Der Insider - Michael Robotham - E-Book

Der Insider E-Book

Michael Robotham

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Beschreibung

Der neue Thriller mit Ex-Cop Vincent Ruiz und Psychologe Joe O’Loughlin

Als der ehemalige Polizist Vincent Ruiz eines Abends in einer Londoner Bar beobachtet, wie eine junge Frau von ihrem gewalttätigen Freund bedroht wird, muss er eingreifen. Doch obwohl er Holly Knight für die Nacht Unterschlupf bietet, ist sie am nächsten Morgen verschwunden – und mit ihr einige wertvolle Gegenstände. Bei dem Versuch, sie aufzuspüren, stößt er nur auf Hollys Freund, der brutal ermordet wurde. Ruiz steht vor einem Rätsel: In welche Machenschaften ist Holly Knight verstrickt? Zur gleichen Zeit spürt der berühmte Journalist Luca Terracini einer Serie von Banküberfällen in Bagdad nach. Dass zudem immer wieder große Summen an wichtiger Wiederaufbauhilfe verloren gehen, könnte damit in direktem Zusammenhang stehen. Luca macht sich auf die Suche nach der Wahrheit – ein gefährliches Unterfangen, das ihn bis nach London zu Vincent Ruiz führt.

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Seitenzahl: 670

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Michael Robotham

Der Insider

Thriller

Ins Deutsche übertragen von Kristian Lutze

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Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Die Originalausgabe erschien 2011 unter dem Titel »The Wreckage« bei Sphere, einem Imprint der Little, Brown Book Group, London.

Copyright © Bookwrite Pty 2011Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2012by Wilhelm Goldmann Verlag, München,in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,Neumarkter Str. 28, 81673 München.Satz: Uhl + Massopust, AalenISBN 978-3-641-07684-9V005

www.goldmann-verlag.de

Für Ursula Mackenzie

BUCH EINS

In Zeiten, da Täuschung und Lüge allgegenwärtig sind, ist das Aussprechen der Wahrheit ein revolutionärer Akt.

George Orwell

»Hast du schon mal jemanden getötet?«

»Schon oft.«

»Hattest du Angst?«

»Nein.«

»Nie?«

»Es ist nicht schwer, ein Leben auszulöschen, wenn man selbst kein Leben gehabt hat. Doch um Rache oder Hass geht es dabei gar nicht. Und vergiss das mit dem ›Auge um Auge‹. Gleichheit ist etwas für die Schwachen und Dummen. Du musst nur abdrücken … ganz einfach. Ein Finger, eine Bewegung …«

»Wer war dein erstes Opfer?«

»Eine Schülerin.«

»Warum?«

»Daran kann ich mich nicht mehr erinnern. Ich weiß nur noch, dass es an dem Tag sehr heiß war. Das werde ich nie vergessen. Die grelle Sonne, den Staub auf den Blättern des Aprikosenbaums. Es war gerade Aprikosenzeit. Im allerletzten Moment verlangsamt sich alles – die Autos, die Busse, die Stimmen auf der Straße. Alles wird still, und man hört nur seinen eigenen Herzschlag, das Blut, das sich durch immer engere Kanäle presst. Nichts ist mit diesem Moment vergleichbar.«

»Warum nennt man dich den Kurier?«

»Ich überbringe Nachrichten.«

»Du tötest Menschen?«

»Menschen töten jeden Tag. Krankenschwestern setzen Spritzen. Chirurgen bringen Herzen zum Stillstand. Metzger schlachten Tiere. Du tust hier etwas Gutes. Du und die anderen, ihr werdet berühmt. Ihr werdet dafür sorgen, dass man sich an diesen Tag immer und ewig erinnern wird, ein Datum, das keine Erklärung braucht. Geschichte wird gemacht. Geschichte wird verändert. Irgendwo fängt all das an. Es beginnt mit einer Idee. Es beginnt mit dem Glauben an eine Sache.«

»Warum ich?«

»Die anderen werden auch geprüft werden.«

»Wirst du es filmen?«

»Ja, hier ist die Pistole. Sie beißt nicht. Das ist die Sicherung. Wenn du den Schlitten nach hinten ziehst, wird das Projektil in die Kammer geladen.«

»Und niemand sieht mein Gesicht?«

»Nein. Du kommst durch die Tür. Er wartet. Auf einem Stuhl. Er wird dich kommen hören. Er wird betteln. Achte nicht auf seine Worte. Setz den Lauf auf seinem Hinterkopf auf und zieh ihm die Kapuze ab. Zwing ihn, in das rote Licht der Kamera zu blicken, auf den Tropfen elektrifizierten Bluts.«

»Soll ich irgendwas sagen? Ein Gebet sprechen?«

»Es kommt nicht darauf an, was du sagst, sondern darauf, was du tust.«

1Bagdad

Das Wichtigste, was Luca Terracini als Auslandskorrespondent gelernt hatte, war, eine Geschichte aus dem Blickwinkel eines anderen zu erzählen. Das Zweitwichtigste war, wie man mit einer Dose Thunfisch und einem Paket Nudeln Spaghetti marinara zubereitete.

Es gab natürlich noch anderes, wovon das meiste mit dem Überleben in einem Kriegsgebiet zu tun hatte: Verabrede dich mit keinem, dem du nicht absolut vertraust. Verlasse nie das Haus, ohne dich zu vergewissern, dass draußen keine verdächtigen Fahrzeuge herumstehen. Gehe nicht davon aus, dass ein Ort, der gestern sicher war, heute auch noch sicher ist.

Diese Sicherheitsmaßnahmen wurden von allen westlichen Korrespondenten befolgt, aber Luca hatte im Laufe der Jahre noch ein paar eigene hinzugefügt, die letztendlich auf drei entscheidende Überlebensregeln hinausliefen: natürliche Feigheit, mehrere Hundert-Dollar-Scheine, die in den Saum seiner Hosenbeine eingenäht waren, und ein gesundes Misstrauen, da man in diesem Land mit den absurdesten Dingen rechnen musste.

Der erste Gebetsruf ertönt. Sonnenaufgang. Luca ist vom Lärm der Waschmaschinen, Fernseher und Klimaanlagen geweckt worden, die alle gleichzeitig zum Leben erwacht sind. Da die Regierung die Stromversorgung nur stundenweise garantieren kann, springen die Geräte zu wahllosen Tag- und Nachtzeiten an und vereinen sich zu einer seltsamen Symphonie aus Musik und Metall.

Er streift sein T-Shirt ab, schöpft mit einer Kelle Wasser aus einem Eimer und gießt es sich über den Kopf. Tropfen rinnen aus seinem kurzen dunklen Bart über seine Brust bis runter zu den Genitalien. Draußen ist es schon jetzt dreißig Grad warm, und wenn die Sonne erst einmal auf die ganze Seite des Gebäudes knallt, können auch die Fensterläden die Hitze nicht mehr abwehren.

Er trocknet seine Haare und zieht ein dünnes Baumwollhemd an, schlicht und billig. Er kleidet sich wie ein Iraker und versucht, auch so zu klingen. Seine Schuhe sind nicht westlich, seine Sonnenbrille wirkt nicht zu ausländisch.

Er schiebt die Hand unter die Matratze und zieht eine kompakte halbautomatische 9-Millimeter-Pistole hervor, die er in einem kleinen Holster in seinem Kreuz verstaut. In seinem Büro zieht er das Handy von dem Aufladekabel, nimmt seine Kameraausrüstung, öffnet die Wohnungstür, wirft einen Kontrollblick in den Flur und nimmt dann die Hintertreppe.

Ein Wachmann döst hinter seinem Tresen in der Halle.

»Sabah al-khair, Ahmed.«

Der Wachmann schreckt hoch und greift nach seinem Gewehr. Luca hebt mit gespielter Angst die Hände, und der Wachmann grinst ihn an.

»Hast du die Stadt sicher gemacht, Ahmed?«

»Ich habe zwei Dutzend Bomben entschärft.«

»Ausgezeichnet. Sieh nur zu, dass du sie nicht recyclest.«

Der Wachmann steht lachend auf. Sein Gürtel ist offen, seine Wampe hängt unbehindert heraus.

Luca klappt sein Handy auf und ruft Jamal an.

»Wo bist du?«

»Zwei Minuten von dir.«

Er blickt durch die mit Klebeband geflickten Fenster, die Sicht auf die Straße ist durch fünf Meter hohe Betonschutzmauern verdeckt. An den beiden nächstgelegenen Straßenkreuzungen sind Kontrollpunkte eingerichtet, die die Illusion von Sicherheit vermitteln. Wie bei seinen Überlebensregeln hat Luca auch einen an die Gewalt angepassten körperlichen Survival-Modus entwickelt. Sein Herz pocht nicht mehr wie wild, wenn eine Granate explodiert, und er duckt sich nicht mehr, wenn eine Salve über seinen Kopf hinwegpfeift.

Die meisten seiner Kollegen residieren in sicheren Hotelanlagen oder in der Internationalen Zone (der ehemaligen Green Zone) und suchen Sicherheit in der Menge, was ebenfalls eine Illusion ist. Saubere Laken, kaltes Bier, kabelloses Breitband und Satellitenfernsehen – modernes Werkzeug für den modernen Reporter.

Die Bombenanschläge von vor einem Monat waren eine Begrüßungslektion gewesen. Die erste Explosion hatte das Sheraton Ishtar getroffen, die Betonschutzmauern umgeblasen und einen fünf Meter tiefen und zehn Meter breiten Krater hinterlassen. Der Regen aus Glas und Metall hatte Autos zerfetzt und die Außenterrassen und Höfe der Fischrestaurants am Fluss mit Schutt eingedeckt.

Drei Minuten später ging eine Bombe in der Nähe des Babylon-Hotels hoch, noch einmal sechs Minuten später riss eine weitere Bombe die Fassade des al-Hamra-Hotels ein. Im Sheraton starben vierzehn Menschen, im Babylon sieben und im al-Hamra sechzehn, darunter ein Polizist, der Luca einmal geholfen hatte, einen neuen Akku für sein Handy zu besorgen.

Luca war bei dem Hotel eingetroffen, als die Rauch- und Staubwolke noch über die Skyline wehte und der Duft von frischem Eukalyptus sich mit dem widerlich süßlichen Geruch brennenden Fleischs vermischte. Zwei Frauen wurden unter den Trümmern gefunden; eine war blutüberströmt. Möge Gott die Regierung töten, schrie sie, als man sie barg.

Alltag in Bagdad.

Eine SMS auf Lucas Handy: Dreißig Sekunden. Vorderseite.

Kurz darauf hält ein verbeulter Skoda 130 vor dem Wohnblock, am Steuer ein junger Mann. Direkt hinter ihm bremst ein zweiter Wagen – ein Toyota HiLux –, das »Verfolgungsfahrzeug«.

Luca rennt gebückt aus dem Haus. In dem Moment, in dem die Wagentür zuschlägt, tritt Jamal schon aufs Gaspedal und umkurvt schleudernd die Betonbarrikaden. Der HiLux ist direkt hinter ihnen, bereit, im Falle einer Attacke einzugreifen.

Der Skoda ist ein Bagdad-Klassiker: Die Windschutzscheibe ist völlig zerkratzt, auf dem Armaturenbrett klebt ein Stück alter Teppich und verblasste Bilder von Schia-Märtyrern. Unter der Kühlerhaube verbirgt sich der Acht-Zylinder-Motor eines Chrysler 340, und die Türen sind von innen mit Eisenplatten verschweißt, Panzerung nach irakischer Art.

Jamal fährt, als wäre er in Le Mans am Start, und kleidet sich wie ein schwuler Cowboy mit karierten Hemden und Western-Jeans. Vor der Invasion war er Medizinstudent. Doch in dem folgenden Chaos wurden die Computer der Universität gestohlen und die Akten durch ein Feuer zerstört. Jetzt kann er nicht mehr beweisen, dass er einen Abschluss in Naturwissenschaften abgelegt und drei Jahre Medizin studiert hat.

Jamals Cousin Abu fährt den HiLux. Er ist schon etwas älter und sieht aus wie ein Rammbock, mit einer Pistole unterm Hemd und einer abgesägten Schrotflinte im Schoß. In den vier Jahren, die sie jetzt zusammenarbeiten, hat Luca kaum mehr als ein Dutzend Worte mit Abu gewechselt. Jamal übernimmt das Reden. Auf einer belebten Hauptverkehrsstraße fahren die Wagen Stoßstange an Stoßstange und bahnen sich ihren Weg zwischen ächzenden Lkws, Transportern, Mopeds und Fahrrädern.

»Es hat wieder einen Überfall gegeben«, sagt Jamal.

»Wann?«

»In der Nacht. Sie haben die Bank angezündet.«

»Wo?«

»In Karrada.«

»Ich will dorthin.«

»Was ist mit der Pressekonferenz?«

»Die haben bestimmt noch immer keine Regierung gebildet.« Luca parodiert den ehemaligen Ministerpräsidenten Iyad Allawi. »Heute sind wir einer Einigung einen Schritt näher gekommen. Die alten Fehden werden allmählich begraben, und die Gespräche finden in vertrauensvoller Atmosphäre statt. Ich bin der Verfassung verpflichtet und fest überzeugt, dass der Irak die Regierung bekommen wird, die er verdient.«

Jamal lacht. »Eines Tages schmeißen sie dich aus dem Land.«

»Leere Versprechungen.«

Jamal ruft Abu in dem HiLux an. »Wir fahren nach Karrada.«

»Adresse?«

»Immer dem Rauch nach.«

Die beiden Wagen umrunden den Firdos-Platz und fahren auf der staubigen zweispurigen Ausfallstraße nach Süden, vorbei an Lehmgebäuden und kleinen Pfaden neben Grundstücken mit Fässern und Stacheldraht.

Früher kam ihm Bagdad fremd vor, aber inzwischen schüchtert die Andersartigkeit des Ortes Luca nicht mehr ein – das Gewirr von Sprachen, das Gemisch von Düften und das Sonnenlicht von der Farbe zähflüssigen Honigs. Ein Bus ist liegen geblieben. Fahrgäste stehen auf dem Bürgersteig und diskutieren mit dem Fahrer. Die Männer ziehen an Zigaretten und blasen Rauchwolken aus, die von einer Brise verweht werden. Die Frauen sind zarte unbekannte Wesen in Schwarz mit unbestimmbaren Körpern und tanzenden Augen.

Jamal zieht ein Kaugummi aus der Tasche, schaltet das Radio ein und trommelt den Rhythmus auf dem Lenkrad mit, als ein heimischer Popsong ertönt. Er und Luca sind im Laufe der Jahre Freunde geworden, doch diese Freundschaft hat Grenzen. Luca war noch nie bei Jamal zu Hause und hat auch nie seine Frau und seine beiden kleinen Söhne getroffen. Es gibt Leute, die nicht wissen dürfen, dass Jamal und Abu für einen amerikanischen Journalisten arbeiten. Sunniten, Schiiten, Widerstandskämpfer. Dort lauert der Tod. Und Fehden sind der Nationalsport der Iraker.

Eine schwarze Rauchwolke steigt in den weißen Himmel vor ihnen. Normalerweise ist Karrada eine sichere Oase mit Straßenhändlern und vereinzeltem üppigem Grün. Jetzt haben Polizei und Feuerwehr eine Kreuzung abgeriegelt, und Schläuche winden sich zuckend über den Asphalt wie schwarze Pythons. Einige sind so abgenutzt und porös, dass sie das Pflaster statt des rauchenden Gebäudes besprühen.

Die Zweigstelle Zewiya der al-Rafidain-Bank ist völlig ausgebrannt, die Fenster sind mit dunklem Ruß umrandet, der wie Tränen einer Schönheitskönigin an den blassen Mauern hinunterrinnt.

Jamal parkt den Skoda, und Luca nimmt seine Kamera aus dem Rucksack. Er macht Abu ein Zeichen, der bei den Wagen wartet und das Geschehen aus der Distanz beobachtet.

»Wie viele sind das jetzt?«

»Sechs in den letzten zwei Monaten.«

»Und in diesem Jahr?«

»Achtzehn.«

»Bald gibt es keine Banken mehr zum Überfallen.«

Auf der anderen Straßenseite steht eine Gruppe von halbwüchsigen Jungen, die sich lachend gegenseitig schubsen und übermütig Aufmerksamkeit erregen wollen. Die älteren Männer ermahnen sie, ein wenig Respekt zu zeigen.

Eine Sirene ertönt, ein Konvoi trifft ein. Vier Militärfahrzeuge schlängeln sich zwischen den Feuerwehrautos hindurch. Sie eskortieren einen weißen Polizeiwagen mit blauen Türen, der am Straßenrand hält. Metall knirscht unter seiner Karosserie. Luca erkennt den Mann auf dem Beifahrersitz: General Khalid al-Uzri, Kommandeur der Nationalpolizei. Zwei uniformierte Beamte drängeln sich, ihm die Tür zu öffnen.

Al-Uzri steigt aus, streckt die Arme, lässt seine Wirbel knacken und dreht den Kopf von einer Seite zur anderen. Zigarettenqualm hängt über ihm wie eine persönliche Wolke. Er trägt schwarz-blaue Tarnkleidung, Barett und Epauletten mit Kranz und Stern. Er winkt ab, als man ihm einen Schirm anbietet, und schreitet durch den Nieselregen aus den Schläuchen bis zu der Fassade der Bank, die er mustert, als wollte er ein Angebot für das Gebäude abgeben.

Der Kommandant des Löschzugs kommt heraus. Seine Uniform wirkt zu groß für ihn, so als würde er die Kleidung seines Vaters tragen. Er schüttelt al-Uzri die Hand und küsst ihn auf beide Wangen.

»Verluste?«, fragt der General.

»Drei Tote.«

»Und das Geld?«

»Weg.«

Der General wischt sich Tropfen von seinem Ärmel und sieht Luca an.

»Sie sind Fotograf?«

»Ja, General«, antwortet Luca auf Arabisch.

»Heute arbeiten Sie für die Polizei.«

Luca wechselt einen Blick mit Jamal, der den Kopf schüttelt. Luca ignoriert ihn. Er folgt dem General und dem Feuerwehrmann über eine Rampe und stapft durch ölig schwarze Pfützen und um Haufen glimmender Trümmer herum.

Die große Rolltür hat sich unter der Hitze verbogen. Dahinter liegen zwei Leichen. Wachmänner. Sie sehen aus wie weggeworfene Schaufensterpuppen mit geschmolzenem schwarzem Fleisch. Der Gestank attackiert Lucas Sinne. Galle kommt ihm hoch. Er schluckt heftig, der Kaffee nagt an seinem Magen.

Al-Uzri hockt sich neben die Leichen. »Es ist das Protein«, sagt er nüchtern. »Wenn es verbrennt, verklebt es die Kleidung und die Lungen.«

Er hält einen Schädel und wendet ihn, als ob er an einem Marktstand die Festigkeit einer Melone prüfen würde.

Einer seine Adjutanten sagt: »Laut Dienstplan waren letzte Nacht sechs Wachmänner hier.«

»Wo sind die anderen?«

»Wir suchen sie noch.«

»Diese Männer wurden erschossen. Machen Sie Fotos davon.«

Der General richtet sich auf, geht weiter und wischt sich am Mantel des nächsten Feuerwehrmanns die Hände ab.

Der Tresorraum aus Beton hat eine schwere Metalltür, die von den Flammen kaum angesengt ist. Sie lässt sich leicht öffnen. In dem Raum dahinter befindet sich nur eine einzelne aufgebrochene Metallkiste. Eine Handvoll US-amerikanische Banknoten schwimmen in einer schmutzigen Pfütze.

Der General verlässt den Tresorraum und geht zur Treppe. Feuerwehrleute haben Leitern zu den oberen Stockwerken aufgestellt.

»Trägt die mein Gewicht?«, fragt al-Uzri.

»Jawohl, Sir.«

Der General zeigt auf Luca. »Sie gehen zuerst.«

Der Journalist klettert die Leiter hoch und steigt über ein Stück eingebrochenen Fußboden. Eine Toilette ist durch die Decke gekracht und hochkant auf einer Schwelle gelandet. Dahinter erkennt Luca einen langen Flur mit Büros zu beiden Seiten. Die Computer auf den Schreibtischen sind zu modernen Skulpturen geschmolzen.

Vor einem der Büros bleibt der Feuerwehrhauptmann stehen. Es dauert einen Moment, bis Luca begreift, dass er etwas fotografieren soll. An einem Metallschreibtisch sitzt eine Leiche, deren steife halbe Arme sich zu dem geborstenen Fenster strecken. Sie ist bis zur Unkenntlichkeit verkohlt, die Haut eingefallen und ledrig, die Gesichtszüge verzerrt, der Mund zu einem Schrei geöffnet. Zwischen den Zähnen, die unnatürlich weiß wirken, quillt eine geschwollene Zunge hervor.

Al-Uzri geht um die Leiche herum und begutachtet sie von allen Seiten. In seinen feuchten braunen Augen liegt Staunen, aber kein Entsetzen. Luca atmet stoßweise durch den Mund.

»Das ist einer der Zündpunkte«, sagt der Feuerwehrmann. »Irgendjemand hat die Leiche mit Benzin übergossen und eine Spur durch den Flur bis zu der Tür gelegt.«

Al-Uzri ist hinter die verkohlte Leiche getreten. Er zieht ein kleines Schweizer Armeemesser aus dem Mantel und klappt es auf. Mit ruhiger Hand legt er die scharfe Seite der Klinge an den Nacken der Leiche und löst etwas, einen in die Haut eingegrabenen Draht. Eine Garrotte.

Er nickt Luca zu. Weitere Fotos werden gemacht.

Er klappt sein Messer zu und zündet sich eine Zigarette an.

In seinen Augen kann man gar nichts lesen. Luca kennt diesen Blick von Soldaten, die solche Grausamkeiten schon so oft gesehen haben – dass sie nichts mehr wirklich schockieren kann.

»Üble Sache«, sagt der Feuerwehrmann. »Haben Sie genug gesehen?«

Der General nickt und wendet sich an Luca. »Liefern Sie die Fotos an mein Büro. Sie sind Eigentum der irakischen Polizei.«

Er steigt die Leiter hinunter, stapft zurück durch die Pfützen und die Rampe hinauf, wo er nur kurz stehen bleibt, um die Watte aus seinen Nasenlöchern zu pusten. Luca folgt ihm nach draußen und beobachtet, wie die Fahrer hastig am Steuer ihrer Wagen Platz nehmen und sich auf die Abfahrt vorbereiten.

»Verzeihung, General. Ich habe eine Frage zu dem Überfall.«

Der Kommandeur dreht sich um.

»Ihr Name?«

»Luca Terracini. Ich bin amerikanischer Journalist.«

»Sie sprechen sehr gut Arabisch, Mr. Terracini.«

»Meine Mutter war Irakerin.«

Al-Uzri zündet sich eine neue Zigarette an und schirmt sie gegen den Nieselregen aus Löschwasser ab. Er nimmt sich einen Moment Zeit, den Journalisten zu betrachten.

»Die meisten Ihrer Kollegen tragen Kevlar-Westen und sind in Gruppen unterwegs. Glauben Sie, die Tatsache, dass Sie eine irakische Mutter haben, schützt Sie in irgendeiner Weise?«

»Nein, Sir.«

»Dann sind Sie vielleicht besonders mutig.«

»Nein, Sir.«

Feuchtigkeit sickert an Lucas Rücken hinunter. Es könnte Schweiß sein. »Der Filialleiter wurde gefoltert.«

»Allem Anschein nach.«

»Wissen Sie, wie viel Geld geraubt wurde?«

»Nein.«

»Was ist mit den anderen Sicherheitsleuten passiert?«

»Vielleicht haben sie die Räuber verfolgt.«

»Vielleicht sind sie mit dem Geld abgehauen.«

Die lecken Feuerwehrschläuche haben die Zigarette des Generals gelöscht. Er starrt auf die durchgeweichten Überreste. »Es ist nicht ratsam, solche Beschuldigungen zu äußern.«

»Das ist der achtzehnte Banküberfall in Bagdad in diesem Jahr. Besorgt Sie das?«

Der General lächelt, ohne die Mundwinkel groß zu bewegen. »Ich finde es beruhigend, dass jemand mitzählt.«

Seine Wagentür wird aufgehalten, der Motor läuft. Er rutscht auf den Beifahrersitz und weist den Fahrer mit einer knappen Geste an loszufahren. Der Konvoi setzt sich in Bewegung und schlängelt sich wieder zwischen den Feuerwehrwagen hindurch, unter dem Klang einer weiteren Sirene in einer Stadt, in der die Sirenen ununterbrochen heulen.

2London

Vincent Ruiz hatte nicht erwartet, dass an ihm noch einmal Maß für einen neuen Anzug genommen werden würde, bevor er kalt und steif auf dem Tisch des Bestatters lag. Und er vermutete, dass es ihm dann auch gleichgültig wäre, wenn ein weibischer Fremder ein Maßband an seine Eier legte. Vielleicht wiegt er sie. Jedes andere Maß war genommen.

Emile hängt sich das Band um den Hals und notiert eine Reihe von Zahlen.

»Wünschen Sir, dass die Hose die Vorderkappe berührt oder bis zum Absatz reicht?«

»Nennen Sie mich Vincent.«

»Ja, Sir.«

Er hält das Maßband an Ruiz’ Hüfte und lässt es locker fallen, bevor er es wieder strammzieht. »Haben Sir an Hosenaufschläge gedacht?«

»Kosten die extra?«

»Nein. Sir haben die Größe, um Aufschläge tragen zu können. Kleine Männer sollten sie meiden. Ich würde eineinhalb Zoll empfehlen.«

»Gut.«

Als Nächstes wird das Band um Ruiz’ Oberschenkel gewickelt. »Tragen Sir links oder rechts?«

»Ich bin da gerne flexibel.«

Emiles Brauen wölben sich zu zwei Apostrophen.

»Lassen Sie mir jede Menge Platz«, sagt Ruiz. »Ich möchte gern einen Steifen verstecken können. Meine Exfrau kommt auch zu der Hochzeit, und sie ist seit unserer Scheidung verdammt viel schärfer geworden.«

»Sehr gut, Sir.«

Seufzend gibt Ruiz es auf, Emile ein Lächeln zu entlocken. Stattdessen denkt er über die Hochzeit seiner Tochter nach. In nicht einmal einer Woche heiratet Claire, und er soll sie zum Altar führen und an ihren Bräutigam »übergeben«. Sie hat ihn gestern Abend angerufen und gedroht, einen anderen zu fragen, wenn er nicht endlich die Anweisungen befolgen würde.

»Aber das ist genau das Problem«, hat er ihr erklärt. »Ich will dich nicht an einen anderen Mann übergeben. Ich will dich behalten.«

»Sehr witzig, Dad.«

»Das meine ich ernst.«

»Ich heirate, ob es dir gefällt oder nicht.«

»Ich könnte Phillip verhaften lassen.«

»Er ist Anwalt, Dad, kein Verbrecher.«

»Ist das ein Unterschied?«

Emile nimmt sein Brokatkissen und zieht sich aus dem Ankleideraum zurück. Ruiz zieht seine abgewetzte Cordhose und sein dickes Baumwollhemd an. Als er es zuknöpft, sieht er sich kurz im Spiegel. Er dreht sich zur Seite, zieht den Bauch ein, strafft die Schultern und begutachtet seinen Körper. Nicht schlecht für einen Mann, der die sechzig genommen hat. Er hatte schon ein paar Meilen auf dem Tacho, aber ein Oldtimer war er noch lange nicht. Sein Arzt wäre natürlich anderer Meinung, aber sein Arzt ist ein Idiot von der Sorte, die glaubt, dass die Leute hundertfünfzig werden sollten.

Er streift seine Jacke über, klopft auf die Taschen und zieht eine Metalldose mit Bonbons heraus. Er schraubt die Dose auf und schiebt sich ein Bonbon in den Mund, wo es an seinen Zähnen klappert. Vor sechs Jahren hat er mit dem Rauchen aufgehört. Zucker ist seine Ersatzdroge, Kalorien statt Krebs.

Als er den Herrenausstatter verlässt, schiebt sich eine Hand unter seinen linken Arm und zieht ihn zu sich. Er lässt sich von Claire auf die Wange küssen und bückt sich sogar, damit sie ihn erreicht.

»Alles klar?«

»Alles klar.«

»Das war doch nicht so schwer, oder?«

»Ein fremder Mann hat meine Eier gewogen.«

»Emile ist hinreißend.«

»Er ist schwuler als ein Rudel Frisöre.«

Sie kichert und müht sich, hüpfend mit ihm Schritt zu halten. Sie ist dunkelhaarig und hübsch und läuft auf den Zehen wie eine Balletttänzerin – ihre ehemalige Karriere. Jetzt lehrt sie an der Royal Academy und verkrüppelt vorpubertäre Mädchen, die schon schwanger aussehen, wenn sie bloß an einem Apfel knabbern.

»Okay, und nicht vergessen, dass wir morgen Abend mit Phillips Eltern zum Essen verabredet sind. Sie kommen mit dem Zug aus Brighton. Mr. Seidlitz hat uns in seinen Club eingeladen.«

Ruiz’ Stimmung trübt sich. »Was für ein Club?«

»Keine Angst, Daddy, er spielt kein Golf.«

Seidlitz ist ein ukrainischer Name. Vielleicht ist Golf in der Ukraine nicht so populär. Ruiz freut sich nicht darauf – ein Tisch für sechs Personen, Smalltalk. Miranda wird seine Begleiterin sein. Seine Exfrau. Nummer drei. Sie ist diejenige, die sich aufführt, als wären sie noch verheiratet. Ruiz weiß, dass irgendetwas daran grundsätzlich verkehrt ist, aber Miranda ist die Art Exfrau, von der die meisten Männer träumen. Pflegeleicht. Stilvoll. Bei der Scheidung hatte sie nicht mehr verlangt als ein paar Erinnerungsstücke aus ihrer Ehe und die Erlaubnis, den Kontakt mit Michael und Claire halten zu dürfen. Sie bräuchten nach wie vor eine Mutter, meinte sie.

In den letzten paar Jahren sind Ruiz und Miranda gelegentlich zusammen im Bett gelandet – ein absolut befriedigendes »Freund mit Bonus«-Arrangement, das Freundschaft, eine Prise Romantik und die Art Sex bot, der Fensterscheiben beschlagen lässt. Nicht Liebe, das stimmt … nicht direkt – aber näher an Liebe als die meisten Beziehungen, die Ruiz gekannt hatte.

Claire sieht auf die Uhr. »Ich treffe mich mit Phillip. Er kommt bestimmt zu früh.«

»Wieso?«

»Er kommt immer zu früh.«

»Ein Grund mehr, ihn nicht zu heiraten.«

»Oh, sei still!«

Sie wirft ihm einen Kuss zu, hüpft über die Straße und lässt ihn an der Ecke stehen. Er will ihr etwas nachrufen und noch einmal ihre süße Stimme hören.

Verheiratet … in einer Woche. Sie wirkt noch so jung. Zweiunddreißig seit ihrem letzten Geburtstag, aber Ruiz kann sie sich immer noch mit Zöpfen und Zahnklammer vorstellen. Ihr Verlobter arbeitet als Anwalt für eine Investmentbank. Ist er damit Anwalt oder Banker? Er wählt konservativ, doch das tun heutzutage alle.

Ruiz wünscht sich, dass Laura hier wäre. Sie hätte das alles geliebt – Tischkarten vorbereiten, Blumenschmuck auswählen, Einladungen verschicken –, bei Hochzeiten geht es um Mütter und Töchter. Der Vater der Braut muss nur erscheinen, zum Altar schreiten und seine Tochter übergeben, als handelte es sich um einen Gefangenenaustausch.

Man erwartet nicht einmal, dass Ruiz die Rechnung bezahlt. Phillip kommt für alles auf. Er verdient mehr in einem Monat als Ruiz früher als Detective Inspector in einem Jahr. Selbst die globale Finanzkrise hat ihm kaum zugesetzt, während Ruiz’ Altersrücklagen sich halbiert haben. Sein Investmentberater ruft nicht zurück, und das ist immer ein schlechtes Zeichen.

Büroangestellte quellen aus den Gebäuden, den Arbeitstag hinter sich, die Heimfahrt vor sich. Zu den Stoßzeiten versucht Ruiz, öffentliche Verkehrsmittel nach Möglichkeit zu meiden. Lust, Gier, Faulheit, Neid, Stolz … jeden Morgen und Abend wird dort die komplette Pathologie menschlichen Verhaltens aufgeführt. Es ist wie ein Experiment in Überbevölkerung, bei dem man statt Ratten Menschen benutzt. Ruiz zieht es vor, seine eigenen wissenschaftlichen Studien zu betreiben, die ein Pint Guinness und einen Fensterplatz beinhalten, von dem aus er die Sekretärinnen in ihren engen Röcken und Sommerblusen vorbeigehen sehen kann. Kein schmutziger alter Mann, sondern ein Liebhaber der weiblichen Form.

Das Coach & Horses in der Greek Street war früher eine seiner Stammkneipen, als Norman Balon den Laden noch führte. Norman war Londons übellaunigster Wirt und berühmt dafür, seine Gäste zu beleidigen. Vor ein paar Jahren ist er in Rente gegangen. Die Stammgäste haben ihn mit stehendem Applaus und einem dreifachen Hurra verabschiedet. Norman erklärte ihnen, sie sollten die Klappen halten und »verdammt noch mal mehr Geld ausgeben«.

Ruiz stellt sein Pint auf den Tisch, zieht ein Notizbuch aus der Tasche und liest, was er am Morgen geschrieben hat. Geschichten. Anekdoten. Beschreibungen. Seit er im Ruhestand ist, macht er sich Notizen und versucht, sich an Dinge zu erinnern. Er sieht sich nicht als Schriftsteller. Er hat auch nicht den Wunsch, einer zu sein. Es geht darum, die richtigen Worte zu finden und seine Erinnerungen zu sortieren, nicht darum, seine Taten zu rechtfertigen oder etwas zu hinterlassen.

Dreiundvierzig Jahre Polizist, davon fünfunddreißig als Detective, und alles, was ihm bleibt, sind die Geschichten: Triumphe, Tragödien, Fehler und verpasste Gelegenheiten. Einige sind vielleicht lesenswert. Die meisten lässt man am besten ruhen.

Ruiz vermisst die Kameradschaft der Metropolitan Police, das Gefühl, ein Ziel zu haben, den Geruch von Zigarettenqualm und feuchten Mänteln. Es war eine unwirkliche Welt, trotzdem realer als real, wenn das einen Sinn ergibt. Wichtig. Frustrierend. Vorbei.

Drei leere Pint-Gläser stehen vor ihm. Draußen wird es dunkel, doch auf den Straßen wimmelt es immer noch von Besuchern und Restaurantgängern. London kommt ihm mit jedem Sommer fremder vor – nicht nur wegen des Stroms von Touristen, hauptsächlich Japaner, Amerikaner und eine Art allgemeiner Osteuropäer. Die Stadt verändert sich. Alte Schlupfwinkel verschwinden. Sichere Straßen werden weniger sicher. Das Herz schlägt nach einem anderen Rhythmus.

Ruiz bemerkt ein Mädchen, das alleine an einem Ecktisch sitzt. Ihre Augen sind blass, beinahe durchsichtig blau wie seine eigenen und wirken irgendwie noch weltkluger. Sie ist hübsch mit einem mürrischen Gesicht und trägt Leggins mit Leopardenmuster, Schnürstiefel und eine weiße Bauernbluse. Ihr pechschwarzes Haar ist kurz und, wo es die Schultern berührt, lockig und schwingt hin und her, wenn sie den Kopf wendet, als warte sie auf jemanden.

Sie hält einen Stift in der Hand und liest eine Zeitung. Es ist eine Ausgabe von The Stage – der Theaterzeitschrift, die Seite mit den Vorsprechterminen, auf Arbeitssuche. Sie blickt auf die Uhr, faltet die Zeitung und geht an die Bar, um sich noch etwas zu trinken zu bestellen.

Ihre Augen sind unnatürlich weit aufgerissen und zucken von Gesicht zu Gesicht, als würde sie blitzschnell Details sammeln oder ein Puzzle zusammensetzen. Auf den Hockern an der Bar sitzen zwei Anzüge, Typ mittlerer Manager, die Krawatten auf Halbmast. Sie wollen sie zu einem Drink einladen. Sie lehnt ab. Einer macht ihr mit dem Zeigefinger ein Zeichen. Sie tritt einen Schritt näher.

»Hast du das gesehen«, sagt er. »Ein Finger, und du bist gekommen. Stell dir mal vor, was ich mit den anderen anstellen kann.«

Sie wird rot, erst vor Verlegenheit, dann vor Wut.

Sie kehrt an ihren Tisch zurück und versucht, die beiden zu ignorieren, doch sie folgen ihr.

»Warum trinkst du nicht ein Glas mit uns?«

»Ich warte auf einen Freund.«

»Ist er so hübsch wie du?«

»Nein, aber größer als du.«

Einer von ihnen schnappt sich die Zeitschrift und hält sie außerhalb ihrer Reichweite. Sie weiß, dass die Männer wollen, dass sie sich selbst demütigt, indem sie versucht, die Zeitschrift zurückzubekommen, aber sie wartet einfach, bis sie sich langweilen und sie ihr zurückgeben.

Ruiz beobachtet die Szene beeindruckt. Die kleine Schauspielerin ist ein nüchternes Mädchen.

Er bestellt noch ein Pint, wendet sich erneut seinen Notizen zu und blickt erst viel später wieder auf. Ein Mann ist gekommen und redet mit der Schauspielerin. Vielleicht ist er ihr Freund. Er ist groß und schlaksig und trägt einen ausgefransten Rollkragenpullover, dreckige Jeans und Stiefel.

Sie streiten. Er packt ihr Handgelenk und versucht, sie von ihrem Stuhl hochzuziehen. Im nächsten Moment schon holt er aus und schlägt ihr mit der Faust ins Gesicht. Das Ganze passiert so blitzschnell und unerwartet, dass niemand in der Kneipe reagiert. Das Mädchen hält sich das Gesicht, die Augen aufgerissen, geschockt. Der Freund steht mit geballter Faust über ihr, bereit, noch einmal zuzuschlagen. Das lässt Ruiz nicht zu. Er packt die erhobene Hand, reißt sie nach hinten und verdreht den Arm auf dem Rücken des Freundes.

»Vielleicht sollten Sie sich jemanden in Ihrer Größe suchen.«

»Was hast du denn für ein beschissenes Problem?«

»Ganz ehrlich? Wenn sie einen Zentner schwerer wäre, würde ich sagen, ihr seid ebenbürtig, und zugucken, wie sie dich vermöbelt.«

»Leck mich am Arsch!«

Ruiz dreht den Arm weiter nach oben. Der Freund stellt sich grunzend auf die Zehenspitzen. Die Eingangstür ist nur drei Schritte entfernt. Kühle Luft. Ein feuchter Gehsteig. Ruiz schubst den Freund gegen ein parkendes Auto und wartet, dass er sich umdreht, weil er weiß, dass der Junge kämpfen wird. Im selben Moment taucht einer der Barkeeper mit einer Eisenstange in der Hand auf. Der Freund macht einen Schritt zurück und murmelt etwas. Eine Drohung vermutlich. Bei dem Blut, das in seinen Ohren rauscht, kann Ruiz kein Wort verstehen.

Die Konfrontation ist vorbei. Der Freund verzieht sich. In dem Pub hat jemand Eiswürfel in ein Handtuch gewickelt, das die Schauspielerin an ihre Wange drückt. Ruiz kauft ihr einen Drink. Scotch. Pur.

»Das beruhigt die Nerven.«

Er beobachtet ihren Hals, während sie schluckt.

»Ich heiße Vincent.«

»Holly.«

»Willst du die Polizei rufen, Holly?«

Sie schüttelt den Kopf.

»Zeig mir deine Backe.«

Sie lässt das Handtuch sinken. Die eine Seite ihres Gesichts ist ein wenig geschwollen, ein Bluterguss. Ihr Blick wandert an ihm vorbei auf den Boden.

»Meine Tasche!«

»Wie sah sie aus?«

»Schwarz … mit Schnallen.«

Ruiz hilft ihr suchen. »Was war darin?«

»Geld. Mein Handy.« Sie stöhnt. »Meine Schlüssel.«

»Hat irgendjemand einen Zweitschlüssel?«

»Mein Freund.«

Ruiz drängt sie, den Eisbeutel wieder an ihre Wange zu drücken.

»Gibt es irgendjemanden, den du anrufen kannst?«

»Ich habe die Nummern nicht.«

»Vielleicht hat dein Freund sich inzwischen wieder beruhigt.«

Sie leiht sich Ruiz’ Handy. Der Anruf wird direkt auf die Mailbox umgeleitet. Sie hinterlässt eine Nachricht, entschuldigt sich. Sie sollte sich nicht entschuldigen müssen.

Ruiz holt ihr noch einen Drink. Sie streicht sich die Haare aus dem Gesicht, hinter die Ohren. Dem Akzent nach stammt sie aus dem Norden Englands.

»Und du bist also Schauspielerin.«

Über den Rand ihres Glases hinweg mustert Holly ihn nervös. »Wie kommen Sie darauf?«

»Ich hab dich in The Stage lesen sehen.«

Sie zuckt die Achseln. »Die hat jemand liegen lassen.«

Ruiz fragt sich, warum sie ihn anlügt.

»Ich war schon alles Mögliche – Kellnerin, Empfangssekretärin, Spülhilfe, Barmädchen –, ich war sogar mal ein Dachs.«

»Ein Dachs?«

»Ich sollte eigentlich ein Biber sein, aber sie konnten kein Biber-Kostüm finden. Es war auf einer Messe für eine Baufirma. Biber bauen Sachen aus Holz, verstehen Sie, Dämme zum Beispiel.«

»Ich begreife den Zusammenhang.«

»Gut. Dann können Sie ihn mir ja erklären.«

Sie lächelt zum ersten Mal. Ruiz bemerkt einen kleinen Teddy, der an einer Kette um ihren Hals hängt; und ihre Piercings, eins in der Nase, weitere in den Ohren.

»Hat dein Freund dich schon mal geschlagen?«

Sie zuckt vieldeutig die Schultern. »Es ist das, was alle Männer verbindet.«

»Was?«

»Gewalt.«

»Nicht alle Männer sind gewalttätig.«

Sie zuckt wieder die Schultern und wechselt das Thema.

»Was ist mit Ihrem Finger passiert?«

Sie zeigt auf ein fehlendes Glied direkt unterhalb des Knöchels seines Ringfingers, ein blasser Stumpen wie eine Hautfalte.

»Er wurde von einem Krokodil abgebissen.«

»Sie sind kein sehr guter Lügner.«

»Er wurde weggeschossen.«

»Wie ist das passiert?«

»Dann glaubst du mir also?«

»Ja.«

»Ist angeschossen zu werden glaubwürdiger, als von einem Krokodil gebissen zu werden?«

»Wir leben in England. Hier gibt es nicht viele Krokodile.«

»Es ist eine lange langweilige Geschichte.«

»Klingt aber gar nicht langweilig.«

»Es war ein Hochgeschwindigkeitsprojektil. Ich hab eins ins Bein und das andere in die Hand bekommen.«

»Waren Sie Soldat?«

»Detective.«

Besorgnis blitzt in ihrem Blick auf und verschwindet rasch wieder. Sie fängt eine neue Unterhaltung an und springt von Thema zu Thema. Ruiz hat das Gefühl, als würde er von einem Rennboot gezogen und über die Wellen holpern. Es wird spät. Er muss eine Entscheidung treffen.

»Was willst du jetzt machen, Holly?«

Sie schüttelt den Kopf.

»Kannst du irgendwo übernachten?«

»Nein.«

»Du könntest mit zu mir kommen. Von dort aus ein paar Leute anrufen.«

Holly denkt einen Moment darüber nach. »Leben Sie allein?«

»Ja.«

»Sie sind geschieden.«

»Ist das so offensichtlich?«

»Ja.«

Draußen ist es kälter geworden, der Wind ist aufgefrischt. Holly zieht eine auffällige rote Kapuzenjacke mit Holzstiften als Knöpfe an. Sie zieht sie eng an ihren Körper und wartet, während Ruiz ein Taxi heranwinkt.

Der Fahrer hört Radio. Eine Call-in-Sendung am Abend mit Brian Noble, der »Stimme des Herrn«.

Heute hat die Mersey Fidelity einen Rekordgewinn verkündet, während die Wirtschaft als Ganzes weiter zu kämpfen hat. Ist es nicht schön zu hören, dass unsere Banken wieder im Geschäft sind? Wir haben ihnen ausgeholfen, wir haben ihnen eine halbe Milliarde Pfund gegeben, in bar, in Anleihen, in Aktien. Mammon, Knete, substanzielle Erleichterungen – ganz ohne Bedingungen –, und jetzt machen sie ordentlich Kohle, während wir weiterdarben.

Nun weiß ich, dass die Mersey Fidelity den Sturm besser abgewettert hat als die meisten anderen unserer Geldinstitute, aber ich frage Sie: Warum hat es nicht ein Gerichtsverfahren, nicht eine Anklage, einen politischen Rücktritt oder eine Entschuldigung seitens eines Bankers gegeben? Too big to fail, und jetzt machen sie Kasse. Die Telefonleitungen sind offen. Welchen Rat würden Sie unseren Bankstern geben?

Das Taxi kurvt durch Piccadilly, Knightsbridge und über die Old Brompton Road. Als der Wagen um eine scharfe Kurve biegt, packt Holly den seitlichen Halteriemen und blickt anschließend immer wieder durchs Rückfenster.

Ruiz wohnt in einem zweistöckigen Reihenhaus mit einem offenen Erdgeschoss, Schlafzimmern im ersten Stock und einer schmalen Treppe zu seinem Arbeitszimmer im zweiten. Das Haus ist zu groß für ihn. Er hätte es schon vor Jahren verkaufen und wegziehen sollen, doch er konnte seine Erinnerungen nicht so einfach hinter sich lassen.

Im Flur steht ein Fahrrad im Weg. Brandneu. Unbenutzt. Ein Geburtstagsgeschenk von Miranda. Sie dachte wohl, dass er sich mit Radtouren am Fluss fit halten würde. Viel Glück damit.

»Möchtest du Tee oder Kaffee?«

»Haben Sie auch was Stärkeres?«

Er macht eine Flasche Wein auf und lässt Holly einschenken. Er gibt ihr das Telefon.

»Ich weiß nicht, wen ich anrufen soll«, sagt sie.

»Was ist mit deinen Eltern?«

»Tot.«

»Freunde?«

»Eigentlich kenne ich in London niemanden.«

Ruiz setzt sich aufs Sofa. Sie hält ihr Weinglas mit beiden Händen.

»Als Sie angeschossen wurden, haben Sie da gedacht, Sie müssten sterben?«

»Ja.«

»Humpeln Sie deshalb beim Gehen?«

»Ja.«

»Was müsste passieren, damit Sie sich umbringen?«

»Was ist denn das für eine Frage?«

»Bloß eine Frage halt.«

»Ich habe zu viele Selbstmordopfer gesehen.«

»Aber was, wenn Sie furchtbare Schmerzen und eine unheilbare Krankheit hätten?«

»Es gibt Schmerzmittel.«

»Was, wenn Ihr Verstand sich verabschiedet? Wenn Sie dement wären und sich nicht an Ihren eigenen Namen erinnern könnten?«

»Wenn ich dement wäre, wäre es ja egal.«

»Und wenn man Sie wegen streng geheimer Informationen foltern würde?«

»Ich habe keine streng geheimen Informationen.«

»Was, wenn jemand in einem Bus eine Handgranate hätte und sich in die Luft sprengen wollte? Würden Sie sich auf die Granate werfen?«

»Woher hast du all diese Fragen?«

»Ich denke dauernd über solche Sachen nach; darüber, wie eine Entscheidung, auch eine ganz kleine, das Leben verändern könnte. Ich habe wirklich seltsame Träume. Einmal habe ich geträumt, ich hätte einen Penis. Bin ich deshalb bisexuell?«

»Ich habe keine Ahnung.«

Sie füllt Ruiz’ Weinglas nach und fängt an, seine DVD-Sammlung im Regal durchzusehen. Alte Filme.

»Ooooh, den liebe ich.« Sie hält Die Nacht vor der Hochzeit hoch. »Katherine Hepburn.«

»Und Cary Grant.«

»Den fand ich toll in Über den Dächern von Nizza.«

»Dein Lieblingsschauspieler von früher?«

»Alec Guinness.«

»Meiner ist Peter O’Toole.«

»Typisch.«

»Was soll das heißen?«

Sie schüttelt den Kopf. »Lieblingsschauspielerin von früher?«

»Ingrid Bergman.«

»Ich dachte, Sie sagen Grace Kelly. Männer stehen auf Blondinen.«

»Ich nicht.«

Das Zimmer hat sich aufgewärmt. Holly knöpft ihre Jacke auf und lässt sie von den Armen gleiten. Ihre Bluse hat einen Saum aus silbernem Faden und Perlen. Der Stoff spannt sich über ihren Brüsten, und sie sieht plötzlich nicht mehr aus wie ein Mädchen, sondern wie eine Frau.

Was würde Miranda sagen, wenn sie ihn jetzt sehen könnte? Sie würde ihm sagen, er solle ins Bett gehen und aufhören, sich zum Narren zu machen.

Holly hat ihm noch ein Glas Wein eingegossen. Wie viel hat er getrunken? Vier Pints. Einen Scotch. Drei Gläser Wein …

Ruiz versucht, seine Benommenheit abzuschütteln.

»Ich könnte dir ein Bett für die Nacht herrichten«, sagt er und spürt, dass seine Gedanken wahllos treiben, einen Berghang hinabgleiten und sich in den Niederungen einnisten. Seine Beine sind so schwer, dass er sie nicht mehr bewegen kann.

Holly sitzt neben ihm auf dem Sofa und schiebt ihm ein Kissen unter den Kopf. Er sieht, wie ihre Lippen sich bewegen. Was sagt sie? Vielleicht auf Wiedersehen. Vielleicht Entschuldigung.

3London

Die Sonne knallt durch die Spitzengardinen. Ruiz öffnet ein Auge. Das verschwommene Bild der Zimmerdecke wird klarer, tote Motten in der Kuppel des Lampenschirms. Sein rechtes Nasenloch ist verstopft. Er hat einen Geschmack im Mund, als wäre ein kleines Tier hineingekrochen und dort gestorben.

Stöhnend dreht er sich auf die Knie und spürt, wie sein Bauch gurgelt und Galle aufsteigt. Der Teppich hat ein Muster, das ihm noch nie vorher aufgefallen ist. Vielleicht hat er es vergessen. Wieder dreht sich sein Magen, und er stolpert auf die Toilette und klammert sich an die Schüssel.

Als sein Magen geleert ist, lehnt er sich schwitzend an die gekachelte Wand.

Die Ereignisse des vergangenen Abends – das Mädchen, die Heimfahrt, die Flasche Wein –, was ist das Letzte, woran er sich erinnern kann? Sie hat ihm ein Kissen unter den Kopf geschoben und gesagt, dass es ihr leidtut. Was hat sie ihm in den Wein getan?

Er spült sich den Mund unter dem laufenden Wasserhahn aus und spritzt sich Wasser ins Gesicht, bis seine Augen brennen. Die Kälte wirkt. Er schaut in den Spiegel und blinzelt aus blutunterlaufenen Augen. Der widerliche Geschmack im Mund, das Gift in seinem System. Der Gestank von Urin im Haar und an seiner Kleidung … Jemand hat ihn angepisst. Der Freund wollte seine Rache.

Er geht in den ersten Stock. Schubläden sind herausgerissen, ihr Inhalt auf den Fußboden gekippt worden.

Was fehlt? Seine Kamera, ein Polizeiorden, ein iPod, den Claire ihm geschenkt hat (noch in der Verpackung), seine Euro-Scheine, sein Pass … Er blättert sein Scheckbuch durch. In der Mitte sind zwei Blanko-Schecks herausgerissen worden. Sie waren clever. Routiniert.

Er sollte eine Liste erstellen. Nichts anfassen. Die Polizei rufen. Und was dann? Irgendwann in den nächsten zwei Tagen würden sie einen Wagen vorbeischicken. Er würde eine Aussage machen müssen. Er kann sie schon jetzt lachen hören. Die Witze. Die Sticheleien. Detective Inspector Vincent Ruiz wurde von einem Mädchen reingelegt, das er mit nach Hause genommen hat. Man wird annehmen, dass sie eine Nutte oder ein Call-Girl ist. Ruiz muss jetzt für Sex bezahlen, wird es heißen, wie ein trauriger alter Perversling.

Ihm kommt ein weiterer Gedanke. Er steigt die Treppe zu seinem Arbeitszimmer hoch. Der Schreibtisch ist leer gefegt worden. Die Seiten des Manuskripts sind auf dem Boden verstreut. Er hat sie nicht nummeriert.

Die Schubladen sind aufgebrochen. Eine war schon seit zwanzig Jahren geschlossen. Ruiz erinnert sich an den Inhalt – Lauras Schmuck, ihr Verlobungsring und ein antiker Haarkamm, der in ihrer Familie über Generationen vererbt worden war. Als Laura wusste, dass sie sterben würde, als die Krankheit durch ihre Adern strömte und in ihrer Brust wuchs, schrieb sie eine Reihe von Briefen an die Zwillinge, die sie öffnen sollten, wenn sie achtzehn werden oder heiraten oder selbst Kinder haben würden …

Einer der Briefe war für Claire an ihrem Hochzeitstag. Er enthielt die Ringe und den Kamm. Der Umschlag und der Brief liegen auf dem Boden, achtlos aufgerissen und zerknüllt. Das kleine Säckchen mit dem Schmuck ist weg.

Ruiz hebt den zerknitterten Brief auf und versucht, ihn glattzustreichen. Als die Chemo Laura die Kraft raubte, wurde ihre Handschrift krakelig, aber kein Satz ist durchgestrichen oder verbessert. Vielleicht weiß ein Mensch ganz genau, was er schreiben will, wenn der letzte Sand durch die Uhr rieselt.

Ruiz zwingt sich, den Brief nicht zu lesen. Er ist für Claire bestimmt. Sein Blick schweift zum Schluss, wo Laura sich mit Umarmungen und Küssen verabschiedet. Auf dem porösen Papier ist ein kleiner runder Fleck zu erkennen – das Ausrufezeichen einer Träne.

Brennende Wut steigt in ihm auf. Das meiste kann ersetzt werden – die Kamera, der iPod und das Geld –, aber nicht ihr Schmuck. Er wollte, dass Claire den Haarkamm bei ihrer Hochzeit trägt. Etwas »Altes«, das man nach dem alten Aberglauben zusammen mit etwas Neuem, etwas Geborgtem und etwas Blauem tragen sollte. Aber es ist noch mehr. Für Ruiz war dieser Haarkamm kostbar. Laura hatte ihn getragen, als sie sich 1968 bei einer Tanzveranstaltung in Hertfordshire zum ersten Mal begegnet waren. Sie sah aus wie das sprichwörtliche Sixties-Blumenmädchen, das Haar geflochten und hochgesteckt.

Am Anfang des Abends tanzte sie mit ihm, doch dann verlor er sie in der Menge und verbrachte vier Stunden mit der Suche nach ihr. Es war schon nach Mitternacht, die Leute gingen allmählich. Busse warteten darauf, sie nach London zurückzubringen. Ruiz sah Laura am Eingang stehen. Sie zeigte auf ihn und winkte ihn mit einem Finger zu sich. Ruiz sah sich um, weil er nicht sicher war, dass sie ihn meinte.

»Wie heißt du?«, fragt sie.

»Vincent.«

»Ich bin Laura. Das ist meine Nummer. Wenn du nicht innerhalb von zwei Tagen anrufst, hast du deine Chance verpasst. Ich bin kein Flittchen. Ich schlafe nicht gleich bei der ersten Verabredung mit einem Mann und auch nicht bei der zweiten oder dritten. Du musst um mich werben.«

Dann küsste sie ihn auf die Wange und war verschwunden. Er rief sie keine zwei Stunden später an. Und der Rest ist, wie man so sagt …

Ruiz nimmt sein Notizbuch und erstellt eine Liste. Zuerst ruft er seine Bank an, um den Diebstahl der Karte zu melden. Die Bandansage bietet ihm sechs Möglichkeiten an und dann noch einmal sechs. Irgendwann nimmt ein Mädchen mit indischem Akzent die Einzelheiten auf und überprüft seinen Kontostand. Kurz vor und kurz nach Mitternacht wurde Bargeld abgehoben, insgesamt tausend Pfund. Außerdem gab es zwei Käufe im Internet. Sie will ihm die Details nicht nennen.

»Jemand aus der Betrugsabteilung wird sich bei Ihnen melden, Sir.«

Das Sonnenlicht verursacht pochende Kopfschmerzen. Er überlegt, was er tun kann. Wie kann er das Mädchen finden? Die Schauspielerin. Der Freund ist ihnen entweder gefolgt, oder Holly hat ihn angerufen. Vielleicht beides.

Ruiz nimmt das Telefon und drückt auf die Wiederwahltaste.

Ein Mann nimmt grunzend ab.

»Hören Sie, ich weiß nicht, wer Sie sind. Es ist mir auch egal. Aber Sie haben mir gestern Nacht etwas gestohlen, das von großem sentimentalem Wert für mich ist. Den Rest der Sachen können Sie behalten. Das ist mir gleichgültig. Aber ich brauche den Schmuck – die Ringe und den Haarkamm –, er hat meiner Frau gehört. Wenn Sie ihn zurückgeben, suche ich nicht nach Ihnen. Darauf gebe ich Ihnen mein Wort. Wenn nicht, werde ich Sie finden und bestrafen. Darauf gebe ich Ihnen ebenfalls mein Wort.«

Er hält inne, lauscht dem Atem. Der Freund räuspert sich.

»Leck mich!«

Ruiz lauscht toter Luft.

»Wer war das, Baby?«

»Niemand.«

Holly Knight ist jetzt wach. Sie wird nicht wieder einschlafen.

»Er klang wütend.«

»Mach dir deswegen keinen Stress.«

Zac dreht sich um und quetscht sich ein Kissen unter den Kopf. Eine halbe Minute später ist er wieder eingeschlafen, seine Nasenlöcher bewegen sich kaum, während er atmet.

Holly betrachtet sein schlafendes Gesicht, das kantige Kinn mit dem dunklen Dreitagebart, die schweren Lider, die seine blaugrünen Augen verbergen. Letzte Nacht hatte er keine Albträume. Keine stummen Schreie und kein Schluchzen.

Sie streicht über seinen nackten Rücken. Die Narben sehen aus wie Furchen in einem ausgetrockneten Flussbett, rosa, grau und tot. Wenn sie ihn im Dunkeln berührt, fühlt es sich an, als wäre seine Haut von Säure zerfressen oder von irgendwelchen fleischfressenden Bakterien aufgelöst worden.

Sie schlüpft aus dem Bett, geht ins Bad, hockt sich auf die Toilette und starrt auf die verfärbten Fliesen und Rostflecken. Als sie fertig ist, zieht sie ihre Jeans über ihren Slip und knöpft sie über ihrem flachen Bauch zu.

Sie blickt in den Spiegel und berührt die Schwellung in ihrem Gesicht. Gestern Abend hat Zac sie zu fest geschlagen. Manchmal vergisst er, wie kräftig er ist. Sie wird etwas sagen, wenn er aufwacht und gut gelaunt ist.

Die Farbe blättert von den Wänden der Wohnung, die Möbel passen nicht zueinander, und in jedem Raum liegt ein anderer Belag auf dem Boden. Fortschreitende Armut. Mitten in der Küche steht ein alter Sessel, weil Zac Holly gern beim Kochen zusieht und nicht gern allein ist.

Sie gibt Butter in eine Pfanne und schlägt zwei Eier auf. Der Duft des Frühstücks weckt Zac, der in Boxershorts aus dem Schlafzimmer kommt und die Linie dunkler Haare unterhalb seines Nabels kratzt.

Weil ihm seine Narben peinlich sind, zieht er rasch ein T-Shirt über und streicht mit dem Finger über Hollys Wange.

»Du hast mich gestern zu hart geschlagen.«

»Das wollte ich nicht.«

»Wenn du nicht aufpasst, tust du mir noch mal richtig weh.«

»Tut mir leid, Baby.«

Holly stellt Teller auf den Tisch.

»Haben wir noch … du weißt schon?«

»Wir hatten keinen Speck mehr.«

»Nein, haben wir noch, ähm …?« Er bewegt seine Hand auf und ab. »Das braune Zeug.«

»Sauce.«

»Ja.«

Holly holt die Flasche aus dem Kühlschrank. Zac isst, den Kopf gesenkt und einen Arm um den Teller gelegt. Gestern hat er das Wort »Benzin« vergessen. Er hat gesagt, sie müssten noch »Zeug« für das Motorrad kaufen, »damit es fährt«. Und davor hatte er einen Wutanfall, weil er sich nicht erinnern konnte, wer bei den Spurs im Pokalfinale 2008 linker Außenverteidiger gespielt hatte. Das ist einer der Gründe, warum er so wütend wird – er vergisst Dinge.

Laut den Ärzten gibt es keine Anzeichen eines Hirnschadens, aber irgendwas in Zacs Kopf wurde neu verkabelt, als er in Afghanistan war. Jetzt vergisst er Dinge. Nicht die großen Sachen, aber Kleinigkeiten – Namen und Wörter.

Es gab ein Feuer. Sieben Männer waren in einem Truppentransporter eingeklemmt, wie es in der Belobigung heißt, die Zac mit seiner Tapferkeitsmedaille erhalten hat. Er hat unter Beschuss drei Männer aus dem Transporter gezerrt. Dabei hat er die Verbrennungen erlitten. Und danach fing er an, Dinge zu vergessen.

Zac schaltet den Fernseher ein. Ein Mädchen im Regenmantel präsentiert den Wetterbericht und zeigt auf eine Landkarte mit Zeichentrickwolken.

»Was soll denn der Scheiß?«, sagt Zac. »Wenn man aus dem Fenster guckt, sieht man doch, dass die Sonne scheint.«

Als Nächstes kommt ein Bericht von der Börse, der Dow Jones. Holly fragt sich jedes Mal, ob das eine Person ist. Gibt es jemanden namens Mr. Jones?

Zac greift nach der fast leeren Flasche Scotch.

»Es ist noch zu früh«, sagt sie.

»Ein Schluck gegen den Kater.«

Er gießt ein Glas zwei Fingerbreit voll.

Holly lässt ihn allein, um sich umzuziehen.

»Ich muss mich mit Bernie treffen«, ruft sie aus dem Schlafzimmer.

»Warum?«

»Wir sind mit der Miete im Rückstand.«

»Schon wieder?«

»Wie jeden Monat. Wir haben nicht genug, um Floyd zu bezahlen.«

Floyd ist ihr Vermieter und der örtliche Crack-Dealer.

»Ich verkauf den Kram, den wir gestern mitgenommen haben.«

»Lass dich von Bernie nicht über den Tisch ziehen.«

»Bestimmt nicht.«

»Und lass dich nicht von ihm anfassen. Er versucht immer, dich anzufassen.«

»Bernie ist harmlos.«

»Soll ich mitkommen?«

»Nee, ist schon okay. Ich möchte, dass du das Formular vom Sozialamt ausfüllst. Du musst das mit deiner Rente klären.«

Holly hat ihre schicksten Sachen angezogen. Sie spült Zacs Teller ab.

»Ich verkauf Bernie den Laptop und die anderen Sachen. Ich dachte, mit dem Schmuck gehe ich zu Hatton Garden.«

»Lass dich nicht über den Tisch ziehen.«

»Mach ich nicht. Ich hab heute einen Vorsprechtermin.«

»Kann ich mitkommen?«

»Du weißt, dass ich nervös werde, wenn du da bist.«

Er nickt und wendet sich wieder einer Dauerwerbesendung über ein Glätteisen zu, in der Frauen mit perfekten Zähnen und Lotteriegewinner-Lächeln auftreten.

4Bagdad

Die Schlange vor dem Finanzministerium windet sich mehr als einhundert Meter lang zwischen den Betonschutzmauern, die mit politischen Plakaten und anti-amerikanischen Graffiti übersät sind.

Kontrollpunkte sind immer gefährlich. Jeder kann sich ihnen nähern – Bettler, Händler, Teenager, die Getränke oder Zeitungen verkaufen; Benzinverkäufer mit Kanistern und Gummischläuchen, die sie surrend durch die Luft schwingen. Jeder von ihnen könnte eine Handgranate oder eine Sprengstoffweste tragen.

Luca zeigt seine Akkreditierung. Der irakische Soldat betrachtet beide Seiten des Journalistenausweises, die englische und die arabische Version. Dann geht er in sein Häuschen aus Fasergipsplatten und sieht in einem Besucher-Register nach.

»Ihr Name steht nicht auf der Liste.«

»Ich habe den Termin vor einer Stunde gemacht.«

Der Soldat tippt sich mit dem Ausweis an die Wange und geht langsam um den Skoda herum, während seine Kollegen den Kofferraum kontrollieren und einen Spiegel unter die Karosserie schieben.

Sie werden durchgewunken. Jamal hält mit laufendem Motor vor dem Ministerium. Luca öffnet die Tür.

»Wartest du?«

Jamal klopft auf das Armaturenbrett. »Ich muss tanken. Die Schlangen sind lang heute.«

»Ich geb dir Geld für Benzin vom Schwarzmarkt.«

»Ich sollte mich wie alle anderen anstellen.«

Luca lächelt. »Du bist der Einzige im Irak, der nicht auf dem Schwarzen Markt kauft.«

Jamal wirkt ein wenig traurig. »Die Zeiten werden sich auch wieder ändern.«

Die beiden Männer klatschen sich ab, und ihre Schultern berühren sich.

»Grüß Nadia und die Jungen.«

Luca joggt die Stufen hinauf und zieht den Reißverschluss seiner Jacke zu. Drinnen gibt es weitere Kontrollpunkte mit Metalldetektoren und Taschendurchsuchungen. Er händigt seine Pistole aus, die in einer Kassette verstaut wird, und bittet darum, Richter Ahmed Kuther zu sprechen, den Vorsitzenden der Kommission für öffentliche Integrität. Die Empfangssekretärin weist auf ein Dutzend Plastikstühle, die alle besetzt sind.

Luca wartet.

Eine Reinigungskraft poliert mit einer uralten Maschine die glatten Platten des Marmorbodens. Handwerker pellen die Splitterschutzfolien von den Fenstern. Wunschdenken.

Vor mehr als einem Jahr hat die Koalitions-Übergangsverwaltung die Kontrolle des Iraks an die Iraker übergeben, doch von Unabhängigkeit kann immer noch keine Rede sein. Vor fünf Monaten haben Parlamentswahlen stattgefunden, aber keine Partei konnte eine klare Mehrheit erringen. Seither hat das Ausmaß an Gewalt zugenommen, da verschiedene Gruppen versucht haben, den Ausgang der Gespräche zu beeinflussen oder sie ganz zu torpedieren. Unsicherheit ist neben den Schlangen vor den Tankstellen und den Stromausfällen die einzige Konstante im Irak.

Einer der Wachmänner erzählt einen Witz, den Luca schon kennt. Ein kleiner Junge kommt schluchzend zu seiner Mutter gerannt, weil sein Vater ein Kabel angefasst hat und von einem Stromschlag getötet worden ist. Die Mutter wirft die Hände in die Luft und ruft: »Gelobt sei Allah – es gibt wieder Strom!«

Ein Konvoi aus vier Geländelimousinen hat vor dem Eingang gehalten. Sechs Männer in schwarzen Körperpanzern steigen aus und bilden einen schützenden Kreis um die Fahrzeuge, während zwei weitere die Treppe hinauflaufen und die Eingangshalle überprüfen, bevor sie das Zeichen geben.

Aus den Geländelimousinen steigen vier Passagiere und werden die Treppe hinaufgeführt. Sie bewegen sich schnell und mit gesenktem Kopf. Die Wachmänner sind von einer privaten Sicherheitsfirma. Die Passagiere sind westlich und bis auf ihre schusssicheren Westen leger gekleidet.

Unter ihnen ist auch eine Frau mit einer tief ins Gesicht gezogenen Baseball-Kappe, unter der ihr Zopf hervorquillt. Sie trägt eine weite weiße Bluse und eine Cargo-Hose und zieht ein Köfferchen hinter sich her. Sie sieht aus wie eine Stewardess nach Feierabend oder ein Filmstar, der in der Betty-Ford-Klinik eincheckt.

Der halbe Sicherheitstrupp eskortiert sie durch die Halle, während die andere Hälfte hinter ihr bleibt, um sicherzugehen, dass niemand folgt. Luca erkennt einen der Männer. Shaun Porter ist Chef einer der kleineren amerikanischen Sicherheitsfirmen. Er ist groß und kräftig und wirkt mit seinem sonnengebleichten Haar und seinem bunten Hawaiihemd unter der Kevlar-Weste wie ein Surfer, dabei ist er in New Jersey geboren und aufgewachsen.

Shaun lässt sich die Waffe über die Schulter baumeln und klatscht Luca ab.

»Yo, Mann, alter Kumpel! Lange nicht gesehen. Wie läuft’s?«

»Gut. Gut. Und selber?«

»Der übliche Mist – ich spiel den Babysitter für irgendwelche IT-Langweiler.«

»Amerikaner?«

»UN-Rechnungsprüfer. Sie installieren neue Software.«

Luca beobachtet, wie die Frau den Fahrstuhl betritt. Sie dreht sich um und schaut zwischen den Schultern ihrer Leibwächter hindurch. Für einen Moment treffen sich ihre Blicke, bevor sie sich wieder abwendet.

Shaun boxt gegen seine Schulter. »Hey, was machst du heute Abend? Ich hab Geburtstag. Wir stoßen im al-Hamra drauf an. Komm doch auch.«

»Wie alt wirst du?«

»Neununddreißig.«

»Letztes Jahr bist du auch neununddreißig geworden.«

»Leck mich!«

Shaun boxt ihn noch einmal fester, und Luca strengt sich an, sein Gesicht nicht zu verziehen.

Die meisten privaten Sicherheitsleute sind gute, alte Jungs, ehemalige Soldaten mit rasiertem Schädel und schlaffer werdendem Körper, die es in Zivil nicht packen würden. Sie haben Spitznamen wie »Spider«, »Whopper« und »Coyote«. Luca hat Shaun kennengelernt, als der noch bei den Marines war und eines Abends in die Bar des al-Hamra kam und die Journalisten fragte, ob sie Bücher hätten, die sie gern tauschen würden. Seitdem tauschten er und Shaun Romane – vor allem Krimis: McDermid, Connelly und James Lee Burke.

»Wohnst du immer noch auf der anderen Seite des Zauns?«

»Ja.«

»Und du hältst mich für verrückt!«

»Vielleicht ein kleines bisschen.«

Shaun kratzt sein unrasiertes Kinn. »Ich hab deinetwegen Geld verloren.«

»Wie das?«

»Ein paar deiner Kollegen aus dem Presse-Pool haben eine Wette laufen, wie lange du auf der anderen Seite des Zauns überlebst.«

»Davon hab ich gehört.«

»Irgendein Typ meinte, du wärst nach sechs Tagen fällig. Ich hab dir sechs Wochen gegeben. Ich dachte, das wäre großzügig.«

»So ein Pech.«

»Du hast echt eine Menge Schwein, Junge.« Shaun sieht auf seine Uhr, die groß und silbern ist und viele Knöpfe hat. »Ich hab einen Flughafentransfer. Eine neue Ladung Frischfleisch trifft ein.«

»Sieh zu, dass sie nicht gleich am ersten Tag jemanden erschießen.«

»Ich werd mir alle Mühe geben.«

»Und was macht die ›Route Irish‹? Ist die Straße zum Flughafen immer noch so gefährlich?«

»Ist sicherer als früher, aber ich vermisse die alten Zeiten, als wir zuerst schießen und die Fragen hinterher stellen durften.«

Luca schüttelt den Kopf, und Shaun lacht. »Ein Kumpel von mir fliegt heute auch ein. Dave Edgar. ›Edge‹. Er wird dir gefallen. Edge gehörte zur Dritten Infanteriedivision, die 2003 als Erste in Bagdad einmarschiert ist. Er hat Saddam im Alleingang gestürzt.«

»Und er will zurückkommen?«

Shaun reibt Daumen und Zeigefinger aneinander. »Es geht nur um die Asche.«

Die Geländewagen sind bereit. Er nickt seinem Kollegen zu.

»Komm zu dem Umtrunk. Dann kannst du ihn kennenlernen.«

Nachdem Shaun weg ist, wartet Luca weiter. Irakische Bürokraten arbeiten nach ihrem eigenen Stundenplan, und die Idee unabhängiger Medien, die als Wächter des öffentlichen Interesses fungieren, ist dieser Kultur vollkommen verhasst.

Die Minuten verstreichen langsam. Wenn er die Augen schließt, stürmen die Bilder aus der Bank auf ihn ein – die verbrannten Leichen und der leere Tresorraum; die Leiche des Filialleiters, eine makabre Venus von Milo in Teer, erstarrt in einem stummen Schrei.

Er macht die Augen wieder auf. Vor ihm steht eine Sekretärin; ihr Körper ist schwarz verhüllt, dazu trägt sie ein weißes Kopftuch. Sie meidet den Blickkontakt mit ihm in der verspiegelten Wand des Fahrstuhls und auch, als sie ihm die Türen aufhält. Luca wird einen holzgetäfelten und mit Wandteppichen dekorierten Flur entlanggeführt.

Richter Ahmed Kuther ist nicht allein. Fünf seiner Kollegen beugen sich über seinen Schreibtisch und betrachten Fotos.

»Kommen Sie herein, Luca, kommen Sie«, sagt er und winkt ihn näher. »Ich bin gerade aus Moskau zurück. Ich habe Bilder.«

Irgendjemand gibt ihm ein Foto. Darauf sieht man Kuther auf dem Roten Platz, im Arm eine Blondine mit Minirock und knallrotem Lippenstift.

»Sie hatte noch eine jüngere Schwester. Ebenfalls blond.«

»Doppelter Spaß«, sagt einer seiner Freunde.

»Für den doppelten Preis?«, fragt ein anderer.

Luca legt das Foto auf den Schreibtisch. »Ein nettes Andenken. Allerdings nicht für die Augen Ihrer Frau bestimmt.«

Alle lachen, einschließlich des Richters. Kuther trägt einen elegant geschnittenen Anzug und eine blaue Krawatte statt der üblichen weiten Hemden und langen Umhänge. Einziger Tribut an seine Herkunft ist eine Kufiya, ein quadratisches Tuch, das über einer weißen Mütze gefaltet wird, die er zu den seltenen Anlässen trägt, bei denen er es wagt, in der Öffentlichkeit aufzutreten.

Der Richter wurde unter Saddam Hussein zwei Mal verhaftet und gefoltert und ist heute mit dem gefährlichsten Job im Irak betraut. Die Kommission für öffentliche Integrität ist der Anti-Korruptions-Wachhund des Landes und hat in den letzten vier Jahren mehr als eintausend Haftbefehle gegen korrupte Beamte erlassen. In derselben Zeit wurden sieben seiner Mitarbeiter ermordet, weshalb Kuther mit bis zu dreißig Leibwächtern reist.

Er klatscht in die Hände und scheucht seine Leute zurück an ihre Schreibtische. Dann lässt er sich in einen Ledersessel fallen und dreht ihn zum Fenster und wieder zurück.

»Wie war Moskau?«

»Es ist nicht Bagdad.«

»Erfolgreiche Reise?«

»Wie misst man den Erfolg einer solchen Reise? Ich habe vor einem Juristenkongress gesprochen, während der Minister um Geld gebeten, Hände geschüttelt und für die Fotografen gelächelt hat.« Er lässt seine Hände in der Luft kreisen. »Aber Sie sind nicht gekommen, um über Moskau zu sprechen.«

»Eine weitere Bank wurde überfallen.«

»Das habe ich gehört.«

»Wie viel Geld wurde gestohlen?«

»Selbst wenn ich die genaue Summe kennen würde, könnte ich dazu nichts sagen.«

»Es waren US-Dollar.«

»Ist das eine Feststellung oder eine Frage?«

»Vielleicht waren Insider beteiligt. Vier Wachmänner werden vermisst.«

Kuther hebt die Schultern ein paar Zentimeter und lässt sie wieder sinken. Eine Zigarette taucht in seiner Hand und dann zwischen seinen Lippen auf, und er zündet sie mit der Billigkopie eines Dunhill-Feuerzeugs an.

»Ich darf mich nicht zu sehr aufs Geld fixieren, Luca. Wissen Sie, wie viele Menschen jeden Tag in dieser Stadt sterben?«

»Ja.«

»Nein, Sie sehen sie nicht alle. Sie hören von Bombenanschlägen, den großen Ereignissen, die Bilder für ihre Reportagen liefern.« Der Richter zeigt auf eine Mappe auf seinem Schreibtisch. »Das ist der Bericht der vergangenen Nacht: Sieben Leichen wurden in Amil gefunden, drei in Doura, zwei in Ghasaliyah, eine in Khadhraa, eine in Amiriyah und eine in Mahmoudiyah. Dazu kommen acht weitere Leichen in Rusafa. Keine konnte identifiziert werden.«

»Warum schickt man das Ihnen?«

»Weil das Innenministerium nicht so viele Fälle bearbeiten kann.«

»Sie sollen gegen Korruption ermitteln.«

»Ich tue, was nötig ist.«

Kuther zieht an seiner Zigarette und atmet eine Rauchwolke aus, als würde er buchstäblich seine Lebensgeister aushauchen.

»Wir zerreißen uns förmlich, Luca: Entführungen, Hinrichtungen, Haus für Haus, Familie für Familie. Dieselben Menschen, die den Sturz Saddams gefeiert haben, würden heute auf die Knie sinken und ihm die Füße küssen, wenn sie ihn wiederhaben könnten.«

»Sie verlieren die Hoffnung?«

»Mir geht die Zeit aus.«

Der Richter drückt seine Zigarette aus. Er ist ein viel beschäftigter Mann.

»Was genau wollen Sie von mir, Luca?«

»Ich will wissen, wer diese Banken überfällt. Erbeutet werden jedes Mal US-Dollar. Mittel für den Wiederaufbau.«

»Geld ist Geld«, sagt Kuther. »Grün, braun, blau … egal welche Farbe.«

»Vor zwei Monaten hat ein Zug von US-Marines einen Aufständischen mit einem Bündel Hundert-Dollar-Scheine mit fortlaufenden Seriennummern festgenommen. Die Geldscheine stammten aus einer Lieferung der US-Federal-Reserve-Bank von 2006. Sie wurden vier Monate zuvor aus einer Bank in Fallujah geraubt.«

Kuther senkt den Kopf und faltet die Hände wie zum Gebet.