Der Herzschlag der Steine - Isabel Morland - E-Book

Der Herzschlag der Steine E-Book

Isabel Morland

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Beschreibung

Der große Frauen-Roman von Isabel Morland über die Rückkehr auf eine wilde Hebriden-Insel und eine großartige Liebes-Geschichte mit einem Hauch von Mystik. Als Ailsa nach vielen Jahren auf ihre kleine Insel auf den Äußeren Hebriden zurückkehrt, will sie eigentlich nur das Haus ihrer verstorbenen Mutter verkaufen. Nichts scheint sie mehr mit ihrer Heimat zu verbinden, und mit ihrer Vergangenheit hat sie längst abgeschlossen und in Toronto ein neues Leben angefangen. Doch der Zauber der Insel und die grandiose Natur ziehen sie bald wieder in ihren Bann, und als sie ihrer alten Liebe erneut begegnet, muss sie sich eingestehen, dass die Bindungen an ihr Zuhause stärker sind als gedacht. Doch wird es ihr gelingen, alte Wunden zu heilen? Und für welchen der beiden Männer aus ihrer Vergangenheit, die immer noch um sie werben, soll sie sich entscheiden?

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Seitenzahl: 636

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Isabel Morland

Der Herzschlag der Steine

Roman

Knaur e-books

Über dieses Buch

Als Ailsa nach vielen Jahren auf ihre kleine Insel auf den Äußeren Hebriden zurückkehrt, will sie eigentlich nur das Haus ihrer verstorbenen Mutter verkaufen. Nichts scheint sie mehr mit ihrer Heimat zu verbinden, und mit ihrer Vergangenheit hat sie längst abgeschlossen und in Toronto ein neues Leben angefangen. Doch der Zauber der Insel zieht sie bald wieder in den Bann, und als sie ihrer alten Liebe wieder begegnet, muss sie sich eingestehen, dass die Bindungen an ihr Zuhause stärker sind als gedacht.

Doch wird es ihr gelingen, alte Wunden zu heilen?

Inhaltsübersicht

WidmungAussprache gälischer NamenPrologKapitel 1Kapitel 2Kapitel 3Kapitel 4Kapitel 5Kapitel 6Kapitel 7Kapitel 8Kapitel 9Kapitel 10Kapitel 11Kapitel 12Kapitel 13Kapitel 14Kapitel 15Kapitel 16Kapitel 17Kapitel 18Kapitel 19Kapitel 20Kapitel 21Kapitel 22Kapitel 23Kapitel 24Kapitel 25Kapitel 26Kapitel 27Kapitel 28Kapitel 29Kapitel 30Kapitel 31Kapitel 32EpilogNachwortDanksagungLeseprobe »Sehnsucht nach St. Kilda«
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Für dich, liebe Leserin, lieber Leser.

Der Herzschlag deiner Träume vibriert in dir.

Spüre ihn.

 

 

Für Katharine Macfarlane,

deren hinreißende Poesie meine Bücher bereichert.

 

 

Für Emma Mitchell,

die wahre Eigentümerin des Blackhouse.

Dein Traum wird wahr werden.

Wehe, du verkaufst vorher.

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Aussprache gälischer Namen

Ailsa: Elsa

Marsaili: Marschali (Marjorie)

Peigi: Päitschi (Peggy)

Fearghas: Färägiss

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Prolog

Die Luft über dem Torfmoor ist schwer von schwelendem Räucherwerk. Megalithen, geboren aus dem Anbeginn der Zeit, erheben sich vor dem seltsamen Dunkel der Sommernacht. Eine Armee aus erstarrten Kriegern. Kreisförmig stehen sie zusammen, Schulter an Schulter. Riesenhaft ragen ihre Buckel aus der kargen Landschaft. Hier auf Lewis, einer sturmumtosten Insel vor Schottlands Küste, ist die Natur rau und erbarmungslos.

Schatten lösen sich aus dem Grau. Gestalten nähern sich, paarweise hintereinandergereiht wie an einer Kette. Die Prozession zieht über die von Felsnadeln gesäumte lange Allee auf den Steinkreis zu. Nieselregen benetzt Mäntel und Kapuzen. Der feuchte Boden schluckt das Geräusch der Schritte. Von weit her sind sie nach Callanish gekommen, um das große Ereignis zu feiern. Manche von ihnen warten bereits ein Leben lang auf diese eine, mystische Nacht, in der der Vollmond herabsteigt, um die Erdmutter zu küssen.

Seit den frühen Morgenstunden singen und meditieren sie, doch der Himmel ist taub für ihre Gebete um gutes Wetter. Eine Wolkenwand hängt wie festgeklebt über der Cailleach na Mointeach, der Alten Frau des Moores, der Hügelkette, die Lewis im Süden nach Harris abgrenzt. Von dort soll sich der Mondgott erheben. Eben noch trieb der Wind die schweren Wolken vor sich her, auf den Atlantik zu. Ausgerechnet jetzt steht die Luft still. Ist alles umsonst? Grimmige Nervosität erfasst die Anwesenden und hallt im wirren Durcheinander der Trommeln wider.

Jetzt erreicht der Zug den Hauptstein in der Mitte der Anlage, die aus der Luft betrachtet die Form eines keltischen Kreuzes ergibt. Die Musik verklingt. Dicht an dicht drängen sich die Menschen um die Opferstätte neben der Grabkammer, ihre Silhouetten klein und bedeutungslos vor dem verwitterten Gneis der Steine. Unter dem Absingen von Chorälen bringen sie ihre Opfergaben dar. Kurz halten sie inne, bevor sie weiter zu dem schildkrötenförmigen Felsen auf dem Hügel ziehen. Just in diesem Moment setzt der Wind wieder ein und zerteilt die Wolken in kleine Fetzen. Alle Augen richten sich wie gebannt nach Süden.

Und dann geschieht es. Der Himmel gebärt ein orangenes Leuchten, aus dem Schoß der Cailleach na Mointeach heraus. Jubelschreie zerreißen die Nacht. Als die Trommeln erneut einsetzen, klingen die Schläge kraftvoll und gleichmäßig. Der Rhythmus wird fordernder. Mit Macht strebt er einem unbestimmten Höhepunkt entgegen, als wollten die Menschen das Erscheinen des Mondes heraufbeschwören. Es vergeht eine Minute, es vergehen weitere.

Als die obere Hälfte des Glutmondes über dem Bauch der Erdmutter erscheint, geht ein Raunen durch die Menge. Immer höher steigt die Scheibe in ihrem Lauf. Rund und voll streicht sie über die Brüste der Göttin und erhebt sich von da aus eine Handbreit in den Himmel, um im nächsten Augenblick wieder hinter den Bergen zu versinken. Die Finsternis über dem uralten Steinkreis wirkt schwärzer als zuvor. Zeit und Raum dehnen sich endlos aus.

Lautlos setzt sich die Prozession in Bewegung, diesmal nach Nordost, um den Mond bei seinem nächsten Erscheinen zwischen den Megalithen des fünftausend Jahre alten Freilichttheaters zu begrüßen.

Die Nacht schweigt. Währenddessen strebt die Dramaturgie dem Hauptakt entgegen. Umrahmt vom Hauptstein und seinem linken Nachbarn erscheint der Mond in dem steilen Grat zwischen den Bergrücken. Ein unwirklicher Schimmer fließt über die Steine. Träge gleitet das Licht die lange Allee hinunter und über die Menge hinweg. In der Westallee tritt eine hochgewachsene Gestalt hinter einem Megalith hervor. Der Saum des langen Gewandes flattert im Wind. Die Menge verharrt, erstarrt vor Ehrfurcht. Gestochen scharf hebt sich der wehende Kapuzenmantel vom strahlenden Licht des Mondes ab. Der Anblick ist beinahe übernatürlich: Eine menschliche Gottheit, die aus dem Mond heraus geboren wird und zur Erde steigt. Dann fällt der Vorhang. Das Licht geht aus.

Nichts regt sich mehr.

Im nächsten Moment hämmern Schuhe gegen den Quarz, der als Tanzfläche rings um den Steinkreis ausgelegt ist. Ein elektrisches Glühen fährt aus dem Boden. Die Erde scheint aufzubrechen und von innen heraus zu leuchten. Ein Geruch von Schwefel umhüllt die Tänzer. Immer schneller werden die Schritte, immer rasender zucken Piezoblitze aus dem Boden. Plötzlich steht der Leuchtende im Zentrum des Steinkreises. Die Fackel in seiner Hand wirft einen flackernden Schein auf den weiten Umhang, doch das Gesicht unter der Kapuze ist nicht zu erkennen. Schweigend durchschreitet er die Allee, während die Umstehenden seine Ankunft mit lautem Jubel begrüßen. Erleichterung erfüllt die Luft. Die Große Mondwende hat sich vollzogen, die Menge strebt dem Festplatz zu, um zu feiern.

Hoch oben auf dem Abschlussstein der südlichen Allee sitzt die Elster. Von hier aus hat sie alles beobachtet. Sie stößt ein Krächzen aus. Verwundert über die Unachtsamkeit der Menschen sträubt sie ihr Gefieder. Unbegreiflich, dass der menschliche Geist den Lauf von Mond und Sonne erfassen und aus dieser Vorstellung heraus ein präzises Konzept von Zeit schaffen kann, manifestiert durch eine bizarre Anordnung von Steinen, welche sowohl Kalender als auch Uhr darstellen. Unbegreiflich, dass der menschliche Geist dabei so blind ist für das Offensichtliche … Wo Licht ist, ist Schatten, das weiß die Elster. So, wie es eine Stelle gibt, an der der Scheinende aus dem Mond steigt, muss es eine Stelle geben, aus der die Finsternis entspringt. Wie können die Menschen das übersehen?

Dieser Ort liegt außerhalb des Kreises, im 45°-Winkel zwischen Süd- und Westallee, in der Gegenachse zu dem Punkt, an dem der Leuchtende stand. Ungerader Stein, so nennen die Menschen ihn. Der schwarze Riss um seine Mitte bezeugt das Wirken einer dunklen Macht. Seltsam, dass keiner der Feiernden auf das Geschehen dort, am Ungeraden Stein, achtet. Und so entdeckt niemand die Gestalt, die, auf einen Stock gestützt, in seinem Schatten kauert.

Die Elster stößt ein warnendes Keckern aus. Der scharfe Blick ihrer Augen durchdringt die Nacht, sie schlägt mit den Flügeln. Schritte nähern sich vom Hügel her. Es ist ein Mann. Sein Gang hat noch das leichte Federn der Jugend. Als er den Ungeraden Stein erreicht, tritt die Gestalt, die im Schutz der Nacht gewartet hat, hervor, in der Hand einen Stab. Als würde eine unüberwindbare Kluft sie trennen, bleiben die beiden Männer in einem unnatürlich großen Abstand zueinander stehen.

»Was machst du hier?« Fordernd schlägt der Stock gegen den Stein. »Wo ist Ailsa?«

»Sie kommt nicht«, erwidert der Ankömmling. Seine Stimme klingt dunkel und singend. Trotzdem liegt schneidende Kälte in den Worten.

»Was soll das heißen?«

»Sie hat es sich anders überlegt.«

»Und das soll ich dir glauben?« Entrüstet tanzt der Stab durch die Luft.

»Glaub es oder lass es. Sie hat sich entschieden. Ich habe den Beweis.«

»Den Beweis wofür?«

Ein Lachen, das keines ist. Eher gleicht es dem Schnauben eines Tieres. Der Besitzer der dunklen Stimme streckt den Arm aus. In der geöffneten Hand liegt eine Haarsträhne, sorgfältig umwickelt mit einem Band.

»Wo hast du das her?« Die Hand mit dem Stock zittert.

»Von Ailsa. Sie hat es mir gegeben. Mir, verstehst du?«

»Was soll das heißen?«

»Muss ich deutlicher werden? Willst du wissen, wie es sich anfühlt, sie im Arm zu halten? Sie zu küssen? Willst du wissen …«

»Schluss. Es reicht.« Die Hand krampft sich um den Stab. Der Arm hebt sich, dann kracht der Stock gegen den Fels. Die Spitze zersplittert. In zornigem Schweigen gefangen, wenden sich die Figuren voneinander ab und gehen davon.

Die Elster legt den Kopf schief und schüttelt das Gefieder. Sie hat genug gesehen. Zeit, zu ihren Gefährten zurückzukehren. Im Osten kriecht das erste Morgenlicht über die Berge. Das finstere Ereignis, bedeutsamer noch als das Erscheinen des Leuchtenden, hat seinen Lauf genommen. Seine Schatten fließen wie dunkle Tinte über die Lebenslinien der Beteiligten. Allein die Zukunft wird zeigen, ob es gelingt, den Bann zu brechen. Am selben Ort. Zu einer anderen Zeit.

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Kapitel 1

18 Jahre später

Ailsa McIver hasste es, angestarrt zu werden. Sie stand in der winzigen Ankunftshalle des Flughafens der Hebrideninsel Lewis und sah, wie die beiden Bauersfrauen mit den pausbäckigen Gesichtern die Köpfe zusammensteckten. Gemeinsam mit einer überschaubaren Anzahl weiterer Passagiere, alle in Schals, derbes Schuhwerk und raschelnde Windjacken gekleidet, waren sie mit ihr aus der Propellermaschine des soeben gelandeten Loganair-Fluges gestiegen. Ailsa ahnte, dass die beiden über sie sprachen. Ein flaues Gefühl der Unsicherheit machte sich in ihrem Magen breit, so wie damals als Kind. Ihre Mutter hatte sie auf einen Ausflug in die große Stadt, nach Glasgow, mitgenommen. Auf dem Rückweg zum Bus waren sie Jugendlichen begegnet. Die Mädchen waren in etwa gleich alt wie Ailsa gewesen, aber hatten im Gegensatz zu ihr Lederjacken, Nietenjeans und Schuhe mit Absatz an. Ailsa trug wie immer zwei dicke Wollpullover übereinander und ausgetretene Schnürschuhe. Hinter vorgehaltener Hand hatten sie wie irre gekichert, die Augen verdreht und mit den Fingern auf sie gedeutet. Ailsa wäre damals am liebsten im Erdboden versunken. Sie hatte lange nicht mehr an das Erlebnis gedacht, doch hier, am Flughafen von Stornoway, fiel es ihr wieder ein.

Sie schob sich eine Haarsträhne hinter das Ohr und drehte den beiden Croftersfrauen den Rücken zu. Als sie vor vierzehn Stunden in Toronto in den Flieger gestiegen war, hatte sie nicht das Gefühl gehabt, besonders auffällig gestylt zu sein. Im Gegenteil. Bewusst hatte sie sich für legere, bequeme Freizeitkleidung entschieden. Hellblaue Chinos, dazu ein passendes Polohemd in pastelligem Türkis, einen locker um die Schultern geschlungenen Pullover im gleichen Farbton wie die Hose und bequeme Sneakers. Sie mochte diesen Look. Beruflich konnte sie es sich nur am Casual Friday erlauben, so im Büro aufzutauchen. An allen anderen Arbeitstagen trug sie Hosenanzug oder Kostüm und Pumps. Damit entsprach sie den Erwartungen, welche ihre gut situierte Kundschaft an sie als seriöse Immobilienmaklerin hatte, und es fühlte sich richtig an. Normal. Der Herzschlag der Großstadt gefiel ihr, und sie hatte sich ihm angepasst.

Ailsa blickte auf die Uhr. Vier Minuten waren vergangen, und die Frauen tratschten scheinbar immer noch über sie. Ailsa konnte die Pfeilspitzen ihrer Blicke förmlich in ihrem Rücken spüren. Die beiden einfach zu ignorieren funktionierte nicht so, wie Ailsa gehofft hatte. Sie ließen sich nicht entmutigen. Ailsa presste die Lippen zusammen. Jetzt half nur ein Gegenangriff. Sie hob das Kinn ein kleines, aber entscheidendes Stück. Dann setzte sie eine, wie sie hoffte, überzeugende Nachahmung eines gewinnenden Lächelns auf. Mit einer selbstsicheren, fließenden Bewegung drehte sie sich um und strahlte die beiden an, als wären sie uralte Bekannte. Einen winzigen Moment passierte gar nichts. Die Mienen der beiden waren wie eingefroren. Sie wirkten sichtlich ertappt. Doch dann schlich sich ein rundum gutmütiges, offenes Lächeln in ihre Gesichter. Ailsa atmete auf. Seltsam. Was war nur mit ihr los? Sie war doch sonst nicht so empfindlich. Sicher lag es an dem langen Flug, dass ihre Nerven verrücktspielten.

Noch immer lächelten die beiden zu ihr hinüber, freundlich und wohlwollend diesmal. Beim Anblick der wettergegerbten Gesichter, die von einem einfachen, aber guten Leben erzählten, und der wachen Augen, die klar und kräftig leuchteten, hatte Ailsa sofort die Frauen aus ihrem Dorf vor Augen, mit ihren hohen, schweren Körben auf den Rücken, in denen sie den Torf nach Hause trugen. Ob das heute auch noch so war? Ihr Blick glitt durch die hohe Glasfront. Soeben wurden die Koffer aus der Flybe Saab 340 geladen, das Wollgras jenseits des Rollfeldes wogte sanft im Wind. Die Männer in den grauen Overalls schienen es nicht übermäßig eilig zu haben. Es würde noch dauern, bis das Gepäckband sich in Gang setzte. Sie verschränkte die Finger ineinander und bemerkte, wie schwitzig ihre Handflächen waren. Warum nur? Beruflich war sie viel auf den Flughäfen dieser Welt unterwegs und hatte kein Problem damit, sich dort zurechtzufinden. Was brachte sie an diesem winzigen Flughafen so durcheinander? Schließlich war Lewis einst ihr Zuhause gewesen. Doch einst war lange her. Inzwischen war viel geschehen. Die Frau von damals, eine Tochter der Insel, gab es nicht mehr. Wie stark sie sich verändert hatte, war ihr noch nie so bewusst geworden wie jetzt, in diesem Augenblick.

Sie wandte ihre Aufmerksamkeit der Gepäckausgabe zu. Hinter der Biegung des Gepäckbands stand eine knapp zwei Meter hohe hölzerne Figur, die Replik einer der berühmten Lewis-Schachfiguren. Eine kantige Hand hielt einen Hirtenstab umfasst, die andere die Bibel. Sie repräsentierte den Bischof, eine Figur, welche es in den modernen Schachspielen nicht gab. Der Bischof, wer sonst? Hatte sie allen Ernstes etwas anderes erwartet? Der Einfluss der presbyterianischen Kirche Schottlands war so stark wie eh und je. Ein hauchfeiner Riss ging durch Ailsa hindurch, der den Blick in die Vergangenheit öffnete. Auf einmal war sie wieder das kleine Mädchen, das still und brav in der Kirchenbank saß und den nicht enden wollenden Predigten des Reverends lauschte. Wie dünn der Schleier doch war, hinter dem sich das Vergessene verbarg. Konnte man überhaupt je vergessen? Sie runzelte die Stirn. Erinnerungen waren Schattenwesen. Unbemerkt folgten sie einem auf Schritt und Tritt, um sich dann plötzlich zurück ins Licht zu drängen. Die Auslöser waren meist banal – ein Geruch, eine Melodie, der Klang einer Stimme, eine Ähnlichkeit im Gesicht eines Fremden –, und auf einmal wurde alles wieder lebendig. Merkwürdige Sache. Das menschliche Gehirn konnte verdrängen, aber vergessen, das war unmöglich.

Sie zog an dem Ehering an ihrem Finger, drehte ihn, schob ihn hinauf und hinunter. Ihr Magen verkrampfte sich, während ihre Gedanken zu dem Telefonat wanderten, das sie mit Blair Galbraith vor fünf Tagen geführt hatte. Mit zornigen, überhitzten Worten hatte er versucht, sie nach Lewis zu zitieren. Sie hatte ihm unmissverständlich zu verstehen gegeben, dass es nicht ginge. Zwei Tage darauf hatte sie den Flug nach Lewis gebucht.

Nun stand sie in der Ankunftshalle, den Blick auf die Figur des Bischofs gerichtet. Starre, mandelförmige Augen unter einer kegelförmigen Mütze musterten sie, der Mund zu einem vorwurfsvollen O geformt. Offensichtlich nahm die Figur es Ailsa übel, dass ihr Flugzeug am Sonntagnachmittag gelandet war. Auf Lewis wuchs man gottesfürchtig auf. Früher war das Leben auf der Insel am Tag des Herrn vollständig zum Erliegen gekommen. Läden, Pubs, Tankstellen und Restaurants – überall waren die Rollläden geschlossen geblieben. Nicht einmal Fährschiffe verkehrten. Touristen, die am Sabbat weiterreisen wollten, saßen fest. Die planmäßige Freudlosigkeit machte auch vor den Kindern nicht halt. Ailsa wusste noch genau, wie ungerecht sie es empfunden hatte, dass ausgerechnet am Sabbat, dem Tag, an dem weder Schule noch sonstige Pflichten auf sie warteten, die Schaukeln auf den Spielplätzen mit Vorhängeschlössern versehen waren. Zwischen dem ersten Kirchgang am Vormittag und dem zweiten am Nachmittag hatte sich ein Meer aus steingrauer Langeweile erstreckt. Alles, was annähernd Spaß bereitet hätte, war verboten gewesen. Ailsa schüttelte den Kopf über die rigiden Regeln, die ihre Jugend geprägt hatten. Natürlich hatte die Mauer aus Engstirnigkeit und Gottesfurcht, die man um die jungen Menschen gezogen hatte, genau das Gegenteil bewirkt. Statt weniger Alkohol war mehr geflossen. Jeden Sonntag hatten in den verlassenen Steinhütten, genannt Bothys, Partys stattgefunden. Im Geheimen natürlich. Und immer war es darauf hinausgelaufen, dass die Jugendlichen literweise Bier in sich hineingeschüttet hatten. Und Famous Grouse, wenn der Whisky günstig aufzutreiben gewesen war. Alkohol war schon immer ein Problem auf der Insel gewesen. Sicher sah man inzwischen vieles lockerer und ließ den jungen Menschen mehr Freiheit.

Das Gepäckband setzte sich ruckelnd in Gang. Ailsa straffte die Schultern und befreite sich aus dem Strudel der Erinnerungen. Sie war entschlossen, ihren Aufenthalt auf Lewis so kurz und effizient wie möglich zu gestalten. Sie hatte eine Angelegenheit zu regeln. Nur deshalb war sie zurück. Dies hier würde kein Spaziergang auf der Straße der Erinnerungen werden.

Mit geübtem Schwung hob sie ihren Koffer vom Band. Obwohl er nur das Nötigste enthielt, hatte er ein ziemliches Gewicht. Sie stellte das Gepäckstück neben sich ab und reckte den Hals. Gewohnheitsmäßig sah sie sich nach einem Gepäcktrolley um. Dann fiel ihr ein, dass es am Flughafen von Stornoway noch nie welche gegeben hatte. Wie gut, dass sie heute nur den kleinen Rollkoffer dabeihatte. Sie zog den Henkel heraus und befestigte ihre Laptoptasche daran. Mit entschlossenen Schritten durchquerte sie die Halle zum Wartebereich. Im Vorbeigehen fiel ihr Blick auf das Rollgitter vor der Cafeteria. Geschlossen … Ihr knurrender Magen rief ihr ins Bewusstsein, dass sie seit dem Aufbruch in Toronto nichts Vernünftiges zu sich genommen hatte. Bei dem Gedanken an den Geruch der Käsetortellini aus der Mikrowelle, die ihr Sitznachbar auf der Hauptstrecke verschlungen hatte, wurde ihr jetzt noch übel. Frustriert starrte sie auf den verriegelten Imbiss. Wie ärgerlich. Sie hatte vergessen, Proviant für den ersten Abend mitzunehmen. Sicher hatten die Jenners, zuverlässig wie immer, das Haus nebst Küche und Speisekammer längst leer geräumt. Ailsa seufzte.

Die beiden, ein älteres Ehepaar, waren angenehme Mieter gewesen. Ailsa bedauerte, dass sie gingen. Andererseits konnte sie die Jenners gut verstehen. Sie waren vor sechs Jahren von Cornwall hierhergezogen, weil sie sich in das spektakuläre Licht und in die Großartigkeit der Landschaft verliebt hatten. Mrs Jenner war eine geschickte Schneiderin. Sie hatte sich einen kleinen Nebenerwerb zu ihrer Rente aufgebaut und nähte wunderschöne Taschen und Kissen aus Harris-Tweed. Auch Mr Jenner hatte sich gut in die Gemeinde eingefügt. Doch dann war ein harter Winter gekommen, mit Stürmen, die selbst für die Einheimischen schwer zu nehmen gewesen waren. Der öffentliche Verkehr war zum Erliegen gekommen, die wenigen Bewohner der verstreuten, winzigen Weiler am Ende der Pentland Road – einer der einsamsten Straßen, die man sich vorstellen konnte – waren angewiesen worden, in ihren Häusern zu blieben. Die Isolation hatte den Jenners gehörig zugesetzt. Kein Wunder, wer ertrug es schon, vier Tage und Nächte von der Außenwelt abgeschnitten zu sein, ohne Heizung, Telefon und elektrisches Licht? Das Schlimmste für die Jenners war gewesen, dass es keine Möglichkeit gegeben hatte, ihre Kinder in St Ives und in Bath wissen zu lassen, dass sie wohlauf waren. Dann, als alles vorüber gewesen war, hatten die Jenners mit den nächsten Widrigkeiten zu kämpfen gehabt: Durch den Stromausfall waren sämtliche Lebensmittel in der Gefriertruhe verdorben. Alles musste weggeworfen werden. Das war der sprichwörtliche Tropfen gewesen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hatte. Die Jenners gaben auf. Ailsa wunderte es kein bisschen. Die Frage war nur, was jetzt aus der Croft ihrer Mutter, ihrem ehemaligen Elternhaus, werden sollte. Doch zunächst musste sie überhaupt dorthin kommen. Ihr Blick flog suchend umher. Wo war nur der Schalter der Autovermietung? Vor der gläsernen Schiebetür des Flughafengebäudes sah sie einen Jungen stehen, dessen lange, in die Stirn fallende Haare ein pickeliges Gesicht umrahmten. Er fiel ihr auf, weil er ein Schild mit ihrem Namen in die Höhe hielt.

»Mrs McIver?« Der Jugendliche trat auf sie zu. Nach Ailsas Einschätzung konnte er kaum älter als siebzehn sein. Er trug ausgewaschene Jeans zu einem schwarzen Kapuzenshirt mit dem Logo einer Rockband.

»Korrekt, das bin ich.« Ailsa stellte den Koffer ab und streckte ihm die Hand entgegen. Der Junge schüttelte sie kräftig.

»Willkommen auf Lewis. Ihr Mietauto steht drüben auf dem Parkplatz. Darf ich Ihnen das Gepäck abnehmen?«, erbot er sich. Er sprach mit dem typisch rollenden Akzent der Insel.

Dankbar folgte sie ihm nach draußen. Für September herrschte erfreulich schönes Wetter. Hinter dem Rollfeld und den umliegenden Feldern glitzerte das Meer. Ein leuchtender, unfassbar hoher Himmel spannte sich über karges Felsgestein und endloses Moor. Ailsa überließ es dem Jungen, das Gepäck im Kofferraum zu verstauen, und sog den Anblick in sich auf. Sie hatte völlig vergessen, wie atemberaubend die Weite und die Großartigkeit der Natur auf Lewis waren. Der inseltypische Wind wehte ihr um die Nase und trug den Geruch von Torf, verrottendem Seetang und endlosen Abenteuern heran. Die Landschaft schmiegte sich wie ein Handschuh um ihre Seele. Plötzlich war alles wieder da … die merkwürdig silbern schimmernden Sommernächte, in denen sie bis weit nach Mitternacht mit Blair draußen gespielt hatte. Die langen, dunklen Winter, das Knistern des heimischen Herdfeuers, das Rauschen der Stürme … Blairs herausforderndes Grinsen, mit dem er sie zu waghalsigen Kletterpartien in den Klippen überredet hatte. Die Stimme ihrer Mutter, die auf Gälisch mit ihr geschimpft hatte, weil Ailsa über dem Spielen die Zeit vergessen hatte und viel zu spät nach Hause gekommen war … Ihr Hals wurde trocken. Auf eigenartige Weise schien alles wieder mit ihr verbunden zu sein und sie zu berühren. Sie spürte ein Brennen in ihrer Kehle. Himmel, was passierte da nur mit ihr? So rührselig war sie doch sonst nicht. Rasch drehte sie sich um und öffnete die Autotür, um hinter dem Steuer Platz zu nehmen. Erst als sie das spöttische Lächeln des Jungen entdeckte, bemerkte sie ihren Irrtum.

»Falsche Seite«, er machte sich nicht die Mühe, sein Grinsen zu verbergen. »Sie sind nicht von hier, was?«

»Nein«, behauptete Ailsa und umrundete den Wagen.

Als sie auf der richtigen Seite saß, stieg der Junge zu ihr in den Wagen. Er zückte Klemmbrett und Stift. »Möchten Sie eine Vollkaskoversicherung für das Auto abschließen?« In seiner Stimme schwang Skepsis mit, so als traute er ihr nicht zu, das Auto unfallfrei durch den nächsten Kreisverkehr zu steuern. »Die Straßen sind ganz schön unübersichtlich. Wenn Sie aus Gewohnheit die falsche Seite nehmen, kann es schnell mal krachen.«

»Danke, das wird nicht nötig sein«, erwiderte Ailsa betont fröhlich und nahm das Klemmbrett an sich. Sie überflog die üblichen Klauseln im Mietvertrag und setzte schwungvoll ihre Unterschrift darunter.

Der Junge rollte die Augen zum Zeichen, dass er das für keine sonderlich gute Entscheidung hielt, kommentierte es aber nicht weiter. Dann legte er das Klemmbrett beiseite und erklärte ihr die Besonderheiten des Autos. Damit war den Formalitäten Genüge getan. Ailsa verabschiedete den Jungen mit Handschlag und startete den Wagen. Einen Moment musste sie sich konzentrieren, dann aber lenkte sie ihn sicher durch den Kreisel und bog auf die schnurgerade Straße Richtung Stornoway ab, vorbei an Weideland, neu erschlossenem Wohngebiet und einem Industriepark. Das Gebäude der Stornoway Free Church grüßte zu ihrer Rechten, dahinter folgten die grau getünchten Einfamilienhäuser von Olivers Brae mit ihren Schieferdächern. Hier und da ragten Windräder aus der baumlosen Landschaft, wo früher nur Weite geherrscht hatte.

Sie war erstaunt, wie viel sie auf Anhieb wiedererkannte. Gleich nach dem Ortsschild erwischte sie im Kreisverkehr die richtige Ausfahrt zu Engies, der einzigen Tankstelle auf der Insel, welche am Sonntag geöffnet hatte. Sie parkte den Wagen an der Seite neben den Zapfsäulen und betrat den Verkaufsraum. Augenscheinlich hatte sich auch hier wenig verändert. Sie umrundete die Vitrine mit den Jagdwaffen und den Ständer mit der Angelausrüstung. Zielsicher schritt sie auf die Kühlregale im hinteren Bereich zu. Kurz darauf häufte sie ihre Einkäufe auf den Tresen neben der Kasse: Milch, Eier, Cheddarkäse, Haferkekse und Tee. Genug, um bis morgen über die Runden zu kommen. Dazu eine Flasche Rotwein, falls sie wegen der Zeitumstellung nicht schlafen konnte. Als sie in ihrer Tasche nach dem Portemonnaie kramte, streifte ihr Blick das Handy. Seit Toronto hatte sie es nicht wieder eingeschaltet. Rasch tippte sie die PIN ein und bezahlte.

Wenig später steuerte sie den Mietwagen durch das Stadtzentrum, vorbei an dem imposanten Lews Castle mit seinem weitläufigen Park, der die meisten Bäume der Insel beherbergte, dem Golfplatz und dem Kriegerdenkmal. Dabei vertiefte sie sich so in die Betrachtung der Landschaft, dass sie fast die Abzweigung auf die einspurige Pentland Road übersehen hätte. Mit einem waghalsigen Manöver riss sie das Lenkrad herum. Nach wenigen Metern erreichte sie das Hochmoor. Die Landschaft versank in einem Meer aus Einsamkeit. Ailsa fühlte sich, als würde sie durch ein Sepiafoto aus den Zwanzigerjahren fahren. Das schwere Licht, welches diffus durch die Wolkenfelder fiel, veränderte die Farben. In der Ferne erhoben sich umbrafarben die Silhouetten der sonst blauen Berge von Harris. Eine sanfte Brise strich die Hügel hinunter und kräuselte das Wasser der Lochs. Das Heulen der Windräder wurde über das Moor getragen. Ailsa zuckte zusammen, als hinter einer Kurve wie aus dem Nichts eine Herde schwarzköpfiger Schafe direkt vor ihrer Motorhaube auftauchte. Reflexartig trat sie auf die Bremse. Ihre rechte Hand tastete nach dem Schalthebel – falsche Seite, wieder einmal! Sie wartete, bis der inseltypische Verkehrsstau sich auflöste. Ihr Blick glitt aus dem Fenster. Leise, wie eine vergessene Melodie, hallten die Töne der Landschaft in ihr wider. Heimat. Spuren von früher, wohin ihr Auge fiel. Die grasbewachsenen Linien der aufgelassenen Torfbänke hier. Die schokoladenfarbenen Furchen dort, wo der Tairsgear, der Spaten, den die Inselbewohner zum Torfstechen benutzten, frische Narben in das Erdreich geschlagen hatte. Entlang der Gräben reihten sich prall gefüllte Säcke mit Torf, bereit zum Abholen. Der Sommer war vorbei, Wind und Wetter hatten die gestochenen Briketts getrocknet und gehärtet. Die Plastikgriffe der Tüten knatterten im Wind. Menschliche Spuren mitten im Nichts.

In die friedliche Stille hinein ertönte der vertraute WhatsApp-Klingelton ihres Handys. Als sie es aus der Tasche zog, lächelte ihr Pauls Profilbild entgegen. Mit gemischten Gefühlen blickte sie auf das Foto. Obwohl er im letzten Jahr sechsundvierzig geworden war, sah er noch immer attraktiv aus. Die meisten schätzten Paul ohnehin jünger. Ob es daran lag, dass er sich eine Glatze schor, seitdem er die ersten grauen Haare an den Schläfen entdeckt hatte? In Verbindung mit dem Fluidum von Macht und Einfluss konnten das makellos gepflegte Äußere und die eindringlichen graugrünen Augen ziemlich verführerisch auf Frauen wirken, wie Ailsa wohl wusste. Sie dagegen … Ailsa runzelte die Stirn. Manchmal kam sie sich neben Paul vor, als spielte er in der Oberliga, während sie allenfalls den Aufstieg in die Bezirksklasse gemeistert hatte. Sie seufzte.

Als sie damals frisch nach Toronto gekommen war, hatte sie sich in der Großstadt wie ein richtiges Landei gefühlt. Aber dann war ihr Paul begegnet. Sie war jung und leicht zu beeindrucken. Seine weltmännische, gewandte Art imponierte ihr. Er war liebevoll, zuvorkommend, dynamisch und hatte klare Ziele vor Augen. Einem Mann wie ihm war sie zuvor nie begegnet. Und unbegreiflicherweise interessierte er sich auch noch für sie! Anscheinend hatte sie etwas an sich, das er hinreißend fand. Seine Avancen ließen ihr Selbstbewusstsein erblühen. Als aus ihnen nach relativ kurzer Zeit ein Paar wurde, schien das Glück perfekt. Sie hatte nicht nur einen Mann gefunden, der sie liebte und auf Händen trug, auch beruflich harmonierten sie wunderbar miteinander. Ailsa stieg als Assistentin in Pauls Firma ein. In der ersten Zeit verbrachten sie oft vierundzwanzig Stunden am Stück miteinander. Tagsüber arbeiteten sie Seite an Seite, planten, organisierten, diskutierten und lachten miteinander. Nachts liebten sie sich mit derselben schwindelerregenden Intensität und schliefen eng umschlungen ein.

Die Veränderung kam schleichend. Pauls unermüdlicher Einsatz für seine Kunden und sein Bestreben, stets das Beste zu geben, hatten ihm in der Geschäftswelt von Toronto einen hervorragenden Ruf eingebracht. Er setzte dort an, wo andere scheiterten. Das Wort »unmöglich« schien in seinem Wortschatz nicht zu existieren. Bei Verhandlungen war er hart, aber fair, bei Geschäftsessen ein charmanter Gesprächspartner, der über jedes Detail Bescheid wusste. Er kam mit den unterschiedlichsten Menschen gut aus, auch mit Kunden, die als schwierig verrufen waren.

Ailsa war dankbar für das Leben, das sie führten. Sie hatten sich gemeinsam etwas aufgebaut und konnten sich Dinge leisten, von denen sie nie geträumt hätte. Das Luxusapartment über der Harbourside, Wochenendtrips nach New York und Paris, Urlaub in der Karibik. Doch alles hatte seinen Preis, und Paul musste nach den Regeln des Erfolgs spielen. Anfangs war er nur unter der Woche zu Geschäftsessen unterwegs gewesen, dann aber immer öfters über Nacht, auf Geschäftsreisen oder Incentive Trips.

Natürlich war sie stolz auf ihren Mann, aber wenn sie an die interessanten Frauen dachte, denen Paul auf seinen Reisen begegnete, kamen die alten Selbstzweifel in ihr hoch. Fand Paul sie noch anziehend? War sie immer noch das liebenswerte und manchmal ein bisschen ungestüme Mädchen von der Insel, in das er sich verliebt hatte? Begehrte er sie nach wie vor? War es normal, dass im Laufe einer Beziehung die Leidenschaft abflaute, oder ließ sich Paul bei seinen Reisen auf Abenteuer ein, von denen sie nichts ahnte? Zwar hatte sie nie einen Beweis, dass er ihr untreu war, andererseits hätte sie auch nicht die Hand dafür ins Feuer legen mögen. Es war, als schwebte eine unsichtbare Bedrohung über ihrer Ehe.

Mit der Zeit trat an Paul eine Seite zum Vorschein, die Ailsa nicht gefiel. Immer öfter wirkte er abweisend oder war mit den Gedanken woanders, wenn sie mit ihm über persönliche Dinge sprechen wollte. Die Abende, an denen sie in einem exklusiven Restaurant über alle erdenklichen Themen des alltäglichen Lebens diskutierten, wurden rar und blieben irgendwann ganz aus. Inzwischen waren sie an einem Punkt angelangt, an dem das Geschäft alles überlagerte. Darunter war auch ihre Leidenschaft erstickt. Ihre Unterhaltungen gipfelten oft darin, dass Pauls Blick undurchdringlich wurde und er sie mit unterkühlter Stimme daran erinnerte, wem sie ihren Wohlstand zu verdanken hatte. So klein wie in den letzten Monaten hatte sie sich nicht einmal ganz zu Beginn ihrer Beziehung Paul gegenüber gefühlt. Dinge, die er früher an ihr geliebt hatte, schien er nicht mehr wahrzunehmen.

Ailsas Herz wurde schwer. Sie hoffte, dass der Abstand zwischen ihnen dazu beitragen würde, die Dinge wieder in ein freundlicheres Licht zu rücken. Sechzehn Jahre Ehe änderten nichts an ihrer Liebe zu Paul, doch die Meinungsverschiedenheiten waren auf Dauer zermürbend. Und nun waren sie gestern auch noch im Streit auseinandergegangen. Ohne dass Paul sie zum Flughafen gebracht hatte. Nicht einmal einen Kuss hatte er ihr zum Abschied gegeben. Ailsa presste die Kiefer aufeinander. Wie konnte man nur so stur sein? Sie hatte oft genug versucht, es ihm zu erklären, aber Paul weigerte sich zu verstehen, warum es ihr so wichtig war, diese – wie er es nannte – lächerliche Angelegenheit vor Ort zu klären. Wozu, wenn sich alles problemlos per Skype und Internet regeln ließ? Schließlich lebte man nicht mehr im Mittelalter. Selbst auf den Inseln gab es WLAN. Und was würde aus den laufenden Projekten, wenn sie sich eine Auszeit nahm, um diese überflüssige Reise anzutreten? Ailsa stöhnte. Wie oft hatte sie sich seine Sprüche in den letzten Tagen anhören müssen? Dabei hegte sie den Verdacht, dass es Paul gar nicht so sehr um die Sache an sich ging: Im Grunde nahm er es ihr übel, dass sie nicht so funktionierte, wie er es sich vorstellte.

Das Pling ihres Handys holte Ailsa zurück in die Gegenwart. Sie war gespannt, was Paul ihr nach dem Streit mitzuteilen hatte. Ihr Herz hämmerte gegen ihre Rippen, als sie über das Display strich und las:

 

Vergiss nicht, dass das Treffen mit der Delgado-Group nächste Woche auf Prio 1 steht. Ich gehe davon aus, dass deine Präsentation fertig ist, wenn du zurück bist. Es muss ein Knaller werden.

 

Ailsa spürte Zorn in sich aufsteigen. Sie war zweitausend Meilen quer über den Atlantik gereist, und Paul hielt es nicht einmal für nötig, sich zu erkundigen, ob sie gut angekommen war? Und die Präsentation war auf dem Flug fertig geworden. Weshalb setzte Paul nach all den Jahren noch immer so wenig Vertrauen in sie? Mit fliegenden Fingern tippte sie eine Antwort, die sich gewaschen hatte. Dann hielt sie inne und überflog den Text. Die Wut troff geradezu aus ihren Worten. Nicht gut. Das würde sie beide nicht weiterbringen. Sie atmete tief durch und zählte in Gedanken bis zwanzig. Sie durfte sich jetzt nicht hineinsteigern. Zähneknirschend schob sie ihre Gefühle beiseite und formulierte ein paar freundliche, nicht übermäßig emotionale Zeilen. In kurzen Worten ließ sie ihn wissen, dass er sich keine Sorgen zu machen brauchte und sie gut angekommen war. Zum Schluss setzte sie xxx für Küsschen dahinter und drückte auf Senden. Gerade, als sie den Gang einlegen und weiterfahren wollte, piepste das Handy erneut.

 

Wo ist mein türkiser Kaschmirpullover?

 

Ailsa starrte auf die Buchstaben. Kein Gruß. Keine Erleichterung darüber, dass sie gut gelandet war. Nichts. Nur sein blöder Pulli, der nicht dort war, wo er nach Pauls Dafürhalten zu sein hatte. Ungehalten tippte sie ein einziges Wort.

 

Wäscherei.

 

Punkt. Keine Küsschen. Die Antwort kam postwendend.

 

Scheiße. In welcher?

 

Ailsa rechnete sechs Stunden zurück. In Toronto war es Sonntagmittag. Paul musste zu Hause sein. Vor ihrem geistigen Auge sah sie ihn laut fluchend in ihrem schicken Apartment mit der großzügigen Verglasung und dem herrlichen Ausblick auf den Hafen auf und ab gehen. Der Pulli war eines von Pauls Lieblingsstücken, er trug ihn oft, wenn er Ailsa zum Essen in ein teures Restaurant ausführte. Ailsa mochte den Pulli gerne an ihm, denn er brachte das Grau in Pauls Augen zum Leuchten. Nachdenklich starrte sie auf das Handy. Wozu brauchte er seinen Lieblings-Ausgeh-Pulli ausgerechnet jetzt? Hatte er überraschend eine Verabredung mit einem Geschäftsfreund getroffen? Möglich wäre es, denn wie sie Paul kannte, hatte er sicher wenig Lust, den Nachmittag auf dem Sofa zu verbringen. In Pauls Geist und Körper herrschte ständig Unruhe. Sie war schon versucht, den Namen der Wäscherei zu tippen, als ihr einfiel, dass der Abholschein sich in ihrem Portemonnaie befand. Für einen Moment überkam sie ein schlechtes Gewissen, dann sagte sie sich, dass Paul selbst schuld war. Schließlich kümmerte er sich kein bisschen darum, was aus seinen schmutzigen Kleidungsstücken wurde, und überließ es Ailsa, dafür zu sorgen, dass sie wieder sauber in seinem Schrank landeten. Entsprechend mager fiel ihre Antwort aus:

 

Pech. Du musst wohl ohne ihn auskommen.

 

Und ohne mich … dachte sie, aber das fügte sie nicht hinzu.

Ailsa wartete, doch diesmal schrieb Paul nicht zurück.

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Kapitel 2

Blair Galbraith stand am Fenster seines Wohnzimmers, in ein Meer aus brodelnden Gedanken versunken. Verletzter Stolz brannte in seiner Brust wie eine Speerspitze. Seine grünen, mit grauen und braunen Sprenkeln durchsetzten Augen, die so sanft und melancholisch blicken konnten, dass man sich an das Grün des Machair – dem fruchtbaren Marschland vor der Küste – im Licht der untergehenden Sonne erinnert fühlte, oder kalt wie der steingraue, tosende Atlantik bei einem Wintersturm, richteten sich auf das Geschehen draußen im Auslauf. Wenn Blicke töten könnten, wäre seine fünfjährige weiße Zuchtstute längst mausetot umgefallen. Ihr Name war Chanty – offiziell Enchantment, Verzauberung –, und auf ihr ruhte seine ganze Hoffnung. Sie war der Inbegriff von Eleganz, Kraft und Anmut. Er wusste, dass er mit ihr neue Maßstäbe in der Zucht der Eriskay Ponys, einer zähen und ausdauernden, mittlerweile leider seltenen Ponyrasse, setzen konnte. Mit kraftvollem, schwingendem Trab und in weitem Bogen umkreiste die Stute die Futterstelle, den Schweif hoch erhoben. Die Furche zwischen Blairs Augenbrauen vertiefte sich. Dieses Pony war sturer und misstrauischer als alles, was ihm je unter die Augen gekommen war, und noch immer hatte er nicht den richtigen Zugang zu ihm gefunden. Noch immer war Chantys Eigensinn so groß wie am ersten Tag. Bei ihrer Ankunft vor ein paar Monaten war sie ungewöhnlich hoch in der Rangordnung eingestiegen. Seine Lippen verkniffen sich zu einer schmalen Linie, als er sah, wie sie sich unter augenfälligem Imponiergehabe der Heuraufe näherte, wo die restliche Herde friedlich fraß. Als hätte jemand einen Schalter in Chanty umgelegt, stellte sie urplötzlich den Schweif auf und legte die Ohren an. Mit offenem Maul und wehender Mähne preschte sie wie ein Berserker auf die Gruppe zu, um die anderen Ponys vom Futter wegzubeißen. Erst als sie einen Platz gefunden hatte, der ihrem sturen Schädel angemessen erschien, ließ sie zu, dass die restlichen Herdenmitglieder sich wieder näherten.

Blair raufte sich durch das kurze Haar, sodass es wie Igelstacheln von seinem Kopf abstand. Chanty liebte dieses Spiel. Er hatte sie schon öfter dabei erwischt. Nur Belle, seine älteste Zuchtstute und Anführerin der Herde, schaffte es, Chanty in ihre Schranken zu weisen. Blairs Gedanken wanderten zurück zu jenem Tag, als er Chanty auf einer Auktion auf Uist entdeckt hatte. Er war sofort Feuer und Flamme für dieses herrliche Pony gewesen. Nachdenklich runzelte er die Stirn. Was hatte der Pferdehändler damals behauptet? Er hatte den dämlichen Spruch noch gut im Ohr: »Die weiße Stute hier kannst du nicht besitzen, Kumpel. Die sucht sich ihren Herrn selbst aus …« Albernes Geschwafel. Hatte man schon jemals einen solchen Blödsinn gehört? Missmutig verzog Blair das Gesicht. Er weigerte sich standhaft zu akzeptieren, dass mehr Wahrheit an dem Gewäsch des Pferdehändlers sein konnte, als ihm lieb war. Düstere Verwünschungen vor sich hin murmelnd verfolgte er das Geschehen auf der Koppel. Verdammt, es wurde allerhöchste Zeit, dass er anfing, mit Chanty zu arbeiten, wenn er je Geld mit ihr verdienen wollte. Er hatte keine Zweifel, dass sie jeden Tropfen Schweiß wert war. Die Stute besaß hervorragende Anlagen und eine ungewöhnliche Präsenz. Er hasste es, es zuzugeben, aber er war regelrecht vernarrt in den verflixten Gaul. Was ihm jedoch gewaltig auf den Geist ging, war ihre dickköpfige Weigerung, sich unterzuordnen.

Doch vorerst musste Chanty warten. Es gab Wichtigeres. Sein Blick wanderte zu dem weiß getünchten Haus auf dem Hügel hinter dem Auslauf. Es hatte Kaitlin, Ailsas verstorbener Mutter, gehört. Blair war es gewesen, der Kaitlin damals nach ihrem Schlaganfall krampfartig an den Türstock ihrer Küche geklammert gefunden hatte. Er war es gewesen, der den Notarzt verständigt hatte. Er hatte Kaitlin nach Stornoway ins Krankenhaus begleitet und die Formalitäten erledigt. Drei Tage später war er derjenige gewesen, der ihr die Hand bei ihren letzten, unregelmäßigen Atemzügen gehalten hatte. Ailsa hingegen hatte es wegen unaufschiebbarer geschäftlicher Gründe nicht geschafft, rechtzeitig hier zu sein, um ihrer Mutter im Sterben beizustehen.

Und nun war Ailsa zurück.

Blair wusste, dass sie an diesem Abend mit den Jenners, ihren ehemaligen Mietern, zur Hausübergabe verabredet war. Er konnte sehen, wie das alte Ehepaar Plastikboxen und prall gefüllte Jutebeutel vom Haus zum Auto schleppte.

Blair rieb sich über das Gesicht. Seine Lider fühlten sich rau an, als hätte ihm der böige Wind Sand in die Augen getrieben. Mit aller Macht durchdrang sein Blick die Dämmerung. Er durfte den Moment von Ailsas Ankunft nicht verpassen. Dafür hatte er viel zu lange auf ihre Rückkehr gewartet.

»Ist Chanty noch immer unruhig?« Die Stimme von Marsaili, seiner Frau, klang verhalten. Sofort spürte er, wie sich sein Nacken versteifte. Er hatte Marsaili ungeduldig mit den Tellern in der Küche klappern hören und wusste, was der Satz bedeutete. Es war ihre Art, ihm zu sagen, dass sie und die Jungs mit dem Abendbrot auf ihn warteten. Marsaili stammte aus Lewis, sie war hier geboren und aufgewachsen. Als Insulanerin wusste sie, wie die Dinge nun mal liefen. Es würde ihr nie ihn den Sinn kommen, ihm Vorschriften zu machen. Nicht einmal, wenn es um das gemeinsame Essen ging. Ein Mann aus Lewis hatte seinen Stolz. Keiner, ob Freund oder Feind, hatte ihm zu sagen, was er zu tun oder zu lassen hatte. So war es schon immer auf der Insel gewesen, und so würde es immer sein. Nicht einmal die neuerdings vom Festland herübergeschwappte Liberalisierung konnte daran etwas ändern.

»Stimmt etwas nicht mit ihr?«, fragte Marsaili.

»Ihr geht es bestens. Sie braucht nur Zeit«, erwiderte er, mehr zu sich selbst. Seine Aufmerksamkeit wanderte wieder durch das eigentümliche Zwielicht des Abends zu Ailsas Haus. Die Schatten der Gebäude hoben sich verwaschen vor dem alles verschlingenden Grau des Himmels ab. Ein Anklang von Herbst und Melancholie lag in der Luft. Die Tage wurden deutlich kürzer. Vom Atlantik her trieb die erste Polarluft herein. In zwei Stunden wäre es stockfinster. Er hoffte, dass Ailsa noch vor Einbruch der Nacht eintreffen würde.

In der Scheibe spiegelte sich Marsailis rundes, ernst blickendes Gesicht, daneben sein eigenes. »Ist Ailsa schon da?« Die Worte purzelten überhastet aus ihr heraus. So als müsste sie sie loswerden, bevor sie der Mut verließ.

»Woher soll ich das wissen?« Blair kniff die Augen zusammen. Draußen auf der Koppel herrschte Ruhe, aber nur scheinbar. Chanty rupfte Heu aus der Raufe. Die anderen Ponys fraßen ebenfalls, waren aber auf reichlich Abstand zu der Stute bedacht. Der Raum zwischen Chanty und dem Rest der Herde war bis zum letzten Millimeter gefüllt mit nervöser Spannung. Besonders Chanty schien dem Frieden zu misstrauen. Ihre Ohren zuckten vor und zurück, bereit, jede noch so feine Schwingung aufzufangen. Ihr bis in die letzte Muskelfaser angespannter Körper wirkte auf Blair, als müsste sie jeden Moment aus dem Stand heraus explodieren, um ihre angestauten Gefühle zu entladen.

Marsaili räusperte sich, als hätte sie eine Gräte im Hals stecken. »Sie sollte längst hier sein. Wollte sie nicht die Nachmittagsmaschine nehmen?«

»Ich habe wichtigere Dinge im Kopf«, erklärte er bestimmt, aber in aller Ruhe. »Was kümmert mich Ailsa?«

»Nun, immerhin warst du es, der sie dazu gebracht hat, hierherzukommen.«

Er sah in der Scheibe, wie sie den Blick senkte und die Finger ineinander verschränkte. Sie hatte ausgesprochen, was ihrer Meinung nach gesagt werden musste. Damit war das Thema erledigt. Mehr würde er dazu nicht von ihr hören, auch wenn Ailsas Rückkehr Marsaili so sehr beschäftigte, dass sie sich nachts unruhig neben ihm im Bett wälzte. Normalerweise hatte Marsaili den Schlaf eines mit sich und der Welt zufriedenen Menschen.

»Ich gehe raus und arbeite mit Chanty.« In seiner Stimme lag Bestimmtheit, keine Aggression. »Sie schikaniert die anderen. Wenn sich eine der Zuchtstuten verletzt, haben wir den Salat. Ich habe nicht vor, mein sauer verdientes Geld für den Tierarzt zum Fenster rauszuwerfen.«

»Ich weiß.« Marsaili nickte. In der Spiegelung der Scheibe beobachtete er, wie sie sich umwandte und das Zimmer verließ.

Blair ließ eine Minute verstreichen. Dann schnappte er sich die halb volle Flasche Highland Park von der Anrichte und ging hinaus in den Windfang. Er schlüpfte in Gummistiefel und Arbeitsjacke, nahm die Schirmmütze vom Haken und zog sie tief in die Stirn. Auf dem Weg zum Auslauf machte er am Stall halt und holte einen Apfel und ein Halfter. Seine Stiefel schmatzten in dem morastigen Boden. So ruhig, wie seine angespannten Nerven es zuließen, näherte er sich dem mit Brettern überdachten Futterplatz. Womöglich witterte die Stute seine Nähe mehr, als dass sie ihn hörte. Abrupt hörte sie auf zu fressen und legte ein Ohr an. Blair stand mucksmäuschenstill und wartete. Behutsam schlich er näher. Chantys Hinterbein zuckte und hob sich ein Stück vom Boden. Wieder blieb er stehen.

»Ho, braves Mädchen«, seine Stimme klang ungewohnt schmeichelnd in seinen Ohren, fast wie warme, flüssige Schokolade. Sie hob den Kopf und sah ihn aus Augen an, die so dunkel und unergründlich waren wie die eines Each-Uisge, eines jener sagenumwobenen Wasserpferde, die in mondbeschienenen Nächten aus den Lochs auftauchen und unselige Menschen dazu verführen, auf ihren Rücken zu steigen, um sie mit sich in die Fluten zu reißen. Blair verzog verächtlich die Mundwinkel. Zum Henker mit den alten Geschichten. An diesem Pony hier war überhaupt nichts mystisch, darauf konnte er seinen Hintern verwetten. Es war lediglich ein unglaublich stures Biest. Aber das letzte Wort war noch nicht gesprochen. Am Ende des Tages würde sie akzeptieren müssen, dass er das Sagen hatte. Entschlossen straffte er die Schultern. Dann zog er den Apfel aus seiner Tasche und tastete sich Schritt für Schritt an Chanty heran, unablässig blödsinnige Schmeicheleien vor sich hin murmelnd. Er war heilfroh, dass ihn keiner hörte.

Sie ließ ihn so dicht an sich herankommen, dass er die Wärme ihres Atems auf seiner Haut spürte. Doch als er den Arm ausstreckte, um sie am Hals zu berühren, sprang sie in der entscheidenden Sekunde geschickt zur Seite. Mit erhobenem Kopf und Schweif trabte sie davon. Dabei griff sie mit den Beinen so elegant und frei aus, dass es wirkte, als schwebte sie über den lehmigen Boden. Als würde sie ihn und seine menschliche Unvollkommenheit verhöhnen.

Blair fluchte vor sich hin. Zähneknirschend sammelte er sich und unternahm den nächsten Versuch. Wieder dasselbe. Es war ein Tango, den sie tanzten, bei dem er vergeblich um die Führung kämpfte. Blair schob die Mütze in den Nacken, auf seiner Stirn sammelte sich Schweiß. Eine Viertelstunde später waren sie kein Stückchen weiter. Inzwischen glänzten auch auf Chantys Hals dunkle Flecken. Blair hatte die Nase gestrichen voll. Wütend auf sein Unvermögen und auf die Sturheit des Ponys griff er in die Innenseite seiner Jacke und spülte seinen Ärger mit einem Schluck Whisky herunter. Miststück. Sollte sie doch der Teufel holen.

Schließlich hatte er sich wieder so weit im Griff. Mit langen Schritten durchquerte er den Auslauf. Als die Stute ihn kommen sah, scharrte sie mit dem Vorderhuf. Ihr Körper dampfte in der kühlen Abendluft. Mit geblähten Nüstern schnaubte sie vor sich hin. Dann senkte sie den Kopf, sodass ihre Augen unter den langen silbrigen Stirnhaaren verborgen waren, und tat, als wären ihr Blair und der Apfel schnurzegal.

»Braves Mädchen.« Er betrachtete die Stute eingehend. Vorsichtig näherte er sich ihr, den Apfel gut sichtbar in der flachen Hand, bis er noch knapp fünfzehn Meter von ihr entfernt war. Die Stute gab ein grummelndes Geräusch von sich. Eine vorsichtige, an ihn gerichtete Frage, mit welchem Ansinnen er, der Mensch, denn mit dem Halfter in der Hand hinter ihr herschlich. Mit Bestimmtheit setzte er den Fuß nach vorne. Eine klare Antwort auf ihre Frage. Plötzlich begann sich alles in seinem Kopf zu drehen. Beim nächsten Schritt verlor er die Balance und geriet ins Wanken. Zum Glück nur kurz. Mit stockendem Atem sah er zu Chanty hinüber. Das Pony schnaubte unruhig und schlug mit dem Schweif.

Teufel noch mal, er musste sich wirklich besser konzentrieren. Weshalb hatte er nur so viel getrunken? Er stellte sich breitbeinig hin, um sein Gleichgewicht bemüht, und sog kühle Luft in seine Lungen. Mit einem unguten Gefühl im Magen hoffte er darauf, dass der Nebel in seinem Kopf sich verzog. Sein Blick wanderte an Chanty vorbei zum Nachbarhaus. Keine Spur von Ailsa … Worauf wollte er eigentlich noch warten? Finster entschlossen straffte er den Rücken und schritt voran. Zehn Meter. Diesmal würde sie ihm nicht entwischen. Acht. Sieben. Sein Gang wurde entschlossener. Fünf … Erneut geriet er ins Stolpern. Seine Arme ruderten wie Windmühlenflügel durch die Luft. Er sah sich bereits der Länge nach im Dreck liegen, fing sich glücklicherweise aber auch diesmal gerade noch rechtzeitig.

Aber Chanty fing sich nicht. Blitzartig riss sie den Kopf hoch, machte auf der Hinterhand kehrt und entfernte sich schnaubend von ihm. Blinder Jähzorn packte ihn. Er holte mit dem Halfter aus und schmiss es ihr nach, sodass es den Kopf der Stute nur knapp verfehlte. Ohne Vorwarnung drehte ihm Chanty das kräftige Hinterteil zu und keilte aus. Dann wirbelte sie herum und begann so wild zu buckeln, dass Blair reflexartig die Arme hochriss. Im Galopp preschte Chanty quer über den Auslauf davon und setzte mit einem Sprung über den Zaun hinweg. Die Weite der angrenzenden Koppel beflügelte ihr Tempo. Immer schneller raste sie den Hügel hinunter. Das Heidekraut erzitterte unter ihren Hufen, Blair meinte zu spüren, wie der Boden unter ihren Eisen aufbrach. Das Letzte, was er von ihr sah, war, wie sie mit wehender Mähne über den Koppelzaun setzte und auf das offene Moor zurannte. Ohnmächtig vor Frust starrte er ihr nach, bis ihre Silhouette an der feinen Linie zwischen Dämmerlicht und Dunkelheit entschwand wie der vergangene Tag. Mit Ingrimm schmetterte er seine Mütze zu Boden und verwünschte die Stunde, an der er bei der Auktion in Uist gutes Geld für ein unbrauchbares Pony verschwendet hatte. Er kam sich vor wie Sisyphos, dem zur Strafe Unmögliches auferlegt worden war. Je verzweifelter er versuchte, ihr nahe zu kommen, umso mehr entfernte sie sich. Sie war ein Streuner. Ihr Drang nach Ungebundenheit war stärker als der Wunsch, eine Bindung einzugehen. Sie würde immer wegrennen. Mochte sie sich da draußen in den Felsspalten und den Kaninchenhöhlen doch sämtliche Knochen brechen.

Er packte den Korken der Whiskyflasche mit den Zähnen und zog ihn heraus. Mit halb geschlossenen Augen legte er den Kopf in den Nacken und ließ mehrere Schlucke seine Kehle hinabrinnen. Dann steckte er den Whisky zurück in die ausgefranste Tasche der Jacke. Sein Blick glitt durch die einsetzende Dämmerung zu Ailsas Haus hinüber. Noch immer nichts. Der Wagen der Jenners stand einsam in der Hofeinfahrt.

Blair sog scharf die Luft ein. Sie gehörte ihm. Ihm und niemand anderem. Auch wenn sie das nicht begreifen wollte. Es war Bestimmung. Er würde nicht aufgeben, bis sie das endlich akzeptierte. Mit beherrschten Schritten ging er zum Stall und holte seine Taschenlampe und ein Lasso. Es versprach eine lange Nacht zu werden, aber er würde ihre Spur verfolgen. Bis er sie gefunden und eingefangen hatte. Dann würde er sie nach Hause bringen.

 

Die Pentland Road war eine Errungenschaft aus den Hochzeiten der Heringsfischerei in den Zwanzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts. Ursprünglich als Eisenbahnstrecke zwischen dem Hafen Carloway und der Hauptstadt Stornoway geplant, schnitt die Pentland Road eine asphaltierte Trasse quer durch hügeliges Brachland. Ailsa lenkte den Wagen mitten durch das Moor. Mit Schaudern erinnerte sie sich daran, wie gespenstisch die Pentland Road bei Nebel sein konnte. Geschichten kamen ihr in den Sinn, von Feen und Geistern, von Glaistigs und Wasserpferden. Die Gegend galt als Tor zur Anderswelt. Als Ailsa ihren Wagen durch die einsetzende Dämmerung lenkte, beschlich sie das Gefühl, sich entlang unbekannter Dimensionen von Raum und Zeit zu bewegen. Es gab keine Punkte, an denen man sich hätte orientieren können. Jede verflixte Erhebung, jeder Felsbrocken am Weg sah aus wie der andere. Sie biss auf ihre Unterlippe. Himmel, so weit konnte es doch unmöglich sein, oder? Sie hatte die Pentland Road kürzer in Erinnerung.

Endlich glimmte in der Ferne der blasse gelbliche Schein der beleuchteten Häuser auf. Als am Ende der Straße Breasclete und die Zivilisation näher rückten, blies sie die Luft durch die geschürzten Lippen. Von hier aus war es nicht mehr weit nach Hause. Sie bog in den mit Schlaglöchern durchsetzten Schotterweg ein, der sich quer durch die Hügel zum Atlantik hin schlängelte. Auf der Anhöhe vor dem Ende der Sackgasse hielt sie den Renault an und stieg aus. Die Straße verlief über einen Hügel, genannt Cnoc a’ Charnain. Scharfkantige Gneisbrocken durchbrachen den mit Sauergras bewachsenen, steil ansteigenden Hang. Das morsche Holz eines Schafszauns ragte in den Himmel. Es sah aus, als hätte jemand Zahnstocher über der kargen Landschaft ausgeschüttet. Der Wind fuhr von unten in ihr Polohemd, Ailsa schlang schützend die Arme um ihren Körper. Der vertraute Geruch von Torffeuer lag in der Luft. Es roch nach Heimat und Geborgenheit. Geheimnisvoll glitzerte das dunkelbaue Wasser des Loch Shiadair in der Abendsonne. Dahinter, am Horizont, glitten die Hügel sanft auf die blauen Berge von Harris zu. Zu ihrer Linken, von einer Handvoll schief gewachsener Eschen verdeckt, leuchtete ihr das weiß getünchte Haus ihrer Mutter entgegen, umgeben von ehemals bewirtschaftetem Land. Sattgrüne Lazy Beds – aufgegebene Faulbeete – liefen hügelabwärts auf den Loch zu. Das Gras in den Furchen dazwischen war ein ganzes Stück dunkler, sodass es aussah, als hätte ein Kind mit der Schere Längsstreifen in grünen Filz geschnitten. Das Haus selbst war noch genau so, wie sie es in Erinnerung hatte. Ein ebenerdiger, lang gezogener Schuhkarton mit spitz aufragenden Giebeln und Kaminen an den Enden. Dazu ein Schieferdach mit ausgebauter Fensterfront, was ein ungewöhnlicher Baustil für die Insel war. Ein Lächeln kräuselte Ailsas Lippen. Auf die Entfernung wirkte es, als hätte man mit dem Cutter eine Lasche in den Deckel des Kartons geschnitten und hochgeklappt. Ihr Vater hatte, wie so oft, mit einfachen Mitteln das Beste aus dem gemacht, was zur Verfügung gestanden hatte.

Ursprünglich hatte das Haus Ailsas Großeltern gehört. Es war eines jener Whitehouses, die Anfang des letzten Jahrhunderts die dunklen, fensterlosen Blackhouses abgelöst hatten. Die meisten Whitehouses hatte man inzwischen wieder aufgegeben. Im Vergleich zu ihren dickwandigen Vorgängern waren sie für das harsche Wetter nur ungenügend geeignet. Sie waren feucht und ungemütlich. Ailsas Familie hatte den Sprung in ein komfortableres Leben leider nie geschafft. Als die Croft, das kleine Inselgehöft, endlich genug abgeworfen hatte, um einen Neubau zu verkraften, war Artair im Alter von dreiundvierzig Jahren bei einem Bootsunglück ums Leben gekommen. Sein Tod hatte die damals vierzehnjährige Ailsa schwer getroffen. Ihre Welt war vollkommen aus den Fugen geraten. Dabei war es Artair gewesen, der ihr eingeimpft hatte, Schläge des Schicksals mit größtmöglicher Gelassenheit zu ertragen. Ausgerechnet … Bittere Ironie, dass ihn kein anderer als das Schicksal selbst vernichtet hatte. Ob er da draußen, auf dem tosenden Atlantik, dem nahenden Tod ebenso fatalistisch ins Auge hatte blicken können? Aufgewühlt von den Erinnerungen, die wie eine Flutwelle über sie hereinbrachen, löste sich Ailsa aus ihren Betrachtungen. Sie wandte den Blick nach vorne auf die Straße, an deren Ende, einen Steinwurf von ihrem eigenen Haus entfernt, die Croft der Galbraiths lag.

Die Pferdezucht, welche Blair Galbraith neben der Schafzucht betrieb, schien Gewinn abzuwerfen. Sie freute sich ehrlich für Blair. Es war nicht immer einfach für ihn gewesen, aber zusammen mit Marsaili, seiner Frau, hatte er es zu etwas gebracht. Ailsas Blick glitt über den einstöckigen, weiß getünchten Neubau, der sich direkt neben dem aufgegebenen Whitehouse erstreckte. Bei ihrem letzten Besuch vor sechs Jahren zum Begräbnis ihrer Mutter hatte gerade mal der Rohbau gestanden. Nun flatterte Wäsche vor einer großzügigen Fensterfront. Blumenkübel mit leuchtend roten Fuchsien säumten den Eingang. Die halb verfallenen, aus Betonstein errichteten Stallungen waren verschwunden. An ihrer Stelle stand nun ein moderner Offenstall. Vor dem grünen Wellblech, zwischen den beiden Eingangstoren, lag ein schwarz-weißer Border Collie. Sein Atem ging hechelnd.

Ailsa strich sich das wehende Haar aus der Stirn. Sie nahm sich vor, Blair gleich morgen nach dem Aufstehen einen Besuch abzustatten. Sie konnte es immer noch nicht fassen, dass sie seinetwegen alles liegen und stehen gelassen und den weiten Weg von Toronto auf sich genommen hatte. Als Kinder hatte Ailsa und Blair eine innige Freundschaft verbunden. Sie waren wie Geschwister aufgewachsen. Ailsa konnte sich nicht erinnern, auch nur einen Tag ihrer Kindheit ohne Blair verbracht zu haben. Später waren die Dinge zwischen ihnen komplizierter geworden. Vor allem seit Grayson St John in den Sommermonaten mit seiner Familie auf der Insel geweilt hatte. Aus dem eingeschworenen Duo war ein dreiblättriges Kleeblatt geworden, das aber mit der Zeit begonnen hatte, Risse in den Blättern aufzuweisen. Ihre Gedanken schweiften zu dem letzten Sommer auf der Insel. Damals war sie wahnsinnig verknallt in Grayson gewesen. Doch Grayson, der bei allen anderen Themen munter mitdiskutierte, wurde schweigsam, wenn es um Gefühle ging. Also war sie auf die idiotische Idee gekommen, ihn mit Blair eifersüchtig zu machen, um das, was sie hören wollte, aus ihm herauszulocken. Tagsüber machte sie Blair schöne Augen. Nachts träumte sie davon, dass Grayson sie küsste. Wie schrecklich unreif ihr das Verhalten von damals erschien. Wie jung sie alle gewesen waren. Jung und im Überschwang der Hormone. Die Mondwende hatte ein Übriges dazu beigetragen, ihren Verstand außer Gefecht zu setzen. Irgendwie waren alle völlig durch den Wind gewesen. Hieß es in den alten Geschichten nicht, dass man in jener Nacht an den Steinen der einzig wahren Liebe begegnete? Sie hatte so fest daran geglaubt. Es hatte ihr fast das Herz gebrochen, als Grayson am Tag nach der Mondwende die Insel verlassen hatte. Ohne Abschied, ohne Erklärung. Ailsas Brust wurde eng. Eine leise Wehmut schlich sich in ihr Herz. Was mochte wohl aus Grayson in all den Jahren geworden sein?

Die Natur schien ihre Stimmung zu reflektieren, denn plötzlich verdüsterte sich das Licht. Nieselregen fiel wie ein feiner Schleier aus einem trostlosen Himmel. Der Gedanke, dass Ceòl na Mara mit all seinen Erinnerungen an Grayson nur zehn Minuten mit dem Fahrrad entfernt von ihrer Croft lag, jagte ihr einen Schauer über den Rücken. Das imposante Anwesen befand sich seit Urzeiten im Besitz der St Johns, einer adeligen englischen Familie. Auf einer Landzunge, direkt an dem zum Atlantik hin offenen East Loch Roag gelegen, diente es der in London ansässigen Familie als Sommersitz. Mittlerweile musste der alte Lord St John in die Jahre gekommen sein. Es war fraglich, ob das Anwesen überhaupt noch genutzt wurde. Es sei denn, Grayson oder dessen Bruder hatten es übernommen. Aber da hegte Ailsa ihre Zweifel.

Noch während sie sinnierte, was aus den St Johns geworden sein mochte, bewegte sich etwas auf der Croft. Sie reckte den Kopf. Der alte Mr Jenner schlurfte, einen Karton unter dem Arm, über den Hof. Er legte die Schachtel auf den Rücksitz seines Autos und ging durch die Hintertür zurück in die Küche. Ailsas Herz krampfte sich zusammen. Das letzte Mal war sie zu Kaitlins Beerdigung im Haus gewesen … Diese Zeit erschien ihr im Nachhinein so surreal, als wäre sie durch die nebelhaften Fetzen eines Traumes gefallen. Sie konnte sich nur bruchstückhaft an ihren letzten Aufenthalt erinnern. Eine Schutzreaktion ihres Körpers, um eine Wahrheit zu verdrängen, die zu hässlich war, um sie zu ertragen.

Die Wahrheit, dass sie ihre Mutter im Stich gelassen hatte, als diese sie so nötig gebraucht hatte.

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Kapitel 3

Grayson St John steckte ganz schön tief im Dreck. Den kräftigen Oberkörper nach vorne gebeugt, stand er bis über die Knöchel im Morast und durchfurchte mit bloßen Händen die schwere Erde. Er hatte den Montagmorgen damit verbracht, über der Buchhaltung zu brüten. Jetzt brauchte er dringend körperliche Betätigung, um seinen Frust abzubauen. Das Ergebnis der Auswertungen war ernüchternd. Vor zwei Jahren war er auf die Insel zurückgekehrt, um Ceòl na Mara von seinem Vater zu übernehmen. Seitdem hatte er jeden Penny und jede Minute seiner Arbeitskraft in das Unternehmen investiert. Er hatte das Herrenhaus zu einem exklusiven Hotel umgebaut, nebst Pub und mit einer Küche, die regen Zuspruch fand. Doch es ging ihm um weit mehr als um ein gut gehendes Restaurant. Sein Traum war es, mit Cianalas Lodge – so hatte er das Haus nach reiflicher Überlegung zur Neueröffnung benannt – ein gemeinschaftliches Projekt zu schaffen. Eine Art Kooperative, eine Genossenschaft, die den Anwohnern der umliegenden Dörfer eine selbstständige Existenz durch ein geregeltes Einkommen garantierte und sie aus alten Abhängigkeiten, unter denen die Insel lange genug gelitten hatte, entließ. Seine Vision war ambitioniert und vielleicht eine Spur zu optimistisch, aber er glaubte fest daran, dass sie Wirklichkeit werden konnte. Teilweise begannen seine Anstrengungen, Früchte zu tragen. Bis zur großen Mondwende in wenigen Wochen war das Haus bis unters Dach voll mit zahlenden Gästen. Das Ereignis bei den Steinen von Callanish fand nur alle achtzehn Jahre statt und zog Besucher aus aller Welt an. Danach allerdings sah es mit den Buchungen erschreckend mager aus. Grayson musste sich dringend etwas einfallen lassen, um seiner selbst auferlegten Verpflichtung nachzukommen und keinen der Mitarbeiter ohne Einkommen dastehen zu lassen. Natürlich wäre es möglich, die Arbeiten kurzzeitig auf ein Mindestmaß zurückzufahren, aber dies zog er allenfalls theoretisch als Möglichkeit in Betracht. Praktisch kam es nicht infrage. Er durfte die Menschen hier nicht enttäuschen. Nicht jetzt, wo sie anfingen, ihm zu vertrauen. Dafür hatte er zu hart gegen ihre anfängliche Skepsis ankämpfen müssen. Jetzt war er nicht gewillt, einen Rückschlag hinzunehmen. Nicht einmal, wenn er dafür die Kröte schlucken und das Haus für überkandidelte Earls öffnen müsste, die sich selbst zelebrierten, indem sie einen Hirsch auf seinen Ländereien erlegten. Ein Gedanke, der ihm aus verschiedenen Gründen zuwider war, aber eine andere Lösung fiel ihm derzeit nicht ein.

Er holte tief Luft und packte den groben Steinbrocken zu seinen Füßen. Ein belustigtes Kichern ließ ihn innehalten. »Es gehört sich ja nicht unbedingt, so etwas zu seinem Chef zu sagen. Aber weißt du, dass es wirklich umwerfend aussieht, wie du mit verschwitztem T-Shirt hier mitten im Matsch stehst?«