Sehnsucht nach St. Kilda - Isabel Morland - E-Book
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Sehnsucht nach St. Kilda E-Book

Isabel Morland

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Beschreibung

Heimat am Ende der Welt: Eine große Liebe und die bewegende Geschichte der Hebriden-Insel St. Kilda Als die 83-jährige Annie McViccar am Strand einen Sluagh sieht – einen Vogelschwarm, der nach altem Glauben aus den Seelen Verstorbener besteht –, weiß sie, dass es an der Zeit ist, einen Schwur einzulösen. Denn vor beinahe 80 Jahren – am Tag der Evakuierung St. Kildas, als sie ihre Heimat für immer verlassen mussten – hat sie einem Jungen ein Versprechen gegeben … Wenig später erreicht Annie eine Nachricht ihrer Enkelin Rachel: Nach drei schweren Schicksalsschlägen bittet Rachel darum, mit ihrem Sohn Sam zu Annie ziehen zu dürfen. Sam ist fasziniert von seiner Urgroßmutter und will alles über das Leben auf St. Kilda wissen. Für Rachel dagegen ist die Insel nur ein abweisender Fels im Meer, der nur noch von Vögeln bewohnt wird. Bis Annie ihr für einige Wochen einen Job bei der Verwaltung St. Kildas besorgt. Zusammen mit einigen Helfern soll Rachel für den National Trust Gebäude instandsetzen. Nach und nach nehmen die schroffe Schönheit der Insel und ihre bewegende Geschichte Rachels Herz gefangen. Und sie ist nicht die Einzige, die in den hellen Nächten keinen Schlaf findet und dem Lied St. Kildas lauscht: Da ist auch noch der weltbekannte Fotograf Ailic, der hinter seiner Maske einen tiefen Schmerz verbirgt … »Sehnsucht nach St. Kilda« ist nach »Die Rückkehr der Wale« und »Der Herzschlag der Steine« der dritte Hebriden-Roman von Isabel Morland. Mit großen Liebes-Geschichten, überwältigend schönen Schauplätzen und einem Hauch Mystik sorgt die Autorin für wunderschöne Lesestunden.

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Isabel Morland

Sehnsucht nach St. Kilda

Roman

Knaur e-books

Über dieses Buch

Eine Liebe, die Jahrzehnte überdauert, und die bewegende Geschichte der letzten Bewohner von St. Kilda

 

St. Kilda, 1930. Nach einem harten Winter stehen die letzten Bewohner der einsamsten und abgelegensten Insel in Großbritannien vor einer dramatischen Entscheidung. Noch ahnt die kleine Annie nicht, dass die Welt, wie sie sie kennt, für immer verschwinden wird.

Viele Jahrzehnte später betritt Annies Enkelin Rachel das erste Mal die Insel, die einst die Heimat ihrer Großmutter war. Eigentlich hatte sie ihren schottischen Wurzeln für immer abgeschworen, doch ihre finanzielle Situation als alleinerziehende Mutter eines kleinen Jungen zwingt sie dazu, sich neu zu orientieren – ein Schritt, der ihr Leben verändern wird …

Inhaltsübersicht

WidmungMottoKarteProlog1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. Kapitel12. Kapitel13. Kapitel14. Kapitel15. Kapitel16. Kapitel17. Kapitel18. Kapitel19. Kapitel20. Kapitel21. Kapitel22. Kapitel23. Kapitel24. Kapitel25. Kapitel26. Kapitel27. Kapitel28. Kapitel29. Kapitel30. Kapitel31. Kapitel32. Kapitel33. Kapitel34. Kapitel35. Kapitel36. Kapitel37. Kapitel38. Kapitel39. Kapitel40. KapitelBibliografieNachwortNachbemerkungDanksagung
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In Gedanken an jene Juninacht,

als das Boot mich zurückbrachte

und St. Kilda im Glanz der untergehenden Sonne

auf mich wartete.

 

 

 

 

 

 

 

 

… in ein Land, in dem Milch und Honig fließen …

Exodus, 3,8

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We stand,

Almost surrounded by sea,

As waves slide across rocks

Around us

And shorewards to sand.

Each rise, silvered by sun,

Seems to sing

An ageless song of friendship

As they bring the boat

That takes us home.

 

Katharine Macfarlane

 

 

 

Da stehen wir,

fast ganz vom Meer umgeben,

die Wellen gleiten über die Felsen

um uns her

und küstenwärts über den Sand.

Die Brandung, in silbernes Licht getaucht,

klingt wie ein zeitloses Lied von Freundschaft,

als das Boot kommt,

das uns nach Hause bringt.

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Prolog

Hirta, Archipel St. Kilda, Schottland 29. August 1930

An dem Tag, an dem die Welt der kleinen Annie McViccar zerbrach, schien die Sonne von einem wolkenlosen Himmel. Sie lag bäuchlings auf dem Sauergras, den Hals nach vorne gereckt, sodass der Kopf mit den geflochtenen Zöpfen über den Abgrund ragte. Unter ihr donnerten die Brecher gegen den Granit der Felsen. Gischtnebel trieben in der Luft. Annie hob den Blick und versuchte, eine Küstenlinie auszumachen, aber von der schönen neuen Welt, die da draußen angeblich auf sie wartete, war in der Endlosigkeit der Blautöne nichts zu sehen. Annie war es nur recht. Sie hatte keine Lust auf den Ausflug. Dies hier war die Welt, die sie kannte, und sie war gut. Warum wollten auf einmal alle auf das Festland fahren? Die meisten von ihnen hatten noch nie zuvor eine Reise gemacht. Kopfschüttelnd sog sie die Backen ein und sammelte Spucke in ihrem Mund. Dann spitzte sie die Lippen und zielte. Mit Genugtuung stellte sie fest, dass sie es geschafft hatte, einen der Basstölpel zu treffen, die in den zerklüfteten Klippen nisteten. Das große Abenteuer konnte ihr gestohlen bleiben. Ihre Mutter hatte erzählt, dass da draußen jede Menge wunderbare Dinge auf sie warteten: Blechkisten, die sich wie von Zauberhand auf Rädern bewegten, oder Bäume, die höher waren als die Menschen. Annie schüttelte den Kopf. Allein die Vorstellung war albern. Die höchsten Gewächse, die sie kannte, waren Kohlköpfe, und die gingen ihr noch nicht einmal bis zu den Knien. Es gab nur eine Erklärung: Ihre Mutter log. Und als Annie das verstanden hatte, hatte sie begonnen, Geheimnisse und Abenteuer zu hassen.

Ihre nackten Zehen bohrten sich in die Grasnelkenbüschel. Sie hob den Oberkörper, sodass Kopf und Schultern frei in der Luft schwebten, und breitete die Arme zur Seite. Der Geruch von Guano stieg in ihre Nase, aber er störte sie nicht. Daran war sie gewöhnt. An Bäume nicht. Die waren ihr unheimlich. Das Kreischen der Basstölpel erfüllte die Luft. Flügelrauschend umkreisten sie die Klippen, ein lärmendes, ineinander verzahntes Getriebe. Auf ein unsichtbares Kommando hin erhoben sie sich von ihren Nistplätzen in den Felsen, flogen in weiten Kreisen auf das offene Meer hinaus und kehrten zurück, während wieder andere Vögel sich in die Lüfte erhoben. Annie schloss die Augen und gab sich dem Sog hin. Mühelos erhob sie sich im Geiste mit den Basstölpeln in die Lüfte und ließ sich vom Wind aufs offene Meer tragen. Ein Schwarm schillernder Fischleiber zog unter der Wasseroberfläche auf die Küste zu. Sie legte die Flügel an und schoss wie ein Pfeil auf die Wellen zu. Ihr Körper zitterte vor Erregung, als sie die salzige, hoch aufspritzende Gischt schmeckte … In diesem Moment hörte sie, wie Finlay ihren Namen rief. Sie schlug die Augen auf, zog die Knie an und ließ sich rückwärts ins Gras fallen.

»Wo steckst du nur?« Keuchend blieb er neben ihr stehen, sein Körper verdeckte die Sonne. »Das Schiff legt gleich ab. Wir müssen los.«

»Ich komm ja schon«, sagte sie und blieb sitzen. Mit zusammengekniffenen Augen musterte sie Finlay. Er war zwei Jahre älter als sie und ihr bester Freund. Finlay kannte wunderbare Spiele und konnte sich herrliche Geschichten ausdenken. Annie bewunderte ihn dafür. Doch warum auch Finlay so versessen darauf war, zum Festland zu fahren, wollte ihr beim besten Willen nicht in den Kopf.

Finlay ließ sich neben ihr ins Gras fallen. Er schlang die Arme um die Knie. »Es wird bestimmt schön. Du hast gehört, was die Erwachsenen sagen. Wir können uns die Bäuche mal so richtig vollschlagen.«

Annie zuckte die Schultern. »Wenn ich zu viel esse, wird mir übel.«

Sie senkte den Blick. Bei dem Gedanken daran, auf ein Schiff zu steigen, die schützende Bucht zu verlassen und auf den tosenden Atlantik hinauszufahren, hin zu der schmalen Linie, die irgendwo in der Ferne Luft und Wasser voneinander schied, hätte sie losheulen können. Aber wenn sie das täte, würde Finlay ihr vorwerfen, sie sei ein Baby. Dabei war sie schon acht. Also presste sie die Lippen zusammen und schwieg.

»Wenn es uns nicht gefällt, fahren wir eben wieder zurück«, sagte Finlay. Er zog ein Messer aus seiner Tasche und pulte in aller Gemütsruhe damit das Schwarze unter seinen Fingernägeln hervor. Für ihn schien alles ganz einfach zu sein.

Annie blinzelte. »Meinst du, das geht?«

»Klar. Jetzt komm. Wir müssen los.«

»Nein!« Annie runzelte die Stirn. »Erst musst du es schwören. Einen richtigen Eid. Bis in den Tod.« Das klang beeindruckend, obwohl sie nicht genau wusste, was das war. Aber das musste sie Finlay ja nicht auf die Nase binden.

»Na schön.« Finlay nahm ein Taschentuch und wischte das Messer daran ab. »Streck deine Hand aus.«

»Warum?«, fragte Annie, ihr wurde flau im Magen. Allmählich wünschte sie, sie hätte das mit dem Eid nicht gesagt. Aber nun war es zu spät. Sie konnte keinen Rückzieher mehr machen, ohne wie ein Feigling dazustehen.

»Zu einem Eid bis in den Tod gehört Blut. Und ’ne Opfergabe.« Er kramte eine rostige Blechschachtel aus der Hose hervor, in der einmal Bonbons gewesen waren. Annie betrachtete nachdenklich die Dose. Das mit dem Opfer leuchtete ihr ein. Sie hatte schon öfter gesehen, wie die Frauen drüben in Glen Bay Milch in einen alten, hohlen Stein gossen, damit die Ernte gut wurde. Aber was wollte Finlay mit einer leeren Bonbondose?

Er fing ihren fragenden Blick auf. »Wir brauchen etwas, das wir hineinlegen können«, sagte er. »Such in deinen Taschen.«

Unten in der Bucht ertönte die Schiffssirene. Annie wühlte in den Schößen ihres Rocks und zog den kleinen hölzernen Vogel hervor, den Finlay ihr im letzten Winter geschnitzt hatte. Mit demselben Messer, das er jetzt in der Hand hielt. »Hier.« Sie legte den Vogel in die Blechdose und verbarg die Hand hinter ihrem Rücken.

»Nun mach schon. Gib mir die Hand«, forderte er sie auf.

»Ich will nicht.«

»Ist doch nur ein kleiner Ritz. Los jetzt.«

Sie wollte den Arm ausstrecken, aber er war auf einmal schwer wie Blei. Kurzerhand packte Finlay ihre Hand und drehte den Daumen nach oben. Bevor sie begriff, was er tat, war es vorbei. Danach setzte er das Messer an seinem eigenen Finger an.

»Au …«, sagte sie, mehr aus Empörung, denn richtig weh hatte es nicht getan.

Finlay machte ein feierliches Gesicht. »Ich schwöre bis in den Tod, dass wir nach Hause zurückkehren, wenn es uns auf dem Festland nicht gefällt, so es Gottes Wille ist«, sagte er, dann drückte er einen Tropfen Blut auf den geschnitzten Vogel. Das Holz färbte sich dunkelbraun an der Stelle. »Jetzt du.«

»Ich schwöre es auch«, beteuerte sie und drückte ebenfalls Blut aus ihrem Finger auf das Holz. »Bis in den Tod. So es Gottes Wille ist.«

Finlay legte die Figur in die Schachtel und schloss den Deckel. »Jetzt zufrieden?«

»Ja. Was ist mit der Dose?«

»Das ist unser Faustpfand. Wir müssen sie hierlassen. In einem Versteck.«

»Die Dose ist unser Schatz?«, fragte Annie. Sie hasste es, wenn Finlay Wörter benutzte, die sie nicht verstand.

»Nein, aber … ach, was soll’s, ich erkläre es dir später.« Er deutete in Richtung Bucht. Unten auf der Dorfstraße liefen Menschen hin und her, beladen mit Körben und allem möglichen Gepäck. »Geh schon mal vor. Ich komme nach. Wir werden gleich evakuiert.«

Sie sah ihm hinterher, wie er hügelaufwärts in Richtung des großen Bergs davonlief. Evakuiert, noch ein Wort, von dem sie nicht wusste, was es bedeutete. Die Erwachsenen benutzten es ständig. Sie mochte den Klang nicht. Es hörte sich so spitz an, wie die Nadel der Spritze, die die Krankenschwester der Insel, Schwester Alden, vewendete, wenn es jemandem nicht gut ging. Annie unterdrückte den Impuls, Finlay hinterherzurennen und ihn zu fragen, was evakuiert zu bedeuten hatte, und machte sich auf den Weg hinunter ins Dorf.

***

Wenig später war es so weit. Die Schiffssirene ertönte. Annie konnte kaum still stehen. Die allgemeine Aufregung hatte auch sie erfasst. Gemeinsam mit den anderen war sie vor wenigen Minuten an Bord der HMS Harebell gegangen. Der Kapitän hatte einen dicken Backenbart und war sehr freundlich. Er hatte alle mit Handschlag begrüßt, sogar die Kinder. Kichernd rannte Annie mit Finlay auf dem Deck umher und spielte Fangen. Doch dann, als der Anker gelichtet wurde und das Schiff zu stampfen und zu poltern begann, blieb ihr das Lachen im Hals stecken. Das Brummen der Maschinen drang bis in ihren Bauch. Sie hatte so etwas noch nie erlebt. Es klang, als wäre ein gefährliches Tier aus dem Schlaf erwacht. So schnell sie konnte, lief sie zu ihrer Mutter und drückte das Gesicht in die flatternden Rockschöße. Nach einer Weile, als sie bemerkte, dass nichts Schlimmes passierte, hob sie den Blick und sah quer über die Bucht. Die Häuser entlang der Main Street wurden kleiner und kleiner, bis sie aussahen wie Spielzeugklötzchen. Ihre Mutter hatte den roten Schal abgenommen und winkte damit, den Blick wie gefesselt auf die leere Dorfstraße gerichtet. Einige Frauen schluchzten.

Annie fragte sich, warum. Sie dachte an das Schälchen mit Weizenkörnern, das die Mutter vor der Abfahrt auf den Küchentisch gestellt hatte, daneben die Bibel, aufgeschlagen bei Exodus. Mit ihrer schönen, singenden Stimme hatte sie daraus den Vers gelesen über das Land, in dem Milch und Honig flossen. Dorthin waren sie nun unterwegs. Vor der Abfahrt hatten sich alle darauf gefreut. Doch nun flossen Tränen. Annies Blick glitt über Village Bay. Sie suchte nach einer Erklärung für die Traurigkeit um sie herum, aber sosehr sie sich bemühte, sie konnte nichts Ungewöhnliches entdecken. Inzwischen waren Wolken aufgezogen. Ihre Schatten zogen im raschen Wechsel über die Hänge und das Dorf hinweg. Das Gekreische der Seevögel erfüllte die Luft. In der Bucht rollten die Brecher heran. Alles war wie immer, abgesehen davon, dass die Hunde nicht am Anleger standen und bellten. Und dass nur noch wenige Schafe in den Hügeln grasten. Auch heute stiegen aus den Kaminen der Häuser Rauchschwaden in den Himmel. Der Anblick beruhigte sie. Die Feuer im Herd waren noch nie ausgegangen. Dass sie auch heute brannten, glich einem stummen Versprechen. Es bedeutete, dass sie alle am Abend wieder zurück wären, um Torf nachzulegen, damit die Glut nicht erlosch. So wie immer. Warum also weinten die Frauen?

Stampfend verließ die HMS Harebell das schützende Hufeisen von Village Bay. Annie sah die Insel zum ersten Mal vom Wasser aus, umgeben von schroff aus dem Meer ragenden Felsen. Sie umrundeten Oiseval, den Berg im Osten, Heimat der Eissturmvögel und der Sturmschwalben, und steuerten auf den offenen Atlantik zu. Die graue Festung im Meer glitt zurück. Sturmvögel und Papageientaucher umschwärmten das Boot. Annie deutete lachend in die Luft. Doch die Augen der Erwachsenen blieben fest auf den winzigen Punkt im stahlgrauen Atlantik geheftet.

Dann war es vorbei.

Seenebel senkte sich über die Schultern der Berge. St. Kilda verschwand, als hätte es nie existiert.

Auf einmal lief ihr ein unangenehmer Schauer über den Rücken. Sie schüttelte das mulmige Gefühl ab und hüpfte auf einem Bein zu Finlay hinüber. Ihr Blick fiel auf eine der Frauen, die mit rot geweinten Augen neben einem Spinnrad stand. Annie verstand nicht, warum diese ganzen Dinge mit auf den Ausflug mussten. Stolz darauf, es besser gemacht zu haben, baute sie sich vor Finlay auf.

»Ich habe mein Strickzeug im Haus gelassen«, sagte sie, um vor ihm zu glänzen.

»Warum?« Finlay verzog das Gesicht. Seine Begeisterung blieb aus.

Annie pustete sich eine Strähne aus der Stirn »Ich mache heute Abend mit dem Strumpf weiter. Wenn wir zurück sind.«

Er verdrehte die Augen und seufzte. »Du kapierst es nicht.«

Annie schnitt ihm eine Grimasse. Dann machte sie auf dem Absatz kehrt und hüpfte auf dem anderen Bein zu ihrer Mutter zurück. Natürlich kapierte sie, was das alles bedeutete. Sie wollte es nur nicht laut sagen.

Evakuierung war der Name für das Spiel, das die Erwachsenen sich ausgedacht hatten. Alles andere war unvorstellbar.

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1

London, 2005

Das Mädchen vor ihr auf der Rolltreppe hielt einen Werbeprospekt des Disney Stores in der Hand und bemerkte nicht, dass sie im Weg stand. Rachel Morrisson tippte der Mutter der Kleinen, einer hochgewachsenen Blonden in Jeans und Stöckelschuhen, auf die Schulter. Die Frau wirbelte herum. Eine Wolke teuren Parfüms schwebte durch die muffige Luft der Londoner Subway.

»Mach Platz, Lisa. Die Dame hier möchte durch.« Sie zog die Kleine zur Seite und lächelte entschuldigend. »Das Set mit den Prinzessinnen-Spielfiguren ist da. Sie redet seit heute Morgen von nichts anderem.«

Rachel zwinkerte der Kleinen zu und schob sich vorsichtig an ihr vorbei, dabei fiel ihr Blick auf den Prospekt. Sam, ihr sieben Jahre alter Sohn, wünschte sich schon ewig die Actionfigur von Buzz Lightyear, aber bei ihrem schmalen Budget waren Geschenke unter dem Jahr nicht drin. Das Leben in London war teuer. Rachel musste mit drei Jobs jonglieren, um über die Runden zu kommen. Dabei blieb die Zeit mit Sam auf der Strecke. Meist war es die Studentin von nebenan, die Sam abends vorlas und ihn ins Bett brachte. Sie schob das schlechte Gewissen beiseite, das sie sich mit dem Heer alleinerziehender Mütter teilte, die täglich aus den Vororten in die City pendelten. Wenn alles gut lief, würde es demnächst leichter für sie beide.

Der Plan lautete: siebenhundert Sommerkleider bis Monatsende. Oder anders gerechnet: Rachel würde im Schnitt pro Tag fünfzig Kleider verkaufen und damit Avery Gordon, der Store-Managerin bei Character!, beweisen, dass sie das Zeug zur stellvertretenden Leiterin hatte. Seit zwei Jahren arbeitete sie unter Averys Fuchtel als Verkäuferin in Teilzeit. Im Bewerbungsgespräch hatte Rachel durch ihre natürliche Freundlichkeit beeindruckt. Zudem hatte es geheißen, dass sie mit den langen braunen Haaren und der schlanken Figur vom Typ perfekt zu der lässigen, modernen Linie von Character! passe. Sie selbst fand sich nur durchschnittlich attraktiv, aber Avery war von ihrem Look begeistert gewesen. Natürlich hatte sie Avery damals nicht verraten, dass sie es sich nicht leisten konnte, Geld für Mode auszugeben. Die übergroße, mit Schaffell versetzte Lederjacke hatte ihrem verstorbenen Ehemann Josh gehört. Das weiße Hoodie und die Baggyjeans stammten aus einem Secondhandshop. In ihrer Zeit an der Schauspielschule hatte Rachel ein Faible dafür entwickelt, Stücke zu kombinieren, die auf den ersten Blick nicht zusammenpassten. Mit diesem Talent konnte sie punkten, auch wenn ihre Karriere als Schauspielerin im Sand verlaufen war.

Obwohl es ursprünglich nicht Rachels Traum gewesen war, Mode zu verkaufen, liebte sie ihren Job. Sie entwickelte Freude daran, Menschen zu beraten und ihnen Mut zur Farbe zu machen. So herausfordernd es war, sie schaffte es, für jeden Typ das perfekte Outfit zu finden. Doch eine Schattenseite gab es bei Character!, und das war die Bezahlung. Sie verdiente kaum mehr als die Leute der Putzkolonne, die jeden Morgen die Kehrgeräte durch das Westfield Centre schoben. Um über die Runden zu kommen, war Rachel auf Nebenjobs angewiesen, bei denen sie oft bis in den Abend hinein von zu Hause weg war. Auf Dauer konnte es so nicht weitergehen. Vor einigen Monaten hatte Rachel ihren Mut zusammengenommen und Avery erklärt, dass sie nicht länger für so wenig Geld arbeiten könne. Dafür hatte Avery Verständnis gezeigt und versprochen, Rachel bei der Firmenleitung für eine Beförderung vorzuschlagen, aber bisher war es bei Vertröstungen geblieben.

Rachel sprintete die Rolltreppe hoch. Freitagmittag und Monatsanfang. Die Menschen drängten durch die Gänge von Shepherds Bush. Je mehr Besucher heute zum Shoppen ins Westfield Centre kamen, umso besser standen ihre Chancen, die Verkaufszahlen zu erreichen. Im Vergleich zum Vorjahresmonat lagen sie etwas zurück. Aber es war machbar. Sie musste es schaffen, Sam zuliebe. Er bedeutete ihr alles. Seinetwegen waren sie nach Ilford gezogen, obwohl sie da nicht so günstig lebten wie in der Hochhaussiedlung. Sam hatte es dort gehasst. Die jetzige Mietwohnung war klein, aber sauber. Und der handtuchgroße Garten hinter dem Haus war ein viel sicherer Ort als der Spielplatz neben den Betonbunkern. Dorthin hatte sie ihn sowieso nur in Begleitung gehen lassen, wegen der Junkies, die da herumlungerten. Zum Glück war das vorbei.

Joshs plötzlicher Tod vor sechs Jahren hatte ihr Leben vor eine Herausforderung gestellt. Anfangs hatte sie gemeint, an ihrer Trauer zu ersticken, aber mittlerweile hatte sie sich zurück ins Leben gekämpft. Sie hatte gelernt, stark zu sein. Für Sam, aber auch für Josh, der nicht mehr miterleben konnte, wie sein Sohn sich von einem rotschopfigen Baby in einen prächtigen Jungen verwandelte. Doch das Loch in ihrem Herzen hatte sich nie geschlossen. Sie vermisste Josh, jeden Tag aufs Neue. Ihre Beziehung war etwas Besonderes gewesen. Josh und sie hatten sich auf der Schauspielschule kennengelernt. Während Rachels Bühnenkarriere im Sand verlaufen war, hatte Josh es ins West End geschafft. Sein Traum von einem Leben auf der Bühne erfüllte sich. Das Stück, in dem er spielte, war erfolgreich, die Besucherzahlen seit Jahren stabil. Abend für Abend zog er das Publikum mit seinem Charisma in seinen Bann. Breitschultrig, gut aussehend und mit unglaublichem irischem Charme gesegnet, war er in der Rolle des Schurken der gefeierte Star des Dramas. Doch sosehr Josh den rauschenden Applaus genoss, außerhalb der Vorstellung hatte er nur Augen für Rachel. Dabei küsste er berufsbedingt Frauen, die unglaublich attraktiv waren. Doch für Josh war es Rachel, die den Raum zum Leuchten brachte. Er ermutigte sie immer wieder vorzusprechen. Er tröstete sie, wenn sie wieder einmal zu dünn, zu dick oder zu durchschnittlich gewesen war und ihr jemand die Rolle vor der Nase weggeschnappt hatte. Er zog sie nie damit auf, dass der einzige Schauspieljob, den sie je ergattert hatte, ein TV-Spot für Milchwerbung gewesen war. Ihr Text hatte aus Muhlauten und zwei schwachsinnigen Zeilen bestanden. Ich bin die glückliche Marcydale-Kuh. Meine Milch macht stark und gesund. Josh hatte nie ein Wort darüber verloren, wie lächerlich sie in dem gefleckten Kuh-Kostüm ausgesehen hatte. Im Gegenteil. Er war wahnsinnig stolz darauf, dass sie es bis ins Fernsehen geschafft hatte. Keinen Moment zweifelte er daran, dass für Rachel bald der große Durchbruch käme. Für Josh war alles nur eine Frage der Zeit.

Dabei war es Josh gewesen, dem die Zeit zwischen den Fingern zerronnen war wie Sand in einem Stundenglas. Doch das hatte damals niemand ahnen können.

So sehr war sie in Gedanken mit Vergangenheit und Zukunft beschäftigt, dass sie den Mann auf der Treppe vor ihr nicht bemerkte. Unsanft rempelte sie ihn mit der Schulter an.

»Können Sie nicht aufpassen?« Der Dicke stand auf der Stufe über ihr und starrte mit vorwurfsvollem Blick auf sie herunter. Rachel starrte ungerührt zurück. Sie spürte schäumende Wut in ihrem Bauch aufsteigen. Es war ja kaum ihre Schuld, dass er die Treppe blockierte. Eisig fixierte sie ihn, während er an einem Burger kaute. Im Licht der Neonröhren wirkte sein fettverschmierter Mund, als hätte er Lipgloss aufgetragen.

»Es tut mir leid. Dürfte ich vorbei?« Sie kräuselte die Lippen in der Andeutung eines distanzierten Lächelns.

Er wischte die Finger an einem Papier ab und bewegte sich keinen Millimeter. Missbilligend deutete er auf die Turnschuhe an ihren Füßen. »Hören Sie, Schätzchen, das hier ist eine verdammte Rolltreppe, kein Fitnessgerät. Wenn Sie Bewegung brauchen, fahren Sie mit dem Rad zur Arbeit.«

Sie war schon im Begriff auszusprechen, was ihr auf den Lippen lag, aber dann überlegte sie, dass es nicht der Mühe wert war. Das hier war London. Jeder hatte es eilig. Jeder musste Geld verdienen, und jeder wollte raus aus dem Stress. Jeder war genervt von den bis zum Anschlag ausgelasteten öffentlichen Verkehrsmitteln. Jeder hatte den Lärm, den Smog, die Touristen satt. Jeder war unfreundlich und zugleich aufs Äußerste diszipliniert und geduldig. Jeder passte sich an, und in jedem steckte ein glorreicher Exzentriker. Jeder hatte die Nase voll von der Hektik Londons, und jeder redete davon, in die Cotswolds oder nach Somerset zu ziehen. Dennoch ging kaum jemand.

Rachel beschloss, sich von einer unfreundlichen Bemerkung nicht den Tag verderben zu lassen. Also lächelte sie den Ärger weg und hastete weiter.

Sie trat ins Freie. Ein Luftzug aus den Tiefen des Schachts wirbelte eine orange Plastiktüte über den Asphalt. Vom Vordach des Ausgangs tropfte Mairegen in eine schmutzig graue Pfütze. Ihr Blick fiel auf das Schild der U-Bahn-Station. Shepherds Bush. Sie runzelte die Stirn. Wer hatte sich bloß all die merkwürdigen Namen in London ausgedacht? Seit Shakespeares Zeiten saß an dieser Stelle ganz sicher kein Hirte mehr neben einem Busch und zählte Schafe. Hastig schüttelte sie die Regentropfen aus ihren Haaren und eilte auf das Westfield zu. Noch nie im Leben war ihr ein Job so wichtig gewesen. Noch nie war sie so davon überzeugt gewesen, dass sie es schaffen konnten, Sam und sie.

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2

Fünfzehn Minuten vor Schichtbeginn betrat Rachel den Store. Aus den Lautsprechern ertönten gedämpfte Beats. Ein Hintergrundgeräusch, das sie kaum noch wahrnahm. Gedanklich bereits mit der Umsetzung ihrer Pläne beschäftigt, knöpfte sie ihre Jacke auf und verschaffte sich rasch einen Überblick. Anscheinend war heute bereits die Hölle los gewesen. Der Retoure-Ständer vor den Kabinen quoll über vor Kleidung. Der Tisch mit den reduzierten T-Shirts war ein einziges Chaos. Die neue Aushilfskraft wischte die gläserne Schmuckauslage sauber, anstatt sich um die Kunden zu kümmern. Avery war nirgends zu sehen. Wahrscheinlich war sie im Lager und kontrollierte den Wareneingang. Lila, Rachels Kollegin mit den kurzen, violett gefärbten Haaren, war alleine auf der Verkaufsfläche und bediente zwei Kundinnen gleichzeitig. Als sie Rachel bemerkte, gestikulierte sie wie wild hinter dem Rücken ihrer Kundin. Rachel zuckte die Schultern. Wusste der Himmel, was Lila von ihr wollte. Es würde warten müssen. Zuerst musste sie den Ständer mit einem Schwung neuer Sommerkleider bestücken und gut sichtbar positionieren. Natürlich würde Avery ihr die Zeit vor Schichtbeginn nicht anrechnen, aber das spielte keine Rolle. Sie war gewillt, alles zu geben, um Averys rechte Hand zu werden. Avery predigte immer, dass überdurchschnittliches Engagement sich auszahle. Und obwohl Avery unheimlich karrieregeil war, blieb sie stets fair. Rachel tippte sich mit dem Zeigefinger gegen die Lippen, was ihr beim Nachdenken half, und blickte prüfend zu den Umkleiden hinüber. Vielleicht konnte sie die Cardigans in die Nähe der Kabinen rücken, um weiter vorne Platz für die Kleider zu schaffen.

Der Vorhangstoff von Kabine zwei bewegte sich. Sarah Holloways Gesicht mit den auffallend grünen Augen, der hellen Haut und dem leuchtend roten Pixie-Haarschnitt tauchte auf. Darunter versuchte ihre Hand vergeblich zu verhindern, dass die in Unterwäsche steckenden Teile des Körpers sichtbar wurden. Mrs Holloway zählte zu Rachels Stammkundinnen. Sie war fordernd und vergriff sich oft im Ton, gab aber beinahe jede zweite Woche Geld für ein Outfit bei ihr aus. Dem gestressten Blick nach schien sie einen ihrer Katastrophentage zu haben. Im Klartext bedeutete dies: Sie hatte ein Date und nichts zum Anziehen. Rachel begriff: Das war es, was Lila ihr hatte signalisieren wollen.

»Shells! Oh mein Gott, wie gut, dass Sie da sind!«, rief Mrs Holloway quer durch den Laden. »Sie sind meine Rettung. Bitte schnell …!«

»Bin sofort da«, erwiderte Rachel und verdrängte ihren Ärger darüber, dass Mrs Holloway sie mit ihrem Kosenamen ansprach, als wären sie beste Freundinnen. Unauffällig warf sie einen Blick auf die Uhr. Die Sommerkleider konnte sie vergessen. In diesem Zustand war Mrs Holloway eine tickende Zeitbombe. Mit jeder Sekunde, die sie in der Kabine würde warten müssen, würde ihre Laune unerträglicher. Geschwind warf Rachel ihre Jacke und die Tasche mit den Pumps hinter die Theke. Umkleiden konnte sie sich später, bei Schichtbeginn. Im Gehen streifte sie einen Zopfgummi vom Handgelenk und band ihr Haar zu einem lässigen Dutt. Avery konnte es auf den Tod nicht leiden, wenn man mit offenem Haar bediente.

»Wie kann ich helfen?«, fragte sie, als sie der Kundin gegenüberstand.

»Ich bin verzweifelt.« Mrs Holloways Kopf verschwand in den Tiefen der Umkleide. Es raschelte, dann tauchte sie wieder auf und schob ein geblümtes Cocktailkleid durch den Vorhang. »Das ist doch unmöglich Größe 38! Sehen Sie sich diese Taille an. Die ist ja so schmal wie mein Oberarm. Sind das Kindergrößen?«

Rachel nahm das Kleid und hängte es ordentlich auf den Bügel. »Es sind keine normalen englischen Maße«, versicherte Rachel und hoffte, dass Mrs Holloway ihr das abkaufte. »Der Designer ist bekannt dafür, dass er mit italienischen Models arbeitet. Die sind im Vergleich zu uns Britinnen ja viel schmaler gebaut.«

»So etwas dachte ich mir schon.« Mrs Holloway verzog das Gesicht. »Wo ich doch eher zu Größe 36 als zu 38 tendiere.«

Darauf erwiderte Rachel erst mal nichts. Es hätte der Kundenbeziehung einen Abbruch getan, Mrs Holloway darauf hinzuweisen, dass sie mehr ein Fall für Größe 40 war.

Sarahs Augen nahmen einen flehenden Ausdruck an. »Würden Sie mir das Kleid eine Nummer größer bringen? Oder in einer Zwischengröße?«

»Kein Problem, Mrs Holloway.«

»Sagen Sie doch Sarah zu mir.«

»Gerne doch.« Wie gewohnt schenkte Rachel ihr ein ungezwungenes Lächeln, aber innerlich stöhnte sie auf. Bei Character! legte man Wert darauf, die Kunden freundlich, aber keinesfalls freundschaftlich zu behandeln. Das klang einfach, allerdings nur in der Theorie. Im wahren Leben war es knifflig, eine Linie zwischen persönlich und privat zu ziehen, ohne dass die Kundin sich zurückgewiesen fühlte. So wie im Fall von Sarah Holloway, die Rachel über jedes frustrierende Detail ihrer wechselnden Dates auf dem Laufenden hielt. Für Sarah war Einkaufen wie Therapie. Und jetzt bestand sie darauf, mit Vornamen angesprochen zu werden … Rachel beschloss, das Problem zu umgehen. Am besten, sie verwendete gar keinen Namen mehr. Weder Sarah noch Mrs Holloway.

»Stimmt etwas nicht?«, fragte Sarah/Mrs Holloway, als Rachel dastand und gedankenverloren das Schild mit der Konfektionsgröße betrachtete.

»Aber nein.« Rachel vermied es, Sarah anzusehen, und zupfte einen Fussel von dem geblümten Stoff. »Ich überlege nur … Hat Ihnen Lila schon die neu eingetroffenen Kleider gezeigt?«

»Neue Modelle? Wo?« Interessiert reckte Sarah den Kopf.

»Sie wurden gestern geliefert. Ich wollte sie gerade einsortieren.«

»Wirklich? Das klingt ja fantastisch! Ob da etwas für mich dabei ist?«

»Ich denke schon. Verraten Sie mir, zu welchem Anlass Sie es brauchen?«

»Jake Cockburn«, erklärte Sarah, ihre Augen leuchteten auf. »Der Anlass heißt Jake Cockburn. Er führt mich morgen Abend zum Essen aus. Anschließend gehen wir auf eine Vernissage. Ist das nicht aufregend?«

»Es klingt wunderbar«, sagte Rachel. »Ich verspreche Ihnen, wir finden etwas, das Jake sprachlos machen wird. Im positiven Sinn, natürlich.«

Etliche Kleider später trat Sarah mit einem zufriedenen Lächeln aus der Kabine. »Das hier ist es«, sagte sie und drehte sich vor dem Spiegel, um einen Blick auf den eleganten Rückenausschnitt zu erhaschen.

Rachel atmete auf. Seitdem Sarah sie in Beschlag genommen hatte, war sie kaum zum Luftholen gekommen. Sarah verstand es meisterhaft, einen auf Trab zu halten. Rachel hatte noch immer keine Zeit gefunden, sich im System anzumelden, und arbeitete seit einer halben Stunde umsonst. Aber dafür sah Sarah in dem schwarzen Kleid wunderbar aus. Vorausgesetzt, man beachtete die verstrubbelte Frisur nicht. Nach den vielen Anproben sah ihr Elfenhaarschnitt aus, als wäre sie einem Troll in die Hände gefallen.

»Es ist perfekt«, meinte Rachel. »Jake wird Sie anbeten.«

»Trotzdem …« Sarah runzelte die Stirn. »Sollten wir nicht doch noch etwas anderes probieren? Um die Schultern herum komme ich mir etwas nackt vor.«

»Wie wäre es mit einem hübschen Tuch oder einer Kette?«, schlug Rachel vor, bevor Sarah Gelegenheit fand, das kleine Schwarze wieder zu verwerfen. »Wenn Sie möchten, kann ich Ihnen gerne etwas Passendes bringen.«

»Nicht nötig. Ich nehme den Schal, den Sie gerade selbst tragen. Das ist genau das, was ich suche.«

Rachel spürte, wie das Lächeln auf ihrem Gesicht erstarb. Verflixt. Der türkis gemusterte Seidenschal, den Josh ihr zum ersten Hochzeitstag geschenkt hatte. Ihr Glücksschal. Sie hatte ihn heute extra ausgewählt, um optimistisch in den Tag zu starten. In der Eile hatte sie vergessen, ihn abzunehmen. Avery würde ausrasten, wenn sie mitbekäme, dass Rachel damit im Store herumlief. Dienstkleidung hatte ausschließlich aus Stücken der Character!-Kollektion zu bestehen. Dafür gab es schließlich den Mitarbeiterrabatt.

»Das ist leider unmöglich, Mrs Holloway, ich meine, Sarah … Außerdem ist es nicht Ihre Farbe«, sagte Rachel, aber Sarah schien nicht zuzuhören.

Bevor Rachel reagieren konnte, griff sie nach dem Tuch und zog es von Rachels Schulter.

»Bitte schön.« Triumphierend legte Sarah es sich um und warf einen Blick in den Spiegel. »Ich hatte recht. Es passt wunderbar. Ich nehme es.«

»Ausgeschlossen. Ich kann Ihnen diesen Schal nicht verkaufen.« Rachel fühlte, wie sich zwischen ihren Brüsten Schweiß sammelte. »Es ist ein privates Stück und gehört nicht zur Kollektion.«

»Dann schenken Sie mir den Schal. Bei dem Umsatz, den Sie mit mir machen, ist das sicher drin.«

»Tut mir leid, aber das darf ich nicht.«

»Meine Güte. Jetzt haben Sie sich nicht so.« Sarah schüttelte ungeduldig den Kopf. »Sie werden ihn mir doch zumindest für das Date ausleihen können. Am Montag bekommen Sie ihn frisch gewaschen zurück.«

Eine Welle von Zorn stieg in Rachel auf. Sie konnte es keine Sekunde länger ertragen, den Schal, der immer noch ein winziges bisschen nach ihrem verstorbenen Mann zu riechen schien, an Sarahs bleicher Haut zu sehen. Mit festem Blick fixierte sie ihre Kundin. »Bitte geben Sie mir den Schal. Er gehört mir.«

»Dass Sie so wenig entgegenkommend sind, hätte ich nicht vermutet.«

»Es ist mein Glücksschal.«

»Umso besser. Glück kann bei einem Date nicht schaden.«

»Sarah, ich bestehe darauf, dass Sie mir meinen Schal geben. Sofort.«

»Und wenn nicht?« Herausfordernd funkelte Sarah Rachel an. »Was wollen Sie tun? Ihre Vorgesetzte rufen?«

Rachel sagte nichts. Dafür streckte sie auffordernd die Hand aus. Nichts passierte. Allmählich hatte sie das Gefühl, in einem absurden Theaterstück gelandet zu sein.

»Ich dachte, der Kunde steht bei Character! im Mittelpunkt?«, meinte Sarah und legte den Kopf schräg. »Was wohl meine Freundinnen dazu sagen werden, wenn sie hören, dass Sie mir diesen kleinen Gefallen abschlagen? Wo es doch um das wichtigste Date meines Lebens geht.«

»Sarah, bitte!«

»Bisher hat mein Bekanntenkreis viel Geld in diesem Laden gelassen.«

Sich als Lohn für ihren Einsatz auch noch unterschwellige Drohungen anhören zu müssen, ging entschieden zu weit. Ohne an die Folgen zu denken, hob Rachel den Arm und griff nach ihrem Tuch.

Gleichzeitig hob auch Sarah den Arm. Rachel spürte, wie ihre Fingernägel Sarahs Haut streiften.

»Oh mein Gott! Sie haben mich gekratzt«, rief Sarah, so laut, dass alle Köpfe zu ihnen herumfuhren.

»Es war keine Absicht.« Rachels Wangen glühten. »Ich entschuldige mich ausdrücklich dafür. Zeigen Sie bitte mal her.«

Widerwillig hielt Sarah ihr den Arm entgegen. Rachel bemerkte einen aufgekratzten Mückenstich, daneben einen hauchdünnen rosa Strich. Sie hätte schwören können, dass er sich schon vor dem kleinen Zusammenstoß an Sarahs Arm befunden hatte. »Soll ich Ihnen ein Pflaster holen?«, erbot sich Rachel.

»Gibt es ein Problem?« Als sie eine näselnde Stimme hinter sich hörte, fuhr Rachel herum. Vor ihr stand Callista Hurford, die General Managerin von Character!. Sie blickte Rachel scharf an.

Rachel schluckte. Schlagartig wurde ihr bewusst, dass sie einen riesigen Fehler gemacht hatte. Noch nie war sie einer Beförderung so nahe gewesen. Noch nie war der Traum von einem leichteren Leben so greifbar gewesen. Wie hatte sie nur so unbeherrscht sein können? Womöglich hatte sie ihre Chance gerade verspielt. Sie dachte an die Buzz-Lightyear-Figur, die Sam sich schon so lange wünschte. Jetzt würde er sie wohl nicht bekommen.

***

Drei Minuten nachdem Sarah den Store verlassen hatte, mit Pflaster auf dem Arm und einem fetten Rabattgutschein zur Entschädigung, fand Rachel sich in Averys Büro wieder. Die Stimmung in dem winzigen Raum war eisig, als wäre der nukleare Winter ausgebrochen. Natürlich hatte sich Callista von Sarah en détail berichten lassen, was passiert war. Mit gesenktem Blick saß Rachel da. Ihre Gedanken wirbelten durcheinander. Sie war so wütend, dass sie von Callistas Ansprache kaum etwas mitbekam. Wütend auf Sarah Holloway, die sie so in Beschlag genommen hatte, dass ihr keine Zeit geblieben war, die Pumps anzuziehen und sich einzuloggen. Wütend auf Avery, die nur dasaß und nichts zu Rachels Verteidigung beitrug. Nicht einmal, als sie hörte, dass alles nur passiert war, weil Rachel die Kundin möglichst gut hatte bedienen wollen. Aber mehr als alles andere war Rachel wütend auf sich selbst. Als sie den Schal, den Josh ihr geschenkt hatte, an Sarahs Hals gesehen hatte, war etwas in ihr angesprungen. Als hätte jemand einen Knopf gedrückt. Im Nachhinein musste sie sich eingestehen, dass sie nicht den nötigen kühlen Kopf behalten hatte.

»So etwas habe ich bei Character! noch nie erlebt«, verkündete Callista über den Rand ihrer pinken Brille hinweg. Ungehalten tippte sie mit dem Stift gegen ihr Klemmbrett. »Unglaublich, dass Avery Sie als stellvertretende Filialleitung vorgeschlagen hat.«

»Es tut mir wahnsinnig leid, Callista«, beteuerte Rachel erneut. »Bitte glauben Sie mir.«

»Schön. Selbst wenn wir diesen Zwischenfall vergessen – was mir zugegeben schwerfällt –, weshalb hatten Sie diesen Schal an?«

»In der Eile habe ich vergessen, ihn abzunehmen.«

»Obwohl es gegen die Regeln verstößt? Vielleicht sollten Sie mal unsere Richtlinien lesen. Wie wäre es damit?« Ungeduldig wedelte Callista mit der gelb-orangen Firmenbroschüre vor Rachels Nase herum.

»Die Richtlinien sind mir bestens vertraut. Auch die Unternehmenswerte. Stammkundenbindung hat höchste Priorität, denn Neukundengewinnung ist teuer«, zitierte Rachel Averys Mantra. »Bitte glauben Sie mir, Callista. Ich habe mir nie etwas zuschulden kommen lassen. Avery kann das bestätigen. Und meine Umsätze sind immer top.« Sie unterbrach sich und sah Hilfe suchend in Averys Richtung, aber deren Miene wirkte so undurchdringlich wie der Londoner Smog. »Im Laden war die Hölle los«, fuhr Rachel fort. »Mrs Holloway war völlig aufgelöst, weil sie kein passendes Kleid fand. Also habe ich getan, was ich für richtig hielt, um die Kundin zufriedenzustellen.«

Doch Callista verzog keine Miene. »Das erklärt noch lange nicht, weshalb Sie nicht im System angemeldet waren. Wieso hatten Sie Ihre Storecard nicht umhängen, und wo war das Headset? Und was verdammt noch mal hat Sie geritten, die Kundin in Turnschuhen zu bedienen und mit dieser …« Mit einer herablassenden Geste ließ Callista die Character!-Broschüre auf den Tisch fallen und fuchtelte mit den Händen in der Luft herum, auf der Suche nach einem passenden Ausdruck. »… dieser Gardine vom Flohmarkt um den Hals.«

Rachel schwieg gekränkt. Es hatte keinen Sinn. Wie sollte sie Callista erklären, was der Schal emotional für sie bedeutete?

Voll Argwohn lehnte Callista sich zurück. Sie kniff die Augen hinter der pinken Brille zusammen. »Wirklich, Shells, Ihr Verhalten lässt mich zweifeln. Ist es Ihnen überhaupt ernst mit der Bewerbung?«

»Ich möchte diesen Job mehr als alles andere«, erwiderte Rachel mit fester Stimme. »Bitte geben Sie mir die Möglichkeit zu beweisen, was in mir steckt.«

Callista gab einen Seufzer von sich, als hätte Rachel sie darum gebeten, ab sofort das doppelte Gehalt und einen Dienstwagen zur Verfügung gestellt zu bekommen. Mit zweifelnder Miene wandte sie sich an Avery. »Was meinen Sie dazu?«

Avery tat, als hätte sie einen Asthmaanfall, obwohl sie vor Monaten mit dem Rauchen aufgehört hatte. Sie zog einen Sprüh-Inhalator aus der Tasche und pumpte drei Hübe in ihren Mund. Schließlich räusperte sie sich. »Nun, da Shells ihren Fehler einsieht, sollten wir ihr noch eine Chance geben. Immerhin macht sie gute Umsätze.«

Callista trommelte mit ihren künstlichen Fingernägeln auf die Tischplatte. »Hm. Was schlagen Sie vor?«

»Ich habe ab morgen eine Woche Urlaub. In der Zeit könnte Shells sich beweisen. Wenn sie uns nach dieser Woche ein Umsatzplus vorlegen kann, sollten wir die Stelle probeweise mit ihr besetzen.«

Eine ganze Weile schwieg Callista. Schließlich seufzte sie lang und tief, zum zweiten Mal in diesem Gespräch. Skeptisch blickte sie Rachel ins Gesicht. »Was sagen Sie dazu, Shells? Stellen Sie sich der Herausforderung?«

Die Gedanken in Rachels Kopf explodierten wie Feuerwerkskracher. Der Store lag ein gutes Stück zurück mit den Verkaufszahlen. Die Aktion mit den Sommerkleidern war ein Ansatz, um die Vorgaben zu erfüllen. Die Jeans-Abteilung auf Vordermann zu bringen, die hauptsächlich für die schlechten Zahlen verantwortlich war, war weitaus anspruchsvoller. Sie würde den Laden komplett umräumen und neu dekorieren müssen. Sie musste zusätzliche Auswertungen erstellen und die Aushilfen briefen, wie sie Zusatzverkäufe generieren könnten. Und das alles in einer Woche. Das bedeutete Überstunden bis zum Umfallen. Gedanklich sah sie sich bereits im Schlafsack im Büro übernachten. Zum Glück war Sam nächste Woche mit der Schule auf Klassenfahrt. Sonst hätte sie nicht ansatzweise darüber nachzudenken brauchen.

Ihre Wangen prickelten. Das hier würde nicht leicht. Aber dennoch. Es war ihre Chance. Sie würde es schaffen, das fühlte sie. Am Ende der Woche würde Callista sie geradezu darum anbetteln, die Stelle als stellvertretende Storeleiterin anzunehmen. Das Handy in ihrer Jeanstasche vibrierte. Rachel erschrak, aber zum Glück schien nur sie das Klirren auf dem Metallrahmen des Stuhls zu bemerken. Unauffällig verlagerte sie das Gewicht auf die andere Pohälfte und schenkte Callista ein Lächeln. »Sie können sich auf mich verlassen. Ich werde Sie nicht enttäuschen.«

Mit wackligen Knien, aber frisch gestärktem Optimismus verließ Rachel Averys Büro. Sie ging zur Kasse, griff nach der Tasche mit den Pumps und beschloss, ihr Äußeres zu kontrollieren, bevor sie sich einloggte. Schließlich wollte sie nicht noch mehr Unwillen erregen. Inzwischen hatte sie eine geschlagene Stunde ohne Bezahlung im Laden verbracht. Auf drei oder vier zusätzliche Minuten kam es jetzt auch nicht mehr an. Also marschierte sie zur Personaltoilette, schlüpfte in ihre Pumps und frischte ihr Make-up auf. Dann warf sie einen Blick auf das Handy. Drei Anrufe in Abwesenheit. Und eine Nachricht auf der Mailbox von Sams Lehrerin, die ihre ambitionierten Pläne mit einem Schlag zunichtemachte.

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3

Die Türen und Fensterrahmen der Kinderabteilung des King George Hospital in Ilford waren sonnengelb gestrichen, um eine heitere Note vorzutäuschen. Doch auf Rachel wirkten die fröhlichen Farben nicht beruhigend. Im Gegenteil. Sie erinnerten sie an das Krankenhaus, in das man Josh gebracht hatte. Auch dort hatte man die Wände in Gelb- und Orangetönen gestrichen. Sie schloss die Augen, als die Erinnerungen sie einholten.

Auf einmal stand sie wieder in der Notaufnahme. Neben ihr die Krankentrage, auf der die Sanitäter Josh festgeschnallt hatten. Hektisch hantierten Ärzte an ihm herum und überprüften seine Vitalwerte. Sie benutzten Fachbegriffe, die Rachel nicht verstand. Aber die Hektik und Ratlosigkeit in ihren Stimmen ließ Rachel das Blut in den Adern gefrieren. Joshs Gesicht war unverändert gelblich. Die Schatten unter seinen Augen schwarz. Über dem Mund hatte er eine Atemmaske. In einer Vene seines linken Armes steckte eine Infusionsnadel. Vor wenigen Augenblicken hatte die Schwester an der Anmeldung Rachel die Einweisungspapiere überreicht. Der Stift in Rachels Hand zitterte. Sie zwang sich, den Blick von Josh abzuwenden. Geburtsdatum des Patienten … Rachel war kurz davor, in Tränen auszubrechen. Verdammt. Sie konnte sich nicht erinnern. Wann war Josh geboren? Verzweifelt wandte sie sich an die Schwester. »Es tut mir leid … Ich … ich kann das jetzt nicht.«

»Schon gut. Geben Sie mir einfach die Versicherungskarte.«

Auf Rachels Stirn stand kalter Schweiß. Verständnislos starrte sie die Schwester an. Sie begriff nicht, was man von ihr wollte.

»Mrs Morrisson? Ist Ihnen nicht gut?«

Ängstlich blickte Rachel zu Josh hinüber, den die Ärzte jetzt auf eine Tür mit der Aufschrift: Intensiv – Kein Zutritt zuschoben.

»Was ist los? Was passiert mit Josh?« Ihre Stimme vibrierte. Tränen liefen über ihre Wangen.

Die Schwester umrundete die Theke und stützte Rachel am Ellbogen. »Keine Angst, Mrs Morrisson. Der Chefarzt ist jetzt bei Ihrem Mann. Ich hole die Bereitschaft, damit man sich um Sie kümmert. Sie haben einen Schock.«

Ohne auf die Schwester zu hören, sprang Rachel auf. Sie rannte zu der Tür, durch die die Ärzte Josh geschoben hatten, und rüttelte vergeblich daran.

»Bitte, Mrs Morrisson. Sie müssen jetzt vernünftig sein.«

Rachel schüttelte den Arm der Schwester ab. Mit beiden Fäusten trommelte sie gegen die Tür. »Ich muss zu Josh. Er braucht mich.«

Dann riss der Film. An das, was danach passiert war, konnte sie sich später nicht erinnern. Adrenalin hatte ihr Gehirn geflutet und alle Vernunft weggeschwemmt.

Rachel schlug die Augen auf. Auch hier, in der Notaufnahme der Kinderabteilung, war der Raum bis zum letzten Molekül mit Stresshormon gefüllt. Es ging von den Eltern aus, die mit ängstlichen Mienen dasaßen und auf den Bericht der Ärzte warteten.

Wie sehr Rachel Notaufnahmen hasste. Sie hatte es nicht geschafft, sich auf einen der orangen Plastikstühle zu setzen. Seit über einer Stunde tigerte sie zwischen der Anmeldung und der verdorrten Yuccapalme auf und ab. Dabei schielte sie ständig nach der Funkuhr und zwang sich, die Schwestern am Stützpunkt nicht andauernd zu bedrängen, ob sie wüssten, wie es Sam gehe. Die Angst in ihrer Magengrube war ein heißer, glühender Feuerball. Wieso dauerte es so endlos?

Ein gereiztes Trommeln von Fingern auf dem Tisch der Anmeldung durchbrach ihre Gedanken. Rachel wandte den Kopf. Die Schwester hinter der Theke warf ihr einen bitterbösen Blick zu.

»Entschuldigung«, sagte sie und bemühte sich, leiser aufzutreten. Ihr war nicht bewusst gewesen, wie störend das Klacken ihrer Pumps war. Sie trat an die Anmeldung. »Braucht der Arzt noch lange?«

Die Schwester nahm ihre Brille ab. Sie warf Rachel das gleiche nichtssagende Lächeln zu, mit dem sie allen Anfragen begegnete. »Wollen Sie nicht Platz nehmen, Mrs Morrisson? Dort drüben ist ein Stuhl frei.«

Rachel blickte kopfschüttelnd zurück. Warum bestanden Ärzte und Schwestern immer darauf, dass man sich setzte? Wurde dadurch irgendetwas besser?

»Dr. Warden ist ein exzellenter Arzt. Er ist sehr genau mit seinen Untersuchungen«, erklärte die Schwester. Sie schob die Brille zurück auf die Nase und wandte sich wieder ihrem Computer zu.

Als ob sie das in irgendeiner Weise beruhigen würde … Rachel blieb wie erstarrt stehen. Sie hatte in ihrem Leben reichlich Gelegenheit gehabt, den Code zu entschlüsseln, den die Schwestern benutzten.

»Dr. Warden ist ein exzellenter Arzt« hieß, dass Sam durch den Sturz ernsthaft verletzt war und sie einen Spezialisten bemühten.

»Er ist sehr genau mit seinen Untersuchungen« bedeutete, dass Dr. Warden noch nicht herausgefunden hatte, ob Sams Gehirn zu einer undefinierbaren grauen Masse angeschwollen war. Vielleicht drückte eine Blutung gegen die Schädeldecke. Vielleicht war ein Nerv abgequetscht. Dann würde Sam sein Leben im Rollstuhl verbringen.

»Setzen Sie sich« und »unsere Stühle sind sehr bequem« war ein anderer Ausdruck für: »Es wäre leichter für alle, wenn Sie bei dem, was wir Ihnen gleich zu sagen haben, sitzen. Wir haben Besseres zu tun, als uns um eine bewusstlos auf dem Boden liegende Frau zu kümmern.«

Diese verdammte Hilflosigkeit … Sie schloss die Augen. Im Geiste sah sich wieder auf dem Flur der Intensivstation sitzen. Wie sie es trotz Widerstand der Schwester dorthin geschafft hatte, wusste sie nicht mehr. Die Schiebetür zu dem Raum, in dem Josh lag, stand einen Spalt offen. Im Zimmer selbst war es laut wie an einer belebten Straßenkreuzung. Ärzte und Schwestern riefen knappe Kommandos. Monitore piepsten. Es klang, als würden Schläuche oder Katheter aus sterilen Verpackungen gerissen. Ein Absauger brummte. Rachel kannte die Geräusche von anderen Aufenthalten auf der Intensivstation. Ihr Vater hatte drei Wochen im Koma gelegen, bevor er gestorben war. Sie hatte gelernt, dass es nicht der Lärm oder die Hektik war, wovor man Angst haben musste, sondern die plötzliche Stille.

»Scheiße! Wir verlieren ihn!«, drang es aus dem Zimmer.

Rachel erstarrte.

»Defi vorbereiten.«

»Zurücktreten!«

Ein schriller Warnton.

»Scheiße.«

Schweigen.

»Scheiße. Scheiße. Scheiße.«

»Defi!«

»Weg!«

Der Warnton.

Stille.

Rachel spürte, wie ein kühler Windhauch ihre Schultern streifte, obwohl die Fenster geschlossen waren.

Sie blickte durch die von Regen und Staub verschlierte Scheibe nach draußen. Ein gleißender Sonnenstrahl brach durch die Wolkendecke und berührte ihre Wange, als Joshs Seele sich auf den Weg nach Hause machte.

»Mrs Morrisson?«

Eine Hand berührte ihre Schulter. Sie öffnete die Augen.

»Sie können jetzt zu Ihrem Sohn.«

***

Trotz seines britisch klingenden Namens war Dr. Warden indischer Abstammung, wie Rachel feststellte. Seine Haut hatte die Farbe von dunklem Toffee, die schwarz glänzenden Haare waren im Nacken zu einem Knoten gebunden. Braune Augen blickten seelenvoll über eine randlose Brille hinweg. Er erhob sich und reichte Rachel über den Schreibtisch hinweg eine Hand.

»Wie geht es Sam?«, entfuhr es Rachel, bevor sie sich auf ihre gute Erziehung besinnen und Dr. Warden einen guten Tag wünschen konnte.

»Es geht ihm gut.« Dr. Warden ließ ihre Hand los. Unaufgefordert schenkte er Wasser in zwei Gläser. Eines davon reichte er ihr. Rachel fiel auf, dass er sie nicht darum bat, sich zu setzen. Allerdings tat sie es diesmal von alleine. Ihre Knie bebten.

»Sam hat ein Schädel-Hirn-Trauma ersten Grades. Mit anderen Worten eine Gehirnerschütterung. Er hat Glück gehabt.« Dr. Warden sah ihr fest in die Augen. »Anfangs hatten wir eine Gehirnblutung vermutet, weil er eine Weile bewusstlos war. Einen Sturz die Treppe hinunter sollte man nicht auf die leichte Schulter nehmen.«

Rachel schnappte nach Luft. Weshalb hatte Sams Lehrerin ihr nichts von der Ohnmacht erzählt? Und dass Sam einen ganzen Treppenabsatz hinuntergepoltert war, war ihr ebenfalls neu. Bisher war von einem kleinen Sturz die Rede gewesen.

»Es besteht kein Grund zur Sorge, Mrs Morrisson«, erklärte Dr. Warden ruhig. »Sams Werte auf der Glasgow Coma Scale lagen unter dreizehn. Daher haben wir ein MRT gemacht. Die Funktionsstörung des Gehirns ist nur vorübergehend. Andere Verletzungen, wie beispielsweise die der Halswirbelsäule, konnten wir ausschließen. Es liegen keine Anzeichen für eine Gehirnblutung vor.«

Auf dem Gang quietschten Gummisohlen, untermalt von einem metallischen Klirren. Dem Geräusch nach wurde ein Wagen vorbeigeschoben. Rachel atmete zitternd aus. »Das heißt, Sam geht es gut? Kann ich ihn mit nach Hause nehmen?«

»Sam geht es gut«, bestätigte Dr. Warden. Er beugte sich vor und verschränkte die Hände auf dem Tisch. »Aber wir würden gerne in den nächsten Tagen einige kognitive Tests durchführen, um ein postkommotionelles Syndrom gegebenenfalls rechtzeitig zu erkennen.«

Rachel nickte, obwohl sie kein Wort verstand.

»Unserer Erfahrung nach schreitet die Genesung besser voran, wenn ein Elternteil während des stationären Aufenthalts bei dem Kind bleibt. Ließe sich das einrichten, Mrs Morrisson? Wir haben sehr komfortable Familienzimmer.«

Rachel starrte ihn an. Wie Dr. Warden es sagte, klang es einfach. So, als hätte er sie darum gebeten, Sam am Montag einen warmen Pullover anzuziehen, damit er sich nicht erkältete, und ihm ein Portion Vitamin C zu verabreichen. Rachel wusste, dass es unnütz war, sich bei Gott oder wer auch immer zuständig war, zu beschweren. Die Sorge um Sam war sie los. Dafür war sie mehr als dankbar. Aber ihre Alltagssorgen hatten sie umso fester im Griff.

Ein paar Tage … Drei Worte, und alles, worauf sie hingearbeitet hatte, stürzte wie ein Kartenhaus zusammen. Es war vorbei. Der Traum von der Vollzeitstelle und einem leichteren Leben war ausgeträumt. Ausgeschlossen, dass man ihr bei Character! eine weitere Chance einräumte.

»Mrs Morrisson?« Von jenseits des Trümmerfeldes erklang Dr. Wardens Stimme.

»Entschuldigung …« Sie griff zu dem Glas und trank einen Schluck. Avery würde toben, wenn sie die nächsten Tage nicht zur Arbeit käme. Rachel konnte von Glück reden, wenn man ihr nicht kündigte. Sie räusperte sich. »Ich habe nur überlegt, ob es sich einrichten lässt.«

»Und wie lautet die Antwort?«

»Ich bleibe bei meinem Jungen.« Rachel nickte. Sie fühlte sich schlecht, weil sie gezögert hatte. Sam war gesund. Das alleine zählte. Es war kein Weltuntergang, sondern nur Geld, das sie verlor. Geld machte bekanntlich nicht glücklich. Aber leider brauchte man ein ordentliches Einkommen, um in London über die Runden zu kommen.

»Ich werde der Schwester Bescheid geben, damit sie das Nötige veranlasst.« Dr. Warden erhob sich und reichte Rachel zum Abschied die Hand. »Sie können jetzt zu Sam. Bitte erschrecken Sie nicht, wenn Sie den Verband sehen. Sam hat eine Platzwunde am Haaransatz, die genäht werden musste. Später wird man nichts mehr davon bemerken.«

»Glauben Sie mir, Dr. Warden, eine Narbe ist mein geringstes Problem«, erwiderte Rachel. Sie zögerte und blickte unsicher zu Dr. Warden hinüber. »Wissen Sie zufällig, was es kostet, wenn ich in Sams Zimmer schlafe?«

Bedauernd schüttelte Dr. Warden den Kopf. »Leider nein. Aber die Schwester kann es Ihnen sagen. Zu Ihrer Beruhigung …«, er lächelte verständnisvoll. »Soweit ich informiert bin, haben Sie dreißig Tage Zeit, um die Rechnung zu begleichen.«

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4

Vor den Fenstern des King George Hospital ging die Dämmerung in ein verwaschenes Blau über. Durch die Schallschutzfenster drang in unregelmäßigen Abständen das Heulen der Ambulanz hindurch. Nachdem Sam ein Zimmer und ein Bett bekommen hatte, war Rachel erst einmal nach Hause gefahren. Das Nötigste war schnell gepackt: Pyjamas, Handtücher, Wäsche zum Wechseln, Zahnbürsten, das Monopoly-Spiel, eine Packung Schokokekse. Und Dotty, Sams lila Kuschelelefant. Rechtzeitig zum Abendessen – Käsemakkaroni, Sams Lieblingsessen – war sie zurück gewesen. Jetzt saß sie neben ihm, auf einer Pritsche, im Schein der Nachttischlampe, und wartete darauf, dass er endlich einschlief.

»Mummy?«

Sie stützte sich auf den Ellbogen und streichelte seine feuchte, schwitzige Hand. »Was ist, mein Schatz?«

»Du musst nicht bei mir bleiben. Ich bin kein Baby mehr.«

»Nein, das bist du nicht. Aber ich bleibe trotzdem.«

Er sah sie mit großen Augen an. »Kriegst du jetzt Ärger auf der Arbeit?«

Sanft stupste sie ihn gegen die Nase. »Wie kommst du denn darauf? Ich telefoniere morgen mit Avery und erkläre ihr, was los ist.«

»Es tut mir leid.«

»Das muss es nicht.« Verwundert darüber, dass er sich entschuldigte, runzelte sie die Stirn. »Es war ein Unfall. So etwas passiert. Du kannst nichts dafür.«

»Benjamin hat es nicht mit Absicht gemacht, Mummy.«

Etwas in Rachel verspannte sich. »Was meinst du damit?«

»Ich bin nicht von selbst gestürzt. Benjamin hat mich geschubst.«

»War denn so ein Gedränge in der Pause?«, hakte sie vorsichtig nach.

Sam dachte nach. Er fuhr sich mit der Zunge über die Mundwinkel. »Nein. Gar nicht. Es ist einfach so passiert.«

Rachels Körper kribbelte vor Wut. Sie musste sich gewaltig zusammenreißen, nicht auszusprechen, was sie dachte, und blickte schweigend zum Fenster hinüber, wo sich die Zweige eines Kastanienbaums schemenhaft im Wind wiegten. Sie hätte ihren rechten Arm darauf verwettet, dass Benjamin Sam mit Absicht geschubst hatte. Aus purer Bösartigkeit. Benjamin Eccles war ein richtiger kleiner Mistkerl. Genau wie sein Vater, der regelmäßig im Suff Nachbarn beleidigte. Benjamin war keinen Deut besser. Letzte Woche hatte er Sam bei einem Streit mit voller Wucht in den Magen getreten, als dieser schon am Boden gelegen hatte. Daraufhin hatte Rachel versucht, mit seiner Mutter zu reden. Doch mit Mrs Eccles war nicht zu reden. Sam müsse lernen, sich zu wehren, hatte sie gemeint, wenn ihm etwas nicht passe. Rachel hatte sie gefragt, wie sie sich das vorstelle. Immerhin war Benjamin einen Kopf größer als Sam und ungefähr doppelt so breit. Daraufhin war Mrs Eccles völlig ausgerastet und hatte ihr wüste Beschimpfungen an den Kopf geworfen. Rachel hatte sich beherrschen müssen, ihr nicht ins Gesicht zu sagen, was sie von der ganzen Familie hielt. Sie würden beim nächsten Schulbasar am Kuchenstand wieder nebeneinanderstehen und Torten auf Pappteller laden, da war Ehrlichkeit nicht die beste Option gewesen. Rachel atmete tief durch und versuchte, nicht daran zu denken, dass Sam die ganzen sechsunddreißig Steinstufen vom ersten Stock bis hinunter in die Halle gestürzt war. Er hätte sich das Genick brechen können. Vielleicht war Ilford doch keine so gute Wahl, wie sie geglaubt hatte. Die Jungs an der Schule waren richtige Rowdys. Sam passte nicht dorthin. Möglicherweise hatte er deshalb noch keine Freunde gefunden.

»Mummy?«

»Hm?«

»Ich hab dich lieb.«

»Ich dich auch.« Sie drückte ihm einen Kuss auf die Wange und zog die Decke sorgfältig über seinen Rücken. »Jetzt schlaf. Alles wird gut.«

***

Am nächsten Morgen stand Rachel auf dem Gang, damit Sam nicht mithörte, wie sie mit Avery telefonierte. So geladen hatte sie ihre Chefin noch nie erlebt.

»Du erzählst mir nicht im Ernst gerade, dass du die gesamte Woche nicht arbeiten kannst? Noch nicht einmal in Teilzeit? Von deinem Versprechen, den Laden auf Vordermann zu bringen, ganz abgesehen?«, blaffte Avery in den Hörer.

»Es tut mir wirklich leid, aber …«

»Weißt du, was das für mich bedeutet?« Eine rhetorische Frage, denn Avery ließ ihr keine Zeit für eine Antwort. »Das Wetter ist bombastisch. Zum ersten Mal seit Wochen. Das Geschäft läuft jetzt und nicht dann, wenn du es zufällig einrichten kannst.«

»Ich mache das doch nicht, um dich zu ärgern, Avery, sondern weil …«

»Du ruinierst gerade mein Leben, Rachel, ist dir das klar? Wenn du nächste Woche komplett ausfällst, kann ich meinen Urlaub vergessen.« Rachel hörte, wie sie ihr Asthmaspray betätigte. »Eine Woche Bahamas für zwei Personen im Luxushotel. Ich weiß, dass Frank mir einen Heiratsantrag machen will. Es ist unser fünfter Jahrestag, verstehst du? Weshalb hätte er mich sonst bitten sollen, ein ganz besonderes Kleid mitzunehmen? Für einen ganz besonderen Abend. Klingelt da etwas bei dir?«

»Ich sagte doch, es tut mir leid. Aber wer weiß, vielleicht organisiert Frank ja einen anderen ganz besonderen Abend für euch? Es gibt viele Orte für einen romantischen Heiratsantrag in London.«

»Ach ja?« Avery schnaubte missmutig in den Hörer. »Ich wollte meinen Antrag an einem türkisfarbenen Strand in Nassau bekommen, und du bist schuld, dass daraus nichts wird.«

Rachels freie Hand ballte sich zusammen. Seit wann war sie für Averys Privatleben verantwortlich? Sie biss sich auf die Lippe. »Bitte, Avery, lass es mich erklären«, sagte sie ruhig. »Du weißt nicht, was hier los ist.«

»Ich höre.«

Rachel nickte der Schwester zu, die gerade an ihr vorbeiging. Dann holte sie Luft. »Die Ärzte müssen eine Reihe von Untersuchungen an Sam vornehmen. Dabei kann ich ihn nicht alleine lassen, Avery. Er ist erst sieben. Du erinnerst dich sicher, wie es war, als du so alt warst. Bestimmt hast du dich auch vor allem gefürchtet, was mit Ärzten oder Krankenhäusern zu tun hatte.«

Schweigen.

»Callista wird einen Anfall bekommen«, erklärte Avery schließlich. »Das weißt du, Rachel, nicht wahr?«

»Ja …«

»Überleg dir, was du tust«, sagte Avery, der Ton ihrer Stimme war weicher geworden. »Deine Bewerbung ist endgültig vom Tisch, wenn du das durchziehst.«

Rachel nickte stumm.

»Ich weiß, dass du es als alleinerziehende Mutter nicht leicht hast, Rachel. Und ich habe immer versucht, dich, soweit es geht, zu unterstützen …«

»Ja, das stimmt …«

»Ich sage es nicht gerne, Rachel.« Avery hustete und sog an ihrem Inhalator. »Tu dir und Sam einen Gefallen. Ernsthaft. Denk in Ruhe darüber nach, ob eine Position im Einzelhandel auf Dauer das Richtige für dich ist.«

Rachel presste schweigend die Lippen aufeinander.

»Ich meine es nur gut.«

»Danke für dein Verständnis«, erklärte Rachel. »Und für den Rat. Du hast recht. Ich muss mir Gedanken machen, wie es für Sam und mich weitergehen soll.«

***

Am Donnerstag wurde Sam aus dem Krankenhaus entlassen. Rachel war überglücklich, endlich wieder zu Hause zu sein. Sie beschloss, einmal nicht auf das Geld zu achten, und bestellte zur Feier des Tages Pizza für sie beide. Dazu sahen sie sich einen Film an und tranken Cola. Später war Sam so müde, dass ihm auf der Couch die Augen zufielen. Rachel verfrachtete ihn frühzeitig ins Bett.

Dann ging sie in die Küche, schenkte sich ein Glas Rotwein aus dem Tetra Pak ein und schlich zurück ins Wohnzimmer. Sie schnappte sich Papier, Stift und einen Taschenrechner. Bevor sie sich nicht einen Überblick über die Rechnungen verschafft hatte, die während ihrer Abwesenheit in den Briefkasten geflattert waren, konnte sie nicht ins Bett gehen.

Eine Viertelstunde später legte sie den Block frustriert zur Seite. Was für ein Schlamassel. Die Krankenhausrechnung würde ihr Budget endgültig sprengen. Zu allem Übel hatte zwischendurch der Besitzer der chinesischen Wäscherei angerufen und ihr den Job gekündigt. Er habe es satt, alleinerziehende Mütter zu beschäftigen, die seine Planung andauernd durcheinanderbrächten. Da arbeite er noch lieber mit polnischen Aushilfen, die kaum Englisch sprächen, aber zuverlässig zur Arbeit erschienen. Rachel konnte es ihm nicht verdenken. Sie hatte ihn oft genug hängen lassen. Niemand beschäftigte gerne alleinstehende Mütter, die ständig wegen eines kranken Kindes zu Hause blieben.

Seufzend beugte sie sich zur Seite und nahm das Glas vom Boden. Sie war schon den ganzen Tag über in einer merkwürdigen Stimmung gewesen. Sams Unfall hatte ihr einen kurzen Ausstieg aus dem Hamsterrad verschafft. Jetzt, da sie ihre Arbeit aus einer gewissen Distanz betrachtete, kam sie aus dem Grübeln nicht mehr heraus. Ihr Leben wurde von dürftig verwobenen Fäden zusammengehalten. Riss einer davon, riffelten alle Maschen auf. Wie bei einem kaputten Pullover. Averys Worte hallten in ihr nach. Sie arbeitete gerne im Verkauf, aber vielleicht war es wirklich nicht das Richtige für sie. Vielleicht war London nicht das Richtige für sie. Keine ihrer Hoffnungen hatte sich erfüllt. Eine nach der anderen waren sie zerplatzt wie Seifenblasen. Zum ersten Mal in all den Jahren stand sie ohne Plan da. Seit Joshs Tod hatte sie hart gearbeitet. Ihr eigenes Leben und das von Sam waren dabei auf der Strecke geblieben. Avery hatte recht. So konnte es nicht weitergehen.

Nachdenklich starrte sie in das Glas. Der herbe Geruch von Tannin, durchmischt mit der Süße von Früchten, stieg in ihre Nase und transportierte sie in eine andere Welt. In eine Welt, in der Josh noch gelebt hatte und sie jung, verliebt und unbeschwert gewesen war. Mit dem Geld, das Josh bei seinem ersten Engagement verdient hatte, hatten sie sich einen Traum erfüllt. Sie waren nach Venedig, die Stadt der Gondeln, der Paläste und des schmerzhaft-schönen Verfalls gereist. An einem nebligen Februarabend, als das diffuse Licht der Sonne in der Lagune versank, war er neben der Laterne an der Spitze zwischen der Fondamenta Salute und der Fondamenta Zattere Ai Saloni vor ihr auf die Knie gefallen und hatte um ihre Hand angehalten. Die umstehenden Touristen hatten vor Begeisterung Beifall geklatscht, den größten, den Rachel in ihrem ganzen Leben bekommen hatte. Später hatten sie Arm in Arm auf den Stufen der Rialtobrücke gesessen und ihr Glück mit einer Flasche Montepulciano gefeiert. In der darauffolgenden Nacht wurde Sam gezeugt. Fast acht Jahre war das jetzt her. Wie sehr hatten sie sich auf eine Zukunft gefreut, die ihnen beiden gehörte. Rachels Herz wurde bei der Erinnerung schwer. Inzwischen gab es Tage, an denen sie sich fühlte, als wäre sie sechzig, und nicht vierunddreißig. Dabei ging es nicht um die Tatsache, dass es seit Josh keinen Mann mehr in ihrem Leben gegeben hatte. Ihr Bedürfnis nach einer Beziehung oder nach Sex war so gut wie erloschen. Schuld daran war der nie nachlassende Druck.