Die Rückkehr der Wale - Isabel Morland - E-Book
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Die Rückkehr der Wale E-Book

Isabel Morland

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Beschreibung

Ein großer Liebesroman um einen geheimnisvollen Fremden von der neuen deutschen Autorin Isabel Morland vor dem grandiosen Hintergrund einer wilden Hebriden-Insel Einst hat Kayla ihren Mann geliebt. Doch immer öfter geraten die beiden in Streit, und Dalziel wird so wütend, dass sie Angst vor ihm hat. Da taucht ein Fremder auf der kleinen, abgeschiedenen Hebriden-Insel auf, über den bald allerhand Gerüchte in Umlauf sind. Auch Kayla ist nach der ersten Begegnung mit Brannan sofort fasziniert von diesem Mann, der ein Geheimnis zu hüten scheint. Ihre eigenen, immer stärker werdenden Gefühle für ihn, aber auch das Gerede der Inselbewohner treiben Kayla mehr und mehr in einen inneren Zwiespalt, aus dem es kaum einen Ausweg zu geben scheint …

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Isabel Morland

Die Rückkehr der Wale

Roman

Knaur e-books

Über dieses Buch

Einst hat Kayla ihren Mann geliebt. Doch immer öfter geraten die beiden in Streit, und Dalziel wird so wütend, dass sie Angst vor ihm hat. Da taucht ein Fremder auf der kleinen, abgeschiedenen Hebriden-Insel auf, über den bald allerhand Gerüchte in Umlauf sind. Auch Kayla ist nach der ersten Begegnung mit Brochan

sofort fasziniert von diesem Mann, der ein Geheimnis zu hüten scheint. Ihre eigenen, immer stärker werdenden Gefühle für ihn, aber auch das Gerede der Inselbewohner treiben Kayla mehr und mehr in einen inneren Zwiespalt, aus dem es kaum einen Ausweg zu geben scheint …

Inhaltsübersicht

WidmungPrologKapitel 1Kapitel 2Kapitel 3Kapitel 4Kapitel 5Kapitel 6Kapitel 7Kapitel 8Kapitel 9Kapitel 10Kapitel 11Kapitel 12Kapitel 13Kapitel 14Kapitel 15Kapitel 16Kapitel 17Kapitel 18Kapitel 19Kapitel 20Kapitel 21Kapitel 22Kapitel 23EpilogWeiterführende LiteraturDanksagungLeseprobe »Sehnsucht nach St. Kilda«
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Meinen wunderbaren Töchtern

Svenja, Helen, Cassandra und Finja

In Liebe

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Prolog

Die Jagdlaute der Orcas waren verstummt. Stille erfüllte den Atlantik. Mit der Stille kam die Einsamkeit. Und mit der Einsamkeit der Tod. Das Walkalb trieb zwischen den Felsenriffen. Schemenhaft, mehr ein Gefühl der Sehnsucht als ein konkreter Gedanke, tauchten Erinnerungen auf. An die Mutterkuh. An den Geschmack von Milch. An die Nähe zu den anderen Tieren. An die schützende Gemeinschaft. Aber all das war Vergangenheit. Das Vertraute verhallte wieder und war schließlich nur noch ein entferntes Raunen.

Seit dem Sonnenaufgang hatten die Verfolger das Jungtier durch ihm fremde Gewässer gejagt, bis hin zu dem Riff, welches vorübergehend Sicherheit geboten hatte. Mittlerweile aber wurde die Bucht dem Tier zum Verhängnis. Das merkwürdige An- und Abschwellen der Gewässer störte seinen Orientierungssinn. Das Vibrieren der Gezeiten breitete sich von den Ohrknorpeln entlang des Rückgrats über seinen Körper aus, wanderte zurück in sein Gehirn und legte sich wie ein Nebelschleier über das Bewusstsein. Sogar das Wasser fühlte sich anders an als in der Endlosigkeit des Meeres, wo der Golfstrom den Minkwalen den Weg in die nördlichen Gefilde wies, den Heringsschwärmen hinterher. In dem Insellabyrinth vor der schottischen Küste jedoch bestimmten Ebbe und Flut über das Geschick des Tieres.

Das Walkalb tauchte an die Oberfläche, um zu atmen. Eine Fontäne aus Blas schoss zischend aus seinem Nasenloch. Dann ließ es sich mit einem Flossenschlag zur Seite kippen. Sein sirrender, langgezogener Klagelaut verhallte in den Tiefen des Meeres.

 

Die Sonne stand eine Handbreit über dem Horizont und hüllte das Halbrund der Bucht in sanftes Licht. Der Sand schimmerte golden. Der Tag versank im Meer. Dies war die Stunde, die er so liebte. Zwischen Land und Meer herrschte Frieden. Die Ellbogen auf die Knie gestützt, den Oberkörper vornübergebeugt, saß er auf einem mächtigen, vom Kommen und Gehen der Gezeiten glattgewaschenen Stück Treibholz und schnitzte. Geübt führte seine Hand das Messer. Das Flechtband, an dem er arbeitete, ähnelte der Verzierung auf der Figur, die er um den Hals trug. Ein aus Walrosszahn gefertigter Krieger, den er von seinem Vater geerbt hatte, dieser wiederum von seinen Vätern und Vorvätern. Eines fernen Tages würde es an ihm sein, die Figur gemäß der Tradition an seinen Sohn weiterzugeben, damit das Vermächtnis überdauerte.

Er schob die Wollmütze in den Nacken, seine Lippen schmeckten klare, salzige Luft. Draußen, über dem Meer, zogen rauchrote Wolkenberge wie schwelende Fackeln über den Himmel. Sein Blick wanderte über den Horizont bis zu der Stelle, an der sich die Sonne in die Tiefe stürzte. Nicht mehr lange, und der Rand des rotglühenden Feuerballs würde die Fluten berühren. Beinahe meinte er, ein leises Zischen zu hören, während die Vereinigung der Elemente ihrem Höhepunkt zustrebte und sich die Fluten des Atlantiks im Widerschein des Lichts rosa färbten.

Der Wind zerrte an seiner Jacke, das Messer steckte mit der Klinge in dem Holz neben ihm, seine Hände ruhten im Schoß. Für einen Moment gab es nichts zu tun oder zu entscheiden. Eine tiefe innere Ruhe erfüllte ihn, die Gesetze der Zeit verloren ihre Gültigkeit. Vor seinem inneren Auge sah er die Jahrtausende vorbeiziehen. Sowohl die, welche bereits vergangen waren, als auch die, welche kommen würden. In die Großartigkeit des Anblicks rund um ihn herum versunken, saß er da und betrachtete den Sonnenuntergang. Unvermittelt ergriff ihn ein Frösteln. Aus dem Frieden erwuchs Unwohlsein. Irgendwo auf der Höhe seiner Brust meinte er, einen kalten Hauch zu spüren. Es fühlte sich an, als würde sich ein Eissplitter in sein Herz bohren. Er wusste wohl, was das zu bedeuten hatte. Aufmerksam lauschte er in sich hinein, in der Hoffnung, dass er sich vielleicht getäuscht hatte, doch wie erwartet verstärkte sich das Gefühl. Er presste die Lippen zusammen, hob die Hand vor die Augen und spähte über den Atlantik. Der Wind trieb ihm Sandkörner ins Gesicht, seine Brust wurde eng. Mit der Präzision eines Seismographen fing er Emotionen ein, die eindeutig nicht zu ihm gehörten und sich dennoch mit seinen eigenen Empfindungen vermischten.

In der Nähe waren Felsen. Er erhob sich und kletterte hinauf, um zu erkennen, ob jemand da draußen auf dem Meer in Not war. Mit zusammengekniffenen Augen suchte er die Wellentäler ab. Nichts. Was auch immer auf dem Meer vor sich ging, entzog sich seinem Blick. Doch dicht unter der Oberfläche baute sich etwas auf, das fühlte er. Ein gewaltiger Sog, der ihn zu verschlingen drohte. Adrenalin schoss durch seine Adern, seine Muskeln spannten sich an. Und dann bekam das unsichtbar in der Tiefe Brodelnde einen Namen. Angst.

 

Das Walkalb driftete im Wasser, die Augen halb geschlossen. Seinem Feind hatte es nichts mehr entgegenzusetzen. Die Aussicht auf den Tod war lähmend. Teilnahmslos nahm es wahr, wie das schwindende Licht auf den Schaumkronen tanzte. Die seichten Gewässer lockten es näher und näher an das Ufer, wo die Wellen in sanften Schwüngen auf das Land aufliefen. Der nasse Sand glitzerte im Licht der Abendsonne, die Dämmerung verlieh den schroffen Felsen sanftere Konturen, das Bild bestach durch makellose, trügerische Schönheit.

Aller Wahrscheinlichkeit nach hätten die Orcas dem Walbaby ein rasches Ende bereitet. Die geschützte Bucht hingegen hielt ein langes, qualvolles Sterben bereit.

 

Der Druck in seiner Brust wuchs. Er schloss die Augen und ließ die Luft keuchend aus seinen Lungen entweichen. Dann straffte er den Rücken und startete den Motor. Die Reifen des Jeeps stoben über den Sand auf den Feldweg zu, der jenseits des Wollgrasteppichs in die Küstenstraße mündete. Von da aus eine Meile bis zum Hafen. In Gedanken sah er den dunklen Punkt dicht unterhalb der Wasseroberfläche vor sich. Er vermutete, dass es sich um einen Jungwal handelte. Ein klammes Gefühl kroch seine Wirbelsäule hinunter bis zu den Zehen, jeder Nerv seines Körpers signalisierte, dass der Lebenswille des Tieres von Minute zu Minute schwand. Die Zeit lief ihm davon. Entschlossen trat er auf das Gaspedal und jagte den Jeep über die holprige Piste.

Das Boot lag am Ende der Mole. Er parkte den Jeep mitten im Halteverbot, neben einem Haufen Reusen und Netzen, und sprang auf den Anleger. Die Sohlen seiner Turnschuhe quietschten auf dem glitschigen Holz. Mit einem gezielten Sprung landete er auf dem Deck des Kutters. Minuten später hatte er das Dingi aus der Verankerung gelöst. Mit einem satten Klatschen landete es auf dem Wasser. Er zog die Gurte der Schwimmweste fest, ließ sich mit einem geübten Schwung in das Beiboot fallen und startete den Motor.

 

Die Bewegungen wurden immer einförmiger.

Kreis um Kreis um Kreis.

Ohne Anfang. Ohne Ende.

Von einem unbestimmten, inneren Drang geleitet.

Die Sonne zerfloss im Meer. Die Elemente wurden eins.

Kein Oben. Kein Unten.

Teilnahmslosigkeit in den Empfindungen. Die Angst wich. Ein gerauntes Versprechen.

Nicht mehr lange …

 

Als er die Bucht erreichte, schaltete er den Motor ab. Das Sonar des Wals war empfindlich. Er durfte nicht riskieren, das Tier zu erschrecken und schlimmstenfalls weiter Richtung Strand zu treiben. Gleichmäßig tauchten die Ruderblätter ins Wasser, das Dingi glitt auf den matt glänzenden Leib zu. Im Näherkommen erkannte er eine glatte, unverletzte Rückenflosse. Der gebogenen Form nach zu urteilen, war es ein Mädchen.

Er steuerte das Boot in ausreichender Entfernung um das Kalb herum, so dass er sich zwischen Tier und Strand befand. Er löste ein Ruder aus der Dolle und hob es hoch über den Kopf. Entschlossen holte er aus. Das Ruderblatt klatschte auf die Wellen. Einmal, zweimal, dreimal. Konzentrische Kreise breiteten sich wie von unsichtbarer Hand gezogen über das Wasser aus.

Schließlich ließ er das Ruder wieder sinken. Geduldig wartete er. Ließ zu, dass die Verbindung zwischen ihnen stärker wurde und sein Geist mit der Seele des Tieres verschmolz. Ein schwaches, aber gleichmäßiges Vibrieren, als würde sich ein Stromkreis schließen. Gespannt blickte er zu dem Walbaby hinüber. Es legte eine Flosse an den Körper, ein trübes Auge erwiderte seinen Blick. Beinahe meinte er, einen Anflug von Interesse zu erkennen.

Einen Wimpernschlag später setzten die monotonen Schwimmbewegungen wieder ein. Die Rückenflosse schnitt wie ein Zirkel ein gleichförmiges Rund in das Meer. Verdammt … Fluchend warf er das Ruder in das Dingi zurück. Jetzt blieb ihm keine andere Wahl. Der Plan war verwegen. Ihm war wohl bewusst, was er damit riskierte. Das Tier war erschöpft, schlimmstenfalls würde er es zu Tode ängstigen. Aber was sollte er sonst tun? Sein Blick wurde grimmig, entschlossen drehte er den Sprithahn der Tankbelüftung auf. Dann zog er den Choke und gab Gas. Das Boot schoss quer durch die Bucht. Kurz vor dem Wal drehte er bei. Das Dröhnen des Motors traf wie ein Paukenschlag auf das Sonar, der Stresspegel des Tieres musste enorm sein.

Immer enger zog er die Bögen, zwischen dem Halbrund der Bucht und dem Wal verlaufend, eine imaginäre Mauer aus Lärm. Der Schweiß stand ihm auf der Stirn. Durch die Tiefe der eingegangenen Verbindung übertrugen sich die Empfindungen des Tieres unmittelbar auf seinen eigenen Körper. Er spürte die Panik des Wals, als wäre es seine eigene. Eine Faust bohrte sich in seinen Magen, er schnappte nach Luft, während die Angst auf den Höhepunkt zusteuerte. Dann, gerade als er meinte, es nicht länger aushalten zu können, sah er ein paar Meter vom Dingi entfernt Blas aus dem Atemloch schießen. Na los …, flüsterte er in Gedanken, worauf wartest du? Der Blick des Tieres traf ihn, voll Befremden darüber, Gedankenströme von diesem merkwürdig orangefarben, höchst unelegant auf den Wellen hüpfenden Ding zu empfangen, welches ihm so einen höllischen Schrecken eingejagt hatte. Eine ganze Weile passierte nichts. Die Sekunden verstrichen. Dann drehte das Tier den Kopf und begann, eine Serie klagender Laute von sich zu geben. Es rief nach seiner Mutter.

Genau darauf hatte er gewartet. Er stellte den Motor ab. Erleichtert wischte er sich den Schweiß von der Stirn. Jetzt hieß es abwarten und auf die Weisheit des Ozeans vertrauen. Die Nachricht würde sich schnell verbreiten. Er schloss die Augen. Die Verbindung zwischen ihm und dem Kalb war atemberaubend. So stark, dass er sie durch jede seiner Zellen strömen spürte. Regungslos saß er in dem winzigen Dingi und hielt stumme Zwiesprache mit dem Tier. Er spürte, wie es ihm vertraute. So sehr, dass es sich jetzt, da der mörderische Lärm sich gelegt hatte, in der Nähe des Bootes wohler fühlte als alleine auf dem Meer.

Die Dämmerung zog herauf. Wie lange er schon ausgeharrt hatte, konnte er nicht sagen, aber die ersten Abendsterne erhellten mit ihrem Flimmern den Himmel. Er spürte, wie seine Knochen in der klammen Seeluft steif wurden. Gerne hätte er das Dingi gegen sein bequemes Bett eingetauscht, doch dazu fühlte er sich zu sehr durch das Vertrauen des Jungtiers zum Bleiben verpflichtet. Gleichmäßig schwappten die Wellen gegen den Gummirand des Bootes. Ansonsten war es still. Und dann spürte er sie kommen. Seine Augen hatten sich so weit an die Dunkelheit gewöhnt, dass er sehen konnte, wie sich gewaltige Schatten aus den Wellen erhoben und im nächsten Moment klatschend unter der Wasseroberfläche verschwanden. Als Nächstes setzten die Gesänge ein, die in den Tiefen zu hören waren und in Brannan widerhallten. Eine eigenartige Abfolge von Lauten, uralte, archaische Klänge. Ein atemberaubender Chor der Meere, der ihn mit Ehrfurcht erfüllte. Er schluckte, als er das Ausmaß der Verbundenheit zwischen ihm und den Tieren erkannte. Ihm war, als würde seine Seele auf eine Reise zurück an ihren Ursprung geschickt. Ein Zittern lief durch seinen Körper, die Erinnerung an diejenigen, von denen er abstammte, überwältigte ihn. Nie würde er verleugnen können, wer er war. Wie die Wale wurde auch er immer wieder an seinen Ursprung zurückgeführt.

Ein heftiges Schaukeln erfasste das Dingi, die mächtigen Leiber brachten das Wasser zum Brodeln. Er krallte die Finger um die Halteschlaufen und hoffte inständig, dass er nicht von der Schwimmweste würde Gebrauch machen müssen. Der Atlantik war um einiges eisiger als die kühle Nachtluft. Gerade als er sich geistig darauf vorbereit hatte, springen zu müssen, endete der Spuk, so plötzlich, wie er begonnen hatte. Verblüfft starrte er auf die Wasseroberfläche, in der sich silbern der Mond spiegelte. Als hätten sie seine Bedrängnis gespürt, hörten die Tiere auf, wie Geschosse aus dem Wasser zu schnellen, und beschränkten sich darauf, in ruhigen Zügen das Dingi zu umkreisen oder darunter hindurchzutauchen.

Mit einem Ausatmen lehnte er sich zurück, wobei er feststellte, dass nicht nur er erleichtert war, sondern vor allem der Jungwal. Er bückte sich, griff nach einer Handlampe und schaltete sie ein. Das Licht reichte gerade aus, um zu erkennen, wie der Körper des Walbabys neben einem Muttertier ins Wasser tauchte und immer wieder an die Oberfläche zurückkehrte, um zu atmen. Ein Lächeln umspielte seine Mundwinkel. Mehr brauchte er nicht zu sehen, um zu wissen, was da vor sich ging. Die wachsende Zufriedenheit, die sich von dem Kleinen auf ihn übertrug, ließ keine Zweifel offen. Die Walmutter spritzte ihrem Baby Milch ins Maul. Seine Hand glitt zu seinem Bauch. Das Grummeln seines Magens erinnerte ihn daran, dass die letzte Mahlzeit lange her war. Sobald er zu Hause war, würde er sich um seine eigenen Bedürfnisse kümmern.

Das Baby war nun satt und kräftig genug, um in den offenen Atlantik zurückzukehren. Er hielt die Lampe ein wenig dichter an die Wellen. Von dem kleinen Körper schien ein Leuchten auszugehen. Ein ungeahntes Glücksgefühl erfüllte ihn, während er beobachtete, wie vier große Rückenflossen sowie eine kleine sich in gerader Linie vom Dingi entfernten. Ein letztes Peitschen von Schwanzflossen, Gischt spritzte auf, dann verschluckte die Dunkelheit ihre Silhouetten. Sein Herz wurde leicht, als er die freudige Erregung spürte, mit der sie Kurs Richtung Süden nahmen, den Fischschwärmen hinterher, ihrem Instinkt und ihrer Bestimmung folgend.

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Kapitel 1

Der Nordostwind trieb tiefhängende Wolken über einen zornigen Himmel. Vom Atlantik her rollten Brecher auf die Küste zu. Taransay und die blauen Berge von Harris lagen im Nebel. Die Luft war erfüllt vom Tosen des Windes. Kayla Gillan, die wegen eines Streits mit ihrem Mann Dalziel ungeachtet des Wetters einen Strandspaziergang unternahm, spürte den Sprühregen wie Nadelstiche auf dem Gesicht. Der Wind fuhr mit Macht in ihr langes schwarzes Haar und zerrte an den üppigen Locken. Hochgewachsen war sie, und sie hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, mit energischen Schritten und schwingenden Armen über die golden glitzernden Sandflächen zu schreiten. Einer der Vorteile ihres kräftigen Körperbaus, der sie zwar weniger elegant wirken ließ als ihre feingliedrige Schwester Ally, sich aber für die Arbeit auf der Croft, dem Inselgehöft, als nützlich erwies.

Ihr Blick wanderte über die menschenleere Bucht. Sand, so weit das Auge reichte. Die Weite von Tràigh Losgaintir, wie der Strand von Luskentyre von den Einheimischen genannt wurde, war Balsam für ihre Seele. Schwer atmend blieb sie stehen und spürte das Prickeln der Seeluft auf ihren Wangen. Noch immer war sie viel zu aufgebracht, um Dalziel unter die Augen zu treten. Sie fühlte das Klopfen ihres Herzens wie Trommelschläge gegen ihre Rippen hämmern. Dass er seine Anschuldigungen inzwischen wohl bereuen dürfte, dämpfte ihren Zorn nicht einmal annähernd.

Sie hob den Kopf, kniff die ausdrucksvollen, keltisch blauen Augen zusammen und sah zum Horizont. Draußen, über dem Atlantik, riss der Himmel auf. Ein Streifen Licht fiel durch rauchgraue Wolken, die Strahlen der untergehenden Sonne zauberten funkelnde Lichtreflexe auf die Wellenkämme. Das Wasser der Bucht leuchtete wie glattpolierter Türkis. Sie fuhr sich mit der Zunge über die Lippen und schmeckte das Salz auf ihrer Haut. Manchmal erschien es ihr als ein Privileg, hier, auf den Äußeren Hebriden zu leben, wo die Natur unberührt war wie vor hunderten von Jahren, die Traditionen lebendig und Gälisch die Muttersprache eines Großteils der Bevölkerung. Havbredey, Inseln am Rand des Meeres … wie passend der alte nordische Name doch war, sinnierte sie. Es hätte ebenso gut Inseln am Rand der Welt heißen können, wenn man in Betracht zog, wie einsam und mühselig sich das Leben hier oft gestaltete. Dies war einer der Nachteile, den man in Kauf nehmen musste, wenn man auf Harris wohnte. Die Unwägbarkeit des Wetters ein weiterer.

Der kühle Nordostwind ließ sie frösteln. Zu dem monotonen Rollen der Brecher fügte sich das Kreischen der Seevögel. Die Konturen der Berge verblassten zu einem fahlen Grau. Trotz der Kälte beschloss sie, ihren Marsch fortzusetzen. Die Wellen schwappten gegen ihre Gummistiefel, ein knapp daumenbreiter, bis nach Seilebost am anderen Ende der Bucht reichender Wasserfilm bedeckte die endlosen Flächen. Ihre Füße drangen schwer in den nassen Sand ein, der Nylonstoff ihrer Regenjacke blähte sich im Sturm. Ihre Gedanken kreisten um den Streit von eben. Verzweifelt um Selbstbeherrschung ringend, ballte sie die Hände in den Taschen zu Fäusten.

All die Jahre, in denen sie auf Dalziel eingeredet hatte. All die Auseinandersetzungen. All die Nächte, in denen sie ihm beim Schein der Küchenlampe am Esstisch gegenübergesessen und ihn beschworen hatte, Iain, Dalziels Sohn aus erster Ehe, ihren Stiefsohn, nicht mit dem Maßstab zu messen, den die Gillans seit Generationen auf ihre Söhne anlegten. Iain war ein guter Junge, aber so anders, als es von einem Gillan erwartet wurde. Weicher und sensibler vor allem. Ehrgeiz und Empfindsamkeit waren bei ihm stark ausgeprägt und verliehen seinem Charakter etwas seltsam Widersprüchliches. Dazu war er über das gewöhnliche Maß hinaus intelligent und überraschend weltoffen für jemanden, der die Insel kaum jemals verlassen hatte. Zu Recht erhoffte er sich mehr von der Zukunft, als was der Fischfang und die wenig ertragreiche Croft mit ihren zweihundert Schafen und den paar Hühnern zu bieten hatten.

Dalziel sah die Dinge anders. Iain war sein einziger Sohn und somit sein Nachfolger. Iain würde die Croft übernehmen, ob es dem Jungen passte oder nicht. Obwohl Kayla Dalziels Standpunkt nachvollziehen konnte, hatte sie nie aufgehört, Iain zu ermutigen, eigene Wege zu gehen. Sie fand es verkehrt, dem Jungen Einschränkungen aufzuerlegen. Iain hatte das Zeug, um zu studieren. Warum sollte er aus seiner Intelligenz nicht etwas machen?

Doch all die hitzigen Diskussionen hatten nichts genutzt. Dalziel war stur geblieben. Von Iains Träumen hatte er nichts hören wollen. Nun war es zu spät. Iain war weg. Wie es aussah für immer, wenn Dalziel nicht endlich zur Vernunft kam. Erbittert wischte sich Kayla mit der Handkante eine Träne von der Wange. Sie hätte aus der Haut fahren mögen vor angestautem Ärger über Dalziels Halsstarrigkeit. Zornig stapfte sie durch den Sand. Das hochspritzende Wasser durchnässte den Stoff ihrer Jeans. Sie wollte nicht weinen, aber die Tränen ließen sich nicht länger zurückhalten. Überwältigt von ihren Gefühlen blieb sie stehen und schlug die Hände vor das Gesicht, während die Stimme in ihr, die sie verzweifelt versuchte hatte zu ignorieren, lauter wurde. War der Bruch zwischen Iain und Dalziel ihre Schuld? Zumindest zum Teil? Hätte sie Dalziels Meinung respektieren und Iains Erziehung ausschließlich in Dalziels Hände legen sollen? Hatte sie den Jungen zu sehr ermuntert, groß zu denken, obwohl sie wusste, dass sie in ihrer angespannten finanziellen Situation auf Iains Arbeitskraft angewiesen waren und sich das teure Studium nicht leisten konnten? Ihre Brust wurde eng, sie war sich nicht mehr sicher, was sie denken sollte.

Dabei war Iains Wohl beileibe nicht ihre einzige Sorge. Schwerer wog die Frage, wie es jetzt weitergehen sollte. Ohne Iains gutmütiges, fröhliches Wesen war die Stimmung zu Hause düsterer denn je. Noch hielt sie an ihrer Ehe fest, ob aus Liebe oder aus Pflichtgefühl, vermochte sie nicht zu sagen. Sie seufzte. Die Zweifel nagten an ihr wie die Mäuse an den jungen Karotten in ihrem Gemüsegarten. Ihr war bewusst, dass sie die Vergangenheit nicht ändern konnte, doch sollte sie deshalb akzeptieren, dass sich die Aussicht auf die nächsten Jahre ähnlich trostlos gestaltete wie das Wetter? Zum ersten Mal in all den Jahren war sie sich nicht mehr sicher. Vielleicht war es an der Zeit, einen Schlussstrich zu ziehen.

Sie blickte über das Meer. Die Hügel von Taransay erhoben sich schemenhaft vor einem wolkenverhangenen Himmel, die herannahende Flut brandete mit Macht gegen den Strand. Sie hob die Hand vor die Augen. Ein Fleck in den Wellen erregte ihre Aufmerksamkeit. Angestrengt blickte sie in die grauen Wellentäler. Ein kugelrunder Kopf tauchte aus dem Wasser und verschwand umgehend wieder. Gleich darauf erschien einige Meter entfernt ein weiteres Paar schwarzer Knopfaugen über der Wasseroberfläche und schien sie neugierig zu betrachten. Unwillkürlich hielt sie den Atem an. Es waren Kegelrobben, fünf oder sechs an der Zahl. Der Wind trug ihr rollendes Bellen an ihr Ohr. Dass die Tiere bis nach Luskentyre heraufkamen, war ungewöhnlich. Normalerweise ließen sie sich hier nicht blicken. Ihre Kolonie lebte im Süden, auf Shillay, einer der Inseln im Sund vor Harris. Shillay war der alte nordische Name für Seehund. Und von den Nordmännern stammten die Sagen über die Selkies, das Seehundvolk. Gedankenverloren sah Kayla den Tieren zu, wie sie in den Wellen spielten, das feuchtglänzende Fell schimmernd wie Silber.

Unwillkürlich wanderten ihre Gedanken zurück zu den Geschichten, die ihre Mutter ihr an langen Winterabenden erzählt hatte, während das Rattern des Webstuhls das Haus erfüllt hatte. Geschichten von übernatürlichen Geschöpfen, von Brownies, winzigen, meist gutmütigen Feen, die in den grünen Tälern jenseits der Hügel lebten. Von den Blauen Männern des Minchs, Wassergeistern, die in den zerklüfteten unterirdischen Höhlen und Tunnels vor den Inseln wohnten und Schiffe zum Kentern brachten. Von Kelpies, Gestaltwandlern, die in Menschengestalt Spaziergänger überfielen, sich dann zurück in Wasserpferde verwandelten und ihre Opfer ertränkten. Und von Selkies natürlich, jenen sagenumwobenen Kreaturen, halb Mensch und halb Seehund.

Von allen Geschichten waren ihr die von den Seehundmenschen immer am liebsten gewesen. Manche, wie die von Neil Mac Coddrum und seiner Selkiebraut, hatte sie so oft gehört, dass sie sie beinahe Wort für Wort wiedergeben konnte.

 

Vor langer Zeit lebte ein einsamer Fischer an der rauhen schottischen Küste. Sein Name war Neil Mac Coddrum. Eines frühen Morgens, als er mit seinem Boot vom Meer zurückkehrte, hörte er ein Singen, schöner als alles, was er je zuvor gehört hatte. Er suchte den Strand ab, um herauszufinden, wer da sang. In einer mondbeschienenen Bucht fand er, was vor ihm noch niemand erblickt hatte. Zwölf Selkiefrauen, die ihr Fell abgeworfen und sich in Menschen verwandelt hatten, spielten ausgelassen zwischen den Felsen. Verzaubert von ihrer Schönheit, konnte Neil kein Auge von ihnen wenden. Als sie ihn entdeckten, stürzten sie sich in die wogenden Fluten und verschwanden. Neil glaubte, alles nur geträumt zu haben, doch plötzlich stieß sein Fuß gegen etwas Weiches. Es war ein Seehundfell. Sicher kann ich es für einen guten Preis verkaufen, dachte er und hob es auf. Mit dem Fell unter dem Arm machte er sich auf den Heimweg, als auf einmal Schritte hinter ihm zu hören waren. Als er sich umdrehte, stand hinter ihm eine überirdisch schöne Frau und weinte Tränen, so bitter, dass es ihm tief ins Herz schnitt. Bitte gib mir mein Fell zurück, schluchzte sie, denn sonst kann ich nicht zu den Meinen zurückkehren. Aber Neil blieb stur. Anstatt ihr das Fell zurückzugeben, bat er sie, seine Frau zu werden und in seinem Haus zu leben. Dafür, so versprach er, würde er ihr so viel frischen Fisch fangen, wie sie nur essen konnte, und sie glücklich machen. Da ihr keine Wahl blieb, ging sie mit ihm. Sie gewöhnte sich an das Leben an Land und gebar ihm sieben Kinder, doch in langen Vollmondnächten klang ihr anrührender, klagender Gesang über das Meer. Sie konnte einfach nicht vergessen, wer sie war und woher sie stammte. Tag und Nacht sehnte sie sich nach ihren Artgenossen. Manchmal beobachtete eines der Kinder die Mutter, wie sie sehnsuchtsvoll zum Fenster hinaus aufs Meer blickte. Dann fragten sie ihre Mutter, was sie so traurig werden ließ. Jedes Mal antwortete die Seehundfrau, dass sie nur geträumt habe. Eines Tages aber, als sie alleine mit dem jüngsten Sohn zu Hause war, geschah es, dass sie eine Gruppe von Robben bei den Felsen entdeckte. Sie weinte bitterlich vor Kummer. Als der Sohn sie nach dem Grund für ihre Traurigkeit fragte, antwortete sie ihm, dass sie eine Selkie sei und ihre Heimat der Atlantik. Da Neil aber ihr Fell versteckt halte, könne sie nie wieder nach Hause zurückkehren. Der Junge bekam Mitleid mit ihr. Er kannte das Versteck im Kamin, wo sich das Fell befand, und brachte es seiner Mutter. Sie küsste und herzte ihren Sohn und versprach, ihn immer zu lieben. Dann warf sie sich das Fell über und verschwand im Meer. Als Neil zurückkehrte und erfuhr, was passiert war, brach ihm das Herz vor Kummer entzwei, denn er hatte seine Selkiefrau über alles geliebt. Der arme Neil sah seine Frau nie wieder, aber in manchen Mondnächten konnte er sie singen hören, so rein und klar, dass es ihn zu Tränen rührte. Dann fand er Trost darin zu wissen, dass sie glücklich war bei den Ihren.

 

So oder so ähnlich ging die Geschichte … Kayla blickte nachdenklich zu den Robben hinüber. Es gab Familien, hatte ihre Mutter behauptet, hier auf den Hebriden, sowie auf den Shetlands und den Orkneys, in deren Adern noch heute Selkieblut floss.

So tief war Kayla in Gedanken versunken, dass sie gar nicht bemerkte, wie eine besonders heftige Welle heranrollte und donnernde Gischt über den Strand versprühte. Geschickt machte sie einen Satz zu Seite. Als ihr bewusst wurde, welche Richtung ihre Gedanken genommen hatten, schüttelte sie amüsiert den Kopf. Was war nur in sie gefahren? Ihre Fantasie ging mit ihr durch. Bei den Tieren hier in der Bucht handelte es sich um Kegelrobben, nicht um magische Gestalten. So viel stand fest. Sie runzelte besorgt die Stirn. Blieb zu hoffen, dass die Tiere schlau genug waren zu verschwinden, bevor Dalziel Gelegenheit haben würde, sein Gewehr zu holen. Dalziel hasste Robben. Sie machten ihm die Lachse streitig und waren, in seinen Augen, wie eine Rattenplage.

Achselzuckend wandte Kayla den Blick ab. Sie rieb sich die Hände, ihre Finger waren klamm von der eisigen Luft. Entschlossen, Wind und Wetter die Stirn zu bieten, stapfte sie weiter. Ihre Lungen brannten von der Kälte, sie presste die Hände in ihre stechenden Seiten, verringerte aber nicht das Tempo. Wenn nötig würde sie meilenweit laufen. So lange jedenfalls, bis der Impuls, Dalziel mit bloßen Händen zu erwürgen, nachließ.

Im Moment bezweifelte sie entschieden, dass dies je der Fall sein würde. Dafür war er diesmal zu weit gegangen. Mochte er seinen Frust über den Streit ruhig in Whisky ertränken, es war ihr egal. Notfalls würde sie die Nacht im Wohnzimmer verbringen, während er das Schlafzimmer mit seinem Whiskyatem verpestete. Im Grunde genommen war es ihr nur recht, wenn er bei ihrer Rückkehr schon schlief. Wozu reden? Auf eine Entschuldigung seinerseits brauchte sie ohnehin nicht zu hoffen, so viel stand fest. Sie fluchte leise vor sich hin. Irgendwann würde der elende Stolz der Gillan-Männer sie in den Wahnsinn treiben. Wenn Dalziel nicht bald das Ruder herumriss und einlenkte, würde es zu spät sein. Er würde Iain verlieren.

 

Erneut drang das Heulen der Robben an ihr Ohr. Dàn nan ròn, Lied der Seehunde, so lautete der gälische Ausdruck für ihren erschreckend menschlich klingenden Gesang, der den Zuhörer sowohl anrührte, als auch zu Tode erschreckte. Dem Volksglauben nach war der Dàn nan ròn ein Omen. Wer ihn hörte, würde bald ertrinken, sei es auf hoher See oder im Meer der eigenen Gefühle, so gewaltig rüttelte das Lied der Seehunde an der Seele. Nun, Angst vor dem nahen Tode verspürte Kayla keineswegs, dennoch wurde auch sie urplötzlich von einer seltsamen Wehmut erfüllt. Gedankenverloren blickte sie über das Meer. Dass die Tiere ihr gefolgt waren, wunderte sie nicht. Robben waren neugierige Wesen. Dass sie allerdings so ausdauernd heulten, war ungewöhnlich …

Mitten in ihren Überlegungen fuhr ihr eine Sturmbö von hinten in die Kniekehlen, so dass sie Mühe hatte, auf den Beinen zu bleiben. Der Stoff der Jeans klebte unangenehm nass und kühl an ihren Oberschenkeln, also beschloss sie, es gut sein zu lassen und umzukehren. Jede Faser ihres Körpers schmerzte von dem Gewaltmarsch, aber immerhin hatte sie sich so weit abgekühlt, dass ihre Wut über Dalziel versiegt war. Stattdessen machte sich eine Mischung aus Resignation und Trauer in ihr breit, ein wahrlich schlechter Tausch, wie sie feststellte. Bei dem Gedanken daran, wie einsam und leer das Haus ihr nach Iains Abreise erschien, traten ihr erneut Tränen in die Augen. Achtlos wischte sie sie beiseite und zwang sich, den Blick nach vorne zu richten. Jede Medaille hat mindestens zwei Seiten, hieß es immer, oder nicht? Für die Zukunft würde es vielleicht sogar etwas Gutes haben, dass sie und Dalziel gezwungen waren, nun zu zweit, ohne Iain, weiterzumachen. Irgendwie würden sie sich zusammenraufen. Wenn er es ihr auch oft verdammt schwermachte, ihm nahe zu sein, stand eines außer Frage: Dalziel brauchte sie. Mehr, als ihm bewusst war.

Vom Bellen der Robben begleitet, stapfte sie den einsamen Strand entlang zurück. An dem Dünenpfad angekommen, der von der Bucht hinauf zu ihrem Haus führte, blieb sie stehen. Nachdenklich stemmte sie die Hände in die Hüften und musterte die Tiere mit einer Mischung aus Verwunderung und Faszination. Graue Köpfe mit sanften, ausdrucksvollen Augen blickten sie vom Wasser aus an. Sofort kamen ihr wieder die Geschichten ihrer Mutter ins Gedächtnis. Der Sage nach waren männliche Selkies bildschöne, enigmatische Geschöpfe mit olivenfarbenem Teint, kantigen, klar geschnittenen Gesichtszügen, dunklen Augen und schulterlangem pechschwarzen Haar. Von ihnen gingen großes Charisma und Verführungskraft aus. Außergewöhnliche Liebhaber waren sie und nahmen sich der unglücklichen Fischersfrauen an, um nach wenigen Monden ins Meer zurückzukehren, während die Frau an Land blieb und vor Kummer verging. Sieben Tränen bei Flut ins Meer vergossen … Mehr brauchte es nicht, um einen Selkiemann anzulocken. Ha! Kayla lächelte grimmig, dies zumindest hatte sie bei ihrem Spaziergang erfüllt. Wenn sie jetzt einen Wunsch äußern und einen Gefährten herbeisehnen würde, der sie in ihrer Einsamkeit tröstete, würde es dann in Erfüllung gehen?

Grimmig presste sie die Lippen aufeinander. Wie albern. Sie benahm sich wie ein abergläubisches Weib, statt wie eine erwachsene, verheiratete Croftersfrau. Eine Närrin war sie! Dennoch konnte sie ihre schottischen Gene nicht verleugnen, und die Legenden waren darin fest verwurzelt. Wer weiß, vielleicht war es gar nicht so verrückt, an Wunder zu glauben? Vielleicht hätte sie nie aufhören sollen damit. Sie runzelte die Stirn. Im Grunde war das der eigentliche Fehler in ihrem Leben: Die Realität hatte sie viel zu fest im Griff. Was würde wohl passieren, wenn sie den Mut fände, dem Mythos Leben einzuhauchen?

Sie warf einen letzten Blick auf die Robben, dann kehrte sie dem Meer den Rücken zu. Frierend stellte sie fest, dass es spät geworden war. Die Sonne war fast im Meer versunken. Die Umrisse der Dünen verschwammen in der Dunkelheit, aber aus den Fenstern ihres Hauses leuchtete von weitem das Licht. Bei dem Gedanken, in welchem Zustand sich ihr Ehemann inzwischen vermutlich befand, wurde ihr Herz schwer. Es würde Mut kosten herauszufinden, ob ihre Ehe Bestand haben konnte. Sie warf den Kopf in den Nacken und blickte in den sturmgepeitschten Himmel. Ein dumpfer Schrei löste sich aus ihrer Kehle und verhallte zwischen den Klippen. Ohne dass sie es verhindern konnte, füllten sich ihre Augen mit Tränen. Eine zornige, ungehalten über die Dünen auf das Meer zujagende Böe riss sie ihr von den Wangen. Das Salz ihrer Tränen vermischte sich mit dem Salz des Meeres.

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Kapitel 2

Am nächsten Morgen saß Kayla in der Küche, den Kopf in die Hände gestützt, und starrte aus dem Fenster. Nach der Nacht auf dem Sofa fühlte sie sich wie gerädert. Der Streit mit Dalziel hatte sie bis in ihre Träume verfolgt. Nichtsdestotrotz war sie heute Morgen mit den Hühnern aufgestanden, in der Hoffnung, ein vernünftiges Wort mit Dalziel wechseln zu können. Doch die Mühe hätte sie sich sparen können. Dalziel war wie üblich stur geblieben. Beim Frühstück hatte er sich hinter seiner Zeitung verschanzt. Den Kaffee hatte er heiß und schwarz hinuntergekippt, das Essen kaum angerührt. Kayla verzog das Gesicht, zu müde, um sich Gedanken darüber zu machen, was wohl in ihrem Mann vorgehen mochte. Am liebsten hätte sie sich in ihr Bett verkochen und die Decke über den Kopf gezogen. Aber das kam leider nicht in Frage. Sie hatte ihrer Freundin Sandra Reid versprochen, sie im Laden abzulösen.

Sandra, die ursprünglich aus München stammte, war vor fünf Jahren auf einer Wandertour mit dem Rucksack über die Insel gezogen. Dabei hatte sie sich in Tormod Reid, einen Urschotten, verliebt und war auf der Insel hängengeblieben. Vor drei Jahren hatte Sandra die Leitung vom The Cauldron, also Der Kessel, übernommen und unter ihrer Regie hatte sich das Post Office mit dem klangvollen Namen in einen florierenden Laden verwandelt. Nach hymnischen Kritiken auf den einschlägigen Reiseportalen kamen die deutschen Touristen in Scharen, um sich Insider-Tipps von der freundlichen Posthalterin mit dem Münchner Dialekt am äußersten Rand der Welt zu holen.

Was den heutigen Tag betraf, so hatte sich Sandra vorgenommen, die wöchentliche Fahrt zum Großhandel in Stornoway mit einem Termin beim Arzt zu verbinden, welcher, wie sie mehrfach betonte, keinesfalls Aufschub duldete. Kayla mochte müde sein bis zum Umfallen, doch Sandra hängen zu lassen, stand außer Frage. Also biss sie die Zähne zusammen, verdrängte den Gedanken an Schlaf und erhob sich, um ihre Kaffeetasse in die Spüle zu stellen. Ihr Blick glitt über die Arbeitsplatte, wo Dalziels Teller stand und sie anklagend anblickte, ein stummes Abbild davon, wie es um ihre Ehe bestellt war. Er hatte kaum einen Bissen zu sich genommen. Auf dem weißen Geschirr mit dem hübschen blauen Blumenmuster klebte eine unappetitliche Masse, welche einmal ein Rührei gewesen war. Daneben lag, grau und fettglänzend, der gebratene Speck. Normalerweise war Dalziel ein guter Esser, doch nach dem gestrigen Streit hielt ihn sein Starrsinn so fest im Griff, dass er seine Wut auf Gott und die Welt mit Essensstreik bekundete. Zögernd griff sie nach dem Teller. Obwohl es ihr widerstrebte, Lebensmittel wegzuwerfen, nahm sie Dalziels Frühstück und kippte es in den Müll. Sie bedachte den Eimer mit einem vorwurfsvollen Blick. Was für eine Verschwendung! Aber bitte schön, wenn Dalziel es so wollte … Dabei hätte er es bitter nötig gehabt, etwas Kräftigendes in den Magen zu bekommen. Bei dem Gedanken daran, wie erschreckend fahl er heute Morgen unter der gebräunten Haut gewirkt hatte, spürte sie ein bleiernes Gewicht auf ihren Schultern. Sie machte sich Sorgen um ihn. Die Arbeit an den Zäunen war kräftezehrend. Hoffentlich dachte Dalziel daran, dass im Kühlschrank Brotpudding für ihn bereitstand. Dalziel war ein großer, gut gebauter Mann, doch seitdem er die Vierzig überschritten hatte, wies ihn sein Körper regelmäßig in die Schranken. Sie seufzte. Wenn Dalziel nicht lernte, besser auf seine Gesundheit zu achten, würde er eines Tages die Quittung auf den Tisch bekommen.

Sie ließ Wasser in die Spüle laufen und machte einen Lappen nass. Nachdenklich wrang sie ihn aus. War es übertrieben, sich Sorgen zu machen? Es war doch nur eine schwierige Phase, kein schlechtes Leben, oder nicht? Irgendwie würden sie es schon durchstehen. Da hatten sie schon anderes hinter sich gebracht. Die Schafseuche vor vier Jahren, den Wasserrohrbruch, den Sturmschaden am Dach … Mit energischen Bewegungen wischte sie die Toastkrümel vom Tisch und beschloss, die Schwarzmalerei aus ihrem Kopf zu verbannen. Ihr Blick fiel auf die Uhr. Es war an der Zeit, sich fertig zu machen.

Im Schlafzimmer war es dämmrig. Dalziels ganz eigener, markant männlicher Geruch lag noch in der Luft. Kayla stand auf der Schwelle und hielt den Atem an. Das merkwürdige Gefühl, ausgeschlossen zu sein, befiel sie, als würde sie einen Bereich betreten, zu dem sie eigentlich keinen Zugang hatte. In diesem Raum war Dalziels unsichtbare Präsenz erdrückend. Jeder Winkel war gefüllt mit mürrischem Schweigen, so dass sie sich wie ein Eindringling in ihren eigenen vier Wänden vorkam. Sie verbot sich, dem unguten Gefühl nachzugeben, das von ihr Besitz ergriffen hatte. Mit festen Schritten ging sie auf das Fenster zu. Sie schob die schweren Tweedvorhänge zurück und ließ herrlich frische Seeluft, durchmischt mit dem Duft von Wildblumen, hereinwehen. Eine Weile blieb sie am offenen Fenster stehen, das Gesicht der Sonne zugewandt, und genoss die Stille des Morgens. Schließlich wandte sie sich um. Ihr Blick fiel auf das Ehebett. Sie ging hinüber und ließ sich auf Dalziels Seite nieder. Nachdenklich strich sie mit den Fingern über das zerknitterte Laken. Das Kopfkissen sah aus, als hätte ein Boxkampf stattgefunden. Sie seufzte. Das zerwühlte Bett war ein Zeichen für die Schlacht, welche Dalziel Nacht für Nacht mit seinem inneren Dämon schlug. Im Laufe ihrer Ehe hatte sie gelernt, dass sie ihm in dieser Schlacht nicht beistehen konnte. Es bereitete ihr Kummer, dass er sich so quälte, aber er weigerte sich, mit ihr darüber zu sprechen, was der Grund für seine Alpträume war. Wenn sie ihn mit Fragen bedrängte, zog er ohne ein weiteres Wort zu verlieren auf das Sofa um. Kayla litt unter seiner Reaktion, sagte aber nichts, weil es erfahrungsgemäß wenig Sinn ergab. Sie seufzte. Selbst wenn sie die Nacht nebeneinander verbrachten, stellte Kayla düster fest, blieb Dalziel demonstrativ auf Abstand. Dabei vermisste sie die vertraute Nähe seines Körpers. Die Wärme, die von seiner Haut ausging, die Biegung seines kräftigen Rückens, in die ihr Körper sich so perfekt schmiegte, den vertrauten Rhythmus seines Atems. Würde es je wieder so zwischen ihnen werden, wie es einmal gewesen war?

Schweren Herzens erhob sie sich. Sie strich das Laken glatt und stopfte die Decke sorgfältig an allen vier Seiten fest. Dann ging sie in das angrenzende Bad, um zu duschen. Die Arbeit im The Cauldron und das belanglose Geplauder mit den Kunden würden ihr helfen, die trüben Gedanken zu verscheuchen.

Zehn Minuten später stand sie nach Lavendel duftend und mit rosig durchwärmter Haut vor dem Kiefernschrank und überlegte, was sie anziehen sollte. Sie probierte es mit ihren hellen Jeans und dem petrolfarbenen Kapuzenshirt. Pragmatisch und bequem, passend zu der Aufgabe, die heute anstand, nämlich Regale abstauben und neu dekorieren. Prüfend drehte sie sich vor dem Spiegel. Im Grunde genommen gar nicht so schlecht, befand sie. Ihre langen, wohlgeformten Beine kamen in den Jeans gut zur Geltung. Das Sweatshirt umspielte locker ihren Oberkörper, sodass ihre vollen Brüste nicht allzu üppig wirkten. Das Petrol des Stoffes brachte ihre blauen Augen zum Leuchten und verstärkte den Kontrast zwischen ihrem porzellanfarbenen Teint und dem dunklen Haar, das ihr in dichten Wellen über den Rücken fiel. Ja, sie konnte durchaus mit sich zufrieden sein. Insgesamt wirkte sie wesentlich jünger, als sie war. Wie Anfang dreißig vielleicht, aber bestimmt nicht wie sechsunddreißig. Im Gegensatz zu ihrer Schwester Ally war sie eher der hochgewachsene, sportliche Typ. Glücklicherweise hatte sie vor Jahren eingesehen, dass es bei ihrer Statur keinen Sinn ergab, graziös und anmutig wirken zu wollen. Ihr keltisches Erbe ließ sich nun mal nicht verleugnen. Stirnrunzelnd betrachtete sie ihr Spiegelbild. Unterm Strich gesehen gab es an ihrem Erscheinen kaum etwas auszusetzen. Dennoch kam sie sich vor wie ein Schatten ihrer selbst. Unmutig zog sie sich bis auf die Unterwäsche aus und schlüpfte in ein schlichtes weißes T-Shirt mit V-Ausschnitt und in eine schwarze Hose. Die Stirn in Falten gelegt, stand sie vor dem Schrank und überdachte die Möglichkeiten. Plötzlich wusste sie, wonach sie suchte. Klimpernd schob sie ein paar Bügel beiseite. Da, der neue Blazer … strenggenommen hatte sie ihn für besondere Anlässe geschneidert. Doch wann bot sich schon Gelegenheit, die schicke Jacke auszuführen? Kurzentschlossen nahm sie das gute Stück aus dem Schrank. Ihre Finger glitten über die rauhe, leicht fettige Wolle. Wie all ihre Stoffe, welche die begehrte Auszeichnung Harris Tweed trugen, hatte sie auch diesen selbst gefertigt.

Als Kind der Hebriden ging ihr das Weben leicht von der Hand. Sie wusste mit dem mechanischen Hattersley-Webstuhl, den sie von ihrer Mutter geerbt hatte, gut umzugehen. Wie die meisten seiner Artgenossen hatte auch er seinen eigenen Rhythmus und, nicht zu vergessen, seine Schrullen. Doch wenn man ihn zu nehmen wusste und sich beim Aufziehen der Kettfäden nach seinen Bedürfnissen richtete, ratterte er zufrieden wie eine Spielzeuglok vor sich hin.

Sie hielt sich den Blazer an. Mit einem erfreuten Lächeln stellte sie fest, dass ihr die Kombination der Farben gut stand und darüber hinaus äußerst gelungen war: Mauve mit dezenten Sandtönen und einem einzelnen, türkisfarbenen Faden. Oft wurde sie von anderen Webern gefragt, woher sie ihre Einfälle hatte. Obwohl sie alle gängigen Muster beherrschte und wunderbar auf der Klaviatur der Farben von Steingrau über Heidekrautfarben zu Moosgrün spielen konnte, liebte sie es, mit gewagten Kombinationen zu experimentieren, weitab von der üblichen, klassischen Linie. Auf ihr Talent für die Auswahl von Farben angesprochen, zuckte sie stets nur die Schultern. Dabei war die Antwort denkbar einfach: Ihre Muster spiegelten wider, was ihr an Schönheit in der Landschaft begegnete. Im Fall des Blazers war das der Anblick von leuchtend blühendem Rotklee, dahinter der endlose Strand und das karibisch anmutende Türkis des Meeres.

Probehalber, nicht wirklich entschlossen, schlüpfte sie in den Blazer. Erstaunt betrachtete sie ihre Verwandlung im Spiegel. Eine frische, lebensfrohe Version ihrer selbst strahlte ihr entgegen. Eine attraktive, selbstsichere Frau, der man nicht im Mindesten ansah, dass in ihrem Leben längst nicht alles nach Wunsch lief. Froh über ihren Mut zum Außergewöhnlichen, zupfte sie das ihre Taille weich umspielende Schößchen zurecht, welches ihre runden Hüften auf vorteilhafte Weise betonte, ohne diese ausladend wirken zu lassen. Bei dem Gedanken daran, wie Sandra, die eher praktische Wanderkleidung bevorzugte, auf ihr Styling reagieren würde, konnte sie sich ein Lächeln nicht verkneifen. Aller Wahrscheinlichkeit nach würde Sandra ihr dann, mit erhobenem Zeigefinger, erklären, dass Hose und Blazer an einem regulären Arbeitstag im Post Office reichlich übertrieben wirkten. Kayla zuckte die Schultern. Im Grunde genommen mochte Sandra recht haben. Der Kundenkreis des Cauldron bestand hauptsächlich aus Fischern in ausgeleierten Wollpullovern, Arbeitern in ölverschmierten Latzhosen und Croftersfrauen in Strickjacke, Jeans und Gummistiefeln. Doch Sandra behauptete, es sei gerade diese Ursprünglichkeit, welche die Touristen anzog wie Buttercremetorte die Fliegen. Unwillkürlich musste Kayla schmunzeln. Ginge es nach Sandra, würde Kayla in ihrem abgewetzten, nach Schafstall riechenden Wollpulli und mit schlammverkrusteten Gummistiefeln im Laden stehen, in der Hand das furchteinflößende Messer, das sie zum Ausnehmen der Fische verwendete. Dabei würde sie gälische Kraftausdrücke zum Besten geben, um dem gängigen Schottland-Klischee zu entsprechen. Der Highland-Boom war ungebrochen und schwappte zunehmend auf die Inseln über.

Kayla reckte das Kinn und schnitt ihrem Spiegelbild eine Grimasse. Heute, so beschloss sie, würde sie den Erwartungen der anderen einmal nicht entsprechen. Zur Abwechslung würde sie ihre eigenen Bedürfnisse in den Vordergrund stellen und alles daransetzen, sich wohl in ihrer Haut zu fühlen. Sandra würde sich mit ihrer Aufmachung abfinden müssen. Versöhnt mit sich und dem vor ihr liegenden Tag, machte Kayla sich auf den Weg.

 

Zehn Minuten später zog Kayla den Blazer wieder aus und legte ihn enttäuscht auf die Bank neben der Wellblechgarage. Nichts Gutes ahnend, ging sie um ihren klapprigen Volvo herum, löste die Entriegelung der Motorhaube und warf einen frustrierten Blick darunter. Versuchsweise streckte sie eine Hand aus und tippte mit den Fingern gegen den Kühlwasserbehälter. Sie kräuselte die Nase. Jetzt, da sie mit dem Oberkörper halb unter der Kühlerhaube steckte, drang der beißende Geruch von verbranntem Gummi in ihre Nase. Verdammte Karre. Sandra würde ausflippen, wenn sie ihren Arzttermin verpasste. Eine Reihe gälischer Flüche murmelnd, die ihrer Mutter die Schamesröte ins Gesicht getrieben hätten, strich sich Kayla das wirre Haar aus ihrer Stirn, während sie sich ins Gedächtnis zu rufen versuchte, was Iain für gewöhnlich tat, wenn der Motor Mätzchen machte. Aber so sehr sie ihr Hirn auch zermarterte, sie konnte sich beim besten Willen nicht erinnern, was er ihr über die unterschiedlichen Krankheiten ihres Autos erzählt hatte. Der Anblick der vielen Schläuche und Motorteile überforderte sie schlichtweg.

Mitten in ihre Gedanken versunken, hörte sie ein Hupen. Sie richtete sich auf. Die Hände in den schmerzenden Rücken gestemmt, beobachtete sie, wie ein dunkelblauer Pick-up in der Einfahrt hielt. Ihr Nachbar, Seamus Macdonald, lehnte den Oberkörper aus dem Fenster.

»Hallo, Kayla, macht er wieder Ärger?«, er zwinkerte ihr freundlich aus seinen meerblauen, gutherzigen Augen zu.

»Das kannst du laut sagen.« Ohne zu bemerken, wie ölig ihre Finger waren, kratzte sie sich die Wange. »Irgendetwas riecht verschmort. Wer weiß, was passiert, wenn ich das Monster hier stehen lasse.«

»Du meinst Kabelbrand?« Seamus zog die rot-blau gestreifte Pudelmütze zurecht, unter der sein blondes Haar hervorquoll. »Ich glaube nicht, dass das passieren wird.«

»Bist du dir da sicher?«

»Schon«, Seamus zuckte grinsend die Schultern. »Und wenn nicht, auch gut. Falls die Karre abfackelt, brauchst du sie wenigstens nicht verschrotten zu lassen.«

»Also könnte es wirklich anfangen zu brennen?« Kayla warf einen Blick über die Schulter und beäugte misstrauisch den Motorraum.

»Nein. Das war ein Scherz.«

»Hm …«

»Komm schon, Kayla«, Seamus sah ihr ins Gesicht. »Zerbrich dir nicht den Kopf. Wenn du magst, schau ich es mir später an, falls Dalziel keine Zeit hat.«

»Nett von dir. Manchmal denke ich, die Kiste macht das mit Absicht. Wenn Iain da ist, läuft sie wie geschmiert, aber sobald er weg ist …« Sie ließ den Satz in der Luft hängen und schüttelte unglücklich den Kopf.

»Hier, nimm das«, Seamus verschwand kurz im Wagen, lehnte sich dann erneut aus dem Fenster und reichte ihr ein nach geräucherter Makrele riechendes, kariertes Stofftuch. »Du hast da etwas an der Wange.«

Vorsichtig rieb sie mit dem Lappen über ihr Gesicht. »Danke dir. Besser so?«

Seamus nickte anerkennend. »Aye. Du siehst toll aus. Na los, spring rein, ich fahr dich.«

»Im Ernst?«

»Klar. Kein Problem. Ich muss sowieso zum Hafen. Wenn du willst, nehm ich dich heute Abend wieder mit zurück.«

»Na gut, wenn es dir keine Umstände macht. Ich hole meine Jacke.«

»Mach das. Wozu sind Freunde da?« Während sie zur Bank lief und in den Blazer schlüpfte, stieg Seamus, ganz Kavalier, aus und hielt die Beifahrertür für sie auf. Kayla kletterte auf den Sitz und ließ den Sicherheitsgurt einrasten. Seamus umrundete den Pick-up und zwängte seine lange, schlaksige Figur hinter das Steuer. Er drehte den Schlüssel im Zündschloss und umfasste mit einer Hand das Lenkrad. Mit der anderen deutet er auf den Himmel, der sich über den Dünen zusehends bewölkte. »Fängt gleich an zu regnen.«

Kayla runzelte die Stirn. »Tja. Ein bisschen Sonne ist offenbar zu viel verlangt. Na ja, was soll’s. Wir haben Ende April, der Sommer kommt erst noch.«

Seamus legte krachend den Rückwärtsgang ein und ließ den Wagen aus der Einfahrt rollen. »Das glaubst du wohl nicht im Ernst? Wenn du mich fragst, bekommen wir typisches Hebridenwetter.«

»Sagt der Experte?«, spöttelte sie mit einem amüsierten Blick auf Seamus, der erst vor zwei Monaten vom Festland auf die Inseln gezogen war.

Aber Seamus ließ sich nicht beirren und grinste breit. »Du kennst meine Meinung. Im Grunde gibt es auf Harris zwei Möglichkeiten: Entweder es hat gerade geregnet oder es fängt gleich an.«

Kayla lachte schallend. »Ziemlich treffend bemerkt für jemanden, der sein ganzes Leben auf dem Festland verbracht hat.« Sie richtete sich auf dem Beifahrersitz auf und warf einen prüfenden Blick in den winzigen Spiegel über der Sonnenblende. »In Edinburgh dürfte das Wetter um die Jahreszeit wohl angenehmer sein. Ich frage mich sowieso, wie du Jungspund es freiwillig unter uns langweiligen, gesetzten Inselbewohnern aushältst.«

»Als würden die sieben, acht Jahre zwischen uns so einen Unterschied machen. Wenn man freilich erst einmal dein biblisches Alter erreicht hat, fragt man sich so etwas natürlich«, spöttelte er. »Aber wenn du wissen willst, was die Gegend für mich so faszinierend macht …«, Seamus wog bedächtig den Kopf hin und her. »Schwer zu sagen. Irgendwie mehr Luft zum Atmen, vermute ich, so was in der Art. Das Leben in der Stadt ist hektisch. Die meiste Zeit ist man damit beschäftigt, dem Geld hinterherzurennen, um all die nutzlosen Dinge zu kaufen, die man besitzen muss, um dem Standard zu entsprechen. Auf Dauer macht das nicht glücklich.«

Kayla nickte, als könnte sie nachvollziehen, was Seamus meinte, doch in Wirklichkeit gingen ihr ganz andere Gedanken durch den Kopf. Schweigend starrte sie aus dem Fenster, während vor der Scheibe die Dünen von Luskentyre vorbeiglitten.

Seamus schien zu ahnen, dass etwas nicht stimmte. »Alles okay?«, erkundigte er sich vorsichtig, nachdem sie eine Zeit geschwiegen hatte.

»Schon, ich habe mich bloß gefragt …«, sie ließ den Satz unvollendet.

Seamus wandte mitten in der Haarnadelkurve den Blick von der Straße ab und schenkte ihr ein mitfühlendes Lächeln. »Du machst dir Gedanken um Iain, stimmt’s?«

Am liebsten hätte Kayla ihm geantwortet, dass sie sich gerade wesentlich mehr Gedanken darüber machte, wie sie lebend in Leverburgh ankommen sollten, wenn Seamus den Blick nicht endlich wieder auf die kurvige Fahrbahn richtete. Dann aber riss sie sich zusammen und meinte, die Augen starr auf die Straße geheftet: »Ganz schön übertrieben, nicht wahr? Immerhin, Iain ist volljährig. Zeit, um auf eigenen Füßen zu stehen. Wenn er dazu nicht in der Lage ist, muss ich mich ernsthaft fragen, was ich falsch gemacht habe.«

»Unsinn«, erwiderte Seamus mit Nachdruck und konzentrierte sich glücklicherweise wieder auf die enge Küstenstraße. »Eine bessere Stiefmutter als dich könnte Iain sich nicht wünschen. Das weißt du doch.«

»Das sagst du«, Kayla biss sich auf die Lippe. »Dalziel sieht es anders. Er meint, Ally und ich hätten Iain Flausen in den Kopf gesetzt. Wenn’s nach Dalziel gegangen wäre, hätte er Iain glatt verboten, von hier wegzugehen.«

»Aber es geht nicht immer nach Dalziel, nicht wahr?«, warf Seamus ein, den Blick erneut auf Kayla gerichtet. Der Wagen schlingerte in der Kurve.

Unwillkürlich hielt Kayla die Luft an. »Nein. Das tut es nicht. Aber du kennst Dalziel. Er regt sich fürchterlich auf, wenn etwas nicht nach seinem Kopf geht. Im Prinzip meint er es nicht so.« Kayla unterdrückte einen Aufschrei, als der Pick-up auf eine Hügelkuppe zuraste. »Pass auf, da vorne sind häufig Schafe auf der Straße.«

Seamus nickte. Als kleines Zugeständnis schaltete er einen Gang runter, raste dann aber mit unverminderter Geschwindigkeit und heulendem Motor auf den Hügel zu. Unauffällig tastete Kayla mit der Hand nach dem Haltegriff über der Beifahrertür, während ihr Fuß verzweifelt eine imaginäre Bremse bis zum Anschlag durchdrückte.

Doch entweder hatten die Schafe das Brummen des Motors gehört oder sie schienen einen siebten Sinn zu besitzen. Als der Pick-up den Blind Summit, die nicht einsehbare Hügelkuppe, erreichte, setzten sie sich in Bewegung. Kayla sah, wie runde Hintern mit wackelnden Schwänzen zwischen den Klippen verschwanden. Seamus nickte zufrieden und lenkte den Rover hügelabwärts. Vor ihnen, über den schwarzen Granitfelsen von Tràigh Mhòr, spritzte die weißschäumende Gischt auf. Kayla löste ihre schwitzende Hand von dem Griff und atmete ein paarmal tief durch. Dann wandte sie sich an Seamus. »Übrigens, ich habe dir noch gar nicht erzählt, dass der Mann von der Bootsreparatur in Stornoway angerufen hat. Sie haben herausgefunden, was passiert ist.«

Seamus’ Augenbrauen schossen in die Höhe. »Wow, so schnell? Das hätte ich nicht gedacht. War es wirklich Iains Schuld, dass Dalziels Boot den Geist aufgegeben hat?«

Kayla schüttelte den Kopf. »Nicht im Mindesten. Sie sagen, sie hätten einen solchen Fall noch nie erlebt. Anscheinend sind die beiden Gummidichtungen, die das Einströmen von Meerwasser in den Motor verhindern, im gleichen Moment kaputtgegangen. Was ungefähr so wahrscheinlich ist wie ein Sechser im Lotto. Dass es passiert ist, als Iain mit dem Boot draußen war, ist purer Zufall. Es hätte Dalziel genauso treffen können.«

»Pech für Iain also. Ich nehme an, die Sache wird nicht besser durch den Umstand, dass Iain mit Logan unterwegs zu den Shiants war, als der Motor verreckt ist?«

Kayla nickte. »Wenn sie wenigstens zum Fischen draußen gewesen wären … Aber so? Nur zum Spaß mit dem besten Kumpel in der Gegend herumtuckern und Vögel beobachten?«

Seamus nahm eine Hand vom Lenkrad und kratzte sich unter der Pudelmütze. Er warf Kayla einen nachdenklichen Blick zu. Der Pick-up ruckelte bedenklich, als er mit einem Rad von der Fahrbahn abkam. »Was sagt die Versicherung? Kommt sie für den Schaden auf?«

»Vergiss die Versicherung«, Kayla schüttelte resigniert den Kopf. »Dalziel war mit den Raten so weit im Rückstand, dass sie ihm die Police vor einem Monat gekündigt haben.«

»A Dhia«, entfuhr es Seamus, was klagend klang, wie ein »Achjaa…«. Er wiederholte den gälischen Ausdruck für »Oh Gott« ein paarmal, bevor er sich wieder beruhigte.

»So in etwa hat Dalziel auch reagiert«, meinte Kayla zögernd. »Die Reparatur wird teuer. Ich darf gar nicht daran denken, was die Küstenwache zusätzlich für die Bergung des Bootes verlangen wird …«

»Im Grunde ist es also Dalziels Schuld.«

»Wie meinst du das?«, Kayla hob verständnislos eine Augenbraue.

»Na das mit der Versicherung.«

Eine Bemerkung zu Dalziels Verteidigung auf den Lippen, öffnete sie den Mund, schloss ihn dann aber wieder, weil Seamus natürlich recht hatte. Sie zog die Augenbrauen zusammen. »Ja. Ja, so gesehen stimmt das wohl. Wenn er mit mir geredet hätte, hätten wir einen Weg gefunden, das Geld aufzutreiben. Aber du weißt ja, wie er ist.«

»Verstehe«, nickte Seamus. »Dein Mann hat nun mal seinen Stolz. Da kann man nichts machen. Ich hoffe, dass er sich zumindest bei Iain entschuldigt hat?«

Kayla wandte den Kopf ab, um Seamus’ bohrendem Blick auszuweichen. Tapfer kämpfte sie die aufwallenden Gefühle nieder. Dalziel hatte sich selbstverständlich nicht entschuldigt. Dies war der Anlass für den schrecklichen Streit gestern gewesen, aber das ging nur sie und Dalziel etwas an. Ihre Finger malten Kringel auf die Seitenscheibe, sie räusperte sich. »Natürlich hat er das getan«, log sie. »Trotzdem haben sich die beiden erst einmal darauf geeinigt, dass Iain in Edinburgh bleibt und versucht, einen Ausbildungsplatz zu bekommen.«

»Klingt vernünftig«, Seamus nickte anerkennend.

Die weitere Fahrt verlief schweigend. Kayla war heilfroh, als sie Leverburgh erreichten, ohne dass Seamus erneut auf das Thema Dalziel zu sprechen kam. Sie passierten das Ortsschild. Hinter der Kirche und dem Gemeindezentrum machte die Straße eine Kurve. Die Räder quietschten, mit elegantem Schwung setzte Seamus den Pick-up in eine Parklücke vor dem Post Office.

»Danke fürs Mitnehmen, Nachbar«, sagte Kayla und löste den Gurt.

»Gern geschehen. Bis später.«

Kayla warf Seamus eine Kusshand zu und blickte gedankenverloren dem Pick-up hinterher, der Richtung Hafen davonsauste. Obwohl die Sonne durch die aufreißenden Wolkenfelder brach, fröstelte sie von innen heraus. Eine vage Vorahnung befiel sie, dass der Tag nicht so reibungslos verlaufen würde, wie sie es sich erhoffte. Eine unerklärliche Spannung lag in der Luft wie ein entfernter Laut, der in ihr dumpf widerklang. Sie beschloss, das verstörende Gefühl nicht weiter ernst zu nehmen und sich stattdessen in die Arbeit zu stürzen.

 

Vom Atlantik her fegte ein wütender Nordwestwind herein. Auf seinem Weg vom Fjord über die Insel drückte er die Gräser auf dem vorgelagerten, saftigen Marschland nieder, traf dann auf die Wellblechhütten im Hafen und brachte den Butty Bus, den zu einem Imbissstand umfunktionierten Reisebus, zum Schwanken.

Ohne sich an dem ohrenbetäubenden Trommeln des Regens zu stören, saß Seamus auf einem der vier Hocker tief über seinen Teller gebeugt und schaufelte eine gewaltige Portion Fish and Chips in sich hinein. Mochte draußen die Welt untergehen, solange er hier im Trockenen saß, war ihm alles recht. Bevor der Regen nicht nachließ, hatte es ohnehin keinen Sinn, mit dem Reparieren der Reusen weiterzumachen.

Tormod, der Besitzer des Butty Bus, stand hinter der Theke und wienerte mit Inbrunst das ohnehin schon glänzende Metall. Vor einigen Jahren hatte er, unter heftigem Protest von Sandra, einen ausgedienten Fernbus gekauft. Im Nachhinein hatte er zu seiner Verteidigung vorgebracht, dass ihm beim Anblick der scheußlichen grünen Rostlaube eine Art Offenbarung ereilt hatte, der er unweigerlich hatte Folge leisten müssen. Doch sein genialer Einfall, die Verantwortung für den Kauf auf eine höhere Instanz abzuwälzen, hatte sich leider als nicht ganz so glücklich erwiesen, wie er erhofft hatte. Sandra hatte infolgedessen in teutonischer Geradlinigkeit keine Sekunde gezögert, ihm die Koffer vor die Tür zu setzen, mit der Begründung, dass es sich bei ihrem Tun ebenfalls um göttliche Eingebung handle. Glück für Tormod, dass er in solchen, in schöner Regelmäßigkeit wiederkehrenden Fällen, immer Unterschlupf bei Dalziel fand, bis Sandra sich beruhigte. Gottlob tobte sie selten allzu lange.

Tormods Plan war gewesen, den Bus in einen Schnellimbiss mit dem überaus treffenden Namen Butty Bus, also Stullen-Bus, umzufunktionieren und bei der Gemeinde eine Lizenz für einen Dauerstellplatz am Hafen zu beantragen. Niemand hätte seinerzeit gedacht, dass sich der Butty Bus zu einer regelrechten Institution entwickeln würde. Für die Touristen war er eine willkommene Anlaufstelle, um nach der Überfahrt mit der Fähre etwas Essbares in den Magen zu bekommen. Für die männlichen Inselbewohner war er zu einem beliebten Treffpunkt nach der Arbeit geworden. Auf den Bänken vor dem Bus ließ es sich bei schönem Wetter herrlich sitzen und den Sonnenuntergang über dem Sund von Harris genießen. Das Bier brachte man selbst mit, da Tormod keine Schankkonzession besaß, aber daran störte sich keiner. Wenn man nicht gerade von den Mücken aufgefressen wurde, waren es gemütliche Abende mit langen Gesprächen und es waren echte Freundschaften, wie sie nur in winzigen Gemeinden am Rande der Welt existieren. Weil Tormod eine Seele von Mensch war, ließ der Umsatz, ungeachtet der regelmäßigen Treffen, oft zu wünschen übrig.

Tormod löste sich davon, der Vergangenheit nachzuhängen, und fuhr liebevoll ein letztes Mal mit dem Tuch über das blitzende Metall der Theke. Mit routiniertem Schwung warf er sich das Tuch über die Schulter und rückte die Speisekarte neben der Ablage gerade. Kummerfalten durchzogen sein hageres schottisches Gesicht, besorgt wandte er sich an seinen einzigen Gast. »Sag mal, Seamus, ist alles in Ordnung mit dem Essen?«

»Seadh, hm-hm«, erwiderte Seamus zwischen zwei Bissen. »Sicher, warum fragst du?«

»Och, nur so«, Tormod fuhr sich mit der Hand über die Glatze. »Ich hatte gestern ein paar Touristen, die nach vegetarischen Sandwiches gefragt haben.« Er verzog das Gesicht, als hätte er auf etwas Saures gebissen. »Komische Sonderwünsche.«

Seamus grinste. »Nicht gerade dein Ding, vegetarisches Essen, was?«

»Nae … kann nicht verstehen, was es an einer ordentlichen Bacon Roll auszusetzen gibt?«

Wie auf ein Stichwort hin erschien in diesem Moment Donald MacArtairs hagere, regennasse Gestalt in der Tür. »Meine Güte, was für ein Mistwetter.« Er hob ein tropfendes, streng riechendes Fellbündel vom Boden auf und hievte es in den Bus. »Hab ich was verpasst?« Erstaunlich behende für sein betagtes Alter kraxelte er hinter seinem Hund die Stufen hinauf. Er schlug die Kapuze seines leuchtendgelben Ölzeugs zurück und blickte mit funkelnden Augen in die Runde, das füllige silberne Haar stand wie Igelstacheln von seinem Kopf ab. »Ihr habt nicht gerade von Bacon Rolls gesprochen?«, fragte er in rollendem Singsang. Die Gläser seiner Brille beschlugen in der Wärme des Busses, er zog das verbogene Nickelgestell von der Nase und bedachte Tormod mit einem Lächeln aus zusammengekniffenen Augen. »Falls du gerade eins von den Dingern fertig hast, sag ich nicht nein. Man soll ja nichts verkommen lassen.«

»Muss der nasse Köter zwischen den Stühlen liegen und alles volltropfen?«, gab Tormod unter demonstrativer Missachtung von Donalds Anliegen zurück.

»Och, der arme Moses. Er hasst Regen. Sagtest du gerade, du würdest mir ein Specksandwich spendieren?«

Tormod, der wusste, dass er gegen Donalds ausgebuffte Sturheit keine Chance hatte, verdrehte enerviert die Augen, zog dann aber eine Pfanne unter der Theke hervor und warf Speckstreifen hinein. Sekunden später erfüllte der köstliche Duft von Gebratenem den Butty Bus. Schweigend schauten Seamus und Donald dem kurzgewachsenen, um die Taille leicht fülligen Tormod dabei zu, wie er in der winzigen Küche geschickt mit Toaster und Grill hantierte.

»Es pisst wie aus Eimern«, meinte Donald schließlich, mehr um irgendwas zu sagen, als sich über das gewohnt schlechte Wetter zu wundern. »Mo chreach, herrje, ich hoffe, Sandra schafft es, meine Wäsche trocken zu kriegen. Sie wollte sie mir später vorbeibringen.«