass ich den Auftrag alleine erledigt habe, weil sein angeblich bester Mann sich nicht die Hände schmutzig machen wollte.«

Der Schlitzer fluchte. Dann packte er wieder fester zu.

Innerlich atmete Arian auf, äußerlich blieb er so schlaff wie ein Mehlsack. Gemeinsam schleiften ihn die beiden über unzählige Stufen immer weiter nach oben. Sie ächzten und schwitzten und stießen unentwegt neue Flüche aus. Slit drohte Mister M. mit höllischen Qualen, wenn er nicht endlich seine Beine gebrauchte. Arian stellte sich taub. Sich tragen zu lassen, tat gut. Allmählich kam er wieder zu Kräften. Für einen Kampf gegen die Gauner würde es nicht reichen, aber vielleicht konnte er sie überraschen.

Geraume Zeit später hörte er das Quietschen einer Tür. Plötzlich pfiff ihm der Wind um die Nase. Die Mörder schleiften ihn ein Stück über das Turmdach und ließen ihn achtlos fallen. Noch immer rann das Blut aus seiner Wunde und bildete unter ihm eine Lache. Ihm war bitterkalt. Er sandte ein Stoßgebet gen Himmel, damit Gott ihm helfen möge, dem Tod zu entrinnen. Vorsichtig spähte er durch die Wimpern.

An den vier Ecken des Daches ragten Spitztürmchen empor. Zwischen diesen verlief ein Kranz aus durchbrochenen, spitzen Zinnen. Die Ganoven traten gerade dicht an die Brüstung heran. Ihr Atem ging keuchend, so als litten sie unter Schwindsucht im Endstadium.

Eine bessere Gelegenheit bekommst du nicht, sagte sich Arian. Er biss die Zähne zusammen, um nicht vor Schmerzen zu ächzen. Mühsam richtete er sich auf.

»Was für eine elende Plackerei!«, beschwerte sich Slit, beugte sich über die Brüstung und blickte nach unten.

»Wem sagst du das! Das Leben ist manchmal hart zu einem«, pflichtete Hooter ihm bei.

»Schmeißen wir den Alten gleich hier runter?«

»Ja. Direkt vor das große Westportal hat der Boss gesagt. Ist doch richtig, oder?«

»Korrekt. Er will ein Riesenspektakel mit Blut, Gedärmen und allem Drum und Dran. Damit sich nie wieder einer mit ihm anlegt.«

»Am besten wir kippen den Franzmann möglichst weit rechts über die Brüstung, sonst klatscht er uns noch aufs Dach von dem Anbau da und niemand kriegt was mit.«

»Na, dann los. Bringen wir’s hinter uns. Ich brauche dringend ein Bier.«

Gerade rechtzeitig hatte es Arian auf die Füße geschafft. Hoffentlich verließ ihn nicht die innere Kraft, die er gleich brauchte. Wie ein Betrunkener wankend, bleckte er unter der enormen Anstrengung die Zähne. Er versuchte, es wie ein bedrohliches Grinsen aussehen zu lassen. »Jetzt verwandle ich mich in die Flamme, die euch bei lebendigem Leibe verbrennt«, rief er.

Früher wäre das keine leere Drohung gewesen. Da hatte er gleichsam mit einem Geistesblitz ein loderndes Feuer entfachen können. Sogar den verruchten Zoltán, dessen Machenschaften Arians Eltern zum Verhängnis geworden waren, hatte er herauszufordern gewagt. Der Preis dafür war hoch gewesen. Um den Großmeister der Puppenspielergilde zu bezwingen, hatte er seine Gaben geopfert. Nur die Trugbilder waren ihm geblieben, ein Abglanz seiner verlorenen Macht. Aber das ist eine zu lange und aufregende Geschichte, um sie hier zu erzählen. Jedenfalls war aus dem einstigen Wunderkind Arian Pratt schließlich der Gaukler Mike Astley geworden, der nur noch die Herzen des Theaterpublikums zu entflammen vermochte – manchmal erschreckte er es auch mit spektakulösen Illusionen wie jener, mit der er nun die Mordbuben auf dem Dach überraschte.

Arian verwandelte sich in eine lebendige Fackel. Er meinte, die Hitze in seinem Innern zu spüren, so sehr forderte er seine Vorstellungskraft. Die Flammen spiegelten sich in der blutigen Pfütze, in der er stand. Dummerweise fauchten sie nicht wie richtiges Feuer, weshalb er die passenden Geräusche mit seiner Bauchrednerstimme machen musste. Das Ergebnis war trotzdem beeindruckend.

Slit keuchte. »Der Alte ist tatsächlich ein Hexenmeister. Ich hab’s nicht glauben wollen, als der Boss uns vor seinen magischen Künsten warnte.«

Rückwärtsgehend wankte Arian auf die Tür zu, die zu den Treppen führte. Wenn er es bis dahin schaffte, konnte er sie von innen verriegeln.

»Wir müssen ihn aufhalten«, knurrte Hooter und lief unerschrocken auf Arian zu. Der Waliser förderte hinter seinem Rücken ein Messer zutage, dass beinahe so groß wie die Klinge des Schlitzers war.

»Ich will nicht bei lebendigem Leibe gebraten werden«, jammerte der.

»Genau das wird der Boss mit uns anstellen, falls wir den Franzosen laufen lassen. Jetzt mach hinne, Dicker!«

Arian drehte sich um und hinkte auf die Tür zu. Schmerzen und Schwäche machten jeden Schritt für ihn zur Qual. Er hörte die Mörder nahen. Viel zu schnell! Zornig wirbelte er herum. »Bleibt stehen!«, brüllte er.

Der Schlitzer zögerte.

»Komm schon, Hasenfuß«, rief Hooter, ohne innezuhalten. »Das sind nur leere Drohungen. Wäre er in der Lage uns zu schaden, hätte er es längst getan.« Im Nu hatte er Arian umlaufen und baute sich vor der Tür auf.

Slit überwand seine abergläubische Furcht und stampfte auf den vermeintlichen Hexenmeister zu. Seine große Klinge blitzte in der Sonne, als er in die Pfütze mit Arians Blut trat. Plötzlich hallte hinter ihm aus der Höhe eine Stimme.

»Du wirst in der Hölle schmoren, Slit, wenn du auch nur ein Haar dieses Mannes krümmst.«

Der Schlitzer fuhr entsetzt herum und rutschte in der Blutlache aus. Er warf die Arme hoch, verlor den Boden unter den Füßen, landete auf dem Rücken und schlug mit dem Hinterkopf auf. Benommen verdrehte er die Augen.

Zumindest eine Bedrohung hatte sich Arian mit seinem Bauchrednertrick vom Hals geschafft. Hooter war dagegen nur mäßig beeindruckt. Mit kreisendem Messer rückte er ihm auf den Pelz.

»Was für Tricks hast du noch auf Lager, Franzmann?«

Arian ließ die falschen Flammen erlöschen und wich vor dem Riesen zurück. Warum hielten ihn die Kerle eigentlich für einen Franzosen? Mister M. hatte fließend Englisch gesprochen, in dem Cockney-Dialekt der Leute, die in Hörweite der Glocken von St Mary-le-Bow in der City of London aufgewachsen sind. »Wie oft soll ich Ihnen noch sagen, dass Sie mich verwechseln!«

Der Waliser lachte. »Man hat uns zu Recht vor deinen Zauberkünsten und deiner Glattzüngigkeit gewarnt.«

»Ich bin kein Zauberer«, schrie Arian wütend. Er warf einen Blick über die Schulter. Noch drei oder vier Schritte bis zur Brüstung. Dahinter ging es mehr als zweihundert Fuß in die Tiefe.

»Da habe ich aber gerade was anderes gesehen.« Der Hüne dachte gar nicht daran, stehen zu bleiben.

»Lassen Sie mich gehen. Ich will Ihnen nichts tun.«

Hooter zuckte die Achseln. »Du verblutest sowieso. Dafür hat Slit schon gesorgt. Er ist ein Meister seines Fachs. Komm, ich helfe dir, die Sache kurz und schmerzlos zu beenden.« Er machte einen weiteren Schritt.

Arian wich erschrocken zurück und stieß mit den Hacken gegen die Mauer, genau zwischen zwei Zinnen, wo die Brüstung am niedrigsten war. Sein Gleichgewichtssinn schlug Alarm. Was ihn als junger Seiltänzer nur ein müdes Lächeln und ein rasches Muskelspiel gekostet hätte, überforderte seinen alten, vom Blutverlust geschwächten Körper. Er ruderte verzweifelt mit den Armen in der Luft. In seiner Seite explodierte der Schmerz.

Auf diese Gelegenheit hatte Hooter nur gewartet. Mit zwei schnellen Schritten trat er vor, um den vermeintlichen Mister M. über die Mauer zu stoßen.

Arian griff nach der Hand, die ihn an der Brust traf, bekam sie aber nicht zu fassen. Er kämpfte um die Balance und schrie, als er langsam rückwärts kippte.

»Jetzt zier dich nicht so«, sagte Hooter und stupste ihn erneut an. Nur mit zwei Fingern.

Das reichte, um Arian vollends aus dem Gleichgewicht zu bringen. Er warf die Arme hoch und streifte mit den Fingerspitzen den Daumen des Walisers. Während Arian den Boden unter den Füßen verlor, spürte er ein heftiges Ziehen, ähnlich dem schmerzhaften Reißen, das ihm zuvor der Seelendieb zugefügt hatte. Für die Dauer eines Wimpernschlags verschwamm der Mörder vor seinen Augen ...

... und dann hatten sie die Körper getauscht.

Entsetzt starrte Arian in das überraschte Gesicht von Mister M. Es entfernte sich rasch von ihm. Weder schrie Hooter noch zappelte er. Entweder hatte er die Besinnung verloren oder er war vor Schreck gelähmt. Kurz bevor der Boden seinen Sturz beendete, kniff Arian die Augen zu.

Als er sie wieder öffnete, sah er nur mehr einen zerschmetterten Leib, den es fast in zwei Hälften zerrissen hatte. Slit hätte seine wahre Freude gehabt.

Unter den Passanten vor dem Portal hingegen breitete sich Entsetzen aus. Die meisten schrien, Frauen fielen reihenweise in Ohnmacht, und einige Kinder deuteten aufgeregt zum schwarzen Mann auf dem Turmdach hinauf.

Arian zog sich rasch von der Brüstung zurück und starrte benommen auf seine riesigen Hände. Nein, es waren Hooters behaarte Pranken. Immerhin fühlte sich dessen fleischliche Hülle besser an als das wacklige Gestell, das Mister M. ihm untergejubelt hatte. Unangenehm war lediglich das Jucken auf dem Kopf und unter den Armen sowie ein hässliches Kneifen im Schritt. Hatte der Kerl Läuse?

Bin ich jetzt ein Seelendieb geworden?, schoss es Arian durch den Sinn. Der Gedanke war ungeheuerlich. Würde er jedem, den er mit bloßer Haut berührte, den Leib rauben?

Unbehaglich tastete er nach seiner Nase, diesem enormen Zinken, der seinen Besitzer selbst auf hundert Yards unverwechselbar machte. Das ist gar nicht gut, dachte er. Alle würden ihn für den Mörder von Mister M. halten. Er wollte seinen eigenen Körper zurückhaben, ehe sich der Henker den des Walisers holte.

Ob der Seelendieb noch auf Dean’s Court war? Ein Seitenblick auf den Schlitzer verhieß neue Schwierigkeiten. Slit lag zwar nach wie vor in der Blutlache, doch seine Finger zuckten bereits. Der brutale Kerl war Arian zuwider. Anstatt auf sein Gefühl zu hören und das Weite zu suchen, setzte er sich mit einem wütenden Schnauben in Bewegung. Vielleicht sah er von der Südseite des Turmes den Unhold, der nun in seiner Haut steckte.

Während er über das Dach eilte, wurde ihm der Irrwitz seiner Lage bewusst. Auch der Puppenspieler Mike war ja nicht echt, nur eine Maskerade. Aber das hatte ihn nie gestört. Er hatte geglaubt, mit dem Namen eines anderen endlich Frieden zu finden. Sogar jetzt sehnte er sich noch nach diesem geborgten Ich.

Gedankenversunken schob er die Hand unter den Gehrock und verstaute das Messer hinten im Hosenbund. Als die Klinge in die verborgene Scheide glitt, stutzte er. Woher kam diese traumwandlerische Sicherheit bei einem für ihn ungewohnten Handgriff? War da etwas von Hooters Wesen auf ihn übergesprungen? Arian schauderte. Hoffentlich hatte nicht der mörderische Charakter des Walisers auf ihn abgefärbt.

Als er die Brüstung erreichte, stützte er sich auf den Zinnen ab, beugte sich weit vor und spähte nach unten. Aus der Vogelperspektive hatte man eine atemberaubende Aussicht über das ganze Viertel, das früher eine Insel gewesen war. Die Bäume auf Dean’s Yard erschwerten ihm allerdings die Orientierung. »Wo bist du, Seelendieb?«, murmelte er.

Auf dem Platz herrschte ein regelrechter Herdentrieb. Das Geschrei vom großen Westportal lockte die Schaulustigen an. Nur ein Knabe, so schien es, saß ruhig unter einem Ahornbaum und ließ sich von der Sensationsgier der Leute nicht anstecken.

»Eibo!«, flüsterte Arian erleichtert. Wenigstens dich hat mir das Scheusal nicht gestohlen. Die Zweige verdeckten den Oberkörper der Puppe, doch die unbeschuhten Holzfüße, die aus den Pantalons ragten, waren unverwechselbar.

Sein suchender Blick wanderte weiter, zum Rand des Blätterdachs, und dort entdeckte er den Seelendieb. Ohne Eile legte Mister M. das Balancierseil zu großen Schlaufen zusammen und sah dabei zum Turm hinauf. Ob er den tödlichen Sturz seines abgelegten Körpers beobachtet hatte?

»Bist du zufrieden?«, knurrte Arian und schauderte. Er wurde aus seinen eigenen Augen angestarrt und hatte trotzdem das Gefühl, einem Dämon ins Angesicht zu sehen. Seine Haut begann zu jucken, und das Kribbeln, das von der düsteren Präsenz des anderen ausging, kehrte zurück. Offenbar verstärkte es sich, sobald man sich gegenseitig mit Blicken fixierte. Wer war dieser Mann?

Mister M. schob den rechten Arm durch das zusammengelegte Seil und hängte es sich quer über die Brust. Was immer ihn dazu bewogen hatte, bis jetzt am Ort seiner schändlichen Tat auszuharren, nun machte er sich aus dem Staub. Mit langen Schritten lief er gegen den Strom der Schaulustigen auf den südlichen Ausgang des Platzes zu. Arian trat von den Zinnen zurück, um die Verfolgung aufzunehmen. Wenn er seinen Körper nicht endgültig verlieren wollte, dann musste er sich sputen ...

»Ich bring dich um.«

Arian fuhr herum. Vor ihm stand der Schlitzer, das mörderische Messer drohend erhoben, und funkelte ihn zornig an.

 

Hatte Slit ihn durchschaut? Wusste er, dass von Hooter nur noch die grobschlächtige Hülle übrig war? Möglich wäre es, dachte Arian, während er auf die blitzende Klinge vor seiner Nase starrte. Er besaß ja auch die Fähigkeit, Menschen mit außergewöhnlichen Begabungen aufleuchten zu lassen – Arian war ein Prüfer. Schon als Dreikäsehoch hatte er seinen Ziehvater des Öfteren in eine leuchtende Aura gehüllt, weil Kord Puppen beseelen konnte. Hätte er diese Gabe doch nur bei Mister M. benutzt! Wahrscheinlich wäre der Seelendieb wie ein Hufeisen unter dem Hammer des Schmieds erglüht.

»Erkennst du mich nicht? Ich bin’s. Der gute Onkel Hooter«, spielte Arian den amüsierten Halunken. Den walisischen Tonfall bekam er recht überzeugend hin. Seine Ungeduld vermochte er allerdings weniger gut zu verbergen. Er würde seinen Körper verlieren, wenn er den Dicken nicht schleunigst loswurde.

»Wer du bist, ist mir egal«, zischte Slit. »Wichtig ist, was du tust.«

»Ist dir das Hirn aus dem Ohr gerieselt, als du auf den Kopf gefallen bist? Wir zwei sind aus demselben Grund hier. Schon vergessen?«

»Dachte ich auch. Aber dann hast du gesagt, dass du mich ausbooten willst.«

»Was? Bei wem?«

»Beim Boss. Du sagtest, du wirst den Froschfresser allein zur Hölle schicken, und wo ist er jetzt?«

Arian deutete mit dem Daumen nach links und zwang sich zu einem Grinsen. »Der schmort wahrscheinlich längst ...« Unvermittelt hielt er inne, als ihm aufging, dass der Auftraggeber von Slit und Hooter ihm vielleicht bei der Suche nach Mister M. helfen konnte. In seinem Lied hatte der Schlitzer den Namen Turtleneck erwähnt. Steckte der Verbrecherkönig von London hinter dem Mord? Arian verwarf sein ursprüngliches Vorhaben, Slit loszuwerden. Sollte der Seelendieb ihm entkommen, wäre dessen Boss womöglich die einzige Rettung für ihn.

Der Dicke nickte gewichtig und fuchtelte erneut mit dem Messer vor Arians Nase herum. »Hast also endlich kapiert, in was für einen Schlamassel du mich da bringst. Wie steh’ ich jetzt da, wo du den Froschfresser ganz allein abserviert hast? Aber mich legst du nicht aufs Kreuz, Freundchen. Ehe ich meinen Posten an dich abtrete, schneide ich dir deinen verdammten Riechkolben ab.«

Arian gab sich gelassen. Mit ausdrucksloser Miene griff er sich zwischen die Beine, wie er es zuvor bei Hooter gesehen hatte. So ein Gehabe sah nicht nur lässig aus, es linderte auch das Kneifen.

Und es lenkte ab.

Blitzschnell packte er Slits Hand und drehte ihm den Arm um, bis die Klinge gegen dessen Wanst stieß. Er war selbst überrascht von der Kraft seiner neuen Arme. »Wenn ich dich loswerden wollte, hätte ich dich schon längst abgemurkst. Scheinbar ist dir entgangen, dass der Franzmann dem Seiltänzer was zugeflüstert hat.«

»Zugeflüstert?« echote Slit gepresst. Sein besorgter Blick pendelte zwischen dem Messer und Arians Gesicht hin und her. »Wird wohl um Hilfe gebettelt haben, der verdammte Frosch.«

»Oder er hat uns verraten. Vielleicht steckt er mit dem Jungen unter einer Decke. Ich dachte mir, der Boss sollte darüber Bescheid wissen. Geh und erstatte ihm Bericht. Ich fühle derweil dem Gaukler auf den Zahn. Falls ich den geringsten Verdacht habe, dass er etwas weiß, bringe ich ihn zum Schweigen. Heute Abend erzähle ich dir, was ich rausbekommen habe. Wo wollen wir uns treffen?«

»Wie wär’s mit The Gun in den Docks? Die haben das beste Bier.«

»Einverstanden. Kann ich dich jetzt loslassen, ohne dass du mich aufschlitzt?«

»Klar doch. Wieso denn nicht?«

Arian traute dem leutseligen Ton des Dicken keineswegs. Als er ihn freigab, ging er vorsichtshalber gleich auf Abstand.

Slit grinste über beide Ohren. »Glaubst du ernsthaft, ich hätte es dir vorher gesagt, wenn ich dich abstechen wollte?«

»Dann bis heute Abend.« Arian ließ den Schlitzer kurzerhand stehen. Hoffentlich war es nicht schon zu spät, den Seelendieb einzuholen.

3.

Wie Mister M. mit Arians Körper Schindluder treibt.

London, 7. Juni 1793

 

Mister M. drehte sich nicht um, während er auf der Westminster Bridge zum Ostufer der Themse wechselte. Er hätte es gespürt, wenn der Junge noch lebte. Jedenfalls hoffte er das. Mit Wut im Bauch nimmt man manches verzerrt wahr. Oder gar nicht. Das Zusammentreffen mit Tobes’ Sohn war so ganz anders verlaufen als erwartet. Mister M. hasste Überraschungen dieser Art. Normalerweise wäre er mit dem Bastard in dessen Körper verschmolzen und dann hätte er ihn für immer ausgelöscht. Stattdessen hatten sie einfach die Plätze getauscht.

Wahrscheinlich ist das Blut seiner Mutter dran schuld, sagte sich M. und schob das schwere Seil auf seiner Schulter zurecht. Er hatte keine bessere Erklärung für den beunruhigenden Fehlschlag. Salome war eine Morphostase gewesen, jemand, der die Kräfte von Menschen wie seinesgleichen hemmte. Es gab sie überall auf der Welt, wenn auch äußerst selten. Und so vielfältig wie die Völker der Erde waren die Namen der Körpertauscher in den jeweiligen Sprachen. Aus den Sagen des Altertums kannte man sie als Metasomen. Hier, auf den Britischen Inseln, nannten sie sich Swapper.

Um einander nicht ins Gehege zu kommen, besaßen diese Auserwählten von Natur aus einen sechsten Sinn, mit dem sie sich gegenseitig wahrnahmen. Arians Mutter hatte dieses Gespür allein durch ihre Gegenwart betäubt und kein Tauscher hätte sie ihrem Körper entreißen können. Daher bezeichnete man Menschen wie sie auch als Blocker oder Ruhende – sie ruhten in sich selbst.

Auf Tobes’ Sohn traf das offenbar nur bedingt zu. Er war eine gefährliche Mischung aus Tauscher und Blocker. Deshalb hatte er wohl auch die Verschmelzung, nicht aber den Körpertausch verhindern können. Der Bastard bedrohte das Gefüge einer jahrtausendealten Ordnung.

M. lächelte diabolisch. Eine ganz außergewöhnliche Hülle hatte er da gekapert, die ihm wie angegossen passte: jung, kräftig, groß und gut aussehend. Daran konnte man sich gewöhnen. So schnell würde er dieses neue Gewand nicht mehr hergeben.

Das diebische Grinsen auf dem Gesicht von Mister M. wurde breiter. Wie gut, dass er mit Komplikationen gerechnet hatte. Ohne es zu wissen, waren Turtleneck und seine Handlanger für ihn in die Bresche gesprungen und hatten zu Ende gebracht, was ihm selbst nicht gelungen war. Sofern nicht ...

Eine Lady im weit schwingenden Kleid aus kupferfarbener Seide wich ihm erschrocken aus, als sähe sie den Leibhaftigen. Als sie sich beim Wechsel auf die andere Brückenseite nach ihm umdrehte, pflügte sie mit ihrem wallenden Rocksaum geradewegs durch einen Haufen Pferdeäpfel. Erst ihre Reaktion machte Mister M. bewusst, wie wenig er seine neuen Gesichtszüge unter Kontrolle hatte. Er tauschte die boshafte Grimasse gegen ein vergnügtes Lächeln aus, um nicht aus der Rolle zu fallen. In den letzten Tagen hatte er sie gründlich studiert.

Hier, nur ein paar Schritte vom Amphitheater entfernt, gehörte der junge Gaukler zum alltäglichen Straßenbild. Mike Astley war in der Stadt als stiller und freundlicher Zeitgenosse bekannt. Nur vor Publikum – wenn er in der Manege stand und seine Puppe plappern ließ – verwandelte er sich in eine ungestüme Kodderschnauze.

Als Mister M. das Ende der Brücke erreichte, schob sich von rechts Astleys Reitschule ins Blickfeld, die nachmittags und abends mit Pferden und anderen Kuriositäten leichte Unterhaltung bot. Der Komplex mit der überdachten Arena lag an der Ecke Westminster Bridge Road und Stangate Street. Sprechtheater mit königlichem Patent wie Covent Garden und Drury Lane waren dagegen wahre Paläste. Das Etablissement des Philip Astley nahm sich im Vergleich dazu eher bescheiden aus: ein hölzernes Haus für die Haupttribüne, das zwei Baracken flankierten, denen sich für die billigen Sitzplätze Galerien anschlossen, die sich zur Straße hin als langweiliger Bretterzaun präsentierten. Auf dem Dach des Hauptgebäudes thronte ein Pferdestandbild mit einem stehenden Kunstreiter auf dem Rücken. Mister M. hatte in den angrenzenden Pferdeställen eine Verabredung.