Pala und die seltsame Verflüchtigung der Worte - Ralf Isau - E-Book

Pala und die seltsame Verflüchtigung der Worte E-Book

Ralf Isau

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Beschreibung

Ein Fantasyroman der besonderen Art! Die junge Pala lebt mit ihren Eltern und ihrer Schwester in der Stadt Silencia, einer Stadt, in der Worten ein besonderer Zauber innewohnt. Eines Tages geschieht das Unfassbare: Die Bewohner Silencias verlieren einzelne Silben und Worte. Besonders schlimm erwischt es den Geschichtenerzähler Gaspare, der über Nacht die Fähigkeit zu Sprechen verliert. Pala macht sich auf, das Geheimnis zu ergründen und stößt auf finstere Widersacher – und auf Zitto, der in einer mysteriösen Ruine über der Stadt lebt ...-

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Ralf Isau

Pala und die seltsame Verflüchtigung der Worte

 

Saga

Pala und die seltsame Verflüchtigung der Worte

 

Copyright (c) 2022 by Ralf Isau, vertreten von AVA international GmbH, Germany

(www.ava-international.de)

Die Originalausgabe ist 2002 im Thienemann Verlag erschienen

Coverbild/Illustration: Shutterstock

Copyright © 2002, 2022 Ralf Isau und SAGA Egmont

 

Alle Rechte vorbehalten

 

ISBN: 9788728390344

 

1. E-Book-Ausgabe

Format: EPUB 3.0

 

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für gewerbliche und öffentliche Zwecke ist nur mit der Zustimmung vom Verlag gestattet.

 

www.sagaegmont.com

Saga ist Teil der Egmont-Gruppe. Egmont ist Dänemarks größter Medienkonzern und gehört der Egmont-Stiftung, die jährlich Kinder aus schwierigen Verhältnissen mit fast 13,4 Millionen Euro unterstützt.

Im Anfang war das Wort,

und das Wort war bei Gott

und göttlichen Wesens war das Wort.

Johannes Kapitel 1, Vers 1

Für Karin,

die eine bemerkenswerte Leidensfähigkeit bewiesen hat,

während ihr Mann sich auf der Jagd nach Worten befand.

Danke.

1

Erst ganz zum Schluss ist, wer Geduld hat, schlauer,

die Maske heit’ren Überschwangs mag trügen.

Selbst Friedensboten neigen gern zum Lügen,

doch echte Weisheit ist ein Schatz von Dauer.

Wenn Ungewohntes macht ihr Lächeln sauer,

selbst Hochbetagte muss man manchmal rügen,

bevor selbst Freunde sich dem Schweigen fügen,

weil Altersstarrsinn fällt wie Hagelschauer.

Wenn redliches Gespräch versiegt im Sande,

öffnet das Tor sich unheilvollen Reitern,

die bringen Hunger, Krieg und Pest dem Lande.

Versäumt ein Rat zur Zeit sich zu erweitern,

folgt seinem Schweigen fürchterliche Schande –

allein die Furcht lässt manche Absicht scheitern.

Erst ganz zum Schluss ist, wer Geduld hat, schlauer. Diese Weisheit stammt nicht von mir. Ich habe sie vor vielen Jahren in einem geheimnisvollen Gedicht gelesen. Sofort zog es mich in seinen Bann. Obwohl ich den Versen nicht wenig verdanke, bin ich mir sehr wohl ihrer Tücken bewusst. Gerade diese ließen mich bis heute schweigen. So wenig wie man einen schlafenden Drachen weckt, wollte ich dem Gedicht neues Leben einhauchen in dem womöglich stümperhaften Versuch, sein verborgenes Wesen in Worte zu fassen. Inzwischen erscheint mir dieser Gedanke lächerlich, ist es doch so viel stärker als ich. Wenn es sich erneut Gehör verschaffen will, dann wird es das auch tun. Und vielleicht ist es auch besser so.

Das Klügste wird wohl sein, sich dieses Gedicht Wort für Wort einzuprägen. Obschon – ich könnte mich auch irren. Sollte ich nicht lieber vor ihm warnen? Ja, das ist vernünftig. Besser kein Risiko eingehen. Sich mit ihm einzulassen verlangt dem Leser nämlich eine gehörige Portion Stärke ab, mehr als mancher aufbringen kann ... Oder aufbringen will.

Dieses Gedicht, nur so viel sei noch gesagt, ist nämlich ein Wolf im Schafspelz, ein zweischneidiges Schwert, Segen und Fluch in einem – nein, es ist nichts davon und doch alles zusammen. Seine Strophen widersetzen sich jedem Versuch, sie mit einer kurzen, griffigen Formel zu beschreiben. Tja, und das soll jetzt auch reichen. Zeit, den Deckel zuzuklappen und sich nicht länger meinem Gejammere auszusetzen.

Andererseits ...

Es mag nicht gerade vernünftig sein und ich kann auch niemandem guten Gewissens empfehlen, mir über die Schulter zu schauen, während ich hier meine Gedanken ordne, aber wenigstens für mich will ich es tun. Wo ich doch selbst, viel zu oft unter Schmerzen, nach der Vollkommenheit strebte, muss ich das Geheimnis dieser Verse ergründen. Ja, mir wird erst dann wohler sein, wenn ich wenigstens den Versuch unternommen habe, ihre wahre Natur zu enträtseln.

Auf den ersten Blick erscheint das Gedicht harmlos. Seine äußere Form täuscht Berechenbarkeit vor. Es wirkt wie mit dem Zollstock entworfen: vierzehn Zeilen von je elf Silben, aufgeteilt in zwei Strophenpaare von zunächst vier und dann drei Zeilen – kinderleicht.

Wer das denkt, ist schon verloren. Was da im klassischen Gewand eines Sonetts daherkommt, ist in Wirklichkeit ein Gespinst aus Worten, in dem man sich leicht verheddern kann. Auch Labyrinthe locken gerne mit rechten Winkeln, geben sich den Anschein des Klaren, Überschaubaren, doch hat man sich erst ihrer strengen Ebenmäßigkeit anvertraut, lassen sie einen so schnell nicht mehr los. Mit besagtem Gedicht ist es genauso, und dafür gibt es durchaus verschiedene Gründe. Oder sagen wir, mindestens zwei.

Schon für sich allein betrachtet, steckt die Lebensregel voller Tücken: Erst ganz zum Schluss ist, wer Geduld hat, schlauer.

Raffiniert, nicht wahr?

Man möchte einfach zustimmen, oder?

Wie leicht man sich doch in einen Gedanken verrennen kann!

Im Irrgarten kluger Worte gibt es viele Sackgassen. So auch hier: Weisheit kann man nämlich nicht mit Löffeln essen. Vielleicht ist ja auch das nur eine Binsenweisheit, aber es lässt sich nicht abstreiten, die wenigsten von uns entdecken während ihres Marsches von der Geburt zum Grab irgendein großes Schild, auf dem gut lesbar steht: »Jetzt hast du es geschafft, von nun an bist du klug.« Deswegen läuft man und läuft, nie so recht wissend, wann die Ziellinie endlich überschritten ist, und sollte einem zum Schluss dennoch der Weisheit Siegeskranz zufallen, ist unterwegs garantiert eine Menge schief gelaufen.

Apropos Kranz. Wie ein solcher sogar einen Berg von Problemen verursachen kann, davon möchte ich hier berichten. Und damit wären wir auch schon beim zweiten Grund angelangt, der besagtes Sonett zu einer im wahrsten Sinne des Wortes fesselnden Dichtung macht. Aber das Beste wird wohl sein, ich fange ganz von vorne an.

__________

Wenn Polizisten Flügel wie Engel hätten, wäre vermutlich alles anders gekommen. Zu der Zeit, da die dramatischen Ereignisse unserer Geschichte ihren Lauf nahmen, besaßen die Ordnungshüter von Silencia aber nur Fahrräder, bestenfalls noch Motorroller. Wilde Verfolgungsjagden waren in der Stadt schlicht undenkbar, zum einen wegen der viel zu engen und entschieden zu steilen Gassen, zum anderen aus Mangel an hinreichend bösen Verbrechern. Das Wortbild von der »ehrlichen Haut« passte in diesen Tagen schon eher zum typischen Bewohner Silencias. Leider gab es auch Ausnahmen. Oder sagen wir, mindestens eine.

Ebendiese unsagbare Einmaligkeit steckte im Körper eines Mannes. Wo sich übliche Ordnungswidrigkeiten in Silencia mit ein paar guten, manchmal auch strengen Worten regeln ließen, wäre zur Vereitelung der Machenschaften dieses Ausnahmebürgers schon ein ganzes Geschwader von flugerfahrenen Gesetzeshütern nötig gewesen, und wer weiß, vielleicht hätten selbst ihre schweifenden Blicke die unheimlichen Veränderungen hoch über den Dächern nicht bemerkt.

Oberflächlich betrachtet gab die Stadt nämlich seit eh und je dasselbe friedliche Bild ab. Sie lag wie eine Festungsanlage auf einer Anhöhe. Bei schönem Wetter konnte man von dort oben die ferne See erblicken. In unmittelbarer Umgebung wogte dagegen ein anderes Meer, eine fruchtbare Landschaft, die aus der Vogelperspektive wie ein grünes zerknautschtes Bettlaken aussah. Zwischen den bewaldeten Hügeln gab es vereinzelte kleine Gehöfte. Weizen-, Spinat- und Artischockenfelder, Olivenbaumhaine und Weingärten überzogen das grüne Laken mit einem bunten Karomuster. Und mittendrin schlummerte Silencia.

Auf dem höchsten Punkt des Stadtberges stand eine jahrhundertealte Burg. Bis vor kurzem war sie nur eine Ruine gewesen. Düstere Überlieferungen rankten sich um diese Zitadelle. Aber in dem Gewirr von Gassen und Plätzen darunter war alles licht und warm, was nicht nur an der Sonne lag, die Silencia großzügig verwöhnte, sondern auch an den Menschen, die hier lebten. Sie redeten gern, fast ohne Unterlass und meistens ziemlich schnell. Es erscheint durchaus angemessen, sie als Plaudertaschen zu bezeichnen. Ihre braunen und ockerfarbenen Häuser dienten ihnen hauptsächlich als Schlafstätten. Die übrige Zeit sprachen sie miteinander und meistens unter freiem Himmel.

Zu den beliebtesten Treffpunkten von Silencia gehörte der Platz der Dichter. Schon früh am Morgen konnte man hier auf dem Markt brandheiße Neuigkeiten austauschen und nebenbei sogar einkaufen. Später am Tag, wenn die Sonne heiß vom Himmel brannte, flüchtete man sich lieber auf die Bänke unter den Pinien, die wie große grüne Schirme ihre kühlen Schatten über die Piazza warfen. Für ein kurzes Schwätzchen hatte man fast immer Zeit. Man sprach über dies und das, Oberflächliches und Tiefgründiges, Gott und die Welt. Am Rande sei bemerkt: Es wurde in Silencia auch gearbeitet. Der Broterwerb galt jedoch als Mittel zum Leben, keinesfalls als sein Zweck, weswegen unsere umherflatternden Polizisten davon wohl kaum Notiz genommen hätten. Eher schon dürften ihre Aufmerksamkeit die beunruhigenden Geschehnisse geweckt haben, die sich in der Stadt anbahnten.

Da gab es ja diese gewaltige Festungsruine, die über der Stadt schwebte wie eine Krone, aus der mehr als nur ein Zacken gebrochen war. Seit einiger Zeit gehörte die Burg einem vermögenden Sohn Silencias, der, wie es hieß, nach langen Jahren in der Fremde an seinen Geburtsort zurückgekehrt sei und das alte Gemäuer nun wieder instand setzte. Von hier aus wolle er schon bald sein riesiges Firmenreich regieren, ließen seine Direktoren nicht allzu selten verlauten. Die Stadtväter hörten es mit Wohlwollen. Merkwürdig war nur die Art und Weise, wie sich die Burg erneuerte. Von unten aus der Stadt konnte man schlechterdings nicht erkennen, was dort oben fehlte, nämlich Maurer, Zimmerleute und sonstige Handwerker. Niemand turnte auf Gerüsten, keiner stemmte Steine und trotzdem machte die Wiederherstellung der Festung immer schnellere Fortschritte.

Da Schlösser gemeinhin nicht aus Hefeteig bestehen, sollte dieses eigenwillige »Aufgehen« der Zitadelle einem wachsamen Polizisten auf Kontrollflug nicht entgangen sein. Und beim Überflattern der Straßen und Plätze Silencias hätte einem solchen auch die sich dort ausbreitende Stille auffallen müssen. Zugegeben, diese letzte Veränderung ging nur sehr langsam vonstatten. Aber was nützt es, sich über die Fluguntauglichkeit von Ordnungshütern zu beklagen? Polizisten sind nun mal keine Engel und Engel keine Polizisten. Welche besonderen Gaben, ja was für eine außergewöhnliche Person hätte überhaupt noch verhindern können, was sich da lautlos wie eine dunkle Gewitterwolke über der Stadt und ihren Bewohnern zusammenbraute? Die Antwort lautet, keine. Oder sagen wir, höchstens eine.

Und daher musste wohl alles so geschehen, wie Pala es erlebt hatte.

Pala besaß langes, krauses, schwarzes Haar und strahlend blaue Augen. Für ihr Alter war sie entschieden zu groß. Sie überragte sämtliche Kinder ihrer Schulklasse, auch Pasquale, der ihr nur bis zur Schulter reichte. Überdies war sie auch die Dünnste in weitem Umkreis, was Pasquale als ausgleichende Gerechtigkeit empfand – wenigstens auf der Waage war er ihr ebenbürtig. Pala machte dafür seine »Gefräßigkeit« verantwortlich, Pasquale dagegen seinen »schweren Knochenbau«. Solange sie ihren Freund kannte, war er noch nie um eine Ausrede verlegen gewesen. Das mochte am Mundwerk seines Vaters liegen – der Begriff »Handwerk« galt in Silencia als unzutreffend, wenn jemand wie Pasquales Vater Gebrauchsdichter war, ein einfacher, aber in der Stadt der Dichter und Denker durchaus angesehener Beruf (solcherlei Mundwerker verfassten Verse für Geburten, Hochzeiten, Todesfälle und andere bewegende Anlässe).

Pasquale war Palas Nachbar – nicht nur in der Alexandrinergasse, sondern auch hinter der Schulbank –, und wenn es nach ihm ging, auch ihr zukünftiger Ehemann. Auf seine regelmäßigen Heiratsanträge pflegte sie zu antworten: »Frag mich in zehn Jahren noch mal, wenn du es dir bis dahin nicht anders überlegt hast.« Woraufhin seine Erwiderung dann ungefähr so klang: »In tausend Jahren nicht! Mein Herz verzehrt sich nach dir, Pala. Nie und nimmer wird es für mich eine andere geben als dich.« Pasquales temperamentvolle Gefühlsaufwallungen konnten sie schon lange nicht mehr aus der Fassung bringen. Gewöhnlich beendete sie die Brautwerbung mit ihrem Wahlspruch: »Erst ganz zum Schluss ist, wer Geduld hat, schlauer.«

Eine besondere Bedeutung lag für sie in diesen Worten. Sie bildeten nämlich die Anfangszeile eines Gedichts, das sie zu ihrer Geburt geschenkt bekommen hatte, so war es ihr von den Eltern immer wieder erzählt worden. Seitdem schmückte es, eingerahmt und hinter Glas, die Wand ihres Zimmers. Das geflügelte Wort war jedoch längst der ganzen Familie zu einem Leitsatz geworden.

Bisweilen konnte Palas Mutter, zumindest nach Auffassung ihrer Tochter, ziemlich anstrengend sein. Äußerungen wie »Du bist spindeldürr, meine Große, dagegen müssen wir etwas machen« gehörten für sie zu den gemeinsamen Mahlzeiten wie das tägliche Tischgebet. Oft sprach sie auch von »meinem zerkratzten Kleiderständer«. Derartige Anspielungen auf Palas angeblich zu geringen Körperumfang klangen niemals verächtlich, aber häufig besorgt. Dafür liebte Pala ihre Mutter, anstatt ihr zu grollen. Und der Rest stimmte ja: Pala kletterte gerne auf Bäumen und Mauern herum, weshalb ihre Arme und Beine nicht selten zerschrammt waren wie bei einem alten Möbelstück.

In diesen »halsbrecherischen Kapriolen«, wie ihre Mutter sich auszudrücken pflegte, sah Pala eine gute Möglichkeit, sich ungestört in ein Buch zu vertiefen. An leichter zugänglichen Stellen Silencias ließ sich dergleichen selten einrichten, weil dort fast immer jemand mit einem anderen schnatterte. Oder weil Nina ihren dicken und oft feuchten Windelpo mitten auf die Buchseiten stempelte. Nina war ein kurzes, speckgepolstertes, gleichwohl quecksilbriges sowie unablässig brabbelndes Wesen und außerdem noch unserer Heldin kleine Schwester.

Wer in Pala nun eine menschenscheue Einzelgängerin vermutet, würde ihr Unrecht tun. Sie tobte auch gerne mit Pasquale barfüßig durch Silencias schmale Gassen. Aber wenn ihrem kugeligen Freund die Puste ausging – was nie besonders lange dauerte –, dann schlug die Stunde der Wortschöpferin. Pala könne aus Worten Kunstwerke erschaffen, behauptete Pasquale, meist, um einem seiner Heiratsanträge den Weg zu ebnen. Statt des Jaworts bekam er von ihr aber nur knifflige Rätsel zu hören. Oder sie dachte sich neue Begriffe aus, die er wiederholen musste. Lieber lauschte er jedoch ihren Geschichten. Die sprudelten unablässig aus Palas Phantasie hervor und mit jeder neuen versuchte sie alle bisherigen zu übertreffen. Häufig stammten sie aber auch vom alten Gaspare, an dem wir nicht vorbeikommen, wenn diese Geschichte vollständig erzählt werden soll.

Gaspare Oratore war, nach eigenem Bekunden, ein »ausgemusterter Geschichtenerzähler«. Pala nannte ihn Nonno, also Großvater, und das, obwohl er mit ihren Eltern nicht einmal entfernt verwandt war, aber das störte sie nicht weiter. Weil Nonno Gaspare im Seilhüpfen nicht mehr so geschmeidig war, hatte er Pala Wortspiele beigebracht und ihr gezeigt, wie man verzwickte Rätsel löste. Manchmal erfanden das Mädchen und der alte Mann Bandwurmsätze, in denen jedes Wort mit dem gleichen Buchstaben beginnen musste. Derlei Zeitvertreib ging meistens mit lautem Lachen und Gackern einher. Wenn der Großvater indes von seinem bewegten Leben als fahrender Geschichtenerzähler berichtete, war Pala wie gefesselt. Ja, sobald er diesen versonnenen Blick bekam und aus dem Quell seiner zahllosen Geschichten zu schöpfen begann, wurde sie mucksmäuschenstill – und das wollte schon etwas heißen! Sie saß dann einfach nur da, meist auf der verwitterten Holzbank vor Gaspares Feldsteinhäuschen, und hing an seinen Lippen. Ab und zu, wenn seine feingliedrigen großen Hände geschmeidige Gesten vollführten, zog sie mit der linken Hand ihr widerspenstiges Haar über die Schulter nach vorn, ohne dabei auch nur für eine Sekunde ihre Augen von seinem zerfurchten Antlitz zu nehmen; nicht die kleinste Veränderung in seinem mal traurigen, dann wieder heiteren Mienenspiel wollte sie verpassen. Nonno Gaspare könne ohne ein Wort, nur mit Gesicht und Händen, eine Geschichte erzählen – jederzeit hätte Pala dies beschworen.

Bis zu jenem schrecklichen Tag im Frühling.

Bei flüchtiger Betrachtung hatte die Welt am Morgen nicht anders ausgesehen als sonst. Alles schien seinen gewohnten Verlauf zu nehmen. Pala schnellte aus dem Bett, als ihre kleine Schwester sich mit frisch gefüllter Windel auf ihr Gesicht fallen ließ. Beim Frühstück besprach die Familie, wortkarg zwar, aber ansonsten wie gewohnt, den Tagesablauf. Nina verschüttete ihre Milch. Auf dem Weg zur Schule trug Pasquale einen seiner fürchterlichen Reime vor. Pala machte ihn mit zwei oder drei Musterbeispielen silencianischer Dichtkunst vertraut, die in der Stadt fast jede Hauswand zierten, und forderte ihn anschließend taktvoll auf, geduldig weiterzuüben. Hiernach erging sich die Lehrerin in der Schule wieder einmal über das Wunder der menschlichen Sprache, verlor dabei merkwürdigerweise einige Male den Faden, rettete sich dann aber irgendwie doch über die Runden. Später, auf dem Heimweg, übte sich Pasquale in der praktischen Anwendung des Gelernten und machte Pala einen überraschend einfallslosen Heiratsantrag. Sie lehnte wie immer ab, verlangte von ihm zehn Jahre Geduld und verabschiedete sich. Da es an diesem Tag keine Hausaufgaben zu erledigen gab, trennte sie nun allein das Mittagessen von ihrem geliebten Nonno Gaspare.

Weil Palas Vater seinen Mechanikerberuf in einer nahen Autowerkstatt ausübte, wurde die Mittagsmahlzeit gewöhnlich im Kreis der ganzen Familie eingenommen. Darauf legte er großen Wert. So ließen sich die Freuden, aber auch etwaige Niederlagen des Morgens teilen und man konnte mit neuem Schwung in die zweite Tageshälfte gehen. Aus Problemchen wurden dank dieser Familientradition selten Probleme. Jeder fühlte sich dem anderen nah und Schwierigkeiten konnten in der Regel lange vor Sonnenuntergang aus der Welt geräumt werden. Kleinigkeiten wurden sofort abgeklärt.

»Pala, wie oft habe ich dir schon gesagt, du sollst deinen Schulranzen nicht neben der Eingangstür liegen lassen?« Mutters Stimme trug ungemein gut. Man konnte sie bis in den letzten Winkel der Parterrewohnung hören.

»Kann ich nicht sagen«, erwiderte Pala wahrheitsgemäß aus einem Zimmer, das von der Küche meilenweit entfernt zu sein schien.

»Dann räume ihn bitte weg, und zwar gleich!«

»Sofort, Mama.«

»Wo steckst du eigentlich?«

Eine helle Erscheinung – cremefarbenes Sommerkleid, blaue Blümchen – huschte an der Küchentür vorüber. Es rumpelte. Kurz darauf tauchte Pala wieder in der Tür auf, diesmal stehend. Der Ranzen baumelte ihr lässig über der linken Schulter. »Bin schon da, Mama.«

»Du warst schon wieder in der Abstellkammer, stimmt’s?«

»Woher ...?« Pala fühlte sich ertappt. Das Zimmer hatte früher ihrer Großmutter gehört, bis sie vor zwei Jahren gestorben war. Anschließend wurde es für Pala zu einer Art Sperrbezirk erklärt, zu einem verbotenen Reich, dessen Erforschung ihr dadurch umso lohnenswerter erschien.

Normalerweise folgte nun eine Standpauke der Mutter. Aus unerfindlichen Gründen schien ihr dafür an diesem Mittag jedoch die nötige Schwungkraft zu fehlen. Sich wieder ihrem Kochtopf zuwendend, sagte sie nur: »Die Staubflocke an deinem Kleid – sie hat dich verraten. Du weißt, wie ich darüber denke, wenn du in dem Schmutz herumstöberst.«

»Wegen der Pappkartons mit den alten Unterlagen, meinst du?«

Der Mutter rutschte der Kochlöffel aus der Hand und sie sah Pala erschrocken an. »Du hast doch nicht ...?«

»Sie durcheinander gebracht?« Pala schüttelte den Kopf und lachte. »Keine Sorge. Da waren nur vergilbte Papiere drin. Ich habe nach der Zigarrenkiste gesucht, du weißt schon, die mit den alten Fotos aus der Zeit, als ich noch so eine Stinkbombe war wie Nina.«

Ein fröhliches Kreischen ertönte vom Tisch her, wo Palas Schwester auf einem Kinderstuhl saß und sich mit dem Verbiegen ihres Löffels beschäftigte.

Die Mutter entspannte sich wieder, schnappte sich den Holzlöffel und rührte weiter. »Und wozu brauchst du die Bilder?«

»Nach dem Essen besuche ich Nonno Gaspare.«

»Na, das ist ja mal was Neues.«

»Er möchte sich gerne meine Babyfotos ansehen.«

Jetzt lachte die Mutter sogar. »Er hat doch ständig irgendwelche Kinder um sich herum, wozu da noch die Bilder?«

»Bitte, Mamaaa!«

»Na, meinetwegen. Aber bring die Fotos wieder mit, hörst du? Was verloren geht, bleibt verloren.«

»Klar, mach ich.« Pala wirbelte herum, froh einer strengeren Ermahnung entkommen zu sein, und rannte in ihr Zimmer. Der Ranzen flog in hohem Bogen durch die Luft und landete zielgenau auf dem Bett. Dann versank sie in den Bildern ihrer frühesten Kindheit.

Jedes Mal, wenn Pala diese alten Schwarzweißfotografien betrachtete, vergaß sie alles um sich herum. So auch jetzt. Dabei zeigten die Aufnahmen nur die üblichen Kleinkindposen: Pala auf dem Nachttopf, Pala bäuchlings auf einem Lammfell, Palas Gesicht zusammengedrückt zwischen den beiden Kussmündern der Eltern ...

Manchmal glaubte sie, auf den kleinen, viereckigen Erinnerungskartons etwas suchen zu müssen, aber sie wusste nicht, was. Ein Motiv hielt Palas Aufmerksamkeit besonders gefangen: Ihre Mutter hielt den neugeborenen Winzling im Arm und ihr Vater stand mit einem Bilderrahmen daneben, in dem sich ein schwungvoll beschriebenes Blatt befand.

Palas Blick wanderte zur Wand neben der Tür, wo ebendieser Rahmen hing. Gut geschützt hinter einer Glasscheibe befanden sich da jene Verse, die ihr angeblich von einem unbekannten Dichter zur Geburt geschenkt worden waren. Nicht einmal ihre Eltern konnten sagen, aus wessen Feder die vier Strophen wirklich stammten, und das war mehr als ungewöhnlich. Einem alten Brauch zufolge musste der Vater das Geburtsgedicht für sein Kind verfassen. Nur wenn dies nicht möglich war, sprang ein enger Verwandter ein oder man beauftragte einen Gebrauchsdichter. Letzteres konnten sich nur reiche Leute leisten, zu denen Palas Eltern nie gehört hatten. Doch auch ohne ein Poet zu sein, hätte ihr Vater mit einiger Mühe drei, vier schlichte Reime zu Papier bringen können. Warum hatte er es dann nicht getan?

Diese Widersprüche machten Pala kribbelig, und das schon seit Jahren. In ihrer Seele schien ein Loch zu klaffen, eine unerklärliche Leere, die sie trotz angestrengtestem Nachdenken nicht ausfüllen konnte. Die Erklärungsversuche ihrer Eltern stellten sie nicht wirklich zufrieden. Der Unbekannte sei ein Menschenfreund gewesen, sagten sie, der ihnen eine Freude habe machen wollen, indem er ihnen ein gebrauchtes Gedicht kostenfrei überließ. Mit dem Pergament hätte er ohnehin keinen Reibach machen können. Es war vergilbt, mehrfach eingerissen und am linken Rand sogar angesengt, als hätte es jemand im letzten Augenblick einem Feuer entrissen. Der fremde Gönner jedenfalls dürfte kaum der Verfasser gewesen sein. Dafür sah die braune Tinte schon zu verblichen aus, gerade so, als wäre sie schon jahrhundertealt, und auch die durch sie geformten Worte klangen wie aus einer unendlich fernen Zeit. Ein Prickeln überlief Palas Nacken. Als leidenschaftliche Rätsellöserin besaß sie ein Gespür für Geheimnisse und dieses Sonett schien gleich mehrere davon zu bergen. Aber welche? Konnte die darin versteckte Botschaft womöglich enthüllen, was die alten Kinderfotos nicht zeigen wollten?

Langsam wanderten Palas Augen über die vergilbten Buchstaben an der Wand. Elf Silben je Zeile, zwei Strophen zu je vier und zwei mit jeweils drei Zeilen – der strenge Bauplan des klassischen Sonetts, wie sie von Pasquales Vater wusste. Auch dieses da im Rahmen hielt sich an die ehernen Regeln alter Klinggedichte. Wenn es um so gewöhnliche Dinge wie Ablageorte für Schulranzen ging, verhielt sich Palas Gedächtnis oft wie ein Sieb, aber zum Einprägen derartiger Reime genügte meist schon ein längerer Blick. Ausgerechnet dieses Sonett, das sie hätte im Schlaf hersagen können, nahm sie jedoch immer wieder aufs Neue gefangen. So auch jetzt.

Erst ganz zum Schluss ist, wer Geduld hat, schlauer,

die Maske heit’ren Überschwangs mag trügen.

Selbst Friedensboten neigen gern zum Lügen,

doch echte Weisheit ist ein Schatz von Dauer.

Wenn Ungewohntes macht ihr Lächeln sauer,

selbst Hochbetagte muss man manchmal rügen,

bevor selbst Freunde sich dem Schweigen fügen,

weil Altersstarrsinn fällt wie Hagelschauer.

Wenn redliches Gespräch versiegt im Sande,

öffnet das Tor sich unheilvollen Reitern,

die bringen Hunger, Krieg und Pest dem Lande.

Versäumt ein Rat zur Zeit sich zu erweitern,

folgt seinem Schweigen fürchterliche Schande –

allein die Furcht lässt manche Absicht scheitern.

»Pala, komm bitte, das Essen wird kalt!« Mutters Stimme klang ungeduldig, so, als hätte sie ihre Ermahnung schon mindestens zweimal wiederholt. Die ersten beiden Aufforderungen musste Pala überhört haben. Sie riss sich vom Anblick des Sonetts los und rannte in die Küche.

 

Einmal in der Woche kochte Mutter Hühnernudelsuppe, ein kleiner Trick, damit Pala das Essen nicht so hinunterschlang. Die Nudeln bestanden nämlich aus Buchstaben und meistens ließ sich »Mutters Große« dazu hinreißen, einzelne von ihnen auf dem Tellerrand aneinander zu reihen, um auf diese Weise Worte zu bilden. Wenn Pala gefragt wurde, wo sie Lesen gelernt habe, dann antwortete sie gewöhnlich: »In der Nudelsuppe.«

Mit »Mama«, »Papa«, »Hund« und »Katze«, in Nudelteig auf den Tellerrand gebannt, hatte es begonnen. Für jedes richtig buchstabierte Wort war sie mit den bewundernden Ausrufen ihrer entzückten Eltern überschüttet worden. Zu ihrer Freude musste sie, wie übrigens immer noch, die kleinen Kunstwerke nicht einmal verspeisen. Bald wurden die essbaren Begriffe komplizierter und länger. Das kleine Mädchen entwickelte einen für sein Alter erstaunlichen Ehrgeiz zu immer gewaltigeren Sprachgebilden. Eines Tages hatte Palas neuestes Wort ganz um den Teller herumgereicht. Es lautete »Dampfschifffahrtsgesellschafts kapitäns kajütenklubsesselbezugsgarn spinnmaschinen mechaniker grundausbildungsabschluss zeugnis«. Oder so ähnlich.

Inzwischen hatte sich Pala auf eigene Wortkreationen spezialisiert. Manche waren noch aus bekannten Ausdrücken zusammengesetzt wie etwa »Dosenlacher« oder »halbgelbbäuchiger Zwiebelsaftsauger«, andere bildeten völlig eigenständige Wortschöpfungen, deren Bedeutung leider verloren gegangen ist. Dazu gehört auch die »Abalambrawuche«.

Mit ihrer List schaffte Mutter es fast immer, ihre Große zum Aufessen zu bewegen. »Erst ganz zum Schluss ist, wer Geduld hat, schlauer«, pflegte sie zu sagen. Die Hühnersuppe schien ihr Recht zu geben.

An diesem Frühlingstag war das Tischgespräch im Familienkreis eher einsilbig. Mutter achtete gar nicht auf Palas verzweifelte Versuche ein neues Wort zu erfinden. Vater schlürfte still vor sich hin. Er wirkte nachdenklich und achtete kaum auf die Nudel – es war ein Z –, die sich in seinem buschigen Schnurrbart verhakt hatte. Nina blubberte Brüheblasen auf ihr Lätzchen.

Das Schweigen drückte auf Palas Gestaltungskraft. Wo sie das heitere Tischgespräch sonst zu überraschenden Wortschöpfungen anregte, brachte sie nun gerade drei Silben zustande: »Wortfresser«. Eine buchstäblich magere Ausbeute.

Hiernach brütete sie still vor sich hin. Sie musste an das erschrockene Gesicht ihrer Mutter denken, als sie den Karton mit den alten Papieren in der Rumpelkammer erwähnt hatte. Sieht so jemand aus, der sich nur um die Ordnung vergilbter Unterlagen sorgt? Palas Neugierde war jedenfalls geweckt. Vielleicht barg die große Pappschachtel ja ein Geheimnis. Im Augenblick war an einen zweiten Streifzug ins verbotene Reich nicht zu denken, aber in der kommenden Nacht, wenn alle schliefen, würde sich schon eine Gelegenheit finden. Doch zuvor wollte sie Nonno Gaspare die Bilder zeigen.

Als Vater endlich die Tischrunde aufhob, fühlte sich Pala von einer lähmenden Fessel befreit. Sie verteilte flüchtige Küsse auf die Wangen ihrer Familie und stürzte mit den Kinderfotos wie von sieben wilden Wölfen gejagt aus dem Haus. Auf ihrem zurückgelassenen Teller rutschten elf Buchstaben langsam den Rand hinunter. Als Mutter ihn kurz darauf abräumte, hatte sich der Wortfresser längst davongestohlen.

 

Obwohl Silencia mit einer Universität, zwei Schwimmbädern, drei Zeitungen, etlichen Buchverlagen und einer ganzen Reihe anderer untrüglicher Merkmale echten Städtetums gesegnet war, hatte es sich doch das Wesen eines Dorfes bewahrt. Dazu gehörten auch die überschaubaren Ausmaße der Gemeinde – mit einem gemütlichen kleinen Spaziergang konnte man alles und jeden erreichen.

Der Weg von der Alexandrinergasse zu Nonno Gaspare war daher für Pala spielend zu bewältigen. Zuerst lief sie, die Zigarrenkiste mit den Kinderfotos fest unter den Arm geklemmt, ein paar schmale Sträßchen steil hinunter, vorbei am Park des Krankenhauses und anschließend über die Piazza dei Poeti, dem ausgedehnten rechteckigen Platz der Dichter. Die Marktstände waren längst abgebaut. Aber in der Ecke rechts vom Kampanile, dem großen, frei stehenden Uhrenturm des Rathauses, saßen wie immer die alten Männer der Stadt in ihren ausladenden Korbsesseln und palaverten. Pala konnte sich nicht erinnern, die Piazza jemals ohne die munteren Grauköpfe gesehen zu haben. Sie schienen mit ihren Sesseln dort ebenso verwurzelt zu sein wie die Pinien, deren schirmförmige Baumkronen sie vor der glühenden Sonne schützten.

Hinter dem Platz nahm sie die enge Gasse, in der das Zeitungshaus des Silencia-Boten stand. Manchmal blieb sie hier stehen, um die in einem Schaukasten hinter einer Glasscheibe aufgehängten Zeitungsseiten zu lesen. Wortreich – und arm an Bildern – wurde dort geschildert, was die kleine Welt Silencias und die große ferner Städte und Länder an Neuigkeiten zu bieten hatten. Doch an diesem Nachmittag schenkte Pala der örtlichen Presse keine Beachtung. Sie hatte es eilig.

Während es stetig bergauf ging, murmelte sie Reime. Die kleinen Gedichte standen teilweise schon seit Jahrhunderten an den Hauswänden der Stadt. Mit ihrem erstaunlichen Gedächtnis für solche Sinnsprüche kannte Pala auf ihren häufig benutzten Wegen fast alle Wandgedichte auswendig. Sie musste nur ein Haus aus der Ferne sehen und schon wusste sie den passenden Spruch dazu – umgekehrt klappte das natürlich genauso.

Die schmale Gasse endete vor einem verfallenen Kloster, das vor Jahren ein Blitzschlag heimgesucht hatte. Es war seinerzeit völlig ausgebrannt und das Dach eingestürzt. Mit der ihnen ureigenen Phantasie hatten sich die Bürger Silencias die verschiedensten Gründe für das Unglück ausgedacht: ein Fluch Gottes, ein Anschlag des Teufels, das Werk eines übel wollenden Zauberers. Die Nonnen waren jedenfalls längst in eine andere Einsiedelei umgezogen und auch für die Priester gab es in der Stadt noch genügend Gotteshäuser.

Pala besaß keine eigenen Erinnerungen an den großen Klosterbrand vor über zehn Jahren und konnte daher die finsteren Geschichten, die sich um die Ruine rankten, weder erhärten noch entkräften. Das Gemäuer erfüllte sie mit einer Mischung aus Furcht und Neugier. Meist überwog die Angst und daher war sie froh, endlich in die Märchengasse einzubiegen, an deren Ende Gaspares kleines Steinhaus lag.

Ihre Füße wollten mit einem Mal nicht mehr an sich halten und so begann sie zu laufen. Die Sohlen ihrer weißen Sandalen klatschten laut auf dem Kopfsteinpflaster. Wieder ging es steil bergan, direkt an der Mauer des Burggartens entlang. Hier, etwas abseits von der große Piazza, standen die Häuser weiter auseinander. Zwischen einigen wucherte Unkraut, anderswo gediehen Kräuter und Gemüse. Die Gasse mündete in einen kleinen runden Platz, der fast zur Hälfte von einem knorrigen alten Baum überragt wurde, dessen Wurzeln ringsherum das Pflaster aufwarfen. Die anderen Häuser hielten von Gaspares Heim Abstand wie von einem schrulligen Einzelgänger, was Pala jedoch nie als störend empfunden hatte, eher im Gegenteil – auf dem Platz konnte man an windstillen, lauen Sommerabenden sogar gefahrlos ein Lagerfeuer anzünden. Die Märchengasse war eine Oase des Friedens in der sonst so quicklebendigen Stadt.

Meistens wurde Palas Kommen schon frühzeitig bemerkt und Gaspare kam ihr, gestützt auf seinen Gehstock, entgegen. So auch an diesem Tag. Aber etwas stimmte nicht. Schon von weitem fiel es ihr auf, wenngleich es zunächst nur eine dunkle Ahnung war. Jetzt flog sie dem alten Geschichtenerzähler förmlich entgegen.

Endlich hatte sie ihn erreicht. Atemlos blieb sie vor Nonno Gaspare stehen und sah erschrocken in sein schmales unrasiertes Gesicht. Es glühte sonnenbrandrot. Pala kannte das wettergegerbte Antlitz ihres alten Freundes nur in der Farbe Braun, einem alten Lederschuh sehr ähnlich. Weil Nonno Gaspare noch immer nichts gesagt hatte, trat sie noch einen Schritt näher. Jetzt, bei näherem Hinsehen, entdeckte sie auf der roten Faltenlandschaft unzählige kleine Pünktchen, als sei ein blutrünstiger Schwarm von Stechmücken über ihn hergefallen. Aber es sollte noch schlimmer kommen.

Gaspare brachte kein einziges Wort hervor.

Stattdessen begann er plötzlich mit den Armen herumzufuchteln, wobei er den Krückstock wie eine Streitkeule durch die Luft sausen ließ, als wolle er seine Besucherin unbedingt erschlagen.

Benommen wich Pala den nicht sehr genauen Hieben aus. Dabei rutschte ihr die Holzkiste mit den Kinderfotos aus der Hand und zerbrach auf dem Kopfsteinpflaster. Sie beachtete kaum die sich über den Boden verstreuenden Bilder. Deren Geheimnisse erschienen ihr nun nicht mehr wichtig. Sie ahnte, etwas Schreckliches musste geschehen sein.

 

Es war ein viel zu schöner Frühlingstag, um die Sprache zu verlieren. Pala konnte sich in ihrer gewiss nicht armen Phantasie allerdings auch keinen verregneten Novembermittwoch ausmalen, an dem Nonno Gaspares Unglück für sie nur eine Spur erträglicher gewesen wäre. Und er musste wohl genauso empfinden.

Der alte Mann stand immer noch vor ihr, mit der Linken den eigenen Hals umfassend, als bekäme er keine Luft, und mit der Rechten unentwegt den Gehstock schüttelnd. Während Pala einigen Hieben auswich, fragte sie sich, was dieses alte Gesicht nur so zum Glühen brachte. Einen Sonnenbrand hatte Gaspare seit mindestens sechzig Jahren nicht mehr gehabt.

Weil nun schon einige Zeit verstrichen war und sich keine Besserung seines Zustandes abzeichnete, bekam Pala es mit der Angst zu tun. Nonno Gaspare würgte grässliche Laute hervor, als wolle er etwas sagen, jedoch ohne Erfolg.

Vielleicht hat er ja etwas verschluckt, schoss es ihr durch den Kopf. Einen Hühnerknochen! Gaspare lebte praktisch von Hühnerfleisch. So, wie er sich gebärdete, musste ihm schon eine ganze Keule im Halse stecken. Dem Aussehen nach zu urteilen, hatte er ungefähr noch eine Minute zu leben.

»Was ist denn nur mit dir?«, schrie Pala. Sie weinte vor Angst.

Gaspares rotes Gesicht stierte das Mädchen nur verständnislos an, seine Hände waren jetzt zu einer hilflosen Geste ausgebreitet. Den Prügel hatte er fallen lassen.

»Hast du wieder dein Hähnchen zu schnell hinuntergeschlungen und dich verschluckt?«

Ein Schulterzucken war alles, was Nonno Gaspare zu Wege brachte, abgesehen von dem Mitleid erregenden Würgen und Krächzen.

Palas Gedanken arbeiteten wie das Mundwerk eines silencianischen Marktschreiers. Wie nur konnte sie ihrem Freund helfen? Wenn ihre kleine Schwester einen Bonbon verschluckte, dann nahm der Vater sie einfach an den Füßen und schüttelte sie kopfunter ordentlich durch, bis der süße Pfropf aus Ninas Rachen sprang. Das klappte immer. Doch wie sollte Pala dergleichen mit dem hageren Großvater anstellen, der sogar zu groß war, um aufrecht durch seine Haustür zu passen?

In ihrer Not lief sie um ihn herum und klopfte ihm mit der flachen Hand heftig auf den Rücken. Bei Nina hatte sie diese Methode schon erfolgreich angewandt.

Nonno Gaspare strampelte fast wie Palas kleine Schwester und ebenso wie diese protestierte er in gänzlich unverständlichen Lauten. Er schüttelte den Kopf und gebärdete sich, als schlüge ihn Pala mit einer Rute. Schon erlahmten ihre Kräfte, obwohl der Alte immer noch kein Hühnerbein ausgespuckt hatte.

Wenigstens lebte er noch. Mit Leib und Seele ein richtiger Geschichtenerzähler, hatte er seine vielfältigen Erfahrungen stets in schillernden Farben zu beschreiben gewusst. Allerdings konnte sich Pala nicht erinnern, ihn jemals von seinen Fähigkeiten im Luftanhalten prahlen gehört zu haben. Selbst ein tüchtiger Perlentaucher hätte inzwischen umkippen müssen. Aber der Alte stand aufrecht wie eine Pappel, in deren Krone sich ein roter Luftballon verfangen hatte. Gaspare würde wohl doch nicht so schnell sterben wie ursprünglich befürchtet.

Langsam beruhigte sich Pala. Sie musste nachdenken. Mit einer seltsam schiefen Grimasse musterte sie das leuchtende Gesicht ihres Freundes. Wenigstens war der blanke Schrecken daraus gewichen. Dafür spiegelte sich in seinen wasserblauen Augen jetzt eine Verzweiflung von solcher Tiefe, wie Pala sie noch nie bei einem Menschen gesehen hatte. Dicke Tränen rollten über ihre Wangen, aber sie bemerkte es nicht. »Warum nur kann er nicht sprechen?«, murmelte sie. »Warum nur ...!«

Nonno Gaspare schien nicht einmal zu verstehen, was sie zu ihm sagte. Taub konnte er nicht sein, denn er reagierte ja auf ihre Stimme, wenngleich nur mit ratlosen Blicken und Gesten. Pala bückte sich nach seinem Krückstock, hob ihn auf und führte ihren Freund zu der Bank zurück, die vor dem Haus stand. Die Bilder ihrer frühen Kindheitstage blieben am Boden liegen. Ab und zu drehte der Wind neugierig das eine oder andere um.

Pala setzte sich neben den Alten. Dort auf der Bank, im Schatten des mächtigen Lorbeerbaumes, ließ es sich besser nachdenken. Während sie im Kopf unzählige Fragen wälzte, blickte der Geschichtenerzähler mit finsterer Miene zum Schlossberg hinauf. Die Blätter über ihnen raschelten im Frühlingswind. Ansonsten herrschte völlige Stille.

»Ich weiß, was ich mache«, stieß Pala unvermittelt hervor. »Ich laufe schnell zum Dottore. Er wird dir helfen.«

Der alte Mann war zusammengezuckt, weil sich das Gesicht des Mädchens mit einem Mal ganz dicht vor dem seinen befunden hatte. Sie sprach auffällig laut und außerdem sehr betont. Doch alle Mühe, sich ihm verständlich zu machen, war zwecklos. Nicht die kleinste Silbe konnte er von ihren Lippen ablesen. Nonno Gaspares Augen sahen sie nur traurig an. Es schien, als blicke Pala durch sie hindurch in die unendliche Weite des Himmels.

Ein ganzes im Hals steckendes Huhn hätte sie nicht so erschrecken können wie die rätselhafte Unzugänglichkeit ihres alten Freundes. Sie atmete immer schneller und begann heftig zu zittern. Nicht mehr lang und sie würde den Verstand verlieren. Um sich zu beruhigen, rief sie sich eine alte Lebensweisheit in den Sinn. Einmal, zweimal, ohne Unterlass ließ sie ihre Gedanken um dieselben Worte kreisen: Allein die Furcht lässt manche Absicht scheitern ...

2

Allein die Furcht lässt manche Absicht scheitern,

macht stumm, wo klare Worte sind vonnöten.

Anstatt die Angst mit Vehemenz zu töten,

bringt man nur Tod den fremden Außenseitern.

Sieht er sich selbst fernab von den Begleitern,

mag der Bornierte heftig gar erröten,

erweist sich blind, wo Einsichten sich böten,

verdammt, die Vorurteile zu erweitern.

Dies Unverständnis lässt sich schwerlich fangen,

weil immer wieder es entrinnt auf Gleitern,

auf Eisgrund kalt von Hochmut, Hass und Bangen.

Derlei Gefühle helfen Zwangsarbeitern,

sich stumm zu fügen glühend heißen Zangen.

Des Schweigens Kerker steht so voller Leitern!

Allein die Furcht lässt manche Absicht scheitern. Pala wiederholte die Schlusszeile aus ihrem Geburtsgedicht unzählige Male. Allmählich gelang es ihr, die wild ausschlagenden Gedanken in ihrem Kopf mit der Kandare des strengen Versmaßes zu bändigen. Das Sonett verdrängte vorerst ihre Befürchtungen. Äußerlich war von dieser Besänftigung eher wenig zu bemerken.

Pala rannte wie von einem Schwarm Hornissen gejagt durch die Stadt. Das verfallene Kloster würdigte sie keines Blickes. Auf der Piazza verbogen die alten Männer ihre Hälse und schüttelten die Köpfe, als das Mädchen an ihnen vorüberflog. Die Pinien wippten mit den Ästen, als wüssten sie besser Bescheid. Silencia war, wie bereits angeklungen, keine große Stadt. Alles lag »gleich um die Ecke« und Dottore Stefano machte da keine Ausnahme.

»Pala! Du?«, begrüßte der Arzt ebenjene, als ihr Gesicht im offenen Fenster des Behandlungszimmers zwischen den Geranien erschien. Sie war außen an der von Vorsprüngen und Ritzen übersäten Feldsteinmauer bis in den ersten Stock geklettert, weil ihr Schwester Marianna Filippina den Zugang zum Sprechzimmer verstellt hatte.

Der Doktor kniete gerade mit einem Bein auf dem Rücken von Studienrat Galvano, als wolle er ihm die Wirbelsäule brechen. Der Studienrat blickte verwundert zum Fenster. Wenn nicht gerade Dottore Stefano auf seinem Rücken hockte, verschaffte der sonst eher steife Oberlehrer Pala und ihren Klassenkameraden Einblicke in die Geschichte von Stadt und Land. Der schmächtige Mann mit dem schütteren grauen Haar und dem krausen Backenbart sah so alt aus, als hätte er die von ihm geschilderten Ereignisse samt und sonders persönlich miterlebt. Mit freiem Oberkörper hatte er sich seinen Schülern allerdings noch nie gezeigt.

Es gab ein fürchterliches Krachen. Studienrat Galvano schrie. Pala war überzeugt, er würde den Rest seines Lebens im Rollstuhl verbringen.

Zufrieden lächelnd kletterte der etwas beleibte Arzt von seinem Patienten herunter. Wundersamerweise schwang Letzterer darauf die Beine über die Behandlungsliege und griff hastig nach einem feingerippten Unterhemd, um sich zu bedecken.

»Guten Tag, Herr Galvano«, sagte Pala höflich, wenn auch eher beiläufig, weil sie ja des Arztes wegen gekommen war. Sich an diesen wendend, rief sie aufgeregt: »Ein Notfall, Dottore Stefano! Sie müssen unbedingt mitkommen!«

»Immer langsam mit den jungen Pferden«, entgegnete der Medikus seelenruhig. »Hat Nina mal wieder etwas verschluckt? Einen Korken – das wäre nicht so schlimm –, Geld – wenn’s Münzen sind, kommen sie spätestens übermorgen wieder heraus – oder etwa den Hausschlüssel? Da müsste ich allerdings ...«

»Nina geht’s gut«, unterbrach Pala den Redeschwall des Arztes, der sogar schon ihre Mutter auf die Welt gebracht hatte. »Es geht um Nonno Gaspare.«

Hektik schien dem Arzt, der ungefähr im gleichen Alter wie Gaspare Oratore war, fremd zu sein. Hinter einer silbernen runden Brille betrachteten seine dunklen Augen das Mädchen, als wäre es selbst der gemeldete Notfall. Der Doktor massierte die große kahle Stelle zwischen dem grauen Kreis aus Haarbüscheln auf seinem Kopf und wagte nach angemessener Bedenkzeit eine erste Lagebeurteilung.

»Ihm steckt ein Hühnerknochen im Hals.«

»Es ist schlimmer, Dottore Stefano. Er hat die Sprache verloren. Bitte kommen Sie. Schnell!«

»Die Sprache? Verloren?«, wiederholte der Arzt ungläubig. »Gaspare? Ein Geschichtenerzähler? Unmöglich!«

»So ist es aber, Dottore. Nun kommen Sie doch endlich!«

Dottore Stefano schüttelte den Kopf. »Dann ist es wirklich ernst. Warte, Pala, ich hole nur schnell meine Tasche.«

Der Arzt ließ den Studienrat im Unterhemd zurück und eilte nur eine Minute später mit seiner bauchigen schwarzen Arzttasche durch ein Wartezimmer erstaunt dreinblickender Patienten. Pala kletterte derweil wie ein Eichhörnchen die Hauswand hinab und erwartete ihn auf der Straße. Der ehrenwerte Dottore stülpte sich einen knallroten Helm über, stieg auf seinen weißen Motorroller und vergewisserte sich des festen Halts seiner Notfallhelferin auf dem Sozius. Dann fegte er mit ihr die Gasse zur Piazza hinab.

Bei den alten Männern in den Korbsesseln rückte Pala allmählich zum Hauptgesprächsthema des Tages auf. Zum dritten Mal überquerte sie jetzt schon den Platz der Dichter und jedes Mal in größerem Tempo. Ein Greis wagte die Vorhersage, sie werde in einigen Minuten auf einer Rakete vorüberschießen, und machte ein dementsprechendes Wettangebot.

Der Geschichtenerzähler saß noch genauso auf seiner Bank, wie Pala ihn zurückgelassen hatte: sprachlos und mit rotem Gesicht.

Dottore Stefano brachte den Motorroller rutschend neben der zerbrochenen Zigarrenkiste zum Stehen, klappte den Ständer heraus und näherte sich hierauf dem Alten mit einer Vorsicht, die Pala nicht verstehen konnte. Sie war gleich nach dem Stillstand des Zweirades vom Sozius gesprungen und zu ihrem Freund geeilt.

»Wie geht es dir, Nonno?«

Gaspare sah sie hilflos an und zuckte die Schultern. Möglicherweise ahnte er, was Pala von ihm wissen wollte, aber verstanden hatte er sie wohl nicht.

Dottore Stefano legte sich zunächst einen weißen Mundschutz an, der Pala an einen Maulkorb erinnerte. Außerdem streifte er sich hauchdünne, weiß gepuderte Gummihandschuhe über. Das Verhalten des Arztes kam ihr immer merkwürdiger vor.

Endlich begann der Doktor im Schatten des Lorbeerbaumes mit dem, was er als »Routineuntersuchung« bezeichnete. Er fühlte Gaspares Puls, lauschte dem Schlag seines Herzens, verschaffte sich tiefe Einblicke in dessen Rachen, Augen und Ohren. Der Geschichtenerzähler ließ alles geduldig über sich ergehen. Keine Spur mehr von seiner ersten panischen Aufgeregtheit, Verzweiflung schien ihn nun zu lähmen.

Argwöhnisch verfolgte Pala jeden Handgriff des Arztes. Der Wind trug einzelne Blütenblätter vorüber und ließ Gaspares graues Haar erzittern. Ab und an flatterte auch ein Babyfoto durch Palas Gesichtsfeld.

Im Hals von Nonno Gaspare war nichts zu entdecken, was dort nicht hingehörte. Sein Atem ging – ebenso wie der kräftige Herzschlag – regelmäßig, aber ein wenig zu schnell.

»Nur die Aufregung«, erläuterte der Mediziner knapp. »Kein Grund zur Besorgnis. Deine Pumpe klingt wie die eines Dreißigjährigen. Du wirst mindestens hundert werden, mein Guter.«

Wie Gaspares Gesten ganz klar erkennen ließen, war der beruhigende Ton in Dottore Stefanos Stimme zwar angekommen, aber der Sinn seiner Worte mit den Blütenblättern fortgeweht worden. Egal welche Fragen der Arzt auch stellte, der Geschichtenerzähler sah ihn nur, stumm wie ein Fisch, aus großen Augen an. Als Nächstes nahm der Doktor seinen Rezeptblock zur Hand, schrieb auf die Rückseite vier Worte und zeigte sie Gaspare.

Wann ist es passiert?

Der alte Mann starrte die Buchstaben nur verständnislos an.

Palas Herz verkrampfte sich. Sie fing wieder an zu weinen.

Dottore Stefano bewahrte Ruhe. Er reichte Gaspare den Bleistift, damit er eine Antwort niederschreiben konnte. Unbeholfen drehte der Alte den Stift in den Fingern.

Aufmunternd nickte Pala ihm zu. Schreib es auf!, formte sie mit den Lippen. Sie wusste selbst nicht, warum ihr der Mut fehlte, es laut auszusprechen.

Mit einem Mal senkte sich der Bleistift auf das Papier. Pala hielt den Atem an. Wenn Nonno Gaspare wenigstens schreiben könnte ...!

Aber anstatt einen Satz oder auch nur ein einziges Wort zu Papier zu bringen, malte der Alte etwas, das wie ein Dreieck oder wie eine Pyramide aussah, und obenauf setzte er eine Art Krone.

Der Arzt und seine Notfallhelferin tauschten ratlose Blicke. Jetzt waren sie diejenigen, denen das Verständnis fehlte. Zwar hatte der Geschichtenerzähler einen Weg gefunden zu ihnen zu »reden«, aber was bedeutete seine Bildsprache?

Während sie sich ansahen, bemerkten Dottore Stefano und Pala aus den Augenwinkeln eine Bewegung. Gaspare hatte sich von der Bank erhoben und deutete zum Festungsberg hinauf, ganz nach oben, dorthin, wo die Ruinen der alten Burg aufragten.

Mit einem Mal verstand Pala das Bild. Das Dreieck war der Berg und die Krone stand für die Zinnen der oberen Festungsmauer. Als sie nun ebenfalls zur Zitadelle zeigte, nickte Gaspare schnell.

»Wenn ich nur wüsste, was er meint«, grübelte der Doktor und rieb sich die Glatze. Den Blick hatte er wie die anderen zur Festung nach oben gerichtet.

»Was an dieser Burg macht Nonno Gaspare sprachlos?«, murmelte Pala, als wäre das Ganze ein Rätselspiel. Als Expertin auf diesem Gebiet brauchte sie nicht lang, um einen ersten Lösungsvorschlag anzubieten.

»Zitto!«, stieß sie hervor.

Dottore Stefano schüttelte zweifelnd den Kopf. Besagter Zitto gehörte zu den angesehensten Honoratioren der Stadt, wenngleich den öffentlichkeitsscheuen Mann niemand je richtig angesehen, geschweige denn mit ihm gesprochen hatte. »Was soll der Eigentümer des Schlossberges mit der Sprachlosigkeit eines alten Geschichtenerzählers zu tun haben?«, brummte der Arzt.

So schnell wollte sich Pala nicht geschlagen geben. Sie glaubte sich der Wahrheit jetzt ganz nahe. Ihre Worte überschlugen sich fast, als sie aufgeregt hervorsprudelte: »Primo – Sie wissen schon: Nonno Gaspares ältester Sohn –, der ist doch vor kurzem in die Hauptstadt gezogen. Das hat seinem Vater fast das Herz gebrochen. Könnte er dadurch nicht die Sprache verloren haben?«

Dottore Stefano massierte noch immer die kahle Stelle im Zentrum seines buschigen Haarkranzes. Langsam begann er zu nicken. »Möglich wäre so etwas schon. Ich weiß noch, wie überstürzt Primo abgereist ist. Er hat mir selbst erzählt, wie überrascht er war, als ihm der gut bezahlte Posten in einer von Zittos Fabriken angeboten wurde. Seine anderen beiden Söhne hat Gaspare ja schon vor längerem aus der Stadt vergrault. Jetzt könnte ihm mit einem Mal aufgegangen sein, wie einsam er ist.«

»Aber er hat doch mich«, widersprach Pala empört.

Der Doktor lächelte nachsichtig und strich ihr mit seinen bepuderten Handschuhen über das Haar. Wohl in der Annahme, Pala trösten zu müssen, sagte er: »Er mag dich ohne Frage gut leiden, mein Kind, doch Blut ist eben dicker als Wasser. Weil seine Söhne ihm mehr als alles sonst fehlen, könnte in seinem Kopf sozusagen ein Rollladen heruntergefallen sein und das Licht der Sprache ausgesperrt haben.«

Diesen Vergleich konnte Pala verstehen. Nonno Gaspares Wortschatz war für sie immer wie ein Berg funkelnder Juwelen gewesen, dessen Glanz sie – wie unzählige andere auch – auf eine schwer zu erklärende Weise reich gemacht hatte. Doch jetzt fühlte sie sich arm, beraubt durch die verletzenden Worte des Arztes. Falls nicht Herzensschmerz, sondern Einsamkeit die Ursache für des Erzählers Stummheit war, dann hatte sie, Gaspares beste Freundin, kläglich versagt. Ja, wenn nicht sie, wer dann konnte sein altes Herz noch retten?

Pala wischte sich verstohlen eine Träne aus dem Augenwinkel. Die Worte ihrer Mutter vom Mittag fielen ihr wieder ein: »Er hat doch ständig irgendwelche Kinder um sich herum ...« Anscheinend war sie wirklich nur irgendein Mädchen für Gaspare, jemand, der seinen Geschichten lauschte, aber ihm sonst nichts bedeutete.

Und trotzdem fühlte sie sich schuldig am Unglück dieses stummen alten Mannes.

Auch wenn sie nicht genau wusste, was sie falsch gemacht hatte, wäre Pala nicht Pala gewesen, wenn sie ihrer Verzweiflung nun freien Lauf gelassen hätte. Sie wollte wieder gutmachen, was sie angerichtet hatte. Aber wie ...?

Ihr Blick wanderte zu dem im steinernen Türpfosten eingravierten Gedicht, als könne dieses ihr die Antwort auf ihre Fragen geben. Natürlich kannte sie die Worte auswendig.

Allein die Furcht lässt manche Absicht scheitern,

macht stumm, wo klare Worte sind vonnöten.

Anstatt die Angst mit Vehemenz zu töten,

bringt man nur Tod den fremden Außenseitern.

Sieht er sich selbst fernab von den Begleitern,

mag der Bornierte heftig gar erröten,

erweist sich blind, wo Einsichten sich böten,

verdammt, die Vorurteile zu erweitern.

Dies Unverständnis lässt sich schwerlich fangen,

weil immer wieder es entrinnt auf Gleitern,

auf Eisgrund kalt von Hochmut, Hass und Bangen.

Derlei Gefühle helfen Zwangsarbeitern,

sich stumm zu fügen glühend heißen Zangen.

Des Schweigens Kerker steht so voller Leitern!

Als wären die Worte Wirklichkeit geworden, dachte Pala: Nonno Gaspare sitzt »errötet« in »des Schweigens Kerker«. Ein kalter Schauer lief ihr über den Rücken. Noch nie war ihr die Übereinstimmung der ersten Verszeile mit der letzten ihres Geburtsgedichtes so bewusst geworden wie in diesem Augenblick. Nein, sie durfte sich nicht aus Angst vor der Wahrheit daran hindern lassen, Nonno Gaspare beizustehen. Vielleicht konnte sie sich seine Liebe ja verdienen. Sie musste für ihn eine Leiter finden, über die er wieder aus seinem Kerker des Schweigens entkommen konnte ...

»Ich kann mir auf die Schnelle natürlich kein abschließendes Urteil bilden.« Dottore Stefanos Stimme drang wie von weit her in Palas Bewusstsein vor. Blinzelnd sah sie in das besorgte Gesicht des Arztes. Er lächelte auf eine merkwürdig gequälte Weise. »Wir werden ihn durchleuchten, uns jedes einzelne Organ anschauen und vor allem müssen wir sein Gehirn unter die Lupe nehmen ...«

In Palas Geist tauchte das Bild eines Frosches auf. Sie hatten ihn kürzlich im Naturkundeunterricht mit einem kleinen scharfen Messer aufgeschlitzt und restlos ausgeräumt. Pasquale musste sich übergeben. Von dem grünen Wasserbewohner blieb am Ende nicht mehr viel übrig. Er landete in einer Mülltonne. Pala schreckte der Gedanke, man könnte mit Nonno Gaspare Ähnliches anstellen.

»Ich möchte mitkommen, wenn Sie ihn ins Krankenhaus bringen«, sagte eine entschlossene Stimme, die zwar aus ihrem Munde kam, aber ihr trotzdem nicht zu gehören schien. Ihr Mut überraschte sie. Natürlich würde Dottore Stefano ihr Gesuch unter Zuhilfenahme irgendeiner fadenscheinigen Begründung abschmettern.

Mit einem seltsam strengen Ausdruck im Gesicht antwortete der Arzt: »Na gut. Wird ohnehin besser sein. Ich vermute, du hast Gaspare angefasst, bevor du zu mir gekommen bist?«

Pala beäugte argwöhnisch die weißen Gummihandschuhe des Doktors. »Angefasst weniger«, erwiderte sie, »aber ich habe ihn geschlagen.«

»Du hast was getan?« Silencias Betagte genossen großen Respekt. Sie zu schlagen gehörte sich einfach nicht. Verständlicherweise war der Arzt erstaunt.

»Ich dachte, er hätte einen Hühnerknochen im Schlund stecken und weil ich ihn nicht, wie man es eigentlich tut, an den Füßen halten und durchschütteln konnte, ist mir nichts Besseres eingefallen, als ihm auf den Rücken zu klopfen.«

»Ach so!« Dottore Stefano schien diese Erklärung als mildernden Umstand gelten zu lassen. Seinem verstehenden Lächeln folgte jedoch gleich wieder jener strenge Blick, der Pala schon zuvor aufgefallen war. »Also dann ...«, sagte er und ließ, was immer dann noch folgen sollte, in der Luft hängen.

Pala brauchte Klarheit. Der ausgeweidete Frosch wollte ihr nicht aus dem Sinn gehen. »Kann ich Nonno Gaspare nun ins Krankenhaus begleiten oder kann ich nicht?«

Dottore Stefanos Gesicht war jetzt nur noch eine versteinerte Maske. Durch seinen Mundschutz sagte er: »Die Frage ist nicht, ob du kannst, mein Kind. Du wirst sogar mitkommen müssen. Denn wenn diese seltsame Verflüchtigung der Worte bei unserem alten Freund hier ansteckend ist, dann könntest du die Krankheit schon in dir tragen. Es tut mir sehr Leid für dich, Pala, aber ich fürchte, wir müssen dich vorerst zusammen mit Gaspare unter Quarantäne stellen.«

Quarantäne? Dieses Wort war neu für Pala. Es klang so bedrohlich. Irgendwie nach Eingesperrtsein. Eben noch hatte sie sich darüber den Kopf zerbrochen, wie sie Nonno Gaspare aus seinem Verlies der Sprachlosigkeit befreien könnte und nun steckte sie selbst in der Patsche. Sie hoffte nur, das Hausgedicht des Geschichtenerzählers irrte sich nicht, wenn es behauptete: Des Schweigens Kerker steht so voller Leitern.

3

Des Schweigens Kerker steht so voller Leitern.

Wer Wahrheit misst, fühlt sich gleichwohl geborgen,

an Überzeugung arm, doch ohne Sorgen.

Gefängnisleere mag ihn gar erheitern.

Was nie begonnen, kann auch niemals scheitern.

Gedankenlose denken nicht an morgen.

Anstatt zu geben, leben sie vom Borgen

und Kluge stempeln sie zu Außenseitern.

Gefangenschaft von dieser Art kann brechen,

wes Ohr dem Weisen öffnet sich auf Dauer

und ist nicht taub nach nächtelangem Zechen.

Dem Freiheit winkt, ob König oder Bauer,

der kommt, den Wall des Schweigens zu durchstechen,

die Blinden seh’n hier nicht einmal die Mauer.

Des Schweigens Kerker steht so voller Leitern. Was für ein Quatsch!, dachte Pala. Sie konnte keinen einzigen dieser Tritte entdecken. Aber vielleicht war die Quarantäne ja eine besonders strenge Art von Gefängnis, in dem solche Ausbruchshilfen nicht geduldet wurden.

Pala saß in der Abenddämmerung am Fenster der alten Villa und beobachtete durch das Glas die Samen des Löwenzahns, die in Wolken vor der orangeroten Sonne tanzten und die Luft scheinbar zum Brennen brachten. Ihre Gedanken drehten sich um den rätselhaften Begriff: Quarantäne.

Normalerweise bereiteten ihr neue Wortentdeckungen großes Vergnügen, nicht nur wenn sie Buchstabennudelsuppe aß. Mutter betonte gerne, wie früh ihre »Große« mit dem Sprechen begonnen habe. Irgendwann hatte sich Pala vorgenommen, jeden Tag mindestens ein neues Wort zu lernen, dreihundertfünfundsechzig im Jahr, mehr als dreitausendsechshundertfünfzig in ihrem bisherigen Leben. Genauso wie andere Kinder sich am liebsten mit ihrem neuesten Spielzeug beschäftigen, war Pala im Gebrauch ihrer jüngsten Worterrungenschaften nie sehr zurückhaltend gewesen. Als Mutter ihr kürzlich erklärte, »monströs« sei etwas »grässlich Schreckliches«, erlebte Pala einen Tag lang enorm viele schreckliche Dinge. Da krabbelte Nina mit einem müffelnden Windelpo an den Frühstückstisch und ihrer großen Schwester kam das monströs vor. Später erschien der gestrenge Studienrat Galvano mit einem monströsen Gesicht zum Unterricht – er hatte sich zweimal beim Rasieren geschnitten. Und am Nachmittag stellte sich ihr auf dem Weg zu Nonno Gaspares Haus ein monströser Hund in den Weg: bellend, mit gefletschten Zähnen und etwa so groß wie eine Ratte.

»Quarantäne« war also Palas neueste Entdeckung. Nach ihrem derzeitigen Kenntnisstand bedeutete das Wort, vierzig Tage lang in einer alten Villa zu wohnen, die am Rande des Krankenhausgeländes stand, seit Jahren schon nicht mehr benutzt worden und mit Schlössern an sämtlichen Türen und Fenstern ausgestattet war. Eilig hatte man zwei Krankenzimmer hergerichtet, um die beiden gefährlichen Patienten dort zu quarantänieren, oder wie immer diese besondere Abart des Einsperrens genannt wurde. Quarantäne hieß aber auch, von Ärzten und Pflegern wie ein rohes Ei behandelt zu werden, erstens, weil im Umgang mit Patienten grundsätzlich eine schonende Behandlung üblich war, und zweitens, weil sich niemand mit dieser monströsen Sprachlosigkeit anstecken wollte. Pala ließen derlei Befürchtungen zwar nicht kalt, aber sie waren keinesfalls ihre größte Sorge. Die galt nach wie vor Nonno Gaspare.

Draußen neigte sich die Sonne dem Horizont entgegen und der stumme Patient mit dem Sonnenbrandgesicht war noch immer nicht zurück. Man werde ihn »gründlich untersuchen«, hatte es geheißen. Gründlich! Eine schlaffe Froschhaut erschien vor Palas innerem Auge. Sie fühlte sich überrumpelt. Man hatte Nonno Gaspare brutal entführt. Er war von vermummten Gestalten in einen Rollstuhl gezerrt und ihr regelrecht entrissen worden. Die beiden geputzten Krankenzimmer befänden sich rechts vom Innenhof, hatte ihr ein Gesicht erklärt, das sich unter einer Art Taucherglocke hinter Glas befand, sie könne sich einen Saal aussuchen. Dann schob man den Großvater davon.

Es war ein beklemmendes Gefühl gewesen, als sie mit einem Mal allein in der viereckigen Empfangshalle der Villa stand. Ihr Ruf nach Mama, Papa und Nina blieb unbeantwortet. Dann entdeckte sie die Inschrift über dem Durchgang zum Innenhof. Ein Schauer lief ihr über den Rücken.

Des Schweigens Kerker steht so voller Leitern.

Wer Wahrheit misst, fühlt sich gleichwohl geborgen,

an Überzeugung arm, doch ohne Sorgen.

Gefängnisleere mag ihn gar erheitern.

Was nie begonnen, kann auch niemals scheitern.

Gedankenlose denken nicht an morgen.

Anstatt zu geben, leben sie vom Borgen

und Kluge stempeln sie zu Außenseitern.

Gefangenschaft von dieser Art kann brechen,

wes Ohr dem Weisen öffnet sich auf Dauer

und ist nicht taub nach nächtelangem Zechen.

Dem Freiheit winkt, ob König oder Bauer,

der kommt, den Wall des Schweigens zu durchstechen,

die Blinden seh’n hier nicht einmal die Mauer.

Die Übereinstimmung der ersten Zeile mit dem Schluss von Nonno Gaspares Hausgedicht stimmte sie nachdenklich. Weil derartige Reime in Silencia jedoch so zahlreich waren wie die Muscheln an der nahen Meeresküste, maß Pala diesem Gleichklang keine allzu große Bedeutung bei. Eher schon verwirrte sie die Botschaft in den alten Worten.

Inzwischen wartete sie wohl schon an die vier Stunden auf den Geschichtenerzähler, unterbrochen nur von einem kurzen Besuch ihrer Eltern, die mit besorgten Gesichtern unter dem verschlossenen Fenster gestanden, einige in guter Absicht ausgebrachte Worte heraufgerufen und ihr müde zugewinkt hatten. Sie konnten die neue Situation wohl noch weniger verstehen als ihre Tochter. Bald waren sie wieder davongezogen. Pala wünschte, sie hätte mit ihnen gehen können. Schon jetzt vermisste sie ihre Familie.

Ihr Blick schweifte gelangweilt durch das große Krankenzimmer, in das sie hauptsächlich wegen der Aussicht eingezogen war – durch die schmutzigen Sprossenfenster konnte sie den Park des Hospitals und hoch oben Zittos Feste sehen. Früher mochten in dem Saal sechs oder mehr Betten gestanden haben. Jetzt gab es nur ihres: weiß lackiertes Rohr mit Rädern unten dran. Es hatte neben einem Zwilling auf dem Flur gestanden.

Pala fühlte sich so allein. Ob sie ein wenig mit ihrem Schlafmobil herumfahren sollte, um sich die Wartezeit bis zu Nonno Gaspares Rückkehr zu verkürzen? Gerade wollte sie die Feststeller an den Rollen lösen, als von draußen ein Geräusch erklang. Schritte! Und jemand, der in seltsam überdrehtem Tonfall sprach. Pala lief hinaus ins Atrium, den Innenhof der Villa, von dem sämtliche Zimmer abzweigten. Große Pflanzenkübel aus Terrakotta, ein munter plätschernder Springbrunnen und eine Holzbank luden hier zum Verweilen ein. Aber dafür hatte sie kein Auge. Sie sah nur ihn, Nonno Gaspare. Ihr Herz machte einen Sprung. Hatte etwa er gesprochen?

Nein, ihr Wunsch zerplatzte wie eine Seifenblase. Der Geschichtenerzähler saß in einem Rollstuhl und ertrug grimmigen Gesichts das Geplapper eines jungen, selig lächelnden, vollständig in Weiß gekleideten und gänzlich unbehelmten Krankenpflegers, der auf Gaspare einredete wie auf einen Schwachsinnigen.

»Endstation. Alle Mann aussteigen«, verkündete der Pfleger im Ton eines Bahnhofswärters, als er vor Pala zum Stehen kam.

»Sie haben vergessen zu pfeifen«, sagte diese mit versteinerter Miene.

Der Pfleger machte ein betroffenes Gesicht, als könne er sich diesen Fehler niemals verzeihen.

»Nonno Gaspare kann nichts von dem Unsinn verstehen, den Sie da eben von sich gegeben haben, stimmt’s?«

Der Ausdruck der Glückseligkeit kehrte auf das Gesicht des Lockenkopfs zurück und er trötete: »Kein Sterbenswörtchen!«

Pala funkelte den komischen Kauz wütend an. Ob sie wohl stark genug war, ihn zu erwürgen? Besser nicht. In Silencia lernte man schon sehr früh, Unstimmigkeiten mit Worten zu regeln. Sie holte tief Luft und fragte: »Und warum reden Sie dann pausenlos auf ihn ein, als wäre er ein kleines Kind?«

»Dient alles zu seiner Beruhigung. Die Ärzte sagen, er sei nicht taub. Er habe nur irgendwie seine Worte verloren.«

»Ach, das ist ja mal was Neues.«

»Ja, möglicherweise sei in seinem Gehirn das Sprachzentrum verstopft – ich weiß nicht mehr genau, wie der Doktor es erklärt hat. Jedenfalls ist ihm der Zugang zu seinem Wortschatz versperrt.«

»Als wäre ein Rollladen heruntergefallen und nun steht er im Dunkeln.«

»Genau!«, freute sich der Pfleger. »Du bist ein helles Köpfchen, Kleine.«

»Ich heiße Pala.«

»Klar. Weiß ich doch. Und ich bin Mario. Habe mich freiwillig zu diesem Einsatz gemeldet. Jedenfalls beinahe. Als der Stumme eingeliefert wurde, war ich so dumm ihn anzufassen. Kannst du dir das vorstellen?«

»Ziemlich gut sogar.«

»Und nun sei ich auch ein ›Gefährdeter‹, der unter Quarantäne gehöre, haben die Doktoren gesagt und mich hierauf gefragt, ob ich mich eurer nicht gleich als Pfleger annehmen wolle.«

»Und da haben Sie sich freiwillig gemeldet?«

»Klar! Warum nicht zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen?«

Pala schluckte. Frösche wurden wenigstens aufgeschlitzt und mit großer Gründlichkeit ausgenommen. Aber jetzt waren Nonno Gaspare und sie schon zu Stubenfliegen verkommen, die man mit einer großen Klatsche gleich paarweise erschlug. Wo sollte das noch hinführen! Voller Mitleid blickte sie in das Gesicht ihres stillen Freundes. Fast hätte man glauben können, er sei in den letzten paar Stunden um zehn Jahre gealtert. »Haben die Doktoren sonst noch etwas über meinen Freund herausgefunden?«

»Ja, die Ursache für die Rötung in seinem Gesicht: Herr Oratore scheint gestochen worden zu sein.«

»Etwa von einem Insekt?«

»Es scheint eher ein ganzer Schwarm gewesen zu sein. Durch die Schwellung sind die vielen winzigen Stiche nur schwer zu erkennen. Vermutlich hat der Ärmste seine Krankheit den kleinen Blutsaugern zu verdanken.«

»Ist das alles, was die Ärzte dazu sagen können?«

»Nein, sie haben ihm auch verschiedene Zeitungen und Bücher gezeigt und sagen, er könne keine geschriebenen Worte mehr verstehen.«

»Und um das festzustellen haben sie beinahe vier Stunden gebraucht?«

Mario zuckte die Achseln. »Sie sind eben gründlich gewesen.«

Pala schluckte eine bissige Bemerkung hinunter. Sie hatte eine Idee. »Können Sie mir bitte Papier und einen Stift besorgen?«

Der Lockenkopf nickte. »Klar. Ich selbst darf zwar ab sofort die Villa des Schweigens