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Nach internen Querelen wurde Detective Stilwell vom Los Angeles County Sheriff's Department nach Catalina Island versetzt. Eine kleine Pazifikinsel keine vierzig Kilometer vor L.A. – und doch eine völlig andere Welt. Statt Morde aufzuklären, schlägt Stilwell sich mit Ordnungswidrigkeiten, Trunkenheit am Steuer und Taschendieben herum. Bis er die Nachricht erhält, dass am Grund des Hafens eine Leiche gefunden wurde, in Plastiksäcke verpackt und mit einer Ankerkette beschwert. Ausgerechnet kurz vor dem ersten richtigen Sommerwochenende und dem Memorial Day, an dem Ausflügler vom Festland auf die Insel strömen. Niemand scheint die tote Frau zu kennen, niemand hat sie als vermisst gemeldet. Zudem entpuppt sich die Meldung über Wilderei in einem Naturschutzreservat als gefährlicher neuer Fall, für den Stilwell in die zwielichtige Vergangenheit eines hohen Tiers von Catalina Island eintaucht. Der Inselcop muss für Gerechtigkeit sorgen und nimmt es dabei mit den Vorschriften nicht immer ganz so genau.
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Seitenzahl: 445
Veröffentlichungsjahr: 2025
Michael Connelly
Der erste Fall für Detective Stilwell
Roman
Aus dem amerikanischen Englisch von Sepp Leeb
Kampa
Für Callie
Die Dunstschicht über dem Meer war so dicht wie Watteund lag wie eine dreihundert Meter hohe Wand vor der Hafeneinfahrt. Die Adjourned hatte sich verspätet, und Stilwell wartete in seinem John Deere Gator an der Zapfstelle hinter dem Casino. Der Hafen war fast leer, und die roten und orangen Anlegebojen trieben in ordentlichen Reihen auf der spiegelglatten Wasseroberfläche. Sobald die Sonne die Dunstschicht wegsengte, wusste Stilwell, würden die Wochenendurlauber über die Insel hereinbrechen. Die Hafenmeisterei hatte für das erste große Wochenende des Sommers volle Auslastung angekündigt. Stilwell war bereit.
Er hörte ein anderes Cart hinter sich anhalten. Ein elektrisches. Kurz darauf schob sich Lionel McKey auf den Sitz neben Stilwell.
»Guten Morgen, Sergeant«, sagte er. »Ich dachte mir schon, dass Sie hier sind. Warten Sie auf die Adjourned?«
»Was kann ich für Sie tun, Lionel?«, fragte Stilwell.
»Gibt es irgendetwas Neues über die Verstümmelungen oben im Reservat? Ich habe noch etwa vier Stunden bis zur Abgabefrist.«
»Verstümmelung, nicht Verstümmelungen. Eine einzige Verstümmelung. Sie wird noch untersucht, und im Augenblick gibt es noch keine neuen Erkenntnisse. Sobald sich das ändert, sind Sie der Erste, der davon erfährt.«
»Versprochen?«
»Versprochen.«
Stilwells Antwort wurde von einem Nebelhorn unterstrichen, das aus der Dunstschicht dröhnte. An seinem Ton erkannte Stilwell, dass es die Catalina Express war, die gleich aus dem Nebel auftauchen würde. Wie jeden freien Morgen wollte er am Pier sein, um die Neuankömmlinge zu beobachten und die Touristen zu zählen, die in dem Glauben nach Catalina kamen, das Casino sei eine Spielbank, um dann jedoch erfahren zu müssen, dass es nur einen großen Ballsaal und ein Kino beherbergte. An diesem Morgen war es jedoch wichtiger, auf die Adjourned zu warten, als Einfaltspinsel zu zählen.
»Und was wollen Sie in Ihren Bericht reinschreiben?«, fragte er.
»Möglichst wenig«, sagte McKey. »Weil ich nicht wie der letzte Trottel dastehen will.«
»Sehr schlau.«
»Warum? Wissen Sie denn irgendwas?«
»Nein, aber überlegen Sie doch mal, Lionel. Glauben Sie wirklich, das war eine Begegnung der dritten Art?«
»Nein, eigentlich nicht.«
»Na, sehen Sie. Wann genau ist Ihre Abgabefrist?«
»Um zwei.«
»Falls sich bis dahin noch was tut, sage ich Ihnen auf jeden Fall Bescheid.«
»Okay, danke. Ich werde in der Call-Redaktion sein.«
»Und ich habe Ihre Nummer.«
»Dann ein schönes Wochenende.«
»Mal sehen. Es wird bestimmt einiges los sein.«
»Allerdings.«
McKey sprang aus dem Gator und ging zu seinem Gefährt zurück. Als er wegfuhr, sah Stilwell die ineinander verschränkten Cs des Catalina-Call-Logos an seiner Seite.
Wenige Sekunden später brach der Bug der Express durch den Nebel und steuerte auf die Anlegestelle der Fähre auf der anderen Seite des Hafens zu.
Die Adjourned folgte ihr in etwa fünfzig Meter Abstand. Es war eine vernünftige Entscheidung gewesen, dem größeren Schiff durch den Nebel zu folgen, statt blind in den Hafen einzulaufen. Der Kapitän der Fähre verfügte über modernste Navigationsinstrumente.
Die Adjourned war eine vierzig Jahre alte Viking 35, die von Judge Harrell hervorragend in Schuss gehalten wurde. Sie war weiß mit blauen Zierleisten und farblich passenden Markisen über den Kajütenfenstern. Stilwell beobachtete, wie sie am Schwimmdock hinter dem Black Marlin Club vorbei und die erste Anlegerreihe entlangglitt, bis sie die letzte orange Boje erreichte. Harrell machte den Motor aus und angelte mit dem Haken eines Gaffs nach der Leine unter der Kugel. Er trug einen Neoprenanzug, woraus Stilwell schloss, dass er nicht mit einem Boot abgeholt werden musste. Der Richter vertäute das Boot mit wenigen Handgriffen, kletterte aufs Heck und sprang in das kalte Wasser.
Stilwell stieg aus dem Cart, schloss die Box auf der Ladefläche hinter den Sitzen auf und holte zwei grün-weiß gestreifte Handtücher heraus, von denen er eines über den Beifahrersitz breitete. Im selben Moment stieg Harrell die Leiter zum Treibstoffdock herauf.
Stilwell warf ihm das andere Handtuch zu. »Ganz schön dicke Suppe da draußen, Judge.«
»Ich bin hinter der Express in den Hafen trojanert«, sagte Harrell.
Bevor er in den Gator stieg, trocknete er den Neoprenanzug mit dem Handtuch ab und schlang es sich um den Kopf.
»Hab ich gesehen«, sagte Stilwell. »Schlau.«
»Trotzdem, sorry, dass ich zu spät komme«, sagte Harrell. »Aber ich habe Mercy angerufen, und sie hat bereits alles vorbereitet.«
Harrell setzte sich auf das Handtuch, das Stilwell auf den Sitz gelegt hatte.
»Ja, Sir«, sagte Stilwell. »Nur ein paar Ruhestörungen wegen Trunkenheit und ein Grenzfall.«
»Was genau hat es mit dem Grenzfall auf sich?«, fragte der Richter.
Stilwell fuhr um das Casino herum zum Justizzentrum der Stadt.
»Rein technisch gesehen, ist es ein Einbruch in ein bewohntes Gebäude in Verbindung mit Entwendung einer Schusswaffe«, sagte Stilwell. »Aber das Gebäude wird von der Ex-Freundin des Verdächtigen bewohnt, und er behauptet, er hätte sich seine Glock nur deshalb von ihr zurückgeholt, weil er Angst hatte, sie könnte sich selbst etwas damit antun.«
»Wie nobel«, sagte Harrell. »Kennen Sie den Mann?«
»Kermit Henderson, hier geboren und aufgewachsen. Arbeitet oben auf dem Golfplatz, fährt die Rasenmäher und hält den Maschinenpark in Schuss. Die Freundin ist Becki Trower, ebenfalls eine Einheimische. Ich dachte, Sie könnten sich mit ihm vielleicht auf einen Deal wie mit Sean Quinlan einigen, damit wir wieder jemanden haben, der sich in der Station um alles kümmert. Sean hat seine Strafe nämlich bald abgebüßt.«
»Okay, wir reden mal mit ihm. Wenn das alles ist, komme ich später vielleicht sogar zum Angeln.«
»Da wäre nur noch das hier.«
Stilwell beugte sich vor, fasste in seine Gesäßtasche und zog ein der Länge nach gefaltetes Dokument heraus, das er am Morgen ausgedruckt hatte. Er reichte es dem Richter, der es entfaltete und zu lesen begann.
»Ein Durchsuchungsbeschluss«, sagte Harrell.
Er wurde still, als er die Zusammenfassung und die Begründung des dringenden Tatverdachts las. Schließlich schüttelte er den Kopf – nicht, weil er mit etwas von dem, was er gelesen hatte, nicht einverstanden war, sondern weil es ihn wütend machte.
»Haben Sie einen Stift einstecken?«, fragte er.
Stilwell nahm den Stift aus der Brusttasche seines Hemds und reichte ihn Harrell, worauf dieser seine Unterschrift in die entsprechende Zeile setzte und Stilwell den Stift zusammen mit dem Durchsuchungsbeschluss zurückgab.
»Ich versuche schon lange nicht mehr zu verstehen, warum Menschen einander die Dinge antun, die sie einander antun«, sagte der Richter. »Aber Grausamkeit gegen Tiere geht mir immer noch extrem nah. Falls dieser Kerl getan hat, was Sie vermuten, dann soll er schon mal zusehen, dass er einen guten Anwalt findet, und hoffen, dass nicht ich den Fall zugeteilt bekomme.«
»Ich weiß«, sagte Stilwell. »Mir geht es genauso.«
Wenige Minuten später trafen sie vor dem Justizzentrum in der Sumner Avenue ein. Stilwell und Harrel gingen in die Sheriff’s Station, wo der Richter seine Kleider und eine schwarze Robe aus dem Schließfach holte. Stilwell schloss ihm die Arrestzelle auf, damit er die Dusche benutzen und sich fürs Gericht umziehen konnte. Kermit Henderson hatte nicht das nötige Geld für seine Kaution aufbringen können und saß in einer der Zellen. Er beobachtete, wie der Richter vorbeiging und nasse Fußabdrücke auf dem grauen Linoleumboden hinterließ.
Von Sean Quinlan war nirgendwo etwas zu sehen. Stilwell textete ihm, das Gefängnis zu wischen, wenn der Richter geduscht und sich angezogen hatte. Es war Quinlans letzte Aufgabe, da der Richter vorhatte, ihn aus der Bewährung zu entlassen.
Stilwell ging in den Gerichtssaal, wo Monika Juarez bereits am Tisch der Anklage saß. Mercy Chapa hatte für ihren wöchentlichen Auftritt dort den Platz der Gerichtsdienerin eingenommen. Den Rest der Zeit war sie Managerin, Disponentin und Mädchen für alles der Sheriff’s Station sowie Stilwells rechte Hand.
Juarez war eine kleine Frau mit brauner Haut, deren schmales Gesicht von schwarzen Locken eingerahmt wurde, die aber die helle Narbe, die sich ihre linke Kieferpartie hinunterzog, nicht vollständig verdecken konnten. Stilwell hatte sie nie danach gefragt, glaubte aber, dass sie mit ein Grund war, weshalb sie Staatsanwältin geworden war. Sie war um die dreißig und dem Superior Court in Long Beach zugeteilt. Wie Judge Harrell kam sie einmal pro Woche nach Catalina, um sich um die Fälle der Insel zu kümmern. Sie reiste jedoch lieber schon am Abend zuvor mit der Expressfähre an, um auf Kosten des County im Zane Grey abzusteigen und am Morgen direkt ins Gericht zu gehen.
»Der Richter ist gleich fertig«, sagte Stilwell. »Wahrscheinlich fängt er mit Henderson an. Danach kommen die geringfügigen Vergehen. Werden Sie mich für die brauchen?«
»Nein«, sagte Juarez. »Sieht alles nach Routinekram aus.«
»Ich habe den Richter im Hafen abgeholt und bereits über Henderson mit ihm gesprochen. Ich glaube, er wird ihm Bewährung anbieten, wenn er sich hier ein paar Monate um alles kümmert.«
»Aber er ist wegen Waffenbesitz angeklagt.«
»Rein technisch gesehen, schon. Aber er hat die Schusswaffe, übrigens seine eigene, gestohlen.«
»Und das nehmen Sie ihm ab?«
»Ja. Das Opfer – seine Ex – hat nämlich bei ihrer Vernehmung angegeben, dass sie seine Pistole hatte und ihm nicht zurückgeben wollte, nachdem sie ihn vor die Tür gesetzt hatte. Ihre Aussage finden Sie hier drinnen.«
»Die habe ich noch nicht gesehen. Ich habe gerade erst mit der Durchsicht der Akte begonnen.«
Das verriet Stilwell, dass sie am Abend zuvor im Hotel ihre Hausaufgaben nicht gemacht hatte. »Sie können ja jetzt noch kurz reinsehen. Dann will ich Sie mal nicht länger davon abhalten und schaue nach dem Richter.«
Eigentlich wollte Stilwell jedoch den Durchsuchungsbeschluss vollstrecken, den Harrell unterzeichnet hatte. Er ging in den Bereich des Gebäudes, in dem das Sheriff’s Department untergebracht war, und betrat den Bereitschaftsraum, wo Ralph Lampley an dem Schreibtisch saß, den er sich mit den anderen Deputys teilte, und einen Blaubeer-Muffin aß. Lampley war der Deputy, der am längsten in der Sheriff’s Station von Catalina stationiert war. Das lag daran, dass ihn das Sheriff’s Department für die Festlandsbezirke mit hoher Kriminalität nicht für geeignet hielt. Obwohl erst achtundzwanzig, war er beim Streifendienst in Los Angeles County schon in zwei Schießereien mit tödlichem Ausgang verwickelt gewesen. Beide hatten Prozesse wegen widerrechtlicher Tötung nach sich gezogen, die gegenwärtig verhandelt wurden und in denen es um Beträge im achtstelligen Bereich ging. In einem internen Verfahren hatte ihn das Department nur deshalb freigesprochen, weil sonst diese Prozesse überhaupt nicht mehr zu gewinnen gewesen wären. Deshalb durfte Lampley seine Dienstmarke zwar vorerst behalten, wurde aber nach Catalina Island versetzt, wo am ehesten davon auszugehen war, dass er seine Dienstwaffe im Holster stecken ließ. Es hieß allerdings, dass er aus dem Polizeidienst entlassen würde, sobald die Prozesse entschieden oder eingestellt waren.
»Lamp, warum sind Sie nicht schon längst auf Streife unterwegs?«, fragte Stilwell.
»Weil es dieser Arsch Fernando nicht für nötig gehalten hat, meine Karre aufzuladen«, sagte Lampley. »Ich muss warten, bis der Akku wenigstens halb voll ist, bevor ich losfahren kann.«
Er meinte das elektrische UTV, das er sich mit dem Nachtschicht-Deputy teilte. Normalerweise hätte sich Stilwell über Angel Fernando geärgert, dass er das Fahrzeug am Morgen nach Schichtende nicht aufgeladen hatte. Es war schon das dritte Mal in diesem Monat. Fernando war der jüngste Import vom Festland, wo sie nicht in Elektro-Golf-Carts Streife fuhren, weshalb er gern vergaß, sein Gefährt nach Schichtende aufzuladen. Statt jedoch auf Fernandos Nachlässigkeit herumzureiten, witterte Stilwell eine Gelegenheit, sich aus der Station zu entfernen.
»Na schön, können Sie sich dann heute Morgen hier um alles kümmern?«, fragte er Lampley. »Ich muss einen Durchsuchungsbeschluss vollstrecken und brauche jemanden, der Kermit ins Gericht bringt, sobald der Richter so weit ist.«
Lampley antwortete mit einem Mund voll Muffin. »Klar, kann ich machen. Ist der Durchsuchungsbeschluss für den Verstümmelungsfall?«
»Ja«, sagte Stilwell. »Aber das bleibt unter uns.«
»Cool. Machen Sie nur, Sarge. Um den Gerichtskram kümmere ich mich schon.«
»Dürfte nicht lange dauern. Schließen Sie sich mit dem Richter kurz, sobald das Cart halbwegs einsatzbereit ist, und fragen Sie ihn, ob Sie ihn nach der Verhandlung zu seinem Boot zurückbringen sollen.«
»Alles klar.«
Als Stilwell den Bereitschaftsraum verließ, nahm er sich vor, Fernando noch einmal einzuschärfen, das Cart nach Ende seiner Schicht an die Ladestation zu hängen. Als Detective Sergeant war Stilwell der Leiter der Sheriff’s Station in Avalon, und damit ging eine Vielzahl von Organisations- und Verwaltungsaufgaben einher, denen er nur widerwillig nachkam. Einen altgedienten Deputy erinnern zu müssen, bei Schichtende sein Cart aufzuladen, machte die Sache nicht besser.
Stilwell fuhr in das Gewerbegebiet im Süden der Stadt.Neben der Entsalzungsanlage gab es dort auch zahlreiche Lagerhäuser, darunter eines, in dem Island Mystery Tours seine Carts unterstellte. Das Haupttor der Halle war offen, und Stilwell stellte den Gator so davor ab, dass kein Fahrzeug nach draußen kam. Ein Mann in einem ölfleckigen blauen Overall kam aus dem Dunkel einer der Parkbuchten, und Stilwell vermutete, dass er sich darin zum Schlafen verkrochen hatte, da sein Haar auf einer Seite sichtlich zerzaust war. Er sah aus, als hätte er sich eine Woche nicht mehr rasiert, und die blutunterlaufenen Augen hinter seiner Brille deuteten auf einen schweren Kater hin.
»Was gibt’s, Mann?«, fragte er.
»Ich bin Sergeant Stilwell vom Sheriff’s Department. Ich habe einen Durchsuchungsbeschluss für diese Halle.«
»Einen Durchsuchungsbeschluss? Wieso das denn?«
»Wie heißen Sie, Sir?«
Der Mann deutete auf einen ovalen Aufnäher auf der linken Brust seines Overalls. »Henry.«
»Und wie weiter?«
»Gaston.«
»Also, Henry, dann muss ich Sie jetzt bitten, zur Seite zu treten und mich in die Halle zu lassen.«
Stilwell gab dem Mann den vom Richter unterzeichneten Durchsuchungsbeschluss, den Gaston auf Armeslänge von sich hielt, obwohl er eine Brille trug.
»Da steht, Sie suchen nach Tierblut«, sagte er. »Das ist doch total bescheuert. Hier ist kein Blut.«
»Trotzdem werde ich die Örtlichkeit durchsuchen«, sagte Stilwell. »Der Richter hat es heute Morgen angeordnet.«
»Sind Sie der Neue, der jetzt die Station leitet?«
»Wenn Sie mit neu meinen, seit einem Jahr, dann ja.«
»Sie wissen schon, dass ich deswegen Baby Head anrufen muss.«
Stilwell ging ans Heck des Gator und schloss die Ausrüstungsbox auf. Er nahm ein Paar Latexhandschuhe, eine Taschenlampe und die Flasche Bluespray heraus, die zu dem Koffer gehörten, den er in seiner Zeit als Mordermittler auf dem Festland zusammengestellt hatte.
»Sie können anrufen, wen Sie wollen«, sagte er zu Gaston, »aber ich werde die gerichtlich angeordnete Durchsuchung jetzt durchführen.«
Er schloss die Box und ging auf Gaston zu, obwohl er ohne Weiteres auch um ihn hätte herumgehen können. Sichtlich eingeschüchtert, trat Gaston zur Seite und holte sein Handy heraus, um jemanden anzurufen.
Stilwell betrat die Garage, deren linke Seite mehrere leere Ladestationen säumten. Die Tour-Carts waren vermutlich alle im Einsatz oder zumindest unten im Hafen, um für die eintreffenden Touristen bereitzustehen. Auf der rechten Seite der Garage wurden Carts repariert oder für Ersatzteile ausgeschlachtet, darunter zwei Sechssitzer in unterschiedlichen Stadien der Zerlegung. Eines hatte keine Räder mehr und war auf einer Hebebühne aufgebockt. Beim anderen musste die Karosserie ausgebessert werden, weil es, seiner zersplitterten Fiberglasfront nach zu schließen, mit etwas kollidiert war.
In der rechten hinteren Ecke der Garage zog eine L-förmige Werkbank mit einer Stecktafel mit allem möglichen Werkzeug Stilwells Aufmerksamkeit auf sich. Um sie sich genauer anzusehen, ging er um die zwei kaputten Carts herum. Gaston war ihm in die Garage gefolgt und stand jetzt telefonierend in der Mitte der großen Halle.
»Er hat einen Durchsuchungsbeschluss«, sagte er. »Ich kann ihn nicht daran hindern.«
Stilwells Blick wanderte über die Stecktafel und blieb auf einer Handsäge mit einem langen Blatt und einem blauen Plastikgriff haften.
»Äh, im Moment ist er hinten beim Werkzeug«, sagte Gaston. »Willst du vorbeikommen?«
Stilwell nahm sein Handy heraus und machte ein Foto von der an der Stecktafel hängenden Handsäge. Dann streifte er sich die Latexhandschuhe über und griff nach der Säge, um sie im Licht der Taschenlampe genauer in Augenschein zu nehmen. Schon nach Kurzem wurde ihm klar, dass sie neu war. Auf dem Edelstahlsägeblatt waren keine Kratzer oder Korrosionsflecken von der salzigen Meeresluft. Die Zähne waren makellos, und nichts deutete darauf hin, dass damit auch nur ein Stück Butter zerteilt worden war.
Der Plastikgriff der Säge dagegen war alt und wies zahlreiche Gebrauchsspuren auf. Neu war nur das Sägeblatt.
»Das ist eine Rohrsäge«, sagte Gaston. »Wir verwenden sie hauptsächlich für Fiberglas und PVC.«
Er hatte aufgehört zu telefonieren und näherte sich Stilwell von hinten.
»Schneiden Sie damit auch andere Sachen?«, fragte Stilwell.
»Nur Teile für die Carts«, sagte Gaston. »Wir müssen alles individuell anpassen. Manchmal sägen wir sie einfach mittendurch und machen zwei Viersitzer zu einem Achtsitzer oder einem Sechserpack. Ganz nach Bedarf.«
»Sieht nicht so aus, als ob damit jemand in letzter Zeit was zerteilt hätte. Das Sägeblatt sieht nagelneu aus. Haben Sie es vor Kurzem ausgewechselt, Henry?«
»Äh, nein.«
»Sind Sie sicher?«
»Klar bin ich sicher.«
»Seien Sie doch so nett, und schließen Sie das Garagentor. Und dann machen Sie die Deckenbeleuchtung aus.«
»Wieso das denn?«
»Weil ich es tun werde, wenn Sie es nicht tun. Und ich könnte einen falschen Schalter erwischen.«
»Meinetwegen.«
Gaston machte sich daran, Stilwells Bitte nachzukommen. Stilwell wandte sich wieder der Säge zu. Das Blatt war etwa zwanzig Zentimeter lang und hatte sehr kleine Zähne – genau richtig zum Schneiden von Fiberglas- und PVC-Rohren. Es war mit zwei Flügelschrauben am Griff befestigt. Mit Daumen und Zeigefinger löste er sie und trennte das Sägeblatt vom Griff. Gaston zog an einer Kette, die an einem Flaschenzug oben am Garagentor befestigt war, worauf sich dieses zu schließen begann.
Nachdem Stilwell den Griff abgemacht hatte, legte er ihn auf die Werkbank und untersuchte zuerst eine, dann die andere Seite im Licht seiner Taschenlampe. Die Deckenbeleuchtung ging aus, und bis auf Stilwells Taschenlampe und das wenige Tageslicht, das unter den Traufen des Wellblechdachs hereindrang, wurde die Garage in tiefes Dunkel getaucht.
Stilwell besprühte eine Seite des Sägegriffs aus der Flasche mit der Chemikalie, die einen bläulich weißen Schein abgeben würde, wenn sie mit Hämoglobin in Berührung kam. Dann machte er die Taschenlampe aus und wartete.
»Was tun Sie da gerade?«, rief Gaston aus dem Dunkel.
»Ich führe einen präsumtiven Bluttest durch«, sagte Stilwell.
Das wurde mit Schweigen quittiert.
Eine Minute verging, und nichts passierte. Stilwell knipste die Taschenlampe wieder an, drehte den Sägegriff um und besprühte die andere Seite mit der Chemikalie. Dann schwenkte er den Strahl der Taschenlampe auf der Suche nach Gaston durch die Halle. Der stand jetzt nicht mehr am Tor, sondern drei Meter hinter Stilwell und versuchte zu sehen, was dieser machte.
»Bleiben Sie genau da, wo Sie gerade sind, Henry«, sagte Stilwell.
»Wieso?«, fragte Gaston. »Ich arbeite hier. Ich kann mich aufhalten, wo ich will.«
»Ich muss wissen, wo Sie sind, wenn das Licht aus ist. Machen Sie also keinen Ärger. Das ist völlig unnötig.«
»Na schön, dann bleibe ich eben hier. Wenn Sie unbedingt meinen.«
»Danke.«
Stilwell knipste das Licht aus und schaute zur Werkbank. In den Löchern im Griff der Säge, wo das Blatt befestigt gewesen war, war jetzt ein fahlblaues phosphoreszierendes Leuchten zu erkennen. Das hieß, dass aller Wahrscheinlichkeit nach Blut in die Löcher gesickert und beim Säubern der Säge nicht entfernt worden war.
»Sie können das Licht wieder anmachen, Henry«, sagte Stilwell, worauf Gaston die Deckenbeleuchtung einschaltete. Stilwell ging mit dem Sägegriff zum Garagentor und forderte Gaston auf, es zu öffnen.
Gaston zog an der Kette, und das Garagentor begann aufzugehen.
»Was bedeutet präsumiv?«, fragte er.
»Präsumtiv«, korrigierte ihn Stilwell. »Es bedeutet, dass an dieser Stelle allem Anschein nach Blut war. Aber das muss vom Labor noch bestätigt werden.«
»Dann nehmen Sie den Sägegriff also mit?«
»Dazu bin ich durch den Durchsuchungsbeschluss befugt, ja. Mit wem haben Sie vorhin telefoniert, Henry?«
»Mit Baby Head. Er wird gleich herkommen.«
»Das wird nichts an der Sache ändern. Ich nehme den Griff trotzdem mit.«
Stilwell ging zu seinem UTV hinaus, nahm eine Beweismitteltüte aus der Ausrüstungsbox und packte den Sägegriff hinein. Er versiegelte die Tüte, schrieb mit einem roten Marker Datum, Uhrzeit und die Nummer des Durchsuchungsbeschlusses darauf, legte den Beutel in die Box und schloss sie ab.
Dann setzte er sich auf den Fahrersitz und nahm das Klemmbrett von der Ablage unter dem Armaturenbrett. Gaston stand im offenen Garagentor und beobachtete ihn.
»Ich schreibe Ihnen einen Beleg für den Griff«, sagte Stilwell.
»Wofür soll der gut sein?«, fragte Gaston.
»Er dokumentiert die Beweismittelkette.«
»Was für Beweise?«
»Das wissen Sie ganz genau, Henry. Baby Head hat den Bison wohl kaum selbst zerstückelt. Dafür ist er zu clever. Deshalb schätze ich, er hat es jemanden machen lassen. Ich werde den Sägegriff an das Labor auf dem Festland einreichen. Wenn das Blut daran mit dem des verstümmelten Bisons übereinstimmt, komme ich wieder. Das sind geschützte Tiere, und eins zu töten, ist eine schwere Straftat. Uns steht ein hektisches Wochenende bevor, und wahrscheinlich habe ich mit den ganzen Betrunkenen und sonstigen Randalierern alle Hände voll zu tun. Deshalb werde ich am Dienstag vermutlich freinehmen, um mich ein bisschen zu regenerieren, und Mittwoch oder Donnerstag alles ans Labor weiterleiten. Dann dürfte es ein paar Wochen dauern, bis sie dazu kommen, den Sägegriff zu analysieren. Morde an Menschen haben bekanntlich Vorrang. Aber sobald ich den Griff mal eingereicht habe, gibt es kein Zurück mehr. Ich lasse Ihnen also bis Mittwoch Zeit, um in die Station zu kommen und mit mir zu reden, wie wir das Ganze am besten weiter handhaben. Danach habe ich nämlich keinen Einfluss mehr auf den Verlauf der Sache.«
Er nahm den Beleg vom Klemmbrett, zog den gelben Durchschlag heraus und stieg aus dem Cart. Dann ging er zu Gaston und reichte ihn ihm.
»Bis Mittwoch, Henry«, sagte er.
Das Ganze war ein Bluff. Stilwell wusste, im Labor musste er sich mit seiner DNA-Anfrage ganz hinten anstellen. Wenn er Glück hatte, konnte er bis Jahresende mit einem Ergebnis rechnen.
»Da hat Baby Head sicher was dagegen«, sagte Gaston. »Er kennt Leute.«
»Das tue ich auch«, sagte Stilwell.
Er stieg in den John Deere, drehte den Zündschlüssel und stieß rückwärts auf die Straße. Dort legte er den Vorwärtsgang ein, aber ein anderes Cart hielt direkt vor ihm an und versperrte ihm den Weg. Es war ein Sechssitzer von Island Mystery Tours, auf dessen Dach bäuchlings ein grüner Pappmaché-Alien lag und sich mit seinen dreifingrigen Händen an den Seiten des Carts festklammerte, als ginge es um sein Leben.
Oscar »Baby Head« Terranova, der Eigentümer und Manager, sprang heraus und stürmte auf ihn zu.
»Was wollen Sie hier, Stilwell?«, stieß er aufgebracht hervor.
»Das hat Ihnen Henry sicher schon am Telefon erzählt«, sagte Stilwell. »Er hat eine Kopie des Durchsuchungsbeschlusses und des Belegs. Alles Weitere können Sie sich selbst denken.«
Auf Baby Heads glattrasiertem Schädel bildete sich ein Schweißrinnsal. Unter seinem linken Ohr hatte er einen Diamantring auf den Hals tätowiert und am rechten Arm ein Ärmeltattoo aus Totenköpfen, Blumen und einer dreistelligen Zahl, bei der es sich vermutlich um die Vorwahl seines Herkunftsorts handelte.
»Bei mir sind Sie an der völlig falschen Adresse, Mann«, schimpfte er.
»Schon möglich«, sagte Stilwell. »Wäre nicht das erste Mal und auch nicht das letzte.«
»Ich weiß Bescheid über Sie. Und nicht nur ich. Sie bewegen sich auf verdammt dünnem Eis, seit Sie hierhergekommen sind, und jetzt werden Sie endgültig einbrechen. Da kann man nur hoffen, dass Sie Ihre Schwimmflügel anhaben.«
»Können Sie bitte Ihr Cart wegfahren, Sir? Ich muss zurück zur Station.«
»Sie können mich mal!«
Terranova sprang in sein Cart, stieg aufs Gas und schoss so abrupt durch das Tor in die Garage, dass Gaston gerade noch rechtzeitig zur Seite springen konnte.
Auf der Fahrt zurück in die Stadt hielt Stilwell kurz am Mount Ada, um die Aussicht auf die Berge und den halbmondförmigen Hafen mit dem Casino zu genießen, das aussah wie ein Cupcake mit roter Glasur. Seit dem Morgen, als er den Richter abgeholt hatte, waren schon einige Boote eingelaufen.
Als er in die Station zurückkam, sah er, wie Lampley gerade zu seinem frisch geladenen Cart ging. Er hielt neben ihm an.
»Wie lief’s?«, fragte Lampley.
»Ich habe Blutspuren auf einem Sägegriff gefunden«, sagte Stilwell. »Mal sehen, was dabei herauskommt, wenn ich ihn im Labor untersuchen lasse.«
»Erwarten Sie sich da mal lieber nicht zu viel.«
»Keine Sorge. Wie lief’s im Gericht?«
»Hat nicht lang gedauert.«
»Was war mit Kermit?«
»Harrell hat ihm drei Monate Dienst an der Gemeinschaft aufgebrummt und gesagt, er soll sie bei uns in der Station abarbeiten.«
»Super. Ich werde eine To-do-Liste schreiben und ans Schwarze Brett hängen, damit ihr eure eigenen Vorschläge hinzufügen könnt.«
»Okay.«
»Was steht gerade an?«
»Ich werde nur meine Runde drehen. Bisher sind noch keine Anrufe eingegangen. Die Ruhe vor dem Sturm.«
»Das können Sie laut sagen.«
Stilwell salutierte ironisch und parkte sein Cart auf dem ihm zugeteilten Parkplatz. Bevor er den Eingang der Station erreichte, erhielt er einen Anruf aus der Hafenmeisterei.
»Hier Tash. Du wirst am Skiff-Anleger dringend gebraucht.«
Tash Dano war die stellvertretende Hafenmeisterin. Stilwell hatte sie auf seinen Runden kennengelernt, als er neu auf die Insel gekommen war. Er hatte sich mit jedem getroffen, der innerhalb der kleinen Inselcommunity eine gewisse Machtposition innehatte, angefangen beim Bürgermeister von Avalon bis hinunter zur stellvertretenden Hafenmeisterin. Die meisten zeigten sich distanziert. Die nach Catalina versetzten Deputys schienen nämlich nie lange zu bleiben; sie verschwanden, sobald sie sich bei der Polizeiführung auf dem Festland rehabilitiert hatten. Die Station auf der abgelegenen Insel war ein Sammelbecken für die Loser und Freaks in den Reihen der Polizei, weshalb es den Einheimischen den Aufwand nicht wert schien, sie näher kennenzulernen. Nicht so Tash. Sie hatte Stilwell zum Mittagessen eingeladen und ihm die Sehenswürdigkeiten der Insel gezeigt. Sie war auf der Insel geboren und aufgewachsen und hatte nicht vor, sie zu verlassen. Stilwell fand sie sofort sympathisch.
»Was gibt’s dort?«, fragte er.
»Du kennst doch Abbott, den Seepockenschaber?«, fragte sie.
»Ich weiß, wer er ist. Er heißt Denzel, oder?«
»Ja. Er hat eben angerufen und gesagt, dass unter der Aurora eine Leiche ist. Sie hat eine Ankerkette um den Körper geschlungen. Eine menschliche Leiche. Ob Mann oder Frau, konnte er nicht erkennen.«
Stilwell brauchte eine Weile, um Tashs Angaben zu verarbeiten. Er erhielt regelmäßige Updates, welche Boote im Hafen lagen, und erinnerte sich, dass die Aurora eine in Venezuela registrierte hochseetaugliche Jacht war. Sie war vor zwei Tagen in den Hafen eingelaufen und hatte in der vierten, den großen Booten vorbehaltenen Bojenreihe angelegt.
»Okay, bis gleich«, sagte Stilwell. »Und sag Abbott, er soll am Skiff-Anleger auf mich warten.«
»Mach ich«, sagte Tash.
»Und noch was, Tash. Wie lang bleibt die Aurora noch?«
»Sie soll heute auslaufen.«
»Um wie viel Uhr?«
»Jederzeit. Sie haben die Boje bis sechzehn Uhr, können aber ablegen, wann sie wollen.«
»Dagegen müssen wir vielleicht was unternehmen. Wenn stimmt, was Abbott sagt, würde ich sie lieber am Auslaufen hindern.«
»Soll ich die Küstenwache verständigen? Sie könnten sie aufhalten.«
»Bevor wir schweres Geschütz auffahren, lasse ich mir den Fund der Leiche lieber erst bestätigen.«
»Verstehe. Und wie willst du das machen?«
»Ich werde mit Abbott zu ihr runtertauchen.«
»Oh.«
»Hast du damit etwa ein Problem?«
»Nein, aber sei vorsichtig.«
»Keine Sorge. Bin ich.«
Stilwell ging in die Station, um seinen Neoprenanzug zu holen.
Das Wasser war kalt. Beim Abtauchen fühlte es sich an,als bohrten sich Eisspitzen in seine Ohren. Der größte Teil seines Körpers wurde durch den Neoprenanzug, den er noch aus seiner Zeit beim Tauchteam des Sheriff’s Department hatte, gegen die Kälte geschützt. Füße, Kopfhaut und Ohren waren ihr jedoch schutzlos ausgesetzt.
Beim Abstieg hatte Stilwell ein Déjà-vu. Die Kälte. Das Geräusch seines gemessenen Atems in der Maske. Die Stille unter Wasser und das Gefühl, alles wie in Zeitlupe wahrzunehmen.
Er folgte Denzel Abbott in die Tiefe. Beide hingen an den Luftschläuchen des Kompressors in dessen Boot. Die Luft in Stilwells Schlauch fühlte sich faulig und abgestanden an. Er musste gegen Übelkeit ankämpfen, während er von dem Bleigürtel, den er sich von Abbott geliehen hatte, langsam hinabgezogen wurde.
Als Stilwell nach Tash Danos Anruf im Hafen eingetroffen war, hatte die Sonne die morgendliche Dunstschicht bereits vollständig weggebrannt. Abbott erzählte ihm, er habe Seepocken vom Rumpf der Aurora geschabt, als er in etwa zwanzig Meter Entfernung ein metallisches Aufblitzen bemerkte. Als er, um der Sache auf den Grund zu gehen, tiefer ging, stellte er bestürzt fest, dass es sich dabei um eine am Grund verankerte Leiche handelte, die in etwas Schwarzes eingehüllt war. Weitere Einzelheiten konnte er jedoch nicht erkennen.
Sie waren etwa zehn Meter vom Heck der Aurora entfernt abgetaucht. Lichtstrahlen flirrten durch die hohen Ranken des Algenwalds, der vom Meeresgrund emporwucherte, grüne Bänder, die wie nicht von dieser Welt träge dem Sonnenlicht entgegenstrebten und wie eine Gruppe Tänzer vollkommen synchron in der Strömung hin und her trieben. Inzwischen konnte Stilwell das Licht sehen, das sich im blanken Metall eines Ankers brach.
Im Schatten des Rumpfs der Aurora tauchten sie tiefer in die Abgründe des Hafens hinab. Die Leiche – so es eine war – befand sich zehn Meter tiefer. Es war, wie es Abbott beschrieben hatte: Eine aufgedunsene menschliche Gestalt brach aus der Öffnung eines großen schwarzen Sacks hervor, der mit einer geflochtenen Ankerleine und einer massiven verzinkten Kette umwickelt war. Die Kette reichte zu einem Anker hinab, der sich etwa einen Meter tiefer an einer großen Koralle verhakt hatte. Das lange dunkle Haar, das sich aus dem schwarzen Plastiksack befreit hatte, trieb träge in der Strömung. Stilwell konnte die weiße Kopfhaut darunter erkennen.
Mit seinen in Taucherhandschuhen steckenden Fingern, die er zusammen mit seinem Neoprenanzug aus seinem Spind in der Station geholt hatte, verbreiterte Stilwell die von einer Schnur zusammengehaltene Öffnung in dem schwarzen Plastik. Das Gesicht, das darunter zum Vorschein kam, war wächsern und von den Verwesungsgasen so stark aufgedunsen, dass es kaum mehr menschliche Züge trug. Aufgrund seiner Erfahrungen mit der Unterwasserwelt wusste er jedoch, dass es ein Mensch war.
Aus einer violett gefärbten Strähne in dem dunklen Haar schloss er, dass es sich um die sterblichen Überreste einer Frau handelte. Die Fissuren im Gesicht der Toten hätten von Verwesungsprozessen, aasfressenden Unterwasserbewohnern oder Verletzungen herrühren können, die ihr vor ihrem Tod zugefügt worden waren. Ihr Anblick weckte Erinnerungen an Mordopfer, die er als Leichenbergungstaucher zu sehen bekommen hatte – Gräuel, die er für immer hinter sich gelassen zu haben glaubte. Im gängigen Polizeijargon hießen sie, je nach den Umständen, Schwimmer oder Sinker, Bezeichnungen, die sie entmenschlichen und Distanz zu ihrem verstörenden Anblick schaffen sollten. Trotzdem konnte sie Stilwell nicht vergessen. Das Mädchen auf dem Grund des Lake Piru, das den Blick nach oben gerichtet hatte, ans Licht und einem Gott entgegen, der sie nicht gerettet hatte. Der Mann in Anzug und Krawatte, die Sonnenbrille immer noch an ihrem Platz, der mit Betonklötzen an den Füßen im Bouquet Reservoir versenkt worden war. Das Baby auf dem Rücksitz des Autos, das absichtlich auf einer Bootsrampe in den Castaic-Stausee gefahren worden war. Alle in den Tiefen einer blauen Welt gefunden, die so still und ruhig und zugleich so tödlich war.
Er konnte sehen, dass diese Leiche schon einige Zeit im Wasser lag. Vier Tage mindestens. Sein Blick löste sich von den mattbleichen Augen der toten Frau und wanderte die Kette hinunter zu dem Anker, der die Leiche daran gehindert hatte, an die Oberfläche zu steigen. Es war ein Pfluganker, der sich an einer Koralle verhakt hatte.
Stilwell kannte die Verwesungsstadien in kaltem Wasser. Die Leiche war beschwert versenkt worden und am Meeresboden verankert gewesen, bis Mikroorganismen in den Eingeweiden Gase zu entwickeln begannen, die sie immer stärker aufblähten und ihr trotz des Gewichts des Ankers und der Kette mehr und mehr Auftrieb verliehen. Das hatte die Person, die die Tote ins Wasser geworfen hatte, nicht bedacht.
Trotz der Kette bekäme die Leiche irgendwann genügend Auftrieb, um in der Strömung über die Korallen und Algenfelder zu treiben und an die Oberfläche zu steigen, wenn sie nicht vorher schon vom Meeresgrund losgerissen wurde. Einmal hatte Stilwell aus dem Apollo Lake eine Leiche geborgen, die sich in einer alten Waschmaschine verheddert hatte, die von einem Boot geworfen worden war. Der Halt dieses Ankers an den Korallen war nur von begrenzter Dauer. Er konnte sich schon beim nächsten Gezeitenwechsel lockern oder ganz lösen.
Stilwell fiel auf, dass der Anker nicht von einem großen Boot wie der Aurora stammen konnte. Er schätzte sein Gewicht auf fünf Kilo. Der Edelstahlglanz, der Abbotts Aufmerksamkeit ursprünglich auf sich gelenkt hatte, war reine Show. Es war kein Anker, der gegen die Korrosion verzinkt und mit der restlichen Ausrüstung eines Boots unter Deck verstaut war. Höchstwahrscheinlich lag er blitzblank und gut sichtbar auf Gummirollen im Bug und war an einer Seilwinde befestigt, mit der er sich per Knopfdruck ins Wasser lassen oder einholen ließ. Es war auf jeden Fall der Anker eines Freizeitboots, von denen es jedes Wochenende im Hafen wimmelte.
Stilwell hatte genug gesehen. Er musste an die Oberfläche zurück, um die Gasdämpfe aus seiner Lunge zu bekommen und sowohl das Tauchteam als auch die Mordermittler und Rechtsmediziner zu verständigen. Zu seiner Erleichterung würde diesen Fall nicht er übernehmen müssen.
Als er sich umdrehte, sah er Abbott ein paar Meter von der Leiche entfernt auf dem Meeresboden stehen. Er hatte die Augen unter der Taucherbrille weit aufgerissen. Stilwell nahm seinen Bleigürtel ab und schlang ihn um den Anker, damit die Leiche von der Strömung nicht fortgetrieben werden konnte, wenn er sich aus seiner Verankerung löste. Er hatte sich die aktuelle Gezeitentabelle noch nicht angesehen und war nicht sicher, wann die Strömung die Richtung ändern würde. Die Leiche sollte auf keinen Fall am ersten Tag des Memorial-Day-Wochenendes an die Oberfläche steigen.
Stilwells Lunge begann von der abgasverseuchten Luft zu brennen. Er deutete an die Oberfläche, worauf Abbott nickte und den Aufstieg begann. Stilwell folgte ihm nach oben, und sie tauchten neben Abbotts Ruderboot auf. Stilwell legte einen Arm über die Bootsseite, zog die Maske ab und atmete die frische Luft in tiefen Zügen. Er sah Abbott an, der sich an der anderen Seite des Boots festhielt.
»Der Kompressor hat eine undichte Stelle.«
»Ich weiß«, sagte Abbott. »Ich dachte nur nicht, dass es so schlimm wäre.«
»Ist es aber. Davon bekomme ich sicher einen gewaltigen Brummschädel.«
»Tut mir leid. Wahrscheinlich bin ich einfach daran gewöhnt.«
»Schon gut.«
»Und was jetzt? Wollen Sie sie einfach lassen, wo sie ist?«
»Erst mal schon. Ich werde so schnell wie möglich das Bergungsteam verständigen. Sobald sie die Leiche geborgen haben, bekommen Sie auch Ihren Bleigürtel zurück.«
»Klar, überhaupt kein Problem.«
Als sich Abbott über die Seite des Boots hievte, begann es so heftig zu schaukeln, dass sich Stilwell fast das Kinn daran anschlug. Er wartete, bis es wieder ruhig im Wasser lag, dann zog auch er sich über die Seitenwand.
»Schauen Sie mal, wer da schon auf uns wartet«, sagte Abbott.
Stilwell drehte sich zum Skiff-Anleger, wo Tash Dano und Lionel McKey mit Doug Allen standen, dem Bürgermeister von Avalon, der bereits auf vier Amtszeiten zurückblickte.
»Das hat sich aber schnell rumgesprochen«, sagte Abbott.
Stilwell nickte.
»Da haben wir den Salat.«
Die Hände in die Hüften gestemmt, erwartete sie derBürgermeister auf dem Bootsanleger. Tash Dano und Lionel McKey standen ein Stück von ihm entfernt. Abbott legte mit dem Boot an, und Stilwell, der sich ein grün-weißes Handtuch um die Schultern geschlungen hatte, stieg aus.
»Brauchen Sie mich noch?«, fragte Abbott.
Stilwell drehte sich zu ihm. »Die Detectives vom Festland werden wahrscheinlich Ihre Aussage zu Protokoll nehmen wollen. Aber wir rufen Sie einfach an. Machen Sie für heute Schluss, oder gehen Sie noch mal runter?«
»Ich fahre nach Hause«, sagte Abbott. »Nach dem, was ich da unten gesehen habe, ist mir nicht mehr nach Arbeiten.«
Stilwell nickte. Konnte er verstehen. Als er sich von Abbott abwandte, löste sich Tash von der Seite des Reporters und kam einen Schritt auf ihn zu.
»Müssen wir die Aurora erst mal hier behalten?«, fragte sie gefasst. »Sie wollen auslaufen.«
»Können sie auch«, sagte Stilwell. »Was da unten im Wasser ist, ist schon länger dort, als sie hier sind. Aber sag ihnen, sie sollen langsam fahren, bis sie aus dem Hafen sind. Ich möchte nicht, dass sie den ganzen Grund aufwirbeln.«
»Alles klar«, sagte Tash.
Dann kam McKey auf ihn zu. »Ist da unten eine Leiche?«, fragte er.
Bevor Stilwell antworten konnte, trat der Bürgermeister vor.
»Moment, immer schön mit der Ruhe. Wir sagen noch nichts, was für die Veröffentlichung bestimmt ist. Sergeant Stilwell, bevor wir irgendein offizielles Statement abgeben, muss ich unter vier Augen mit Ihnen sprechen.«
»Selbstverständlich«, sagte Stilwell.
»Und Sie müssen zurück auf den Pier«, wandte sich Allen an McKey.
»Das ist ein öffentlich zugänglicher Hafen, Herr Bürgermeister«, sagte McKey. »Ich habe genauso ein Recht, hier zu sein, wie Sie.«
»Wenn Sie meinen«, sagte Allen. »Sergeant, können Sie hier rüberkommen.«
Die zwei Männer gingen ans andere Ende des Schwimmdocks, wo sie nicht belauscht werden konnten.
»Können Sie bestätigen, dass da unten eine Leiche ist?«, flüsterte er mit großem Nachdruck.
»Ja, kann ich«, flüsterte Stilwell zurück.
»Und wie soll es jetzt weitergehen? Ich möchte auf keinen Fall, dass neben der Express was an die Oberfläche kommt. Was werden Sie jetzt machen?«
»Ich werde die Mordermittler und ein Tauchteam anfordern. An die Oberfläche kommt erst was, wenn wir es hochholen.«
»Mordermittler … Heißt das, hier handelt es sich um einen Mord?«
»Die Leiche befindet sich in einem Plastiksack und ist mit einem Anker und einer Kette beschwert. Das sieht für mich nach einem Mord aus.«
Allen trat näher und fuhr in dringlicherem Ton fort: »Ihnen ist doch hoffentlich eines klar, Sergeant. Die Fähren sind voll, und jede Anlegestelle im Hafen ist ausgebucht. Das ist nach dem Independence Day das besucherreichste Wochenende des Jahres. Deshalb möchte ich auf keinen Fall, dass es hier im Hafen zu einem Mordermittlungsspektakel kommt.«
»Ist mir durchaus klar, Herr Bürgermeister. Aber wir werden die Ermittlungen vorschriftsmäßig durchführen und die Bergung der Leiche, so gut es geht, vor neugierigen Blicken abschirmen. Das lässt sich durchaus machen. Wenn Sie aber meinen, wir sollen die Leiche da unten lassen, bis am Montag alle von hier weg sind, muss ich Sie …«
»Das habe ich damit nicht gemeint, nur, ein Mord ist immer schlecht fürs Geschäft. Gehen Sie also diskret vor. Und erzählen Sie diesem Reporter nichts, solange seine Abgabefrist nicht abgelaufen ist. In die Ausgabe von nächster Woche kann er es meinetwegen reinsetzen, aber nicht in die von morgen.«
»Ich werde mein Bestes tun. Aber jetzt muss ich ein paar Telefonate führen.«
Stilwell wandte sich ab und ging zu der Gangway, die zum Pier hinaufführte.
»Noch ein Letztes, Sergeant.«
Stilwell drehte sich wieder um.
»Ja?«, fragte er ungeduldig.
»Ich habe heute Morgen eine Beschwerde über Sie erhalten«, sagte der Bürgermeister. »Von einem unserer Geschäftsleute. Oscar Terranova.«
»Tatsächlich? Das ging aber schnell.«
»Sie haben seine Firma durchsucht?«
»Ich hatte einen von Judge Harrell unterzeichneten Durchsuchungsbeschluss. Alles im rechtlichen Rahmen.«
»Er hat gesagt, Sie haben es ungeschickt angestellt.«
»Ich weiß nicht, was er damit meint. Ich hatte einen Durchsuchungsbeschluss für seine Firma. Ich habe sie durchsucht. Danach ist Baby Head aufgetaucht und war nicht begeistert. Das war alles.«
»Okay, verstehe. Darf ich fragen, worum es dabei ging?«
»Nein, dürfen Sie nicht, Herr Bürgermeister. Es ist ein laufendes Ermittlungsverfahren. Darüber darf ich nicht sprechen.«
»Ich bin auf dieser Insel geboren und aufgewachsen, Sergeant, und schon sechzehn Jahre ihr Bürgermeister. Sie dagegen werden wahrscheinlich kommen und gehen wie alle Deputys, die hierher versetzt werden. Ich mag keine Überraschungen, vor allem nicht, wenn sie ein negatives Bild auf diese schöne Insel werfen.«
Er deutete auf die Stelle, an der die Leiche im Wasser versenkt worden war.
»Kann ich verstehen«, sagte Stilwell.
»Gut«, sagte Allen. »Dann sind wir uns da also einig.«
Stilwell nickte und wandte sich ab, ohne auf die letzte Äußerung des Bürgermeisters einzugehen. Er sah, dass McKey noch immer auf dem Schwimmdock stand, während Tash Dano oben auf dem Pier zur Hafenmeisterei zurückging.
»Ich kann noch nicht mit Ihnen reden«, sagte Stilwell, als er am Reporter vorbeizukommen versuchte.
»Wie meinen Sie das?«, fragte McKey. »Ist da unten eine Leiche oder nicht?«
»Dazu darf ich noch nichts sagen. Reden Sie mit Abbott. Er darf Ihnen erzählen, was er gesehen hat. Ich nicht.«
»Sie lassen sich vom Bürgermeister vorschreiben, was Sie machen sollen?«
»Nein. So wäre es in jedem Fall, egal, ob er hier ist oder nicht. Ich befolge lediglich die Vorschriften des Sheriff’s Department. Das wissen Sie ganz genau.«
Damit ließ er McKey stehen und stieg die Gangway zum Pier hinauf. Oben am Geländer standen mehrere Gaffer. Die meisten von ihnen waren Einheimische, die in den Souvenirständen auf dem Pier arbeiteten. Es hatte sich rasch herumgesprochen, dass etwas im Wasser war.
Er überquerte die Crescent Avenue und ging die Sumner zur Station hinauf. Dort suchte er sofort die Umkleide auf, schlüpfte aus dem Neoprenanzug, duschte kurz, zog seine Arbeitskleidung an und legte das Holster mit seiner Dienstwaffe an. Sein fensterloses Büro, es hatte die Größe eines begehbaren Kleiderschranks, grenzte an den Bereitschaftsraum, und dort setzte er sich ans Telefon. Zuerst rief er in der Mordkommission an, deren Nummer er auswendig wusste. Die Stimme, die sich meldete, war ihm nicht bekannt, und er verlangte den Captain zusprechen.
»Corum«, meldete sich dieser wenig später.
»Cap, hier Stil. Wir haben hier einen Mord. Eine Leiche im Hafen. Sieht nach einer Frau aus.«
»Eine Schwimmerin?«
»Sie ist mit einem Anker beschwert, in etwa zehn Metern Tiefe.«
»Ist das bestätigt?«
»Ich bin runtergegangen, hab’s mir selbst angesehen. Dem Verwesungszustand nach zu schließen, dürfte sie schon etwa vier Tage im Wasser sein. Bei Wassertemperaturen um die fünfzehn Grad ist das allerdings schwer abzuschätzen. Sie sollten die Taucher und eins Ihrer Ermittlerteams herschicken.«
»Herrgott noch mal – an einem Freitag.«
»Tja, mir sitzt bereits der Bürgermeister im Nacken. Heute wird es auf Catalina bestimmt ganz schön voll. Mord ist schlecht fürs Geschäft.«
»Also gut. Da Ahearn und Sampedro an der Reihe sind, muss ich die beiden rüberschicken. Kann ich mich darauf verlassen, dass Sie nicht mit ihnen aneinandergeraten?«
»Habe ich denn eine Wahl?«
»Nein, haben Sie nicht.«
»Dann schicken Sie sie her. Notfalls kann ich ihnen ja Händchen halten.«
Das zog ein langes Schweigen Corums nach sich. Stilwell musste an das letzte Mal denken, als er mit Rex Ahearn zu tun gehabt hatte. Damals war er an einem Sonntagmorgen ins Büro der Mordermittler gekommen, um seinen Schreibtisch auszuräumen. Zu seiner Überraschung war Ahearn da gewesen, und die Situation war rasch eskaliert. Bis hin zu Handgreiflichkeiten.
»Händchen sollen Sie ihnen vielleicht nicht unbedingt halten, Stil«, sagte Corum. »Es genügt, wenn Sie ihnen einfach erklären, worum es geht, und sie ihre Arbeit machen lassen.«
»Nur wäre ihre Arbeit, den Fall zu lösen, Cap. Und da können wir, glaube ich, lange warten.«
»Damit wollen wir lieber erst gar nicht anfangen, Detective Sergeant.«
Der Umstand, dass der Captain ihn mit seinem offiziellen Dienstgrad ansprach, verriet Stilwell, dass er einen Schritt zu weit gegangen war. Er ruderte zurück.
»Captain, werden Ihre Leute das Bergungsteam und die Rechtsmediziner zusammenstellen, oder soll ich das tun?«
»Nein, das machen wir. Ihre Aufgabe ist jetzt, den Tatort so gut wie möglich zu sichern. Alles Weitere übernehmen wir.«
»Alles klar.«
Ohne ein weiteres Wort legte Corum auf. Stilwell bedauerte es, dass er seine Probleme mit Ahearn und Sampedro zur Sprache gebracht hatte. Er versuchte nicht weiter daran zu denken, und verließ sein Büro. Inzwischen war Mercy Chapa an ihrem Schreibtisch. Sie war Anfang fünfzig, hatte graue Haare und machte keine Anstalten, sie zu färben. Das passte zur ihrer Rolle als inoffizielle Stationsmutti, denn sie kümmerte sich um alles, was keinen unmittelbaren Polizeibezug hatte.
»Mercy, können Sie Lampley anfunken und ihm sagen, er soll sich am Skiff-Anleger mit mir treffen?«
»Klar. Ich glaube, er hat gerade Kermit zum Golfplatz gefahren.«
»Sagen Sie ihm jedenfalls, er soll zum Hafen kommen. Ich warte dort auf ihn.«
»Wird gemacht, Sergeant.«
Stilwell zog ein frisch geladenes Funkgerät aus der Ladestation an der Wand neben Mercys Schreibtisch.
»Gibt es irgendwelche Vermisstenmeldungen, von denen ich nichts mitbekommen habe?«, fragte er.
»Nein«, sagte Mercy. »Sie kriegen immer alle Meldungen.«
»Schon klar. Kennen Sie in der Stadt zufällig jemanden mit langen dunklen Haaren und einer violetten Strähne? Sie wissen schon, violett gefärbt.«
»Ähm, nein. Wurde im Hafen wirklich eine Leiche im Wasser gefunden?«
»Ja. Aber ich möchte nicht, dass Sie mit irgendjemandem darüber sprechen.«
»Ich erzähle niemandem was von der Arbeit. Ist es ein Mädchen?«
»Ja, eine Frau, ziemlich sicher jedenfalls. Sie haben nicht zufällig von jemandem gehört, der nicht zur Arbeit oder zum Unterricht erschienen ist oder sonst etwas in der Art? Vielleicht jemand, der angeblich aufs Festland unterwegs war und nicht rechtzeitig zurückgekommen ist?«
Mercy lebte in dritter Generation auf der Insel, und Stilwell hatte schon sehr früh in seiner Dienstzeit auf Catalina gelernt, dass sie weitreichende Beziehungen in der Community hatte.
»Nein, nichts.«
»Okay. Aber lassen Sie es mich wissen, wenn Ihnen etwas zu Ohren kommt.«
»Natürlich.«
»Ich fahre dann mal zum Hafen runter und warte auf die Mordermittler.«
Das Bergungsteam war mit einem Boot gekommen undhatte einen Ermittler der Rechtsmedizin dabei. Die Taucher waren bereits im Wasser, als der Hubschrauber des Sheriff’s Department vom Festland herüberkam, über dem Hafen kreiste und neben dem Casino landete. Stilwell war fest entschlossen, so wenig Zeit wie möglich mit Ahearn und Sampedro zu verbringen, und schickte Lampley los, um sie abzuholen.
Der Tag neigte sich dem Ende zu, und der Hafen war fast komplett voll mit Booten unterschiedlichster Größe, die dicht gedrängt an drei Bojenreihen lagen. Tash Dano hatte es geschafft, die vierte Reihe frei zu halten. Sie hatte Stilwell angerufen und ihm zugesichert, die letzten Boote mit Reservierungen draußen in der Bucht warten zu lassen, bis er ihr grünes Licht erteilte. Er sagte ihr, dass die Ermittlungen im Hafen bei Einbruch der Dämmerung eingestellt würden.
Zu Stilwells Überraschung kam Lampley nur mit Ahearn zum Dock für die kleinen Boote. Sampedro war anscheinend auf dem Festland geblieben. Ahearn, der Anzug und Krawatte trug, wurde von vielen Touristen oben auf dem Pier neugierig beäugt, als er die Gangway hinunterstieg.
Inzwischen zog sich die Flut aus dem Hafenbecken zurück, und der Wasserspiegel war seit dem Morgen um mehr als einen Meter gesunken. Der Skiff-Anleger passte sich den Gezeiten an, weshalb die Gangway jetzt steil nach unten führte. Ahearn war ein großer Weißer mit breiten Schultern und dickem Hals, auf dem ein runder Kopf saß. Er kam gefährlich schnell die Gangway herab, und um ihm nicht im Weg zu stehen, machte Stilwell einen Schritt zur Seite.
Damit man nicht so leicht ausrutschte, war die Gangway mit gerippten Gummimatten belegt, aber der Anleger war kürzlich mit Glasfaserplatten gedeckt worden und vom darüber hinwegschwappenden Wasser sehr glatt. Deshalb geriet Ahearn mit seinen lederbesohlten Straßenschuhen ins Rutschen, sobald er ihn betrat. Es zog ihm die Füße unter dem Körper weg, und er landete, wild mit den Armen rudernd, auf dem Hintern. Seine Rutschpartie über die restlichen zwei Meter des Schwimmstegs wurde von seinem schnieken Anzugstoff zusätzlich beschleunigt, und er fiel zwischen zwei Zodiac Schlauchbooten ins Wasser.
»Mist!«, schrie Lampley, der hinter ihm die Gangway herunterkam.
Stilwell trat sofort an den Rand, um Ahearn zu helfen, aber der reagierte unmittelbar auf das kalte Wasser des Pazifik, als er auftauchte.
»Verdammte Scheiße!«
Stilwell bückte sich und hielt Ahearn die Hand hin. Das tat auch Lampley, aber Ahearn war das Ganze zu peinlich, um Hilfe anzunehmen, und schlug wütend ihre Hände weg.
»Lassen Sie mich!«
Stilwell und Lampley traten zurück, machten eine beschwichtigende Geste und sahen dem großen Polizisten dabei zu, wie er seinen Oberkörper auf den Schwimmsteg wuchtete. Mit seinem dunklen Anzug und den nach hinten geklatschten Haaren sah er aus wie einer der Seehunde, die sich hier am Morgen oft sonnten. Er stemmte sich aus dem Wasser und drehte sich erschöpft auf den Rücken.
»Himmel, Arsch und Zwirn!«, brüllte er. »Aber Sie fanden es bestimmt super, Stillborn.«
»Ganz im Gegenteil«, sagte Stilwell. »Statt gleich mit den Ermittlungen zu beginnen, müssen wir jetzt erst mal sehen, wo wir trockene Sachen für Sie herbekommen.«
»Lecken Sie mich doch.«
Stilwell wandte sich Lampley zu, der immer noch erschrocken dreinschaute.
»Bringen Sie ihn in die Station, damit er erst mal duschen kann, und dann besorgen Sie ihm aus dem Gerichtsschrank was zum Anziehen – falls dort irgendwas ist, das ihm passt. Ich bleibe hier. Sagen Sie mir Bescheid, wenn er fertig ist. Dann komme ich vorbei, sobald das Bergungsteam hier durch ist.«
Ahearn zog seine nasse Geldbörse aus der Gesäßtasche.
»Meine Fresse«, sagte er. »Sie hätten mich warnen können, Stillborn.«
»Meinen Sie damit, dass Sie auf einem Schwimmanleger keine Oxford-Schuhe tragen sollten? Ja, hätte ich vielleicht tun können.«
Aus jeder Falte von Ahearns Anzug troff Wasser, als er sich langsam aufrichtete. Er rutschte sofort wieder aus und ging auf ein Knie nieder.
»Herrgott noch mal, helfen Sie mir hoch!«
Lampley hielt ihm eine Hand hin, und Ahearn packte sie und versuchte absichtlich, ihn nach unten zu ziehen, aber der junge Deputy hielt dagegen. Ahearn ließ ihn los und stand allein auf. Er schaute zum Pier hinauf und sah mehrere Touristen, die ihre Handys auf den Anleger richteten.
»Super«, knurrte er. »Das hat mir gerade noch gefehlt. Ich möchte, dass alle diese Handys konfisziert und die Videos gelöscht werden.«
»Das können Sie vergessen«, sagte Stilwell. »Sehen Sie zu, dass Sie in die Station kommen und duschen und sich was Warmes anziehen. Dann reden wir.« Er sah Lampley an und nickte Richtung Gangway. »Nehmen Sie ihn mit.«
Lampley hielt Ahearn die Hand hin, um ihm zur Gangway zu helfen. Aber der Detective schlug sie beiseite und überquerte den Steg mit winzigen Trippelschritten, wie jemand, der zum ersten Mal auf Schlittschuhen stand. Sobald er die Gummimatten der Gangway erreichte, fühlte er sich in Sicherheit. Er drehte sich zu Stilwell um, als wollte er etwas sagen, überlegte es sich dann aber anders und stieg wortlos die Rampe hinauf. Mit einer Hand hielt er sich am Geländer fest, mit der anderen zeigte er allen, die seine peinliche Situation weiter filmten, den Mittelfinger.
Stilwell sah ihnen hinterher, bis sein Handy zu summen begann. Es war Tash Dano. Sie hatte Ahearns Rutschpartie vom Turm der Hafenmeisterei gesehen.
»Ganz schön peinlich«, sagte sie. »War das der Mann von der Mordkommission?«
»Ja«, sagte Stilwell. »Hätte keinem sympathischeren Menschen passieren können. Was gibt’s, Tash?«
»Verzögert sich durch das Malheur dieses Typen alles? Wann kann ich die letzten Boote aus der Bucht in den Hafen lassen? Es wird bald dunkel, und langsam werden sie bestimmt sauer.«
»Augenblick.«
Stilwell steckte das Handy in seine Hemdtasche und nahm das Funkgerät von seinem Gürtel. Es war auf die Frequenz des Tauchteams eingestellt, weshalb er mit dem Topside Deputy Gary Saunders, den er schon jahrelang kannte, nicht verschlüsselt sprechen musste.
»Gary, wie lange braucht ihr noch?«
Er wartete auf Saunders’ Antwort.
»Ähm, also, sie bringen sie gerade rauf. Sie haben sie bereits in einen Sack gepackt, und den Sichtschutz haben wir ebenfalls schon aufgestellt. Wegen der Schaulustigen müssen wir uns also keine Gedanken machen. Wir ziehen die Leiche ins Boot, dann sind wir fertig. Chuck hat bereits den Meeresgrund abgesucht, aber nichts gefunden. Sie wurde irgendwo anders ins Wasser gelassen, wahrscheinlich draußen in der Bucht, und dann von der Flut in den Hafen getrieben.«
»Verstehe. Habe ich mir schon gedacht.«
»Gehört der Bleigürtel dir?«
»Ich habe ihn mir geborgt.«
»Okay, wir bringen ihn dir.«
»Danke.«
»War das übrigens A-Loch, der eben ins Wasser gefallen ist?«
Das war einer von Rex Ahearns beliebtesten Spitznamen. Der andere war ein Wortspiel mit seinen beiden Namen: King A-Loch.
»Richtig«, sagte Stilwell.
»Hätte keinem sympathischeren Menschen passieren können«, sagte Saunders.
»Meine Rede.«
»Das geht bestimmt viral. Auf dem Pier waren eine Menge Leute.«
»Ist mir nicht entgangen.«
»Okay, dann kommen wir hier zum Ende und bringen dir deinen Bleigürtel vorbei.«
»Copy. Out.«
Stilwell holte sein Handy heraus und gab die Info an Tash weiter.
»Könnte nicht schaden, wenn du ihnen ein bisschen Dampf machst«, sagte sie.
»Sie müssen mit der Leiche aufs Festland zurück«, sagte Stilwell. »Das wollen sie sicher schaffen, bevor es dunkel wird.«
»Okay.«
»Ach, Tash, weil ich dich grade dran habe. Hast du auf der Insel mal jemanden mit langen dunklen Haaren und einer violetten Strähne gesehen? Eine Frau?«
»Hmm.«
Sie schwieg eine Weile, dann sagte sie: »Kommt mir irgendwie bekannt vor, aber richtig zuordnen kann ich sie nicht. Ich glaube nicht, dass sie von hier ist. Die Einheimischen kenne ich alle. Aber ich kann mich vage erinnern, irgendwo mal ein Mädchen mit solchen Haaren gesehen zu haben.«
»Ein Mädchen?«
»Nein, eigentlich eine junge Frau. Sie war schon älter.«
»Falls dir einfällt, wo du sie gesehen hast oder sonst was, sag mir Bescheid.«
»Ist das die Person im Wasser.«
»Ja. Alter im Moment noch unbekannt.«
»Mhm. Traurig.«
»Ja.«
Sie legten auf. Stilwell setzte sich auf eine Ausrüstungsbox am Ende des Stegs und beobachtete die Bergungsarbeiten aus der Ferne. Saunders hatte auf dem Achterdeck des Taucherboots ein Zelt aufgebaut, in das sie die Leiche während der Fahrt durch die Bucht legen würden.
Die Taucher kamen an die Oberfläche und wuchteten einen wasserdichten Leichensack über das Dollboard aufs Heck. Saunders und ein Ermittler der Rechtsmedizin, den Stilwell nicht kannte, packten ihn an den Gurten und trugen ihn aufs Achterdeck außer Sicht. Als Nächstes wurden das aufgerollte Tau, die Kette und der Anker von den Tauchern nach oben gereicht und zum Schluss der Bleigürtel, den Stilwell um den Anker geschlungen hatte.
Die zwei Bergungstaucher stiegen die Leiter hinauf und zogen sie dann an Deck. Kurz darauf hörte Stilwell die zwei 150er-Maschinen des Boots anspringen. Saunders ging zum Bug und lichtete den Anker, worauf das Boot langsam auf den Schwimmsteg zufuhr.
Stilwell rief in der Hafenmeisterei an.
»Tash, du kannst jetzt die letzten Boote in den Hafen lassen.«
»Super. Da werden sie froh sein.«
»Hast du ihnen erzählt, was der Grund für die Verspätung war?«
»Äh, nein.«
»Gut. Ich muss jetzt Schluss machen.«