Der Hypnotiseur oder Nie so glücklich wie im Reich der Gedanken - Jakob Hein - E-Book

Der Hypnotiseur oder Nie so glücklich wie im Reich der Gedanken E-Book

Jakob Hein

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Beschreibung

Wie verreist man, wenn man nicht reisen kann? Jakob Heins unterhaltsamer Roman über einen Hypnotiseur, der seine Klienten in die Ferne entführt. Ein Dorf, irgendwo im unteren Odertal. Lieselotte Sawidski wohnt dort, seit sie denken kann. Genau wie ihre Nachbarin Gerda. Es herrscht gemütlicher Stillstand: Jeder kennt jeden, man fühlt sich am Rand des Landes und ein wenig auch am Rand der sozialistischen Gesellschaft. Die größte Sehenswürdigkeit der Gegend sind die Kraniche. Als Gerdas Enkel Micha nach seinem Ausschluss vom Psychologiestudium bei seiner Großmutter einzieht und nach ihrem Tod in dem zerfallenden Bauernhaus bleibt, beobachtet die alte Sawidski, wie neben den Kranichen immer öfter auch seltsame Vögel aus Berlin in ihrem Dorf auftauchen – Künstler und Studenten, in erster Linie junge Frauen. Sie kommen und bleiben in Michas Bauernhaus. Die schillerndsten Gerüchte bringen Unruhe in das beschauliche Dorf. Eine Sekte sei am Entstehen, vom Bauernhaus aus würden Westreisen organisiert. Tatsächlich hat Micha eine Gabe: Er kann Menschen hypnotisieren und ihnen so ihren Traum von Frankreich oder Kalifornien erfüllen. Allerdings stößt Micha selbst ständig an die Grenzen der realen Welt. Und sein Unternehmen für Reisen im Kopf, das sogar der countrymusiksüchtige-LPG-Vorsitzende aufsucht, wird von der Stasi argwöhnisch beäugt …

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Seitenzahl: 211

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Jakob Hein

Der Hypnotiseur

oder Nie so glücklich wie im Reich der Gedanken

Roman

Kurzübersicht

Buch lesen

Titelseite

Inhaltsverzeichnis

Über Jakob Hein

Über dieses Buch

Impressum

Hinweise zur Darstellung dieses E-Books

Inhaltsverzeichnis

Motto

Lieselotte Sawidski

Anika

Simone

Peggy

Melanie

Juliane

Inhaltsverzeichnis

Im Reich der Wirklichkeit ist man nie so glücklich wie im Reich der Gedanken.

(Schopenhauer)

Inhaltsverzeichnis

Lieselotte Sawidski

Mit den Kranichen ist es für uns im Unteren Odertal wie für die Inder mit den Affen. Andere Leute kommen hierher, um sie zu fotografieren und uns zu sagen, wie schön doch diese Tiere und ihre Gewohnheiten sind, aber für uns ist es nichts Besonderes, mit diesen Tieren zu leben, und wir wissen auch, welchen Schaden Kraniche anrichten können. Im alten Byzanz sagte man, es sei leichter, einen Fels zu bebauen als Felder und Hügel, die einen Kranich zum Nachbarn haben. Die Briten hatten sie im Mittelalter jahrhundertelang ausgerottet, weil sie die Vögel als Schädlinge ansahen und ihre Eier als Delikatesse. Naturschutz oder nicht, die Biester sind Räuber und verhalten sich eben auch so. Zu uns ins Odertal kommen jedes Jahr Hunderte Kraniche, sie sammeln sich im Herbst auf den großen Auen, bevor sie nach Afrika fliegen, die Männchen bis Westspanien in die Extremadura, die Weibchen noch weiter bis nach Afrika. Obwohl die Paare ein Leben lang zusammenbleiben, verbringen sie die Winter getrennt. Diese Zugvögel sind die größte Sehenswürdigkeit unserer Gegend, graue Vögel, die sich hier ein paar Tage sammeln, bevor sie eine große Reise in den Süden antreten.

Früher war hier mehr los, sehr viel mehr. Also ganz früher war hier natürlich nichts als Landschaft. Aber im 12. Jahrhundert wurde jedem, der hier siedelte, Deutsches Recht verliehen. Das war nicht wenig, die Siedler, völlig egal, woher sie kamen oder welchem Volk sie angehörten, waren damit persönlich frei und erhielten für das von ihnen besiedelte Land das Erbrecht. Die Herzöge von Pommern brauchten Holz und Getreide, und weil das Odertal so schwach besiedelt war, ließen sie sich etwas einfallen.

Es war immer schwer, hier zu leben, damals waren es die Hochwasser und die überschwemmten Wiesen, die das Leben schwer machten, und wahrscheinlich kamen damals noch mehr Kraniche vorbei, um die Ernten zu stehlen. Dann war es schwer, weil unsere Gegend so abgelegen ist, bis heute führen nur wenige Straßen hierher und immer ein paar mehr Straßen weg von hier. Es gab nur eine kurze Zeit, von den Tabakpflanzungen im 18. Jahrhundert bis zum Ende des Poldersystems 1945, in der es den Menschen hier gut ging. Da konnte man richtig reich werden im Unteren Odertal, und die Leute zogen in die Gegend, um Geld zu verdienen. Heute kann man sich das nicht einmal mehr vorstellen. Aus dieser Zeit stammen jedenfalls die prächtigen Bauten und großen Kirchen, die hier zum Teil noch stehen. Doch spätestens seit im Krieg die Schleusen und Brücken zerstört worden sind und sich der Handel mit schlesischem Tuch und Wolle aus Görlitz sowieso nicht mehr lohnte, ist es vorbei mit unserer kurzen historischen Anomalie eines Wohlstands. Plötzlich gab es eine deutsche und eine polnische Seite der Oder. Auf polnischer Seite überließ man das Tal wieder der Natur, was die Kraniche sicher erfreute, aber auch zum Wiederverschluss der gerade erst geöffneten Wasserstraße von Stettin nach Görlitz führte.

Über hundert Jahre lang war die Gegend hier sogar schwedisch, was kaum noch einer weiß. Aber vor allem waren wir meistens eins: am Rand. Seit 1945 hat sich das stufenweise nur noch verstärkt. Erst kam Pommern zu Polen und die Grenze an die Oder, damit waren wir offiziell am Ostrand Deutschlands. Als die Grenze nach Polen 1981 wegen der streikenden Werftarbeiter geschlossen wurde, waren wir noch ein Stück mehr am Rand, da dachten wir schon, dass es weiter weg nicht geht. Aber nach der Wiedervereinigung gab es uns praktisch nicht mehr: kaum Einwohner, keine Jobs, keine Bahnstrecke, kaum Straßen. Unberührte Natur, so wird das Odertal heute gesehen. Schön für Menschen von außerhalb, die hier ein paar Tage verbringen wollen.

Seitdem stehen die schönen Gebäude aus der Vergangenheit herum, wie ein Hochzeitskleid im Schrank hängt. Obwohl es keine Verwendung mehr für sie gibt, kann sich auch keiner zum Abriss entschließen, auch, weil sie doch trotz ihrer Nutzlosigkeit so schön anzugucken und Erinnerungen an eine glücklichere Vergangenheit sind. Ich habe mein Hochzeitskleid lange nicht mehr. Mein Mann und ich haben kurz nach dem Krieg geheiratet, da war ich keine zwanzig, und das Kleid, das ich an dem Tag anhatte, trug ich noch Jahre danach zu jeder Festivität, und irgendwann war es dann verschlissen. Er ist jetzt auch schon lange tot.

Michael kenne ich von klein auf, und darum darf ich ihn immer noch Michi nennen. Er ist der Sohn der Tochter meiner Nachbarin, was, wenn man es so beschreibt, klingt, als würde ich ihn nur ein paarmal gesehen haben, wie ein entfernter Bekannter. Dabei haben sich Gerda, also seine Großmutter und ich, immer gut verstanden. Unsere Männer hatten beide den Krieg überlebt. Wir beiden haben uns immer gut verstanden, und als ihr Siegfried 1969 an der Hongkong-Grippe gestorben ist, haben wir noch mehr Zeit miteinander verbracht.

Ihre Tochter Ilona war damals schon zu Thoralf, ihrem späteren Mann, nach Schwedt gezogen, denn 1960 ist dann Michi gekommen. Wer in Schwedt war, war im PCK, das war keine Frage. Thoralf hatte das Petrolchemische Kombinat erst als Jungaktivist mit aufgebaut und dann die Ausbildung zum Facharbeiter für petrolchemische Produktion gemacht, als der Betrieb 1964 so richtig losging. Ilona war dort Dispatcherin in der betriebseigenen Wäscherei, die haben beide genügend verdient.

Sie blieb auch nach der Scheidung in Schwedt, ich kann das verstehen, was soll eine alleinstehende Frau mit einem kleinen Kind auf dem Dorf? In der Stadt kann jeder leben, Dorf ist schwer. In der Stadt gibt es ein Kulturleben und andere junge Leute, und den Nachbarn ist es egal, wenn man mal ein bisschen länger schläft, sich die Haare so oder so färbt oder vielleicht auch mal Herrenbesuch hat. Hier auf dem Dorf sitzt du ja immer auf dem Präsentierteller. Zwar sagt keiner was, aber es wissen immer alle alles, furchtbar ist das. Heute ist mir das egal, ich bin eine alte Frau, aber als damals herauskam, dass Ernst und ich keine Kinder bekommen können, und alle so mitleidig geglotzt haben, hätte ich manchmal am liebsten geheult und manchmal gern alle angeschrien. Na ja, es ist, wie es ist, was willst du machen?

Bestimmt war das auch mit der Grund, warum wir uns gern zuerst um Ilona und dann auch um Michi mit gekümmert haben. Der Junge ist bei uns ein und aus gegangen, der war gern auf dem Dorf. Der wurde nicht nur von einer Oma, sondern praktisch von drei Großeltern verwöhnt, denn zu uns konnte er ja auch immer kommen. Deswegen hätte es mich auch gefreut, wenn Ilona nach der Scheidung zurück nach Soldin gekommen wäre, dann wäre Michi zu mir in die Schule gekommen. Er hat sich da schon mit Maik Klempow angefreundet, damals war das noch der Sohn von unserem LPG-Vorsitzenden, später ist er selbst Vorsitzender geworden. Wie der Vater, so der Sohn. Na ja.

Maik und Michi. Die beiden sind durchs Dorf gezogen wie Plisch und Plum. Zwei Gauner, aber sie sind nie über die Stränge geschlagen. Sind auf Bäume geklettert, haben zusammen geraucht und später Bier getrunken, was die jungen Leute eben so machen. Die dachten immer, keiner weiß was, dabei wusste das ganze Dorf Bescheid, aber uns war es lieber, sie stießen sich hier bei uns die Hörner ab, als wenn Michi in Schwedt sonst was passiert wäre. In der Zeit, wo sie Jungen waren, so richtige Jungen, da verging kein Sommer, in dem nicht mindestens einer von beiden in unserem Feuerlöschteich gelandet wäre. Die beiden haben immer was ausgeheckt, von morgens bis abends.

Michi war ganz klug und hatte es immer schwer in der Schule, nach dem, was ich so mitbekommen habe. Er hat alles zu schnell verstanden und war eigensinnig, und das passte nicht gut zum Schulwesen. Als sie dann sogar in seiner Schule herausgefunden haben, dass er klug ist, ging er in die EOS Friedrich Gauß, das war damals schon die beste Schule in Schwedt. Die Jungs und Mädchen von dort sollten Mathematiker und Ingenieure werden, aber Michi hatte sich in den Kopf gesetzt, Psychologe zu werden. Ich sagte damals: Michi, du bist doch nicht so der Redner, du kannst dir doch nicht dein größtes Problem suchen und dann ein Studium daraus machen, aber wenn er eines war, dann dickköpfig.

Ich hätte ihn ja eher als Tüftler gesehen. Er war nie der Mensch fürs Praktische, wenn er mal bei mir in der Küche helfen wollte, ist meistens was zu Bruch gegangen. Aber ich habe mir immer vorgestellt, wie er im PCK sitzt und irgendwelche komplizierten chemischen Probleme löst, und wie er im Fernsehen ein Reagenzglas vor das Licht hält. Wir hatten ja in Vorpommern nur Ostfernsehen, wenn die Leute Tal der Ahnungslosen gesagt haben, meinten sie immer das Dresdner Elbtal, aber bei uns war es nicht besser. Außer DDR 1 und DDR 2 bekamen wir beim richtigen Wetter noch TVP, aber wir sprachen ja kein Polnisch.

So habe ich meinen Michi immer gesehen, ein Ingenieur mit Schutzbrille und weißem Kittel, aber er kam eines Tages und wollte Psychologe werden und niemand wusste, wie er darauf gekommen war. Warum will ein vernünftiger Mensch Psychologe werden? Bist du unglücklich, haben wir ihn gefragt, ist irgendwas mit Mutti oder Vati? Aber er hat gesagt, dass das damit gar nichts zu tun hätte und nicht alle Psychologen hätten eine Meise, oder wie er das gesagt hat.

Es hat dann tatsächlich alles erst mal geklappt, weil er sich für drei Jahre verpflichtet hatte, das hatten sie ihm so gesagt. Sie erklärten es den Schülern wie einen Ablasshandel: Er geht drei Jahre zur Armee und dann, aber nur dann, dürfte er Psychologie studieren. Eine Hand wäscht die andere. Hat er gemacht, der arme Hund. Die Mindestzeit waren ja achtzehn Monate, doch wer weiß, ob er diese Zeit gut überstanden hätte. Angeblich ging es den Dreijährigen sogar besser als den Mindestwehrdienstlern, als Frau kenne ich mich da nicht aus, Michi jedenfalls hat die Zeit meiner Meinung nach nicht besonders gut überstanden. Von Jahr zu Jahr hat er mehr getrunken, seine Haut wurde schlechter, und wenn er mal was gesagt hat, klang er nicht wie Michi, sondern als wäre da ein Lautsprecher in ihm, aus dem gerade irgendein grobschlächtiger Kerl sprach. Er selbst war immer so eine feinfühlige Person und sprach eigentlich mit einer schönen, eher hellen Stimme. Ich weiß nicht, wie ich das erklären soll, aber in der Armeezeit haben sich Michi und sein Körper irgendwie voneinander entfernt. Er trug diese hässliche Uniform, sein Gesicht sah aus wie gebraucht gekauft und dazu schepperte diese dunkle Stimme Grobheiten aus ihm heraus.

In dieser Zeit haben wir den Kontakt zueinander verloren. Das war ja auch in Ordnung, er war ein junger erwachsener Mann und konnte auf sich selbst aufpassen, was sollte er mit einer Oma wie mir? Für mich war es trotzdem schrecklich, ich hatte meinen kleinen Michi verloren, statt seiner wurde Gerda von einem jungen Mann in einer Uniform besucht, die grauenvolle Ähnlichkeit mit einer Wehrmachtsuniform hatte. Wenn er mal kam, sah man ihn kaum draußen, meistens war er nur zu Weihnachten und Gerdas Geburtstag da, und nicht einmal auf den Geburtstagsfeiern hat er viel gesprochen. Saß in der Ecke und trank Bier, abends dann noch Korn dazu. Traurig war ich damals auch, weil ich selbst ja meinen Schülern immer so schöne Sachen von der Armee erzählen sollte, obwohl ich zum Glück nur Grundschullehrer und nicht in der Oberstufe war, bei mir musste sich keiner verpflichten, trotzdem war ich geschockt, als ich Michi so erlebt habe.

 

Er ist dann noch nach Rostock zum Studium und zuerst schien es auch wieder bergauf zu gehen. Er begann dann jedenfalls so auszusehen, wie ich mir ungefähr vorgestellt hatte, dass er als junger Mann einmal aussehen würde, bevor er der NVA in die Fänge geraten war. Er kam wieder häufiger vorbei und grüßte ganz freundlich. Ich grüßte ihn natürlich genauso freundlich zurück, Michi sollte nicht denken, dass ich nachtragend bin.

Aber eines Tages – und das war die größte Überraschung –, eines Tages, ungefähr zwei Jahre nachdem er mit dem Studium angefangen hatte, zog er ganz und gar bei Gerda ein. Kam vom Bahnhof mit zwei großen Koffern, gleich im ersten Zug, und zog bei ihr ein. Am Anfang hätte man ja noch denken können, dass es vielleicht ein Urlaub ist oder Semesterferien oder irgendwas, aber nach drei, vier Monaten war klar, dass es wohl für länger sein würde. Die anderen haben sich auf die Gerda gestürzt und versucht, sie auszufragen und abzufangen und Informationen aus ihr herauszuquetschen. So etwas Interessantes passiert ja nicht oft auf dem Dorf und natürlich redet jeder darüber, auch dass Ilona, Michis Mutter, am Anfang sehr oft auf Besuch war, dann aber wieder seltener kam, und dass er sich das alte Zimmer von Siegfried eingerichtet hatte, und dass er jetzt in den Arbeitsklamotten seines Großvaters über den Hof lief mit Gummistiefeln und allem Drum und Dran – über so was haben sich die Leute eben unterhalten. Und am liebsten hätten sie natürlich alles haarklein von Gerda gehört.

So ein Dorf besteht aus lauter Widersprüchen. Keiner will was sagen, aber alle wollen alles wissen. Niemand gönnt dem Nachbarn den Dreck unter den Fingernägeln, aber wenn jemand Fremdes auftaucht, halten alle zusammen. Jeder möchte die Dinge so machen, wie er das schön findet, mischt sich aber gleichzeitig in die kleinsten Angelegenheiten der Nachbarschaft ein. Niemand sagt was, aber trotzdem wissen alle, was gemeint ist. Und angeblich interessiert sich keiner für irgendwas, und doch sind alle unendlich neugierig.

Meine Erfahrung ist, dass man am Ende sowieso alles erfährt und dass sich die Tür der Erkenntnis häufig nach innen öffnet, man sie durch allzu festen Druck dann nur fester verschließt und es besser ist, einen Schritt zurückzutreten und sie sich nach innen öffnen zu lassen. Ich habe Gerda in Ruhe gelassen und Michi sowieso und das sah vielleicht so aus, als wäre ich nicht neugierig, aber ehrlich gesagt war ich von Anfang an der Überzeugung, dass ich so am Ende am allermeisten erfahren würde. Wäre ich ständig unter irgendeinem Vorwand bei Gerda vorbeigegangen, hätte sie mir ja doch nichts erzählt. Und weil ich es lieber ganz genau wissen wollte, wartete ich ab.

Michi kam dann eines Tages bei uns vorbei und wollte sich von Ernst die Bohrmaschine borgen. Während Ernst die aus der Werkstatt geholt hat, haben wir so ein bisschen verlegen herumgestanden und nicht viel gesagt. Als er sie abends zurückbrachte, hat er sich von mir auf ein Bier einladen lassen und dann hat er erzählt. Und erzählt und erzählt und erzählt.

Wie alle Studenten hatte er natürlich auch Marxismus-Leninismus, das war ja so was wie die Staatsreligion bei uns. Jeder musste regelmäßig zu den Versammlungen gehen und seinen Glauben bekennen, unabhängig davon, ob man daran glaubte oder nicht. Deswegen haben die sich auch immer so wegen der Kirche angestellt, weil das Konkurrenz war.

Michi hatte jedenfalls auch ML, wie man das nannte, und weil es ja die Universität war, beschränkte man sich nicht auf wenige Glaubenssätze, sondern sprach auch über die Grundlagen der Philosophie und Erkenntnis und was weiß ich. Der Marxismus sollte quasi als Endergebnis aller philosophischen Überlegungen hergeleitet werden. Und als sie sich mit Schopenhauer und seiner Welt als Wille und Vorstellung befassten, dass die Welt nur aus unserer Vorstellung von ihr besteht, sollten sie sich in einer Hausarbeit pflichtschuldig dazu bekennen, diese Theorie als bürgerlich und falsch zu verwerfen. Das war schon in den Achtzigerjahren, ich meine, kurz danach kam der Milliardenkredit aus dem Westen, überall war zu sehen, dass wir nicht wirklich auf der Seite der Sieger standen, oder, wenn es doch so sein sollte, die Seite der Verlierer ausgesprochene Reize zu haben schien. Ein Arbeitsloser im Westen war zwar arbeitslos, fuhr aber immerhin Opel und machte Urlaub in Spanien, ein Ingenieur bei uns musste ein Vermögen für einen Trabi bezahlen und kam nur mit Beziehungen an einen Urlaubsplatz in Zingst.

Michi hat es mir damals natürlich viel ausführlicher erklärt, jedenfalls hat er wohl in seiner neunmalklugen Hausarbeit die Theorien von Schopenhauer und die Vorstellung der Arbeiterpartei von der Realität in einen Zusammenhang gebracht. Ich selbst habe ja nicht studiert, nach dem Krieg brauchten sie Lehrer, und als sie fragten, habe ich ganz schnell die Hand gehoben, und dann haben sie mich zu einem Lehrgang geschickt, und als ich vier Monate später zurückkam, war ich Neulehrer. Wie man Lehrerin ist, habe ich sowieso erst danach gelernt, und zwar bis zu meiner Rente, das kann man nicht in der Theorie lernen und meiner Meinung nach auch nicht im Studium. Ich will sagen, so ganz genau habe ich Michis Theorie natürlich nicht verstanden, und vielleicht hat er sie selbst nicht ganz genau verstanden, aber zumindest haben sie es an der Universität so verstanden, als wolle er sagen, dass die von der Partei beschriebene Realität eigentlich nur Wille und Vorstellung der Partei sind und dass insofern die Lehren Schopenhauers doch interessant sein müssten, da die Abwendung von messbarer Wirklichkeit in beiden gedanklichen Systemen eine Gemeinsamkeit finde.

Die haben das so verstanden, dass er sagt, dass sie lügen. Und dann hat er gesagt, dass er das nicht meinte, sondern nur das, was da steht, nicht mehr, aber auch nicht weniger, denn dahinter konnte er ja nicht mehr zurück, weil er es dummerweise nicht nur aufgeschrieben, sondern auch noch abgegeben hatte. Er hatte die Hoffnung, sich irgendwie aus der Sache herausinterpretieren zu können. Wenn er das Ganze in einer Diskussion gebracht hätte, dann hätte man es vielleicht noch als Missverständnis eines jungen Arbeiterkindes umdeuten können, das doch seine richtige Haltung zu Partei und Staat immerhin durch drei Jahre Dienst in der Friedensarmee unter Beweis gestellt hatte. Aber Michi hatte es aufgeschrieben und eingereicht, und somit war es ein offizielles Dokument, und offizielle Dokumente müssen in einer deutschen Bürokratie immer auch offiziell verdaut werden. Das war ein Fehler, Michi machte immer solche Fehler.

Ein Telefonanruf kann vergessen, eine Bemerkung falsch verstanden werden, aber ein anstößiges Dokument ist ein anderes Kaliber. Das war übrigens auch das Geheimnis des Eingabenwesens damals. Man setzte sich hin und schrieb einen Brief an den Staat, und der Staat sah sich außerstande, diese Briefe wegzuwerfen. Als Lehrer bist du ja automatisch auch immer so etwas wie die Dorfschreiberin, und ich habe Dutzende, wenn nicht Hunderte Eingaben für Leute im Dorf geschrieben. Am Ende versuchten sie es gar nicht erst selbst, sondern kamen gleich zu mir, ich hatte die kleine Erika im Vorraum, setzte mich hin und schrieb ihnen die Eingabe mit Durchschlag. Dafür bekamen wir Eier oder Gemüse oder Kuchen. Einmal hatte ich für Carsten eine Eingabe über Kies geschrieben und als er den Kies bekam, schenkte er mir ein Kaninchen. Ich musste ihm nur sagen, wann wir es essen wollen, an dem Tag brachte er es vorbei, frisch geschlachtet, gehäutet und ausgenommen. So war das eben.

Zu uns kam man für die Eingaben und zu Klempows wegen dem Telefonanschluss. Als LPG-Vorsitzender war Klempow natürlich privilegiert und bekam den Anschluss, aber hatte bei sich das Schild Öffentlicher Fernsprecher ans Haus zu schrauben und dann ging man dahin, wenn man unbedingt telefonieren musste, seine Frau hat das betreut, er selbst hat ja viel vom Betrieb aus gesprochen, wo er auch ein Telefon hatte, da konnte er zu Hause sparen. Johanna hat aufgeschrieben, wer wie lange mit wem telefoniert hat, und abkassiert. Meistens hat man mehr gegeben, es war ja egal, aber für Johanna kam wohl eine ganze Menge zusammen. Von dreihundert Mark konnte man eigentlich leben damals, und mit dem Telefonieren verdienten sie bestimmt hundert Mark pro Monat.

Michi hätte das alles jedenfalls nicht aufschreiben dürfen, eindeutig feindlich war es wohl auch wieder nicht, aber es war eben auch nicht richtig und sie haben ihn wegen seinem fehlenden Klassenstandpunkt aus dem Studium geschmissen, hat er gesagt. Und dann wollte er nicht zurück zu Mutti und ihrem neuen Freund, und im Studentenwohnheim konnte er nicht bleiben und da ist er zu Oma gezogen, eingezogen in sein altes Zimmer, in dem er immer im Sommer gewohnt hat. Er fand das gut und wollte in Ruhe überlegen, wie es dann weitergeht.

Aber dann musste er sich ja polizeilich melden und das hieß gleichzeitig, dass er eine Arbeitsstelle angeben sollte und da ging er eben zum alten Klempow und fragte, ob der ihn nicht anstellen könnte. Als was denn, wollte der LPGler dann wissen, du kannst doch nichts, Michi. Da hatte er ja recht aus seiner Sicht, denn in der LPG muss man anpacken können, irgendwas, Küche, Elektro, Garten, Traktor – irgendwas musst du können, wenn du in der Landwirtschaft tätig sein willst, und Michi war eben nie der Praktiker. Und dann, so hat es Klempow erzählt, hat Michi die Bücher im Regal gesehen und gesagt, dann nimm mich doch als Bibliothekar. Und Klempow hat gefragt, was für ein Bibliothekar, wir habe doch hier keine Bibliothek. Ist doch egal, hat Michi zu ihm gesagt, dahinten stehen doch ein paar Bücher. Du sollst mir ja auch nichts bezahlen, sondern einfach nur der Sozialversicherung bestätigen, dass ich bei dir Bibliothekar bin. Das kostet aber zwanzig Mark pro Jahr, soll dann Klempow gesagt haben und Michi hatte das schon geahnt und ihm hundert Mark auf den Tisch gelegt und gesagt, in fünf Jahren komme ich wieder. Und da hat Klempow das wohl gemacht, weil man sich ja auch von früher gut kannte und Maik und Michi ja immer noch befreundet waren. Dann konnte Michi in Ruhe überlegen, was er jetzt machen sollte, und er hat so lange überlegt, bis er wahrscheinlich vergessen hat, worüber er nachdenken wollte, und am Ende war er einfach nur auf Siegfrieds Hof.

Als ein paar Monate später Gerda starb, war er sogar ganz allein auf dem großen Hof. Gerda war ein paar Jahre älter als ich und eigentlich nie krank. Hier auf dem Dorf ist eigentlich niemand krank, weil es ja auch gar keinen Arzt gibt, der so was feststellen könnte. Wenn was ist, fährt man nach Pasewalk ins Krankenhaus, und da wird man dann operiert oder sie schreiben ein Medikament auf, Stunden hat man da früher gewartet, das hat man sich schon ganz genau überlegt, ob man krank war. Für die kleinen Dinge oder wegen neuer Rezepte fuhr man nach Rosow rüber, aber das lohnte sich ja auch nicht, weil Dr. Mühler sowieso nichts bei sich hatte, um dich zu untersuchen.

Bei Gerda soll es das Herz gewesen sein. Am Abend war ihr übel und am Morgen war sie tot, so hat Michi es erzählt. Keine siebzig geworden, aber was will man machen? Dann kam sie auf den Friedhof, zur Beerdigung waren alle aus dem Dorf da, und Ilona natürlich auch, und danach saß Michi ganz allein auf dem Hof. Was soll das, haben alle gefragt. Was soll ein junger Mann ohne Frau und ohne Ahnung von irgendwas allein auf dem Hof von Siegfried wohnen, so sagten ja alle noch wegen Gerdas Mann. Der Einzige, der sich das nicht gefragt hat, war Michi. Der saß einfach herum, hat sich um nichts gekümmert, nicht ums Haus, nicht um den Garten.

Im ersten Januar sind dem die Kohlen ausgegangen. Was dachte er, wo die Kohlen herkamen, haben sich alle gefragt. Wir hingen ja schon an der Fernwärme vom Kohlekraftwerk drüben, wie die meisten hier, aber Gerda hatte sich nicht anschließen lassen, und Michi wusste nicht, wie er an Kohlen kommen soll. Er kam zu mir herüber und ich habe ihm erst mal unsere Reste gegeben, und dann hat er in Schmölln angerufen, da war der Kohlenhändler, und weil Klempow ein gutes Wort für ihn eingelegt hat, bekam er eine Woche später seine Kohlen. Wenn Michi den Hof freigeräumt und den alten Wartburg von Siegfried weggefahren und vielleicht noch zwanzig Mark in der Hand gehabt hätte, dann hätten sie ihm die Kohlen wahrscheinlich auch direkt auf den Hof vor dem Stall gekippt, wo ja die Kohlen hingehörten auf dem Hof. Ich weiß nicht einmal, warum ich das weiß, aber so ist es eben auf dem Dorf, irgendwann weiß jeder alles. Ich meine, wir sind ja schon seit Jahrzehnten Nachbarn, da weiß man so was.

Aber Michi hat nichts gewusst, und da haben sie ihm die Kohlen einfach vors Hoftor geschüttet, zehn Zentner Halbbriketts, wie der Braunkohlebruch so hieß. Und dann kam er raus und wollte die überreden, dass sie ihm das noch auf den Hof bringen, aber da haben die sich natürlich totgelacht. Das waren ja Könige, die haben sich doch nichts von so jemandem sagen lassen. Michi ist dann rausgekommen mit seinem Kohleneimer und hat ein paar Stunden lang geschleppt, dann wurde es ihm zu viel und er hat den Resthaufen einfach vor dem Tor liegen lassen, einen Tag, eine Woche. Dann ist ihm wohl aufgefallen, dass er nicht mit dem Auto vom Hof kommt, wenn da die Kohlen liegen, und so hat er den Rest auch noch langsam reingeschleppt. Im Winter ist ja nicht so viel los, weil die Leute weniger draußen sind, die waren richtig glücklich, etwas zu haben, über das sie sich unterhalten konnten im Konsum. Mir hat Michi leidgetan, aber er selbst hat sich nicht leidgetan, dem war das egal.