Das Schildkrötenfest - Joseph Zoderer - E-Book

Das Schildkrötenfest E-Book

Joseph Zoderer

4,5

Beschreibung

Intensiv und eindringlich, melancholisch und schön Joseph Zoderer erzählt von der Sehnsucht nach eindeutigen Gefühlen, vom Abenteuer des Sich-Verlierens und von den Fluchtmanövern, die wir inszenieren, um nicht schutzlos dazustehen vor einem unerwarteten Glück. Dass wir für dieses Glück alles riskieren, zeigt Zoderer mit eindringlicher Intensität. Eine Werkausgabe für einen der führenden Erzähler der Gegenwart "Das Schildkrötenfest" ist der zweite Band einer Edition, in der die Werke von Joseph Zoderer, einem der führenden Erzähler der Gegenwartsliteratur, in Einzelbänden neu aufgelegt werden. In Zusammenarbeit mit dem Brenner-Archiv Innsbruck wird dieser Band durch ein Nachwort von Sieglinde Klettenhammer sowie Materialien aus dem Vorlass des Autors ergänzt. ***************** >Ein berührendes Buch, die Geschichte einer Liebe, die immer weniger greifbar wird, je mehr Loris sie zu fassen versucht.< >"Das Schildkrötenfest" ist eine Geschichte von brennendem Begehren. Zoderer ist ein großartiger Erzähler, stets nah an seinen Figuren, eindringlich und klar.< ***************** Bisher in der Werkausgabe erschienen: • Dauerhaftes Morgenrot • Das Schildkrötenfest ***************** "In jenen Werken, die seinen literarischen Ruhm begründet haben, war Zoderer nie so locker und ungezwungen im Erzählton und so komisch wie hier." Tiroler Tageszeitung "Zoderer entspinnt eine schöne Liebesgeschichte … mit poetischen Sätzen und sensiblem Gespür für die Widerspiegelungen der inneren Befindlichkeiten in den Objekten des Äußeren, erzählt Zoderer seine Geschichte …" profil, Nina Schröder "Im schwebenden Ton des souveränen Erzählers gehalten, liefert Zoderers kleiner Roman faszinierende Momentaufnahmen." Die Weltwoche

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Joseph Zoderer

Das Schildkrötenfest

Roman

Mit Materialien aus dem Vorlass des Autors sowie Beiträgen von Sieglinde Klettenhammer und Andrea Margreiter

Inhaltsverzeichnis
Cover
Titel
Andrea Margreiter
[...] jetzt spürte ich den Funken.
Sieglinde Klettenhammer
Nachwort
Joseph Zoderer
Zum Autor
Impressum

An der Grenze musste er den Bus wechseln. Er war hungrig, seit vielen Stunden hatte er nichts Warmes gegessen, aber, erschöpft von der Hitze und vom Warten in der Hitze, war er zunächst nur verrückt nach Kaffee und Wasser. In der Busstation hatte er an der Bar gleich einen American coffee und dann einen Tomatensaft bestellt und bald darauf in der Toilette Wasser vom Hahn getrunken und, wieder an der Bar, ein großes Glas eisgekühlter Milch. Schließlich eine Zigarette geraucht, mit dem guten Gefühl, unterwegs zu sein, und im Anschluss daran wieder in langen Zügen Wasser getrunken aus der öffentlichen Leitung. Sein Freund war nicht gekommen, er wartete fast einen halben Tag auf ihn, auf den Straßen rund um den Gebäudeblock der Busstation und drinnen in der Weiträumigkeit der Schalterhallen; draußen in der sengenden Wüstenhitze, drinnen in der Ventilatorkühle eines riesigen Kühlschranks, er war sich des Luxus bewusst, Wärme und Kühle, darüber konnte er zur Zeit selbst entscheiden, und dass sein Freund nicht kam, beunruhigte ihn nicht, er kannte ihn und seinen Zeitbegriff, außerdem hatte er eine mexikanische Hoteladresse im Notizblock, spätestens in Tepic würde er ihn treffen.

Jetzt war er nur mehr hungrig. Auf der staubigen Hauptstraße, die von der Zollstation ins Zentrum von Nogales führte, gab es vor allem Imbissstuben und Souvenirläden, er aß ein paar Chicken tostados, Toastbrötchen mit wenig Huhn und viel grünem Salat, über seinem Kopf flatterten die Flügel eines Ventilators, trotzdem rann ihm der Schweiß aus allen Poren, aber daran hatte er sich gewöhnt, er zupfte nicht einmal an seinem Khakihemd. Mehr als eine halbe Stunde bis zur Abfahrt des Busses, trotz der Abendstunde spürte er auf der Straße keine Kühle, es war noch hell, und keine Straßenlampe leuchtete. Die Leute, die er sah, waren entweder Touristen wie er, die sich die Zeit vertrieben, oder Grenzgänger und einkaufende Pendler, es herrschte kein Gedränge in der breiten Straße mit meist niederen Häusern, darunter vielen Blechdachbuden, niemand schien es eilig zu haben vor den Läden und Kneipen. Später dachte er, dass er auch sie so zum ersten Mal gesehen oder doch in den Blickwinkel bekommen hatte, stehend im schmalen Schatten eines Blechdaches, vielleicht lehnte sie mit einer Schulter an der Mauer und traf mit ihren Augen seinen Blick, er war sich dessen nicht mehr sicher und misstraute seiner Erinnerung, wahrscheinlich hatte er sich nur ein Bild gemacht: Sie stand da, und er dachte: zu schön, ja tatsächlich, wo immer er sie zum ersten Mal gesehen haben mochte, zuerst und vor allem anderen hatte er gedacht: zu schön, und gleich darauf: irgendwie zu grell; für diese Worte hätte er später andere Worte einsetzen können, wie: zu lebhaft oder zu fröhlich, oder zu lustig, zu lebenslustig, er hätte statt grell auch schrill sagen mögen.

Sie saß neben ihm im Bus und döste oder blinzelte in die untergehende Sonne hinein. Als er vorne beim Fahrer eingestiegen und den Mittelgang heruntergekommen war, hatte er sie am Fenster sitzen gesehen, er wollte seine Ruhe haben und fragte, ob der Sitz neben ihr noch frei sei, sie antwortete zerstreut: Ja. Und da sah er den Fleck, den sie hatte, dieses Muttermal oder was es war, es konnte auch vertrockneter Orangensaft sein, nur etwas dunkler als die Gesichtsblässe, an der linken Halshälfte gleich unter dem Kinn. Sie lächelte ihn blitzartig an, aus Höflichkeit oder Ärger oder Gleichgültigkeit, wahrscheinlich wollte auch sie in Frieden gelassen sein, ihm war es recht, fast fühlte er so etwas wie Dankbarkeit, er hatte mehr als 1200 Meilen Busfahrt vor sich, ungefähr so viel wie die vertikale Durchquerung Europas, zumindest Hamburg–Neapel oder Berlin–Barcelona. Vielleicht hätte er in den ersten Minuten, als der Bus durch Nogales hinausfuhr in die Kaktuswüste, noch seinen Platz gewechselt, weil er jetzt kein Reden mochte, aber auf den Sitzen hinter ihm kreischte eine Schar von Kindern, und wo immer er hinsah, waren Köpfe, kein einziger leerer Sitz. Er spürte, wie der Schweiß sein Khakihemd tränkte, die Luftkühlung war kaum zu spüren. Vor dem Fenster waren die phantastisch geschwungenen Hügel verschwunden, die er vor der Grenze bewundert hatte, versteinerte Brandungswellen vielleicht, vom Wind und von der Sonne kahlgenagt, nun schaute er auf eine scheinbar erdige Ebene, als wäre sie erst kürzlich abgebrannt worden, er wusste, dass es so nicht sein konnte, aber die zwei und drei Meter hohen Kaktusrümpfe waren schwarz, schien ihm, an den Armstümpfen geschwärzt oder verrußt. Irgendetwas drängte ihn, hinauszuschauen auf diese schmutzige Wüste, aber er sah nicht durch das Fenster, an dem sie linker Hand saß, sondern durch die Fensterwand rechts des Mittelgangs: Opuntien, Pflanzungen. Gab es Opuntienpflanzer? Warum nicht, die Früchte dieser Kakteen hießen indische Feigen, er lachte still in sich hinein, lachte sich aus, hier hatte ein mexikanisches Feuer die indischen Feigen abgebrannt, und außerdem waren das, was er sah, wohl keine Ohrenkakteen, sondern außer Kontrolle geratene Zimmerkakteen, mannsgroß die meisten und viele übermannsgroß, schwarze Invaliden. Wann immer Menschen zu sehen waren, dann vor oder neben windschiefen Blechschachteln; da und dort ein Ringelschweifhund, manchmal auch ein Schwein, das mit dem Rüssel den grauschwarzen Boden furchte.

Er wunderte sich, dass er sich so ruhig fühlte, so aufgehoben, obwohl er nicht an ihrem Gesicht vorbei durchs Fenster blickte. Sie teilten ein angenehmes Schweigen, oder ein stummes, sparsames Reden von Leuten, die ein unausgesprochenes Einverständnis verband. Oder war er nur müde und also zu erschöpft, um neugierig zu sein? Nein, er lebte, er spürte, wie er sich Zeit ließ, um zu leben. Draußen röteten sich die Kaktusarme, die rechtwinklig erhobenen Arme, die aus der Hüfte, aus der Brust und aus dem Unterleib herauszuwachsen schienen, jeweils in eine andere Windrichtung. Als seine linke Seite von raschelndem Papier gekratzt wurde, blickte er auf ihre Schläfe, auf ihr Haar, sie blätterte schnell in einer Zeitung, in einem französischen Massenblatt, wie er den Titelzeilen entnahm. Nirgendwo war die versinkende Sonnenkugel zu sehen, sie fuhren in die Nacht hinein, er war ohne Sprache, aber seine Sprachlosigkeit deprimierte ihn nicht, im Gegenteil, es beschwingte ihn, dass er nicht reden musste. Plötzlich hörte er ihre Stimme, sie entschuldigte sich auf Spanisch, dass sie ihn mit der Zeitung berührt hatte. Er war so erschrocken über die plötzliche Unterbrechung ihres Schweigens, dass er nur sagte: Nichts. Er wollte »keine Ursache« sagen, doch sein Spanisch war dürftig, er hatte »nichts« gesagt und »macht nichts« gemeint. Sie hielt weiterhin die Zeitung auseinandergefaltet in ihren Händen und lächelte, als wäre sie im Gespräch mit ihm. Und da begann er tatsächlich zu sprechen: Ob sie Mexikanerin sei, fragte er auf Englisch. Und sie wandte das Gesicht ihm zu und sagte: Nein, ich bin Französin, aber auch Spanierin, und sie lachte, und während sie lachte und ihn ansah, steckte sie die Zeitung neben den Sitz.

Vielleicht wie er zum ersten Mal in Mexiko?, redete er weiter, ohne neugierig zu sein, und doch hob ihn etwas in ein angenehmes Wachsein.

Nein, hier bin ich fast zu Hause, jedenfalls mindestens so daheim wie in Casablanca, sagte sie.

Casablanca?

Ja, da bin ich zur Schule gegangen.

Ihr Vater sei Berufssoldat gewesen, zuletzt Major bei der Fremdenlegion, und habe sich nach seiner Pensionierung mit ihrer Mutter in Casablanca niedergelassen.

Er kommt von Afrika nicht los, sagte sie, mein Vater. Meine Mutter wäre lieber nach Barcelona zurückgegangen, in ihre Stadt.

Vor den Fenstern war es ganz plötzlich Nacht geworden, eine Tintenschwärze, durch die sie mit gleichbleibendem Motorengeräusch fuhren. Einige Reisende knipsten die Sitzlampe an; die Kinder hinter ihm waren verstummt. Er fragte, ob sie auch eine Lampe eingeschaltet haben wollte, sie hob die Schulter: Ganz wie er wolle. In dem schwachen Leselampenlicht sah er ihr Gesicht wie zum ersten Mal. Obwohl sie beide im Halbdunkel saßen, wusste er, dass ihr Gesicht schmal war und fein, seltsam, dachte er, denn sie lacht wie ein Clown, ihre Augen beobachten dich und sind traurig, ach was, die Augen sind nicht traurig, sie schauen und schauen, sie glitzern vor Neugier, weil sie es aufnehmen will mit dieser Welt, oder weil sie dumm ist?

Es fiel ihm erst nach einer Weile auf, dass er nicht redete, obwohl er das Gefühl hatte, nicht stumm gewesen zu sein, vielleicht war sie schon eingeschlafen oder tat so, seltsamerweise war es nicht wichtig für ihn, er schloss die Augen, aber er war nicht müde, nein, er hatte ganz und gar keine Lust zu schlafen; wenn er die Augen schloss, sah er, wie es schneite. In einem wüstenartigen Streckenabschnitt zwischen Wyoming und Utah hatte es geschneit, in Cheyenne, der letzte Maitag, vor dem Motel fegte ein eiskalter Sturmwind die Straße blank, es schneite, und das Land schien ohne Horizont zu sein, die Straße und die Telegraphenmasten verloren sich nadeldünn in der Ferne, nirgends Häuser, es schneite, und zwischendurch schien die Sonne, beleuchtete für Augenblicke die Flockenstriche und verschwand wieder, es war, als inspizierte sie von Zeit zu Zeit den Schneefall in der Wüste, ihr eigentliches Terrain.

Ja, er wusste selbst nicht, warum er ihr plötzlich in die Schlafstille des Busses hinein von Schnee zu erzählen begonnen hatte, wahrscheinlich, weil sie auch jetzt eine Wüste durchquerten, oder weil die Luftkühlung in diesem Bus kaum zu spüren war, oder weil der Schnee zu seiner Kindheit gehörte, zu seinem Vertrautesten, als ob er in einer Schneehöhle geboren worden wäre.

Sie lachte leise vor sich hin und versuchte ihm zu erklären, dass Schnee für sie das Gegenteil ihres vertrauten Elementes sei, Hitze, glühheiß alles, was sie als Kind außerhalb des Hauses berührt habe, vom Schnee habe sie immer geträumt wie von etwas wunderbar Fremdem, das man fürchtet und doch lieben möchte, wie von Silber, wenn der Regen aus Silber wäre, der Schnee sei eben weiß und so wollig, wie sie sich die Heimat ihrer Mutter immer vorgestellt habe, auch wenn Barcelona wohl nur für sie nördlich liege, in ihrem Kopf. Sie flüsterten miteinander, obwohl sie gar nicht zu flüstern brauchten in diesem stickigen Nachtbus, in dem geschnarcht und gehüstelt und halblaut gesungen wurde; auch hörte er immer wieder ein zorniges Gezischel, sei es die Stimme einer müden Mutter oder eines streitsüchtigen Trinkers, sie flüsterten zuerst mühsam in einer Mischung aus Englisch und Spanisch und Französisch, aber sein Spanisch und Französisch rutschten immer weiter ins Italienische, bis sie schließlich bemerkten, dass sie miteinander Italienisch sprachen. Plötzlich fragte sie ihn: Warum sprichst du Italienisch?

Ich komme aus dieser Sprachgegend.

Also bist du Italiener.

Nein, sagte er, eigentlich nein.

Was bist du dann?

Das ist etwas kompliziert: ich spreche deutsch, aber ich habe einen italienischen Pass. Er wollte jetzt nicht darüber reden, seine Sprache und die andere Staatszugehörigkeit hatten ihn immer vor die Wahl gestellt: entweder eine Geschichtsstunde zu geben oder suspekt zu sein. In diesem Moment wollte er lieber suspekt sein, und zugleich wunderte er sich, warum sie so gut Italienisch sprach. Ob er jemals von Bergamo gehört habe, fragte sie ihn.

O ja, sagte er, aber ich war nie dort.

Sie habe in Bergamo, erklärte sie ihm, ein Jahr an der Universität gearbeitet, Paukerkurse, fügte sie lachend hinzu, als ob sie etwas Unrechtes oder Unernstes eingestanden hätte.

Er schwieg, und je länger er hinausschaute, über die Köpfe und Sessellehnen hinweg, zu den Fenstern auf der anderen Seite, desto mehr hatte er den Eindruck, als schwitzte das Scheibenglas vor lauter Nacht. Sie hatten einander noch nicht einmal nach dem Namen gefragt, auch nicht, wann und wo sie aussteigen würden.

Der Bus hielt an den Stationen höchstens jeweils zehn Minuten –, es war nie Zeit genug, sich umzusehen. Tatsächlich hatte er sich gefreut, als er an der Grenze erfuhr, dass der nächste Bus ein Fernstreckenbus war, ein Express mit Ziel Mexico City. So weit wollte er nicht, doch es war ihm recht, wenn er so schnell wie möglich nach Tepic kam, in die Stadt, die siebenhundert oder achthundert Kilometer vor der Hauptstadt lag, er hatte die Hoteladresse seines Freundes dort.

Er spürte, dass sie nicht schlief, auch wenn sie die Augen geschlossen hielt, sie lehnte mit der Schläfe an dem zum Fenster hin gereckten Sesselohr. Neben ihm, auf der anderen Seite des Mittelganges, wehrte sich ein Baby gegen ein Unbehagen – seine Mutter, eine dunkelhäutige junge Frau, bemühte sich, unterstützt von einer älteren Mulattin, den Säugling in trockene Windeln zu legen, aber der Winzling kreischte, bis ihn die Mutter endlich an die Brust gelegt hatte; jäh wurde es still.

Wie wär’s, fragte er vor sich hin, doch so, dass sie es hören konnte, wie wär’s, wenn wir beim nächsten Halt ausstiegen?

Du meinst, mit dem Gepäck?, antwortete sie und ruckelte sich in eine annähernd aufrechte Sitzposi­tion. Die Frage, die eigentlich schon eine Antwort war, überraschte ihn.

Oh, lachte er auf, warum auch nicht, ich dachte nur: um etwas zu trinken oder wenigstens ein Sandwich zu kaufen.

Ich hab ein paar Brote bei mir, sagte sie und holte ihre Tasche unter ihrem Sitz oder zwischen ihren Füßen herauf, ich hab auch etwas zu trinken, lächelte sie ihn an, allerdings nur Mineralwasser.

Danke, sagte er.

Er hatte mit einigen längeren Zwischenhaltezeiten gerechnet und sich mit nichts versorgt. Mehr noch als Appetit hatte er Lust auf Wasser oder Bier, nein, hob er die Arme, danke, ich bring jetzt keinen Bissen herunter. Sie goss einen Pappbecher halbvoll mit Wasser.

Er trank, und während er ihr den leeren Becher zurückgab, sagte er ihr seinen Namen.

Loris, sagte sie, und lehnte sich in den Sessel zurück, Loris gefällt mir, è bello. Sie hob ein wenig ihr Gesicht und sah ihn direkt an:

Ich heiße Nives.

Sie sprach den Namen wie eine Italienerin aus. Ihr Gesicht war wieder in die Polsterung zurückgesunken. Der Ellbogen seines rechten Armes, der, ohne dass er sich dessen bewusst war, über den Sitz hinausragte, wurde jäh gerammt. Als er aufblickte, sah er den Umriss eines breiten weißen Hemdrückens, und gleichzeitig roch er eine Schweißwolke, die ein kurzbeiniger Dicker verströmte, der sich eben an ihm vorbei durch den Mittelgang gedrängt hatte und nun in gekeuchten Kehllauten auf den Fahrer einredete. Loris hielt seine Karte ins spärliche Licht der Leselampe: Der nächste Halt musste Hermosillo sein und würde ihnen vielleicht zehn Minuten Zeit lassen, um an einen Kiosk zu kommen. Sie waren bereits mehr als drei Stunden unterwegs, in Santa Ana hatte er den Halt kaum bemerkt, jetzt war Mitternacht schon vorbei.

Bist du nur unterwegs, hörte er sie fragen, oder fährst du wohin, ich meine, an einen bestimmten Ort?

Ich habe eine Adresse in Tepic, sagte Loris, ein Hotel oder was immer es ist, ein Gasthof oder eine Absteige, dort müsste ich einen Freund treffen. Er kramte ein dünnes Notizheft aus seiner Hemdtasche, zeigte ihr die Adresse. Sie sah kurz hin: Oh, das kenne ich, sagte sie, nicht weit vom Hauptplatz. Ihr Gesicht wurde plötzlich von Lichtwellen überflutet, sie fuhren offensichtlich in Hermosillo ein, das Neonlicht streifte ihre Augen, ließ sie aufglänzen und erlöschen, Licht und Dunkel wechselten sehr schnell, bis schließlich der Bus mit schleifenden, quietschenden Bremsen hielt.

Vielleicht könnten wir – Er wollte sie einladen, mit ihm nach draußen zu kommen für die paar Minuten des Halts. Aber da schrie der Fahrer schon eine Suada über die Köpfe nach hinten. Wir müssen den Bus wechseln, sagt er, seufzte Nives, mit diesem hier ist irgendwas nicht in Ordnung, der Fahrer meint, eine halbe Stunde Verspätung wäre möglich.

Sie steckte die Zeitung und die Wasserflasche in ihre Stofftasche, die nicht viel größer war als die zwei hölzernen Ringe, die sie zusammenhielten. Seine Reisetasche war in der Gepäcklade im Bauch des Busses. Er spürte, dass er lächelte; ihr Lächeln sah er mitten im Schwall der hin und her schwirrenden Rufe, sie standen, eingezwängt zwischen drängelnden Menschen, in einer Wolke von Schlafausdünstungen, Schweiß und billigem Parfüm. Sie ließen sich hinausschieben und wurden auf diese Weise aufeinander zugedrängt, er sah ihren Minirock, und ohne dass er es verhindern konnte, wurde er von den Nachrückenden auf sie hingepresst, ihre Haare rochen nach harzigem Rauch. Als sie endlich aus dem Bus steigen konnten, bemerkte er, dass Nives schwarze Lackschuhe trug mit beinahe flachen Absätzen.

In der kleinen Halle der Busstation war noch ein Ausschank offen; in der Tresenvitrine lagen ein paar Chicken tostados, die ihm aber eher den Hunger vertrieben.

Mineralwasser oder Bier?, fragte er.

Lieber ein Bier, kurz vor dem Zubettgehen, lachte sie, und auf Italienisch klang es nicht frivol: Fa bene prima di dormire, ein Schluck Bier bekommt dem Schlaf. Sie begriff sofort, dass er gerne etwas gegessen hätte, aber dass die Toasts nicht danach aussahen. Sie wechselte ein paar Worte mit dem etwas qualligen Mann hinter der Theke, worauf dieser für kurze Zeit in einem Hinterraum verschwand.

Nives saß ihm gegenüber an einem Tischchen, über das nicht einmal ein Papiertuch gebreitet war. Sie sah ihn an, und eigenartigerweise erschreckte ihr Blick ihn nicht, nein, sie lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück und sah ihn an, als ob sie ihn erst jetzt entdeckt hätte. Er war so müde, dass er sich etwas überdreht vorkam, wie nach einer durchzechten Nacht. Ein Junge in schmierigen weißen Hosen stellte ihnen zwei Bier hin. Loris trank sein Glas in einem Zug fast aus. Vielleicht hatte sie graue Augen oder braungrüne – ihr Gesicht strahlte ihn an, als ob es ihr Freude gemacht hätte. Oder war es Spott, lachte sie ihn aus? Sie trank in kleinen Schlucken, und als er für sich ein zweites bestellte, fragte sie ihn, ob er schon Tequila getrunken habe.

Nein, das heißt, aber ich weiß, was es ist.

Sie winkte dem Jungen, und er hörte, wie sie ihm mehrmals Tequila zurief. Gleich darauf brachte der Junge eine Pfanne mit einem großen Eieromelett, und der schwabbelige Barkeeper stellte zwei Gläser und eine Flasche auf den Tisch. Er goss die Gläser halbvoll und ließ die Flasche vor ihnen stehen. Loris zerlegte sein Omelett mit zwei, drei Messerschnitten und spießte die Happen auf die Gabel, tunkte mit Weißbrot das Öl auf, er war hungrig, o Gott, er hätte gleich noch einmal eine Pfanne bestellen mögen, aber der Bus, er sah auf die Uhr, sie hatten noch knapp zehn Minuten.

Salut, sagte sie und reckte ihm ein kleines halbvolles Wasserglas entgegen.

Er hätte gern ein zweites Glas Bier gehabt, aber das hatte der Junge wohl vergessen oder nicht kapiert. Er hob sein Tequilaglas und dachte an den Konsul aus »Unter dem Vulkan« und nippte kurz, legte dann den Kopf zurück und trank langsam das Glas aus. Der Tequila schmeckte nach alkoholversetztem Seifenwasser, oder nein, eher wie schales Wasser, das plötzlich zu brennen anfing. Nives hatte sich auf ihren Stuhl zurückgelehnt und hielt, einen Arm unter der Brust, ihr Glas an die Lippen und lachte ihm zu, als wäre er nackt. Trotzdem oder gerade deswegen fühlte er keine Entfernung.

Er sah zu, wie sie, ohne mit ihm zu reden – obwohl es war, als redete sie ununterbrochen mit ihm –, mit dem Glas an der Unterlippe entlangfuhr und es ein wenig anhob, es war wie ein Einverständnis, und tatsächlich streckte sie bald einen Arm aus und öffnete die Handfläche, in die er seine Hand hineinlegte. Eine große Leere benahm ihm für Sekunden den Atem, doch gleich darauf überkam ihn eine nie zuvor gekannte Heiterkeit, die ihn sprachlos machte und zugleich wunschlos. Der Junge kam und legte die Rechnung auf den Tisch, Loris griff in seine Hemdtasche und wusste in diesem Moment, dass er keine Dollar eingewechselt hatte. Nives legte eine Hand über seine Geldscheine, zupfte einen hoch, gab ihn dem Jungen und rief ihm etwas nach, das Loris nicht verstand, aber er wunderte sich nicht, als wieder zwei Gläser Tequila und zwei Gläser Wasser serviert wurden.

Er saß ihr gegenüber und dachte, ich sehe die Schweißperlen auf ihrer Stirn und presste seinen Rücken gegen die Lehne des wackeligen Stuhles, unser Bus fährt ab, sagte er, wenn wir nicht gleich aufstehen und loslaufen, fährt er ohne uns ab. Er wollte nicht aufstehen, auch wenn es ihn verwunderte. Sie erreichte mit einem Finger seine auf dem Tisch liegende Hand.

Los, sagte sie, steh endlich auf.

Er lehnte sich mit der Schulter an die Fensterscheibe, und hinter dem Glas war die neonbeleuchtete Nacht der Busstation von Hermosillo.

Warum, fragte er und sah in ihr Gesicht. Ihre Augen schienen Zeit zu haben ausschließlich für ihn. Es kümmerte ihn nicht, ob sie etwas von ihm wollte – ihr Blick war plötzlich etwas, was ihn verwirrte, eine jähe Anziehung und eine jähe Unbekümmertheit zugleich, und dennoch durchströmte ihn eine nie zuvor gekannte Sorglosigkeit, dabei war er hellwach, ihm fiel sogar ein, dass seine Koffertasche – alles, was er außer dem Reisepass hatte – im Laderaum des Busses zurückgeblieben war, ich, sagte er, ich bin hier irgendwie zu Hause. Sie sah an ihm vorbei, zum ersten Mal, dass er diese Art zu schweigen wahrnahm. Draußen war alles noch gleich beleuchtet von den wenigen Neonlampen.

Willst du wirklich hierbleiben?, fragte er, und sie lachte: Was heißt hier?

In diesem Moment fühlte er sich frei, ich bin hier, dachte er, und wiederholte es für sich, ich bin hier. Das einzige, was ihn wirklich interessierte, war aber, dass auch sie hier war. Draußen rollte der Bus weg, sein massiger Umriss verdunkelte einen Atemzug lang das Fenster.

Er erzählte ihr von dem Sonntagmorgen in Cheyenne, von dem eiskalten Wind, der den Schnee über die Hügel in die Ebene gefegt hatte und über die Autobahn, die ihm endlos und mörderisch erschienen war, bis er dieses fremde, nagelneue Auto auf dem Parkstreifen vor dem Holiday Inn Hotel geparkt hatte, nach vielen Hunderten und Hunderten Kilometern ununterbrochener Fahrt mit diesem Histologen, einem pickelig gedunsenen Endzwanziger. Das Land, durch das er gefahren war, bei Tag und Nacht immer er am Lenkrad, hatte ihn fliegen lassen wie auf Drachenflügeln: Du könntest, dachte er, sogar über die Horizontlinie hinausschauen, über die blauschattigen Hügel auf der anderen Seite. Der Dicke – ein Siebenter Adventist, der sich in einem Militärspital in Washington auf seine Zeit als Missionar in Indien vorbereitete – hatte ihn außerhalb von Kansas City aufgenommen, ja, ich stand in tiefem Sommergras, ringsum Fröschequaken, ich rollte den Schlafsack aus, wollte schon neben der Fahrbahn übernachten, als ein Wagen hielt, eben jener Mustang, den dieser Militärmediziner für seinen Oberst an die Küste südlich von Vancouver bringen musste – ein nagelneuer Superschlitten. Zwischen mir und sich, sagte Loris, hatte er eine Bibel und eine Plastikschachtel mit einer Mikrobenzucht deponiert, oder was immer das gewesen sein mag, einerseits beeindruckte er mich damit, dass er seine Forschungsarbeit Tag und Nacht überwachte, andrerseits war es eine Art Drohung: Ich bin dafür verantwortlich, dass alles unter Verschluss bleibt, rühr nichts an, was ich nicht will, dass du es berührst. Aber ich bekam keinerlei Probleme mit ihm, erzählte Loris, obwohl er mir bald zu verstehen gab, warum er mich in den Wagen genommen hatte.

Während er erzählte, sah Nives ihn an, er dachte: belustigt, oder lachte sie über ihn? Wahrscheinlich interessierte sie nicht besonders, was er daherredete, oder murmelte er? Nein, er bemerkte, dass er sich sogar irgendwie beobachtete, während er zu ihr hinüberredete, es war nicht wichtig, wovon er sprach – oder doch, sie wollte ihn einschätzen können. Es kam ihm vor wie ein Spiel, ein Vermessungsspiel, dessen Grenzen sie bis zum Zerreißen dehnten.

Und dann habt ihr in Cheyenne miteinander geschlafen?, fragte sie.

Es war eine verrückte Fahrt, wir haben zusammen den halben Kontinent durchquert, und Lee, wie er sich nannte, begriff wahrscheinlich schon bald, dass er sich in mir geirrt hatte, meinte Loris, ein wenig wurden wir halb zu Feinden, halb zu Freunden. Ich staunte selbst, sagte Loris, wie mich die Situation verwandelte, ich meine, es ging alles so schweigsam vor sich, ohne Streit, ohne laute Worte, ich saß fast immer hinter dem Lenkrad, und wir hielten beinahe ausschließlich an Tankstellen, aßen in der Selbstbedienungsbude nebenan oder in irgendeinem Drive-in einen Hamburger, ich gab die Autoschlüssel nicht mehr aus der Hand, und er forderte nicht einmal ihre Herausgabe, nicht ein einziges Mal versuchte er mich loszuwerden, auch wenn ich ihn ans Steuer ließ, nie sagte er: hau ab, wir fuhren an allen Motels vorbei, in denen seine Übernachtung vorgemerkt war, nur ein einziges Mal auf der ganzen Strecke von Kansas City bis Sacramento schliefen wir, na eben in Cheyenne, wir waren vollkommen erledigt, undenkbar schon längst, dass er mich anzurühren gewagt hätte.

Sie füllte noch einmal sein und ihr Glas, und obwohl er sich auf seinem Stuhl zurückbog, sah er ihr Gesicht ganz nahe, ihr Mund war vergrößert und ihre Augen waren vergrößert, und warum redete sie so wenig, er wollte nicht mehr trinken, er wollte sie hören und sehen können, nein, sagte er, als sie ihm sein Glas entgegenschob, und dann trank er es doch aus. Plötzlich stand sie auf seiner Seite des Tisches, neigte sich ein wenig über ihn, der noch saß, und flüsterte ihm auf Spanisch zu: Vamos, lass uns gehen. Und er fragte nicht, stand auf, spürte, dass er sich Mühe geben musste, auch auf der schwachbeleuchteten Treppe des Hauses hinter der Busstation. Nives schloss eine Flügeltür auf, hoch und schmal, weißlichgrün wie ein Libellenflügel, nur nicht so durchsichtig, dachte er später, wenn er sich an das winzige schiefe Zimmer erinnerte, das zu hohe Wände hatte, aber kaum drei Meter breit war, vermutlich war es der abgetrennte Teil eines Saales gewesen, und es gab darin lediglich ein großes Bett, keinen Schrank und keine Badewanne, bloß eine Duschecke und diesen komischen Vorhang vor einem mit Brettern zugenagelten Fenster. Zum ersten Mal spürte er, dass ihre Hand ihn suchte, ihn verlangte, sie zog ihn an sich heran, er fühlte ihre Fingerspitzen auf seinem Gesicht. Sicher, er war betrunken, und doch erinnerte er sich, dass er sich völlig wach wusste, so wach wie nie zuvor. Er hatte sie gerufen oder sie hatte ihn gerufen, egal, er dachte singend, tonlos singend, während Bildsätze wie Film­untertitel in seinem Kopf zersprangen: Und wenn sie eine Furie ist, die jetzt ihre bewusst sanfte Phase hat, sie kann sein, was immer, ich werde zurückbeißen. Er roch trotz seines verschwitzten Hemdes ihre Haut, als hätte er die Asche würziger Kräuter gerochen oder verbrannte Pinienrinden. Sie lag über seinem Arm, und rund um die Zimmerlampe surrten die Fliegen der Nacht. Er fragte nicht, und sie fragte nicht, er atmete und hörte ihren Atem. Was ihn verwirrte, war, dass Nives sich nicht fremd anfühlte, im Gegenteil, dass sie so vertraut über das Gleiche lachte wie er, sie redeten von den gleichen Ängsten, ihre Nähe machte ihn halb ohnmächtig, er leckte ihre Haut, er leckte ihren ganzen Körper ab, er leckte ihren Schweiß weg, ihr Salz, mit einem bürokratischen Genauigkeitssinn leckte er jeden Quadratmillimeter ihres Bauches, ihrer Brüste, er kroch mit seiner Zärtlichkeit über sie hinweg, auf alle Antworten lauschend, und schlich sich ein in die Achselhöhlen, als gehörte er seit je in diese Nähe, als gehörte er dazu, und kannte doch nichts davon.