Der Irrtum des Glücks - Joseph Zoderer - E-Book

Der Irrtum des Glücks E-Book

Joseph Zoderer

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Beschreibung

VOM RINGEN DER LIEBE IM WISSEN DES TODES: DER NEUE ROMAN VON Joseph Zoderer. DIE LIEBE ZWEIER MENSCHEN JENSEITS ALLER KONVENTIONEN LIEBEN, ALTERN, STERBEN - darum kreisen wie manisch Alexanders Gedanken. An seinem Lebensabend angekommen, ringt er um die LIEBE ZU EINER VERHEIRATETEN FRAU, die mitten im Leben steht. Eine Liebe, die ihn anzieht, treibt und abstößt, die ihn in den Wahnsinn stürzt und gleichzeitig lebendig macht und am Leben hält. In ihren INTENSIVSTEN MOMENTEN treffen sich hier zwei Menschen JENSEITS DES ALTERS und geben sich Freude, Geborgenheit und Sinnhaftigkeit. EXZESSIV, TEMPERAMENTVOLL, UNGEZÜGELT: EINE NEUE SEITE IM WERK JOSEPH ZODERERS Joseph Zoderer lässt keinen Zweifel daran, dass es seinem Erzähler um alles geht: In exzessiven, schonungslosen Reflexionen enttarnt Alexander DAS GLÜCK DER LIEBE ALS LEBENSNOTWENDIGE ILLUSION. Er spricht als RAUER POET, als LEIDENSCHAFTLICHER LIEBENDER und hoffnungslos Einsamer – ein aufwühlender Weltaneignungsversuch bei gleichzeitigem Weltverlust.

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Joseph Zoderer

Der Irrtum des Glücks

Roman

Inhaltsverzeichnis
Cover
Titel
Prolog
Epilog
Joseph Zoderer
Zum Autor
Impressum

Alles ist echt und zugleich Illusion.

Cees Noteboom, Allerseelen

Nicht die Schwerkraft hält unser Universum im Gleichgewicht, sondern die Liebe.

Isabel Allende, Ein unvergänglicher Sommer

Prolog

Kein anderer Freund hat mein Leben so mitgeprägt wie Alexander. Wir hatten das gleiche humanistische Gymnasium besucht und an der Universität in Wien Philosophie und Geschichte belegt. Nach dem Studium begannen wir beide als Journalisten zu arbeiten, ich als Zeitungsreporter, er beim Fernsehen in der außenpolitischen Redaktion. Schon während unserer Studien hatten wir den Großteil der Freizeit miteinander verbracht; wir waren eifrige Konzert- und Opernbesucher (stellten uns stundenlang bei der Staatsoper um Stehplatzkarten für eine Wagner-Aufführung an), ließen kaum ein wichtiges Stück in den vielen billigen Kellertheatern aus und diskutierten danach in verrauchten Kneipen oft bis zur Sperrstunde. Wir waren Existentialismus-Anhänger und liebten trotz einiger Bedenken Heidegger, Sartre und Camus; wir lasen ganze Tage in der Nationalbibliothek quer durch die Weltliteratur: Musil, Proust, Hemingway, Henry Miller, Franz Kafka usw., am liebsten aber Dostojewski. Obwohl wir bereits über dreißig waren, begeisterten wir uns an den Zielen der Achtundsechziger Bewegung. Da war ich schon einige Jahre verheiratet und sesshaft in Wien, Alexander berichtete als sporadischer TV-Korrespondent mal aus Paris, mal aus Berlin. Die Hauptzeit seiner Tätigkeit leistete er aber als Schreibtischredakteur in Wien ab. Deshalb waren wir weiterhin viel zusammen. Er hatte auch als mein Hochzeitszeuge fungiert und war bei mir und meiner Frau sehr oft bei Tisch zu Gast, wobei es immer lebhaft zuging mit politischen Debatten und dem Austausch unserer literarischen Ansichten. Mein Freund Alexander liebte alle Künste, am meisten aber – sogar noch vor der Musik – liebte er die Literatur. Ich hielt ihn für einen zumindest geheimen Schriftsteller und durch vage Andeutungen, die er in seine Scherze einflocht, glaubte ich mich in meiner Vermutung bestätigt. Er zeigte allerdings nie etwas her, sagte nur mit einem ironischen Lächeln: Abwarten und dann staunen. Er war eine Frohnatur, trinkfreudig und voller Humor, selten, immerhin mehr als einmal, konnte er auch auftrumpfen: Der Geist und das Herz – ich hasse nichts so sehr wie Dummheit! Und ich erinnere mich, dass er als Student mehrmals feucht fröhlich ausrief: Ich bin der erste Mensch, der nicht sterben wird! Er neigte zu ausholenden Gesten, in Wirklichkeit war er schüchtern, ja geradezu menschenscheu. Aus der Distanz verehrte er einige Gegenwartsautoren, doch er scheute sich, die sich bietenden Gelegenheiten zu einem persönlichen Kontakt wahrzunehmen.

Wir sahen uns beide seit der Gymnasialzeit als zukünftige Schriftsteller. Während er selbst sich jedoch zugeknöpft gab, zeigte er gleichzeitig ein selbstloses Interesse an allem, was ich schreiberisch ausprobierte. Er war neugierig und sehr kompetent. Aber aus Freundschaft allein ließ er nichts hochleben, er war unerbittlich kritisch, dafür galt umso mehr, was er lobte. Ja, er konnte mich aus den ärgsten Selbstzweifeln herausholen und half mir so manche Schreibkrise überwinden. Immer war er mein erster Leser, und sein Urteil war für mich ausschlaggebend. Er blieb mein Mentor und Antreiber, und irgendwann fragte ich nicht mehr, was oder ob er selbst schreibe.

Er war und blieb ein Junggeselle, er, der so gut aussah mit seinem dichten struppigen Blondhaar, unveränderlich schlank und einen halben Kopf größer als ich, wurde von Frauen bewundert und er selbst betete die weibliche Schönheit an. Trotzdem blieb er Junggeselle. Nicht einmal mir als seinem nächsten Freund sprach er jemals von einer Liebe, einem Flirt oder sonst welcher Beziehung. Nur ein einziges Mal habe ich ihn wie einen Verliebten in Erinnerung. Es war ein langer Abend gewesen, wir saßen beide betrunken in einer dunklen Kneipenecke, als er mitten in einer langen Stummheit still vor sich hinzuweinen anfing. Ich fasste ihn an einer Schulter: Was ist denn? Er schüttelte nur den Kopf, schnäuzte sich und murmelte: Alles ist aus. Mehr war aus ihm nicht herauszubekommen. Er entschuldigte sich, und wir tranken noch ein weiteres Glas.

Das war noch lange vor seiner Pensionierung. Mit dem Ende seiner journalistischen Tätigkeit zog mein Freund sich seltsamerweise mehr und mehr zurück. Eine kinderlose Tante hatte ihm ein kleines Haus, eine Art Ferienchalet, am Rande des Wienerwaldes vererbt. Dort hielt er sich zunächst sporadisch auf, er war ja ein großer Naturliebhaber und benützte das „Waldhaus“, wie er das Chalet nannte, anfangs nur, wenn er Bedürfnis nach etwas Landluft und längeren Wanderungen in den Waldungen der Umgebung hatte. Seine Wohnung in der Stadt behielt er schon wegen der immensen Bibliothek, die er besaß; seine geliebten Bücher füllten Regale in zwei Zimmern und stapelten sich auch an den Wänden des Flurs. Wenn er in der Stadt war, hatten wir uns früher oft jeden Tag in unserem Stammcafé „Tirolerhof“ getroffen; in den letzten Jahren aber wurden daraus höchstens ein, zwei Tage im Monat, an denen wir uns sahen, und schließlich, als wir uns die ersten Handys kauften, beschränkte er sich zunehmend darauf, mir kurze und kürzere elektronische Briefe zu schreiben. Geistreiche Alltagsbeobachtungen, philosophische Überlegungen, gespickt mit Witz und Ironie. Er schien mir noch voller Lebensfreude zu sein. Umso größer war der Schock, als ich von seinem Herztod erfuhr.

Seine Zugehfrau hatte ihn am Morgen zusammengekrümmt auf den Flurfliesen des Chalets gefunden. Er muss schon am Tag oder am Abend zuvor gestorben sein, er trug noch seinen Straßenanzug.

Wenige Tage nach seiner Einäscherung wurde ich von einer Notariatskanzlei angerufen und zu einem Termin eingeladen. Es liege ein Testament vor, das mich betreffe, geschrieben und beglaubigt vor fünf Jahren.

Mein Freund Alexander hatte mir seine gewaltige Bibliothek vererbt. Ich war tief betroffen; meine Frau und ich beschlossen, den Großteil des Bücherbestandes auf unsere erwachsenen Kinder zu verteilen. Alexanders andere Erben wollten die Stadtwohnung möglichst bald freigeräumt haben. Wir schafften die Bücher innerhalb von drei Tagen in großen Kartons fort. Dabei hoffte ich umsonst, auf irgendein Zeichen einer schriftstellerischen Tätigkeit zu stoßen – kein Manuskript, kein Gedicht, kein Tagebuch. Keine Zeile für mich. Mithilfe der Zugehfrau verpackten wir auch die Bücher, die Alexander im „Waldhaus“ gehortet hatte. Und hier das Unerwartete: Im Schlafzimmer zog die Zugehfrau die Schublade unter dem Bett heraus und zeigte uns eine dicke Mappe, die unter Kissen und Leintüchern begraben lag, zusammengehalten von einem roten Gummiband.

Ich las und war erschüttert. Ein ganz anderer Alexander, einer, den ich so nie erlebt hatte. Dieser lebensfreudige Mittsiebziger, ein Kopfmensch par excellence, schrieb hier von Liebe, von Schmerz und Verzweiflung. Von einer selbstzerstörerischen Liebesobsession, von einer Wahnsinnsliebe. Meine Frau war die Erste, die sagte: Das muss ein Buch werden. Ich hatte meine Bedenken, die aber Alexanders vertrauenswürdigste Freunde, die auch meine waren, mir mit überzeugenden Argumenten ausredeten. Handelte es sich um tagebuchartige Aufzeichnungen, Selbstanklagen, so etwas wie ein De Profundis oder gar um einen gewollten Mix aus Fiktion und Realismus, also Rohmaterial für eine Romanfassung? Seine krakelige Schrift war nicht leicht zu lesen. Die Zeilen oft ungefügt und roh hingeworfen. Kein Datum, wann er daran zu schreiben begonnen hatte, doch vieles sprach dafür, dass seine letzten Lebensjahre den Zeithintergrund bildeten. Das Objekt seiner Liebe eine Frau ohne Namen und ohne äußere Attribute, aber von ihm gepriesen als außergewöhnliche Schönheit.

Ich entschied mich für die Veröffentlichung. Die letzten Seiten musste er in einem Zustand tiefster Trauer und Schmerz hingeschrieben haben, in einer Art Stakkato, kaum lesbare halbe Sätze, halbe Worte, ein einziges Aufschreien.

N. N.

Ich verstehe es selbst nicht. Ich entbehre nichts, aber ich verlange. Ohne zu begehren … ja ich verlange nach etwas, was ich im Grunde gar nicht will … trotzdem muss ich, will ich es bekommen … Wenn ich es nicht bekomme, bin ich verbittert und leer, ja, ganz und gar leer und unglücklich.

Es geht dir um die Macht des Besitzens, nicht um Liebe.

Ach was, Macht! Ich will nicht Macht, ich will nicht besitzen, nicht beherrschen, ich will lieben.

Dann lieb doch! Was hindert dich zu lieben?

Ja, was hindert mich? Es ist verrückt, aber das bin ich, wirklich ich, der mir im Wege ist. Meine Leere. Ja, diese plötzliche Funkstille in mir. Ich war doch gerade so lebendig, so sehnsüchtig … und jetzt nichts mehr davon, ich will sie heute nicht hören, ich will heute nicht einmal mit ihr reden, ich bin kalt, gefühlskalt, gefühlstot, ich führe Selbstgespräche … diese betäubende Leere.

Ich fühle nichts. Stimmt das? Nein, stimmt nicht, du weißt nur nicht … was weiß ich nicht?

Dass du liebst. Eine eigenartige Liebe, die du so nie gekannt hast. Deine Worte sind falsch.

Es sind Liebesworte.

Die du aus der Leere heraus erfindest?

Sie sind spontan.

Ausgeworfene Angelhaken eines Egoisten. Du willst deine Leere stopfen.

Ich will lieben.

Du kannst nicht mehr lieben, du bist ein erloschener Krater.

Ich sehne mich.

Ein grausames Spiel, das du treibst.

Ich sehne mich und dann weiß ich plötzlich nicht wonach, ich fühle nichts und doch leide ich.

Du suchst die Enttäuschung, der Schmerz belebt dich. Ein grausames Spiel und nicht auf deine Kosten. Auf ihre Kosten, die deinem Drängen glauben muss, deinen duseligen Liebesworten. Du hast ja alles. Niemand hat in deinem Alter das Glück, das du hast.

Ja, das Alter, hör auf damit. Ich bin nicht alt, ich bin nie wie die anderen gewesen.

Mach dich nicht lächerlich! Soll ich dir aufzählen, was dir alles wehtut?

Nein, nein, ich hör mich ja selbst, ich geh mir selbst damit auf die Nerven … das Herz, das Reißen im großen Zeh und der Muskelschwund … wo ist mein Athleten-Bizeps geblieben? wo mein praller Arsch?

Na gut, du weißt es ja, einiges ist weniger geworden, aber insgesamt schwimmst du im Fett, ich meine im Glück, und Glück hast du jede Menge in deinem Leben gehabt bis zum heutigen Tag und immer noch.

Glück, Glück … ja, das stimmt, aber ist aus Luft, ich kann es nicht greifen.

Keine Frau hat dir so oft gesagt, ich liebe dich, wie diese Frau, die du doch immer wieder dein letztes Glück nennst.

Glück … Glück … Glück. Alles hat eine Kehrseite …

Nein, das ist keine Kehrseite. Der innerste Kern des Glücks ist Trauer, sie füllt die Leere des Glücks aus. Ich kann nichts fassen, nichts greifen. Wo ist der Sinn? Es gibt keinen Sinn, nur Sinnlichkeit, und wozu?

Weil du Wärme brauchst, Wärme suchst, Geborgenheit.

Ach was, Geborgenheit! Liebe ist Aufbruch, Zukunft! Aber es gibt keine Zukunft im Alter, es gibt auch keine Hoffnung, also wozu Aufbruch, Liebe gegen das Vergessen, gegen das Vergessenwerden?

Du willst nichts loslassen … du willst ewig dazugehören.

Ja … nein! Ich bin noch nicht alt, ich bin noch voller Sehnsucht.

Weil die Frau am Ende deines Weges dich liebt, als wärst du noch in der Mitte des Lebens, fühlst du dich anders als deine Altersgenossen … die Liebe verjüngt dich.

Ich bin anders, ob mit oder ohne Muskeln, ich bin anders.

Aber kann man auch lieben, ohne zu fühlen? Ich fühle nur die Leere … oder nein, ich fühle den Verrat, ich fühle den Liebesentzug … Wenn sie nicht anruft … dann ist sie bei anderen, die ich nicht kenne, vielleicht auch nicht kennen soll … Erst dann spüre ich, dass sie mir fehlt, wenn andere, nicht ich, bei ihr sind. Und mir kommt Wirres in den Sinn … was sind ihre Worte wert, was ihre Beteuerungen? Soll ich, kann ich überhaupt etwas davon glauben? Sie lebt in einer anderen Welt, sie ist eine andere Welt … was soll ich mit ihr? Was gebe ich mich mit Unsinn so ernsthaft ab? Na also, ich fühle doch, aber ich fühle nicht die Glücksseite der Liebe. Im Grunde bin ich korrupt, ich bin so leicht zu bestechen mit einem Liebeswort, ich kann mich noch so gekränkt, ja gedemütigt fühlen … alles wie weggeblasen, wenn ich ihre Stimme höre, die Worte der Zärtlichkeit. Ich bin mein eigenes Opfer.

***

Die meiste Zeit bist du doch ein Gleichmutpraktiker, sei ehrlich.

Vielleicht ist es eher Selbstverletzungslust.

Jetzt verfällst du noch in Selbstmitleid.

Nein, ich schütze mich, versuche mich gegen kommende Enttäuschungen abzusichern und sage mir: Es ist letztlich egal, es ist mir anderes wichtiger.

Was zum Beispiel?

Ja was? Tatsächlich ist mir nichts wichtiger … ich beruhige mich selbst, ich belüge mich selbst, aber immerhin, ich weiß das, ich weiß, dass ich leide und mich belüge.

Liebe ist Hoffnung, Liebe ist Zukunft, Liebe ist Ankommen … du sagst ja zu ihr: Du bist mein Zuhause, bist meine Heimat.

Ich weiß, dass uns die Sprachlosigkeit umbringen würde, dass uns die Langeweile irgendwann ersticken würde … wir zwei kommen aus ganz verschiedenen Interessenwelten, aus ganz unterschiedlichen Kulturwelten.

Aber ihr liebt euch …

Wir spielen, verdammt noch mal, wir spielen uns was vor, und zwar todernst, alles ist wirklich, wir leben diese Wirklichkeit, wir klammern uns an diese Wirklichkeit, obwohl es eine gespielte Wirklichkeit ist, eine Wunschwirklichkeit, also Einbildung, aber zumindest für mich ist unsere Liebe keine Einbildung, vielleicht auch für sie nicht.

Aber du bist schon längst nicht mehr verliebt.

Ich weiß selbst nicht, was das ist … sind es Gedanken, ist es ein Gefühl? Wenn ein Gefühl, dann ist es kaum fühlbar … stundenlang, und doch ist es plötzlich da als Entzugsgefühl, als Mangelgefühl, nicht als Sehnsucht.

In dir schreit nichts mehr.

Nein, es schreit nichts mehr, ich könnte auch sagen, das Lied ist verstummt, es ist ausgesungen.

Das hast du ihr so gesagt?

Nein, nein, nichts davon habe ich ihr gesagt, im Gegenteil, ich habe ihr – wie schon seit Jahr und Tag – gesagt, dass sie für mich alles ist, dass sie mein Leben ist, mein Glück und meine Freude, und dass ich sie immer und in alle Ewigkeit lieben werde. Und vielleicht ist das auch die Wahrheit, meine hilflose Wahrheit.

Und sie?

Sie hat das alles zu mir auch gesagt, Tag für Tag, ja, Stunde für Stunde, oft zweimal, dreimal in einer Stunde, per SMS natürlich.

Und du glaubst es?

Natürlich habe ich es geglaubt.

Jetzt auch noch?

Ich weiß nicht, vielleicht ist sie der Betrug meines Lebens.

Ich bin immer bei dir, sagt sie, auch wenn sie bei ihrem Mann ist, ich bin ihr Herz, beteuert sie, ihr Herz und ihre Seele, mit dir, sagt sie, bin ich im siebten, ja, im achten und neunten, du weißt schon, Himmel.

Und das Gleiche habe ich ihr auch gesagt und sage ich noch immer, schon beim Erwachen heute früh. Ich atme mit deinem Atem, ohne dich ersticke ich, habe ich noch vor einer Stunde gesagt.

Ach ja, sie ist weit, weit weg, nur in Gedanken ist sie bei mir, ich bin immer in dir, beteuert sie in elektronischer Schrift.

Und du zweifelst nicht, du glaubst ihr?

Ich zweifle und ich glaube. Sie ist mein Leben.

Der Betrug deines Lebens?

Mein Selbstbetrug, ich nehme alles in Kauf, ich will geliebt werden, auch wenn im Zweifel. Und letztendlich: Was ist denn das, was ist denn Liebe, was ist Glück? Ist es Wärme? Ist es ein Ankommen? ein Zuhause? Geborgenheit oder Abenteuer? Aus was für einer Materie ist denn die Liebe? aus Luft, aus Feuer oder Wasser? Jedenfalls aus Holz nicht und aus Eisen nicht. Niemand kann die Liebe begreifen, nicht fassen, sie ist eine Erfindung.

Doch nicht eine Erfindung der Herzmuskeln oder der Hirnwindungen?

Es ist Hunger –, Hunger nach Leben, es ist Hunger nach dem Glück, nach dem Glückshimmel. Aber vielleicht ist das Glück aus Staub gemacht, der wie winzige Diamanten glitzert.

Wenn dich die Sehnsucht verlässt … wenn du weißt, du wirst geliebt, aber dich verraten fühlst von dir selbst, weil im Stich gelassen vom Verlangen; wenn dir plötzlich die Schuppen von den Augen fallen und du weißt, dass alles, alles Unsinn ist, Illusion, ein Irrtum, eine Verirrung … der schwarze Kern des Glücks. Trotzdem sprichst du zu ihr noch immer von Liebe, von nichts anderem, auch wenn du leer bist und erschöpft von Sehnsuchtslosigkeit. Sie weiß davon nichts, du sprichst nie von deiner Leere, von deiner Gefühlsöde. Nein, im Gegenteil, du himmelst sie an, du erfindest die zartesten Wortblumen für sie, du umschwärmst sie mit schamloser Hingabe. Dieser Verrat an dir selbst … du willst ihn nicht gelten lassen, du klammerst dich an ein Gespenst.

***

Wenn sie sich angesagt hat zu kommen und kommt dann doch nicht, bin ich schlagartig ein anderer Mensch, ich kenne mich selbst nicht mehr, ich raste aus, ich verlier die Kontrolle, in mir wühlt eine kalte Wut, ich rase vor Vernichtungswillen, nein, da ist keine Gleichgültigkeit mehr in mir, die Gleichgültigkeit ist weggefegt von einem giftigen, heißkaltem Schmerzenssturm, ich fühle plötzlich die wildeste Verlassenheit, ich sehe mich ausgeschlossen, ihre Stimme ist bei einem anderen, ihre Haut, ihr Fleisch gehören einem anderen, sie hat mich ausgeschlossen, sie hat sich eingeschlossen in die Vertrautheit mit einem anderen, und sei’s mit ihrem Mann, ich bin beiseite geschoben, erniedrigt, abgewertet, unser beider Seelengeheimnis ist verraten, entblößt, besudelt.

Wo ist sie jetzt, wo ist sie jetzt glücklich?

In mir ist ein Durcheinander, in mir tobt der Irrsinn, ich wüte gegen mein Glück –. Nein, ich bin nicht gleichgültig, mich frisst die Eifersucht, ich könnte sie hassen, weil sie schuldlos ist, weil sie den Verrat nicht spürt, weil sie in ihr eigenes Messer rennt.

Ich bin blind … taub und tobe, und ich bin ungerecht und ich will ungerecht sein, ich will sie bei mir haben und sei es auf Kosten ihres Eheglücks … ich will, dass sie alles riskiert, für mich, für uns alles riskiert, ihre Familienidylle aufs Spiel setzt … nein, nein, nein – das ist zu viel, das ist die Vernichtung der Liebe, nein, sie muss glücklich sein und bleiben, eine glückliche Mutter bleiben, bei ihrer Tochter bleiben und bei deren Vater, sie soll, sie muss bei ihrem Ehemann bleiben, sie muss weiterhin ein heiteres Gesicht tragen können, ich will, dass sie sich wohlfühlt, dass sie sich geborgen, ja, daheim fühlt bei den ihren, in ihrem schönen Haus, auf das sie so stolz ist, mit dem Blumengarten, den sie so hegt und pflegt.

Schluss mit meiner Verrücktheit, Schluss mit meinem Schmerzegoismus, sie darf nichts verlieren, sie muss unbeschwert glücklich sein können, sonst ist die Liebe verloren, unsere Liebe für immer und ewig in einer Giftwolke aufgelöst, zerstört, irreparabel verspielt.

Das Spiel soll also weitergehen?

Ja, das Spiel soll weitergehen, unser Spiel, das kein Spiel ist, sondern Ernst, vielleicht tragischer Ernst, ein Endspiel vielleicht. Aber das weiß sie nicht, sie lebt noch, wie wenn immer Frühling wäre und nie ein Herbst käme, nie ein Winter mehr.

Du lullst sie ein? du betäubst sie.

Ach was, ihre Stimme lullt mich ein, aber nein, jetzt lüge ich, nichts lullt mich ein, nichts betäubt mich … einzig, dass sie da ist, ihre Existenz, ihre Schönheit, ja, und ihre Verfügbarkeit.

Du benützt sie? du beutest sie aus, du gehst in Richtung Ausgang, dein Weg wird immer kürzer, du hältst dich an ihr fest.

Ja, ja, ich klammere mich an ihren Blick, ich klammere mich nicht an ihre Haut, nicht an ihr Fleisch, ich klammere mich an ihr Lachen, an ihre Lust, an ihre Hingabe … sie nimmt mir die Angst.

Was für Angst? wovor denn Angst?

Angst vor dem Verlust, dem Verlust der Hoffnung, Angst vor dem Zufallen der Tür.

Was für eine Tür?

Die Tür zu allen Gärten, zu allen Wäldern, die Tür zum Leben. Sie, nur sie nimmt mir die Angst davor, dass diese Tür zufällt, sie macht mich vergessen.

Was macht sie dich vergessen?

Die Zukunftslosigkeit … solange ich ihre Stimme höre, bin ich mitten in einer Ankunft, in einer andauernden Ankunft, ich bin zuhause mit ihr im Jetzt, wir zwei fühlen uns daheim im Grenzenlosen. Aber ich weiß, der Verlust ist in mir, da hilft kein Frühling mehr, seit Tagen scheint die Sonne, doch in mir ist Finsternis, so wie ich mir vorgestellt habe, dass sie kommen wird, eine gehörlose Finsternis, taub und gefühllos diese Dunkelheit. In dieser Finsternis ersticken die Vögel.

Du musst dich wehren.

In dieser Finsternis kannst du nicht lügen. Du kannst dich auf keinen Fall selbst belügen … es ist Schluss mit Illusionen, es ist die Zeit der Zweifel … in der Finsternis kann ich nicht fliegen.

Du bist keine Fledermaus.

Ich bin ein alternder Mann ohne Visionen.

Aber noch gestern hast du gejubelt, hast dir auf die Brust geschlagen, hast dich wie ein junger Stutzer aufgeputzt.

Gestern war sie hier … bei mir, plötzlich aufgetaucht, aus der Finsternis aufgeblitzt wie ein Lichtregen … so ist sie, so kann sie sein. Nein, ich habe keine Visionen mehr, keine Pläne mehr, in aller Ehrlichkeit habe ich auch keine selbstbetrügerischen Illusionen mehr, nicht einmal Fantastereien.

Aber du erzählst ihr von Paris und von der Karibik, erzählst ihr, dass du mit ihr nach Paris fahren willst mit dem Nachtzug und mit dem Flieger in die Karibik an einen weißen Sandstrand unter Palmen, und auch auf eine griechische Insel … mit einer Nachtfähre zu einer Insel in der Ägäis.

Ja das stimmt, so rede ich zu ihr, obwohl ich weiß, dass sie das nie tun kann, nie tun wird. Sie liebt ihren Mann und sie liebt ihr Haus, vor allem liebt sie ihre Tochter, sie ist eine pragmatisch denkende Frau.

Für sie erfindest du trotzdem diese Illusionen, sind doch Betrügereien.

Vielleicht sind es Betrügereien, vielleicht nicht … es ist jedenfalls unsere Art miteinander zu reden, sozusagen unsere Liebessprache. Da sind wir Komplizen, in gewisser Weise Selbstbetrugskomplizen. Und Illusionen gehören zum Stoff unserer gesprochenen Träume … damit füttern wir unsere Gefühle.

Aber du bist es, der diese Träume erfindet, oder hat sie dir schon einmal einen Wunschtraum vorgesagt?

Nein, sie formuliert keine Wünsche, sie spricht nur von … ewig liebe ich dich. Und ich muss glauben, dass es ihre Wahrheit ist.

Der Erfinder bin ich und etwas ist Betrug dabei und etwas doch auch Wahrheit, weil es empfundene Sehnsucht ist.

Sehnsucht wonach? nach dem ewigen Leben?

Nein, um Gottes willen, nein, ich bin schon alt genug, ich will nicht ewig älter werden.

Und du kennst ein Verfallsdatum?

Ich will es nicht kennen … wenn und wie immer ich kann, will ich es hinausschieben und deshalb und dazu ist unsere Selbstbetrugssprache gut, ist aber keine lügnerische Liebessprache. Vielleicht will ich damit nur die Liebe herbeireden, auf dass sie sich spüren lässt und fühlbar wird.

Und du fühlst sie jetzt?

Sehnsucht danach fühle ich und Mitleid für sie und für mich. Mitleid, weil wir, ich und vielleicht sie auch, Sehnsucht für die Liebe halten, wir überlassen uns dieser Verwechslung, dieser Selbsttäuschung, die für mich nicht gilt, weil ich der Wissende bin.

Und sie weiß es nicht, sie weiß nicht, dass sie sich täuscht?

Vielleicht weiß sie es, aber ich glaube eher nicht, sie gibt sich dem Gefühl hin, als lebte sie in einem Liebesfilm ohne Ende, in einem andauernden Happy End, worin ich sie freilich bestärke, ich will nicht, dass sie aus dem Traum aufwacht, aber ich fürchte es, weil ich mich selbst am meisten davor fürchte. Ich bin ein Zerstörer, in mir schläft ein Vernichter, ein Selbstvernichter, und tatsächlich war ich schon mehr als einmal nahe daran, diesen Selbstvernichter in mir zu wecken, ja, ich habe damit gespielt, sie, die sich geliebt fühlt, umworben und geliebt fühlt, zu verletzen, und ihr mit dem Ende gedroht, habe ihr Kommen zu unmöglichen Zeiten gefordert und zu erzwingen versucht, sie mit dem angedrohten Verlassen erpresst. Und warum, warum dieses grausame unsinnige Spiel? das mich selbst in Finsternis und Leere treibt?

Weil diese Selbstverletzung mich wieder befähigt, ein Gefühl zu haben, auch wenn es jedes Mal schrecklich für sie und schrecklich für mich war. Aber für einen langen, langen Augenblick fühlte ich, dass ich liebe, und ich wusste, dass es wahr sein kann.

***