Lontano - Joseph Zoderer - E-Book

Lontano E-Book

Joseph Zoderer

3,8

Beschreibung

Der große Sehnsuchtsroman von Joseph Zoderer. FLUCHT VOR DEM LEBEN AM NULLPUNKT Von der Frau sitzen gelassen, die Mutter im Sterben liegend - die "Heimat", die ihm doch schon lange keine Heimat mehr ist, hat ihn verlassen. Auf sich allein gestellt, ratlos und wütend stürzt er sich in EINE TROTZIGE FLUCHT. Er träumt von NEW YORK, von GROßEN VERÄNDERUNGEN, will die Enge von Meran und Wien zurücklassen. IN DIE FERNE WILL ER, dorthin, wo alles neu, alles noch möglich ist. Die schutzlose Weite Nordamerikas ist ihm ZUFLUCHTSORT VOR DER VERLORENEN VERTRAUTHEIT. ON THE ROAD: BEFREIUNGSVERSUCH EINES HEIMATLOSEN Im Kellerzimmer seiner Schwester in MARYLAND fristet er sein eintöniges Dasein als geduldeter Gast. In GREYHOUND-BUSSEN und als TRAMPER lässt er sich treiben, reist nach PITTSBURGH, MONTREAL, DETROIT, SAN FRANCISCO, LOS ANGELES, findet Unterschlupf bei LÄNGST ENTFREMDETEN FREUNDEN und SELTSAMEN BEKANNTSCHAFTEN.Doch weder die intimen, aber farblosen Begegnungen mit Frauen noch sein ROADTRIP DURCH DIE USA UND KANADA vermögen ihn aus seiner Agonie zu befreien. Den Sankt-Lorenz-Strom, die Niagarafälle, den Mississippi - all das lässt er gleichgültig an sich vorbeiziehen. Begleitet von SCHMERZHAFTEN ERINNERUNGEN AN SEINE VERLORENE LIEBE MENA, wird er zum gedankenverlorenen und haltlosen VAGABUNDEN, mit einem einzigen Ziel: dem Verlassenwerden, dem Verlust, der Verantwortung, dem Absterben allen Lebens in und um sich zu entfliehen. EIN MELANCHOLISCHER ROMAN ÜBER DAS SEHNEN UND DAS LOSLASSEN. EINE WERKAUSGABE FÜR Joseph Zoderer "Lontano" ist der vierte Band einer Edition, in der die Werke von Joseph Zoderer, EINEM DER FÜHRENDEN ERZÄHLER DER GEGENWARTSLITERATUR, in Einzelbänden neu aufgelegt werden. In Zusammenarbeit mit dem Brenner-Archiv Innsbruck wird dieser Band durch von Andrea Margreiter bearbeiteten MATERIALIEN ZUR ENTSTEHUNG DES TEXTES AUS DEM VORLASS DES AUTORS UND DURCH EIN NACHWORT ERGÄNZT.

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Joseph Zoderer

Lontano

Roman

Inhaltsverzeichnis
Cover
Titel
Lontano
Anhang
Andrea Margreiter
„Ich muß mit der Geduld eines ­Ochsen arbeiten.“
Zur Entstehung des Romans
Auf nach Vieux-Boucau
Von Weggehen zu Lontano
Anmerkungen
Editorische Notiz
Joseph Zoderer
Zum Autor
Impressum

Für meine Mutter und M.

Was ihn ein wenig verwunderte, war die Art, wie sie ihm die Schuhe von den Füßen und die Hosen von den Beinen zogen, er fand kaum Zeit, die Knöpfe seines Hemdes durch die Löcher zu schieben, und der junge Assistenzarzt fragte ihn, nach einem Blick auf seine Wunde, ob er Bedenken habe, wenn der Professor selbst ihn ansehe. Nein, sagte er, er habe keine Bedenken, angesehen zu werden, er wolle nur wissen, woran er sei. Sie hatten ihm nicht die Ohren zugestopft, und sie hatten ihn auch nicht betäubt, sie führten ihn, so wie er war, mit geöffneten Augen in den Raum, auf ihr Vorführpodium, er war kein Stück Vieh, sie hatten ihm einen Pyjama angezogen, einen Streifenpyjama der Dritten Klasse.

Als die Tür aufgestoßen wurde von der Hand des Assistenzarztes und er gleichzeitig den leichten Stoß der anderen Hand in seinem Rücken spürte, glaubte er zunächst in einem verdunkelten Kinosaal zu stehen, auf der Galerie oben, doch während er hinuntergeschoben wurde, gewöhnten sich seine Augen an das Halbdunkel, und er erkannte einen Hörsaal, dessen fast leere Sitzreihen in einem Halbkreis auf das Podium zuliefen, wo ein langgestreckter beleuchteter Tisch stand und davor diese hagere Gestalt, die der Professor sein musste. Der Professor schubste ihn zwischen den Tisch und die erste Sitzreihe, er untersuchte ihn nicht, sah ihn kaum an, es genügten ein paar gezischelte Worte des Assistenzarztes, die Finger des Professors zwickten ihn wie eine Pinzette, ein wenig wurde er dahin und ein wenig dorthin dirigiert, die Köpfe reckten sich zu ihm hin, zu seiner auf Befehl herausgestreckten Zunge, er hörte Lingua geografica und anderes, was ihm nicht haftenblieb. Die Pinzettenhand kniff und lenkte ihn, aber er blieb lautlos, er sagte nicht A und nicht B, zog, wie und wann immer der Professor es wünschte, die Pyjamahose herunter und entblößte sich unter den Gesichtern dieser durchwegs sonntäglich gekleideten jungen Damen und Herren, hielt ihnen, so gut es ging, seine Wunde hin. Er erkannte sie alle wieder, diese von ihnen gemurmelten oder laut hervorgepressten Bezeichnungen. Und sie hatten ihm keine Binde über die Augen gelegt und weder das linke noch das rechte Ohr mit Pfropfen oder Stöpseln verschlossen.

Später lag er in diesem Bett, am Ende eines hohen weißen Saales, in einer der vier Ecken. Er hörte durch die Wand, der er sein Gesicht zukehrte, das Rauschen der Toilettenspülung, sein Bett war das zwanzigste oder zweiundzwanzigste, hinter dem Kopfende ragte ein sechsfach geteiltes Fenster fast bis zur Decke hinauf. Das Gesicht seines Bettnachbarn war übersät von rötlichgelben Punkten, und auch auf den Händen, dem Mund, den Armen wucherten diese kleinen Blasen. Der Mann hatte brünettes Haar, es fiel ihm büschelweise aus; mit seinen langen Armen konnte ihn der Nachbar, wann immer er wollte, erreichen und nach ihm fassen. Sie redeten kaum miteinander, er laufe niemandem mehr davon, sagte der Bettnachbar irgendwann am Anfang, meist lagen sie beide auf dem Rücken und schauten zur Zimmerdecke, wortlos erforschten sie die dünnen Linien der Farbrisse, und keiner fragte den anderen nach Woher und Was und Werbistdu.

Von Zeit zu Zeit bot ihm der andere sein Dessert an, streckte ihm einen Apfel oder eine Orange entgegen, die in der Höhlung seiner papeligen Hand hin und her rollte, dankend musste er immer wieder etwas erfinden, um den anderen nicht zu verletzen, der Saft, besonders der Saft der Orange, aber auch der des Apfels brenne ihm auf den Lippen, verätze den Gaumen, sein Nachbar verstand ihn, das Gesicht des Mannes verwackelte zu einem nickenden Grinsen.

Er weidete mit den Augen das grau werdende Weiß der Saaldecke ab, las nichts, er wollte nichts lesen, er wollte nicht abgelenkt sein, er wollte nichts, absolut nichts vergessen: wie er Mena vor seinen Freunden und Nicht-Freunden angeschrien hatte, in einem Gartenhaus, einer Schrebergartenhütte, verschwinde, hau ab, verschwinde endlich mit ihm, genau wusste er es nicht mehr, es fielen ihm nur mehr undeutlich einzelne Worte ein, er musste es sich später sagen lassen und glaubte es nicht, wehrte sich, es glauben zu müssen, wenn ihm Schorsch erzählte, dass er lauthals gebrüllt habe, ich fliege ohne dich, ich will dich nicht mehr sehen. Er wusste nicht mehr die Worte, aber er hatte Mena wohl die geplante Amerikareise in Erinnerung geschrien, ich werde ohne dich fliegen, hatte umsonst gehofft, sie damit zur Vernunft zu bringen, sie hatten Spaghetti gedreht und geschluckt, Weißwein in Henkelgläser geschüttet, das Aufkreischen und gegenseitige Überschreien hatte er nicht vergessen, es war für die Freunde ein Fest gewesen, auch wenn er diesen anderen hätte schlagen können, weil ihn sein Gesicht dauernd zu Übertreibungen reizte. Die Decke der Hütte hatte auf ihn wahrscheinlich mehr als auf die Übrigen gedrückt, sie hing dicht über den Köpfen, er fühlte es so, als sollte niemand mehr aufstehen, und sie, Mena, saß nicht neben ihm. Der Tisch füllte fast den ganzen Raum aus, alles bis auf die Bänke und die Stühle hatten sie zuvor hinausgestellt, er sah nur Gesichter vor sich, schwitzende, schreiende Gesichter, auch zum Lachen verzerrte Münder.

Er hatte zugesehen und wieder zugesehen und war beleidigt und aufgeregt zugleich gewesen, lange hatte er wie ein Blinder gelacht und dennoch alles mitangesehen. Sie saßen auf den Bänken so gedrängt, dass ihre Rücken an der Wand scheuerten, und ohne dass es ihn kümmerte, war er schnell betrunken geworden, zornig und betrunken. Er hätte nicht sagen können, ob er ihr den Wohnungsschlüssel hingeworfen hatte, er hätte nicht darauf schwören können, dass sie und der andere jäh aufgesprungen und weggerannt waren, sie waren plötzlich nicht mehr da. Von einem bestimmten, unbemerkten Augenblick an hatte er sie aus dem Blick verloren, er sah sie nicht mehr, schräg gegenüber, auf der anderen Tischseite, er hätte dem anderen gerne ins Gesicht geschlagen, wahrscheinlich aber hatte er ihm zum Abschied einen Gruß nachgeschrien, er wusste es nicht mehr. Natürlich musste sie vor seinen Augen mit dem anderen weggegangen sein, obwohl es ihm noch immer so vorkam, als ob er es nicht bemerkt hätte. Er konnte keinen Handschlag erinnern, nicht die Andeutung einer Umarmung, ganz sicher war er sich nur darin, dass er, und dies sah er als ruhiges Bild vor sich, mit seinem Freund Schorsch zuletzt in einer fast leeren Gasthausstube gesessen und weiter Weißwein getrunken hatte. Nach Mitternacht war er mit dem Aufzug in den neunten Stock gefahren, nach Hause, und zunächst war ihm nichts aufgefallen, nur dass sie nicht da war, ja, das schon.

Er fragte sich, warum und wann er bemerkt hatte, dass die Nähmaschine fehlte, dass sie nicht auf dem Tisch im Hinterzimmer und nicht unter dem Tisch war, warum ihn das überhaupt interessierte, und warum er den Einbauschrank im Flur aufsperrte und die Pressholztüren öffnete. Alle seine Anzüge hingen dort, und nur einer der zwei grünen abgewetzten Reisekoffer, die sie am Meraner Wochenmarkt erstanden hatten, war nicht mehr da, und Menas Kleiderbügel, die er einzeln mit dem Finger anschubste, baumelten an der Messingstange. Er hätte nicht sagen können, wie er eingeschlafen war, mit welcher Gleichgültigkeit, er hatte in seinem Rausch an keinerlei Veränderung geglaubt, hatte nicht an sein Unglück geglaubt, sich vielleicht sogar stark gefühlt, und war mit einem Grinsen eingeschlafen, in den Kleidern auf der blauen ­Kautsch eingeschlafen und hatte weder die Bettwäsche aus dem Klappkasten gekramt noch die rostbraunen Vorhänge vor die Glaswand des Balkons gezogen. Irgendeinmal gegen Morgen oder am Vormittag musste er das Zimmer verdunkelt haben, statt zu frühstücken. Er hatte nur den Stiel der Pfanne, die auf dem Herd stand, mit dem Unterarm gestreift, und die Pfanne hatte eine halbe kleine Runde gedreht, überall, sogar in der Badewanne, hatte er nach einem Zettel gesucht, wenn schon kein Brief, dann wenigstens irgendwelche Zeilen, eine winzige Anrede an ihn, ihr Name, von ihr selbst geschrieben. Aber nichts, absolut nichts, nicht das winzigste beschriebene Fitzelchen.

Er hatte nach dem Erwachen, am Morgen oder am späteren Vormittag, das Telefon nicht angerührt, lag, das Kinn auf der Kautschlehne, da und wartete auf sein Zusammenzucken, auf sein Aufspringen beim Schrillen des Telefons. Doch es blieb still in der Wohnung, er hörte nur zeitweilig das gedämpfte Schnurren des Lifts, das bremsende Rückstoßgeräusch, wenn der Aufzug hielt, manchmal auch im letzten Stock, im neunten, er lauschte auf das Aufschnappen der Metalltür und auf die Stöckelschritte, die sich zur einen oder anderen der beiden Nachbarwohnungen entfernten. Die Katze versuchte sich einzurichten im Winkel zwischen seinem rechten Ohr und der Schulter, er schreckte sie immer wieder auf, wenn er den Kopf hob.

Über den Waschtisch hatten sie, wenn sie aßen, eine Sperrholzplatte gelegt, damals, ganz am Anfang, als sie ihn endlich in ihre Zimmerküchenwohnung eingelassen hatte; vor dem Fenster der Küchennische, die einmal als Garderobe gedient haben mochte, schimmerte matt die Hinterhofsonne. Sie saßen einander gegenüber, er auf dem umgekippten Wassereimer und sie auf einem Hocker, und lachten sich an. Er hatte Mena nie geschlagen, doch, einmal hatte er sie geohrfeigt, vor der Haustür, als sie ihre Schuhe in den Neuschnee geworfen hatte und ihn in einen Schneehaufen herunterziehen wollte, betrunken ihn auslachte, als er den Haustorschlüssel verlangte, sie war in Strümpfen im Schnee herumgehüpft und hatte ihn ausgelacht.

Gegen Abend aß er von den Wurst- und Käseresten, die er im Eisschrank fand, trank aus der Flasche zu kaltes Bier, seine Freunde rief er nicht an, er wollte nicht fragen, um ausgefragt zu werden. Er nahm den Notizblock, der über dem Telefonapparat hing, in die Hand, suchte auf den schmalen Seiten die Schnörkel der Nummern, die sie aufgeschrieben hatte, er starrte die schwarze Farbe des Hörers an, führte seine Augen so nahe heran, dass seine Stirn an das Schwarze stieß, er tupfte mit einem Fingerballen in die dünne Staubschicht am Fensterbrett und schleckte den Finger ab. Manchmal presste er die Hände gegen die Ohren, um die von ihm gesprochenen Worte, die ihm einfielen, Worte, die sie ihm oder die er ihr gesagt hatte, von sich fernzuhalten, und sekundenlang kniff er die Augen zusammen, um sich vor den Bildern zu schützen, die auf ihn eindrängten.

Sie kam nicht mehr zurück, jetzt, da er allmählich die Entfernung zwischen ihnen wieder aufzuheben gemeint hatte und Hanna schon lange nicht mehr traf, jetzt, da er die Einladung seiner älteren Schwester in Maryland angenommen hatte und Mena sich auf den Flug zu freuen schien, seit Wochen nur mehr davon zu ihm geredet hatte. Er machte sich das Bett zurecht; als er das Leintuch über die doppelte Breite warf, erzeugte es ein wischendes Geräusch, er schlüpfte in den Pyjama, allmählich wurde alles wirklich so, wie er es sich nie hatte vorstellen können. Er spürte, wie sich sein Mund verzog, wenn er durch die Budenreihe des nahen Marktes ging, um Leber und Milch für die Katze zu holen, er gehörte nun zu diesen verwaschenen Gesichtern, plötzlich gehörte er zu dieser Vormittagsöde. Wenn ein Freund telefonierte, kicherte er in den Hörer hinein und hängte auf.

An einem Nachmittag räumte er die Flaschen aus dem Nachtkästchen, stellte Gin, Slibowitz und Weinbrand auf den Küchentisch, trank die Reste langsam aus, sah bald unzählige Möglichkeiten, fast alle Varianten von Möglichkeiten, nach jeder Richtung konnte er auf Neues zugehen. Er läutete an der Tür seiner Nachbarin, am anderen Ende des Ganges, und glotzte in das Guckloch, bis sich das Deckelchen dahinter bewegte und er einen Augapfel anstarren konnte, er kannte dieses braune Auge und wusste, was ihn erwartete. In einem wollenen Burnus tappte die Frau voraus in das Schlafzimmer mit schwarzgestrichenen Wänden, einem schwarzen tiefen Spannteppich und einem schwarzverhangenen Fenster, nur der Plafond war blau, dunkelblau, mit aufgepinselten grauen Sternen. Sie wälzte sich mit hochgezogenen Beinen über das Bett, lag mit dem Rücken zu ihm, ließ ihm Platz, sie rasierte nicht ihre Beine, er streifte die Hausschuhe von den Füßen, stieß an die Whiskyflasche. Er kam ihrem Mund nicht nahe, sie hätte ihn angespuckt und gelacht, sie lachte auch jetzt, aber er schob das schafwollene Kleid über ihre und seine Knie, sie hatte noch keine Krampfadern, die einstige Diskusmeisterin, die er und Mena in der Trinkerheilanstalt besucht hatten, Witwe eines Fliegers, den sie im schönsten Krematorium Europas verbrannt hatten mitten im heißesten August. Zwischen den Kopfpolstern lag Riemenzeug, sie winselte nicht, half ihm nicht, hatte nur einen grinsenden Mund. Sie war es gewohnt, ihre Männer aus dem Prater zu holen, es störte ihn nicht, er wollte nur eine Betäubung, etwas wie gegen Zahnweh, wenigstens für einen Moment.

Der enge Raum seines Bades war ihm vertraut, er hielt sich an der Heizungsröhre fest, er rutschte mit der Hand die Heizungsröhre hinunter und umklammerte mit beiden Händen das kühle Porzellan des Beckenrandes, ich habe Grippe, dachte er kotzend, oder keine Grippe, er röchelte zwischen Brust und Kopf, schluckte in den nächsten Tagen Tabletten und Kapseln, Halsweh-, Kopfweh- und Antigrippinmedizin. Till rief an, einer seiner Freunde von der Kunstakademie, eigentlich der ihm liebste, vom Schillerplatz, Till hatte eine Kollegin, die er Tommy nannte, zu einem Arzt gebracht, im zweiten oder schon im dritten Monat. Ob sie ein paar Tage bei ihm ausrasten könne.

Er redete nicht laut mit sich, er schrak zusammen, als er sich hörte, aber er bemerkte plötzlich, wie er die Arme und den Kopf und die Beine zeitweilig schüttelte, von sich wegzuschütteln versuchte, als ob ihm die Gedanken in die Finger oder in die Füße gerutscht wären. Die Freundin seines Freundes, die er nun auch Tommy nannte, wohnte einige Zeit bei ihm, sie schlief in dem Zimmer, in dem Mena genäht hatte, lag dort die meiste Zeit zusammengekuschelt auf dem Kanapee und er draußen auf der blauen Kautsch, selten ein Wortwechsel, am Abend schlüpfte sie in Jeans und Bluse, zog eine Felljacke darüber, ging weg, Till ließ sich nicht blicken. Sie hatte Sommersprossen und eine gelbweiße Haut, die Haare ringelten sich rötlich um die Ohren, er hätte mit ihr geschlafen, wenn sie nicht beide wund gewesen wären, ihm wäre es egal gewesen, er wäre mit ihr, ganz und gar krank, gerne zusammengelegen, wenn sie es gewollt hätte, aber er nahm ihre Gleichgültigkeit wie die seine hin. Wenn sie nicht ausging, spielten sie miteinander Karten, oder er las, um sie zu überraschen, oder sie las, um ihn zu überraschen, plötzlich ein paar Sätze aus dem Buch vor, in das jeder gerade vertieft schien. Wenn es so etwas gab wie einen Schmerzegoismus, dann war er der perfekte Schmerzegoist.

Zwischen Waschmittelreklamen rutschte Menas erster Brief durch den Türschlitz: Sei mir nicht böse, dass ich so von Dir weggegangen bin, schrieb sie zwei Wochen nach der Nacht in der Gartenhütte, ich möchte Dir sagen, dass es mir gutgeht, was Dich sicher traurig macht, aber auch freuen wird.

Er kannte jedes Wort auswendig, hatte jedes Wort mehr als ein Dutzend Mal gelesen und wiedergekaut, ich möchte Dir sagen, dass es mir gutgeht.

Zu einem Arzt zu gehen fiel ihm schwer, er vertrödelte die Zeit, er hatte keine Nadelstichschmerzen. Bis er dann doch hinging zu einer aus dem Telefonbuch herausgefischten Adresse. Mit dem Rezept bekam er in der nächsten Apotheke eine cremige Salbe, womit er sich bestrich, und darüber wickelte er die Gazebinde, er schritt steif- und breitbeinig dahin, die Creme und die Binde verklebten mit seiner Wäsche. Du darfst nicht glauben, schrieb sie in diesem ersten Brief, dass ich Dich lasse. Er war sich nicht sicher gewesen, ob es nicht hasse hieß, und jedenfalls hatte er von Anfang an »dass ich Dich hasse« gelesen. Ich verstehe jetzt, schrieb sie, viel besser, was Du mir so oft gesagt hast, dass man zwei Menschen zugleich lieben kann.

Er ließ seine Katze bei Tommy und fuhr zu Stefan, in die Stadt an der Passer, wo er geboren war und wo die Familien seines Bruders und seiner jüngeren Schwester lebten und wo auch seine Mutter noch ein Fensterzimmer hatte in der Wohnung seiner Schwester. In Stefans Glashaus hatten Mena und er in einem der Kinderbetten geschlafen, mit angezogenen Beinen, Stefan war der einzige Freund, mit dem er jetzt noch reden zu können glaubte, er hatte ihm das Wort Contenance oftmals vorgesprochen, mit ihm hatte er tagelang Schubert gehört, während Mena in der Küche half oder im Garten las. Hinter Stefan an einer Glaswand sitzend hatte er, während Stefan an der Staffelei malte, mit ihm Schubert gehört, und er oder Stefan hatten die Platte jedes Mal wieder umgedreht und die Nadel aufgesetzt, manchmal kam Rike, Stefans Frau, aber öfter kam Mena herein, und einmal sagte sie, dass der Liguster nach Benzin rieche, und meistens stand sie eine Weile neben ihm und legte eine Hand an seinen Hals. Ich hoffe, Du verstehst mich und diese Zeit, die ich jetzt erlebe, schloss Mena den Brief, verzeih mir dieses Chaos, in das oder dem ich Dich zurückgelassen habe, vielleicht genießt Du schon Deine Freiheit, ich habe nichts vergessen.

Er schlief in der Wohnung seiner Schwester, wo ihm die Mutter entgegenhumpelte, aber er erzählte ihr nichts, sprach über Mena nur mit seiner Schwester und wurde von ihr mit Mullbinden versorgt. Schon einige Zeit zuvor, nicht erst damals, hatte seine Mutter die Welt zu beobachten begonnen, er begegnete ihr auf dem Flur, als er mitten aus dem Schlaf heraus das Bad suchte, sie leuchtete ihm mit einer Stablampe das Gesicht ab. Sie kommt jede Nacht ins Zimmer, erzählte seine Schwester, in dem Schlafmantel, den ihr mein Mann gekauft hat, kommt sie in unser Zimmer, obwohl sie ihn, Maurizio, respektiert, ja, ganz langsam macht sie die Schlafzimmertür auf, so langsam, dass ich darauf schon warte, sagte seine Schwester. Fast jede Nacht erwache sie davon, dass ihr Gesicht angeleuchtet werde, sie sehe die Mutter in der offenen Tür des Schlafzimmers stehen, mit der Taschenlampe in der vorgestreckten Hand, bewegungslos und stumm stehe die Mutter in ihrer schiefen Haltung, den Körper nach links verlagernd, das steife rechte Bein seitlich verschoben, wie weggestellt, minutenlang verharre sie so, bis zu einer halben Stunde, sagte seine Schwester, bis zu einer halben Stunde. Sie spreche die Mutter nie an, sie blicke, sagte sie, kaum dass ihr bewusst sei, was geschehe, nur zu ihr hin, mit fast geschlossenen Augen blinzele sie in den Strahl der Stablampe, den die Mutter auch auf Maurizio richte, der aber selten davon wach werde.

Ich habe nichts vergessen, schrieb Mena, und nichts beleidigte ihn mehr als dieser Satz. Seine Mutter, die in den letzten Jahren Geräusche hörte, die er nicht hörte, die niemand außer ihr hörte, keine Stimmen, wie sie ihm beteuerte, sondern ein auf- und abschwellendes Sausen, als ob ein riesenhafter Ventilator hinter der nächsten Wand liefe, hatte die Welt zu beobachten begonnen, sie leuchtete die Gesichter an, nachts, sie achtete auch tagsüber darauf, wie sich die Augen bewegten, ob sie sich bewegten, sie prägte sich die Art der Bewegungen ein, sie unterschied bei der Wahl der Worte, sie schüttelte den Kopf, wenn das Fleisch am Mittagstisch ungleich zertrennt und in ungleich großen oder kleinen Stücken verteilt wurde, sie lachte in sich hinein, wenn die größte Schnitte auf ihrem Teller landete, sie hustete heiser und aß, ohne Hunger zu haben, alles auf. Sie, die nichts lieber als Wilderer- und Liebesromane las, verharrte stundenlang hinter der Fensterscheibe und schaute auf die Straße hinunter, auf den kleinen Parkplatz und die Straße, an die der Parkplatz wie ein Wurmfortsatz angeschlossen war. Sie kannte die Stammplatzhalter, und sie kannte die zeitweilig an- und wegfahrenden Automobile, ihr Augenmerk galt einmal einem Fahrzeug mit dem Nummernschild aus Taranto, ein andermal einem mit dem Kennzeichen von Freiburg im Breisgau oder von Wien. Wenn die Ungeduld zu stark wurde, trat sie auf den Balkon hinaus und überflog mit ihrem Blick alles, die sechs oder sieben Fahrzeuge und die einzeln stehende Linde, dahinter die Allee der Platanen. Der Verkehrslärm der Innenstadt drang nur gedämpft bis hierher. In ihrer Schürzentasche bauschten sich die Zettel, auf denen sie mit einem Kugelschreiber Autonummern notiert hatte.

In der Nacht hörte auch er sie nun hämmern, die Mutter arbeitete mit Hammer und Nägeln, sie schlug neue Nägel ein und riss die alten wieder aus, sie baute sich ein Haus über ihrem Bett, in ihrem Zimmer baute sie sich jede Nacht ein Schachtelhaus über ihrem Bett. Sie war listig und erfindungsreich. Aus dem Abstellraum, wo die Mülleimer standen, hatte sie sich große Pappdeckel beschafft, hatte diese Kartons in unbeachteten Augenblicken, halbsteif wie sie war, ins Parterre zum Lift geschleift und mit dem Lift in den dritten Stock befördert. Sie ließ ihr Zimmer in der Wohnung seiner Schwester nie unversperrt. Obwohl sie unter Menschen wohnte, die sie liebte und von denen sie geliebt wurde, verschloss sie jedes Mal das Zimmer, kaum dass sie es betreten hatte, und zog jedes Mal, wenn sie es verließ, den Schlüssel ab und versteckte ihn in ihrem Taschentuch, auch wenn sie fünf- oder siebenmal in der Stunde ihr Zimmer aufsperren musste wegen eines Briefkuverts oder eines Bleistiftes, immer schloss sie die Tür auf und verschloss sie hinter sich und versteckte den Schlüssel in ihrem Taschentuch.