Der Jahrhundertcoup - Thomas Heise - E-Book
SONDERANGEBOT

Der Jahrhundertcoup E-Book

Thomas Heise

0,0
16,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 16,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Einer der spektakulärsten Juwelendiebstähle hautnah! Die Bestsellerautoren und Macher von »Im Verhör« mit sensationellem Insiderwissen zum Raub im Grünen Gewölbe

Der Raub des sächsischen Staatsschatzes aus dem Grünen Gewölbe in Dresden hielt Deutschland jahrelang in Atem. In der Nacht zum 25. November 2019 verschafften sich sechs schwarz gekleidete Männer Zutritt zu den Räumen des Dresdner Schlosses, schlugen mit Äxten auf die Vitrinen ein und entwendeten Schmuck im Versicherungswert von über hundert Millionen Euro. Die beiden SPIEGEL-Bestseller-Autoren Thomas Heise und Claas Meyer-Heuer sind wie gewohnt hautnah dran am Geschehen! Anhand exklusiver Einblicke in die Ermittlungsakten, zahlreicher Gespräche und Videoanalysen gelingt ihnen nicht nur die minutiöse Rekonstruktion eines Jahrhundertverbrechens. Sondern auch ein detailgenaues Portrait deutscher Polizeiarbeit, die am Ende (nur) zu einem Teilerfolg führt. Verurteilt werden fünf Mitglieder des Rammo-Clans, mit dem sich die Autoren schon seit Jahren beschäftigen. Dieser Fall steht exemplarisch für die um sich greifende Clankriminalität und zeigt eindrücklich, wo die Schwierigkeiten bei der Verfolgung der Verbrechen liegen. True Crime at its best, erzählt am spektakulärsten und dreistesten Einbruch in der Geschichte der Bundesrepublik.

Begleitende Dokumentationen auf SPIEGEL TV.

Von den Machern der YouTube-Serie "Im Verhör" und des gleichnamigen Kult-Podcasts.

Mit Farbbildteil

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 433

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.


Ähnliche


Thomas Heise • Claas Meyer-Heuer

Der Jahrhundertcoup

Ein Clan auf Beutezug und die Jagd nach den Juwelen aus dem Grünen Gewölbe

Deutsche Verlags-Anstalt

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Copyright © 2023 by Deutsche Verlags-Anstalt, München

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München,

und SPIEGEL-Verlag Rudolf Augstein GmbH & Co.KG, Ericusspitze 1, 20457 Hamburg

Lektorat: Christoph Scheuring

Karten: Thomas Gleichmann, DerHerrGleichmann Medienproduktion, Leipzig

Fotos: SPIEGEL TV GmbH Hamburg; Polizei Berlin; Polizei Dresden; Getty Images (Bild 1, 10 und 13); Grünes Gewölbe, Staatliche Kunstsammlungen Dresden: Jürgen Karpinski (Bild 3) und David Brandt (Bild 2); AFP Jens Schlueter (Bild 14)

Bildbearbeitung: Mohn Media Mohndruck GmbH, Gütersloh

Umschlaggestaltung: Büro Jorge Schmidt, München

Umschlagabbildungen: © picture alliance/AP Photo/Jürgen Karpinski (Schmuck); © Polizei Sachsen (Videoaufnahme)

Satz: TypoGraphik Anette Bernbeck, Gelnhausen

E-Book Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 978-3-641-29748-0V001

www.dva.de

Inhalt

Kapitel 1

Der Jahrhundertraub

Kapitel 2

Das Historische Grüne Gewölbe

Kapitel 3

Tag eins nach der Tat

Kapitel 4

Tag zwei

Kapitel 5

Nur 96 Stunden

Kapitel 6

Erste Verdächtige

Kapitel 7

Was verraten die Fluchtfahrzeuge?

Kapitel 8

Die Mobiltelefone

Kapitel 9

Die Suche nach dem Insider

Kapitel 10

Sackgassen

Kapitel 11

Der Durchbruch

Kapitel 12

Die Rammos – eine Familienchronik

Kapitel 13

Die Schlinge zieht sich zu

Kapitel 14

Die Verhaftung

Kapitel 15

Das Jahr 2021

Kapitel 16

Der Prozess

Epilog

Anmerkungen

Bildteil

Kapitel 1: Der Jahrhundertraub

Kapitel 1

Der Jahrhundertraub

1.40 Uhr – 3.45 Uhr

Eigentlich gehören diese Stunden in Dresden zu den ruhigsten des ganzen Jahres. Eine Nacht zum Montag im November, irgendwann morgens zwischen zwei und vier Uhr. Wir schreiben den 25. November 2019. Die wenigen Touristen, die Dresden in dieser Jahreszeit noch besuchen, sind in ihren Hotels verschwunden. Das Partyvolk vom Wochenende schläft dem Arbeitsbeginn der nächsten Woche entgegen. Auch die Frühschicht ist noch nicht unterwegs. Normalerweise treibt sich jetzt niemand mehr herum zwischen Zwinger, Semperoper und Residenzschloss, unweit der Elbe, weder zu Fuß noch mit dem Auto. Nur ein paar verlassene Reisebusse parken noch in ihren Buchten. Normalerweise haben die beiden Männer hier um diese Zeit die Straßen und Plätze für sich allein.

Der eine ist Marco Schmadtke * , ein 29 Jahre alter, kräftiger Kerl mit Glatze, Vollbart und schwarzen Plättchen in den Ohrläppchen. Der andere ist Dimitri Makarenko*, 49, dessen Families aus Russland an die Elbe gekommen ist. Der Job der beiden ist die »Außenüberwachung« des Dresdner Zwingers.

Dieses riesige barocke Gebäudeensemble beherbergt heute die »Gemäldegalerie Alte Meister«, die »Porzellansammlung« und »den Mathematisch-Physikalischen Salon« mit seinen wertvollen technischen Exponaten. Im 18. Jahrhundert diente der Komplex dem sächsischen Kurfürsten August dem Starken als Kulisse für seine Orangenbäume. Jeder Herrscher, der auf sich hielt, besaß damals eine Sammlung solcher Bäume. Heute ist der Zwinger der meistbesuchte Ort in Dresden, zusammen mit dem Residenzschloss auf der gegenüberliegenden Seite der Straße. Dort befinden sich die Rüstkammer, das Münzkabinett und das »Grüne Gewölbe«, die historische Schatzkammer Sachsens. In ganz Deutschland gibt es keinen Ort, an dem auf so engem Raum so viele wertvolle Exponate ausgestellt sind.

Das ist einer der Gründe, warum die Wachleute auf ihrer nächtlichen Runde einen Hund mit sich führen. Und warum beide eine Pistole an ihrem Gürtel tragen. Das letzte Mal haben sie die Waffe bei einem Schießtraining benutzt. Das ist eine ganze Weile her. Seit der Neueröffnung des Grünen Gewölbes vor 13 Jahren hat es noch keine Situation gegeben, in der sie von ihrer Pistole hätten Gebrauch machen müssen.

Auch heute Nacht sieht es nicht nach großer Gefährdung aus. Eher sind die beiden Wachleute genervt, weil mal wieder zwei Jugendliche gegen 1.40 Uhr lärmend durch die Sophienstraße ziehen und Schilder umzuwerfen versuchen. Wie immer in solchen Fällen informieren die Wachleute die Polizei, und die kommt mit einem Streifenwagen und nimmt die beiden Randalierer mit auf die Wache.

Auf der nächsten großen Runde, mittlerweile ist es halb vier, findet Makarenko eine Laptoptasche in einem Mülleimer. Ganz in der Nähe steht ein »Scania«-Bus mit einer offenen Vordertür. Das riecht nach Einbruch und Diebstahl. Aber keine Spur von den Dieben. Wieder telefonieren die Wachleute mit der Polizei, wieder müssen die beiden anschließend eine Zeugenaussage machen.

Etwa zur selben Zeit brettert ein Wagen mit Berliner Kennzeichen die Bundesautobahn 4 herunter und nimmt die Ausfahrt in Richtung Dresden Zentrum. Es ist ein silberner Audi A6 Avant. Um genau 3.40 Uhr kommt der Wagen auf der Leipzigerstraße am Brauhaus Watzke vorbei. Er biegt links ab in die Kötzschenbroder Straße. Zwischen den Hausnummern 6 und 8 befindet sich die Einfahrt in eine Tiefgarage. Sie liegt strategisch günstig in unmittelbarer Nähe zur Ausfallstraße. Von hier dauert es um diese Zeit nicht länger als drei bis vier Minuten zurück auf die Autobahn.

Wenig später parkt ein Mercedes-Taxi mit Dresdner Nummer in unmittelbarer Nähe. Die Insassen des Mercedes steigen um, dann fährt der Audi wieder los. Es ist 3.43 Uhr, als die Überwachungskamera am Brauhaus Watzke den Wagen erneut erfasst. Diesmal steuert er Richtung Innenstadt. Über die Leipziger Straße geht es links in die Konkordienstraße. Vor der Hausnummer 60 wird neben einem VW Golf kurz Halt gemacht. Die Männer montieren von dem Golf die Dresdner Nummernschilder ab und klemmen sie an den Audi, wie sich später herausstellt. In Zeiten, in denen Kennzeichen nicht mehr angeschraubt, sondern nur noch angeclipt werden, dauert das ungefähr eine Minute.

Das weiß keine Stadt besser als Dresden. Früher war Dresden so etwas wie die Autodiebstahl-Hochburg der Republik. Das lag an seiner geografisch günstigen Lage unweit der polnischen und der tschechischen Grenze. Geklaut wurden damals mit Vorliebe Luxus-Autos, aber auch Lkw, Bagger, Baustellenfahrzeuge, Kabel und Rohre aus Kupfer und Stahl. Besonders beliebt waren die Katalysatoren. Mittlerweile hat die Polizei das Problem aber im Griff. Das liegt auch an einer Besonderheit bei der Erfassung der Tatverdächtigen in Sachsen. Unter dem Kürzel MITA werden hier im Unterschied zu anderen Bundesländern »Mehrfach-/intensiv tatverdächtige Zuwanderer« extra gelistet. Sie sind überproportional in der Kriminalstatistik vertreten. Fast jede zweite der durch Zuwanderer begangenen Straftaten wird von den MITA begangen, obwohl sie nur 2 Prozent aller Zuwanderer ausmachen. Jung, männlich, kriminell und Zuwanderer.

Insgesamt ist die Kriminalitätsstatistik in diesem Jahr auf den tiefsten Stand seit Langem gesunken. Waren es 2013 noch mehr als 28000 Fälle, sind es 2019 nur noch knapp über 20000. Auch das subjektive Sicherheitsgefühl sowohl in der Stadt als auch auf dem Land hat sich deutlich verbessert. Selbst jetzt im November, wenn es früh dunkel wird und die Diebe aktiver sind als in anderen Monaten und jede Schwachstelle nutzen. Deshalb ist die Polizei zurzeit vor allem präventiv unterwegs. Gerne gibt sie in Senioreneinrichtungen Informationsveranstaltungen zum Thema Einbruchschutz. Schwerpunkt der Aufklärung ist: Wie kann man Fenster und Türen sicherer machen? Dass diese Fragestellung auch für den Staatsschatz von Belang sein könnte, liegt außerhalb ihrer Vorstellungskraft.

3.45 Uhr – 4.30 Uhr

Mittlerweile hat der Audi A6 mit den falschen Kennzeichen die Elbe überquert, fährt über den Theaterplatz die Sophienstraße hinunter am Residenzschloss mit dem Grünen Gewölbe vorbei. Am Ende der Straße wendet der Audi und hält für eine gute Minute in einer Parkbucht. Dann geht’s wieder zurück, vorbei am Gewölbe zum Theaterplatz. In dem Audi sitzen sechs junge Männer. Zwei von ihnen steigen aus und machen sich mit einer Tasche auf den Weg zum sogenannten Pegelhaus direkt neben der Augustusbrücke am Ende der Brühlschen Terrassen. Keinem Touristen würden die grauen Stahltüren mit den großen Eisenbeschlägen und der Aufschrift »Straßen- und Tiefbauamt Brückenmeisterei« auffallen. Nirgendwo ist ersichtlich, dass dahinter die Schaltschränke des Dresdner Stromversorgers Drewag stehen. Gegen 4.15 Uhr verschaffen sich die beiden Männer Zutritt zum Pegelhaus. Sie haben zwei Aluminiumtöpfe dabei. Und Benzin.

Im Obergeschoss schieben sie den ersten Topf unter die beiden großen Elektroschaltschränke neben der Stahltreppe. Hier laufen die Stromleitungen für die nahe Straßenbeleuchtung zusammen. Dann reißen sie hinten links in der Ecke einen Kabelkanal so weit von der Wand, dass sie den zweiten Topf darauf kippsicher abstellen können. Über den Topf legen sie ein auf dem Kanal liegendes schmales Kabel mit den Telefonhörersymbolen. Das Benzin lassen sie stehen. Sie müssen zurück zu den anderen.

Der Audi bleibt erst mal auf dem Parkplatz am Theaterplatz. Von dort läuft eine einzelne Gestalt bis zur Mauer und dem Zaun vor dem Residenzschloss. Offenbar sondiert sie die Lage. Hinter der Mauer befinden sich die Fenster des Grünen Gewölbes. Später läuft die Gestalt wieder zurück, dann kommen drei Männer aus derselben Richtung, einer trägt eine schwere Tasche. Er stellt sie hinter ein großes Werbeschild vor der Mauer und legt Werkzeuge auf den Sims. Kurz darauf tauchen noch einmal drei Männer auf. Für einen Moment sind sie zu sechst, dann klettern vier von ihnen über die Mauer und verschwinden im Dunkel der Nacht. Die anderen beiden wechseln die Straßenseite. Da ist es 4.25 Uhr.

Es ist das eine, in ein Objekt hineinzukommen. Wesentlich schwieriger, das lehrt schon die Logik, ist die Flucht. Hier passieren die meisten Fehler. Vor einem Einbruch hat man unbegrenzt Zeit. Für die Flucht bleiben meist nur Sekunden oder Minuten.

Darüber haben sich die Wachleute Makarenko und Schmadtke allerdings noch nie ihren Kopf zerbrochen. Sie sitzen gegenüber, im Keller der Direktion Alte Meister im Zwinger, und machen gerade Pause. Als sie Geräusche hören, laufen sie trotzdem die Stufen hoch auf die Sophienstraße. Den Hund nehmen sie nicht mit. Schon wieder stehen Personen vor den umgekippten Schildern neben der Schinkelwache. Es sind zwei sportliche, junge Männer. Die Kapuzen haben sie über die Köpfe gezogen, einer hat seine Hose in die Socken gesteckt. Irgendwie sehen sie seltsam deplatziert aus. Also steuern die Sicherheitsleute auf die Gestalten zu, um Präsenz zu demonstrieren. Auffällig-unauffällig schauen die Kapuzenträger sich um, bewegen sich Richtung Theaterplatz. Makarenko hört, wie sie laut miteinander reden. Könnte Arabisch sein, auch wenn er kein Wort dieser Sprache versteht.

Kontrollieren wollen Makarenko und Schmadtke die beiden Männer nicht. Warum auch? Jedermann hat das Recht, sich nachts herumzutreiben auf Dresdens Straßen. Außerdem gehört die andere Seite der Sophienstraße streng genommen nicht mehr zu ihrem Einsatzgebiet. Makarenko und Schmadtke wenden sich wieder ihrer eigentlichen Aufgabe zu. Richtung Zwinger. Außenbereich überprüfen.

Gefilmt wird die Szene von der Überwachungskamera 335. Es ist die Kamera, die Bilder in HD-Qualität liefert. Sie ist auf dem Zwinger montiert und erfasst fast die komplette Westfassade des Grünen Gewölbes sowie einen Teil der Sophienstraße. Auch das beleuchtete große Werbeschild und das, was dahinter passiert. Jedenfalls solange ausreichend Licht da ist. Außerdem überwacht ein unsichtbarer Laserscanner wie ein Vorhang die Außenfassade des Residenzschlosses. Wenigstens theoretisch.

Praktisch hat dieser Vorhang ein paar entscheidende Löcher. Auf irgendeine Weise müssen die Männer, die dort im Dunkeln kauern, Wind bekommen haben von diesem Fakt.

4.30 Uhr – 4.56 Uhr

Zur selben Zeit beginnt auch für Jens Bannschke* die neue Woche. Es ist kalt, das Thermometer zeigt exakt 4 Grad, als er um 4.35 Uhr in seinen Renault Megane steigt und zur Arbeit fährt. Es ist ein guter Job: Als Pförtner im Residenzschloss hat er es warm und trocken. Zu seinen Aufgaben gehört es, jeden zu kontrollieren, der das Gebäude betritt. Er überprüft die Identität, vergleicht den Dienstausweis mit dem Gesicht und entscheidet, wer eintreten darf und wer nicht.

Während Bannschke unterwegs ist, sind zwei Männer zurück im Pegelhaus. Sie kippen einen Teil des Benzins in die Töpfe und verteilen den Rest auf dem Boden. Beim Rausgehen zünden sie die Flüssigkeit an. Zuerst fängt es nur leicht an zu brennen, bis das Feuer einen Topf erreicht und eine Stichflamme zündet. Funken schlagen, es blitzt, langsam schmoren die elektrischen Schaltschränke weg. Danach die Plastikummantelung der Kabel. Zum Schluss fallen die beiden Niederspannungs-Stromverteiler im Obergeschoß aus. Auch das zentrale Telefonkabel wird ein Opfer der Flammen.

Die Globalisierung bringt es mit sich, dass der Alarm im fernen Rumänien ausgelöst wird. In dem südosteuropäischen Land sitzt die Fernwartung für den Telefonanbieter Vodafone.

Es ist 4.56 Uhr, als Pförtner Bannschke gerade die Sophienstraße überqueren will, um 100 Meter weiter durch einen Toreingang an seinen Arbeitsplatz zu gelangen. Da kommt der Audi A6 mit hohem Tempo aus Richtung Norden, aus Richtung Theaterplatz. Der Wagen wendet vor ihm, bleibt am rechten Fahrbahnrand stehen. Keiner steigt aus. Der Motor läuft, das Licht bleibt an. Bannschke geht weiter Richtung Personaleingang. Er hört noch metallische Geräusche, die er nicht zuordnen kann. Dann fallen plötzlich alle Straßenlaternen aus. Auch die Brückenbeleuchtung für die Schifffahrt erlischt. Der letzte gemessene Pegelstand wird um 4.56 Uhr gesendet. Die ganze Konstruktion mit den Töpfen hat perfekt funktioniert. Eine Art pyrotechnische Zeitschaltuhr. Die Überwachungskamera 335 fokussiert jetzt auf ein Spinnengewebe. Nur das große Werbeschild am Zaun leuchtet noch. Von Norden weht leichter Brandgeruch zum Residenzschloss herüber.

In diesem Moment beginnen die vier Männer hinter der Mauer im Schutze der Dunkelheit mit ihrer Arbeit. Alles läuft wie geplant. Bereits Tage zuvor haben sie nachts acht Streben des massiven Eisengitters vor dem linken Fenster durchtrennt und es danach mit Klebestreifen wieder in Position geklebt. Jetzt müssen sie das Teil nur noch herunternehmen und sich durch die entstandene Lücke schlängeln. Angst entdeckt zu werden haben sie nicht. Offenbar wissen sie, dass der Laserscanner die Fassade erst ab einer Höhe von 2,50 Meter erfasst. Und vom Einstiegsfenster auch nur den rechten oberen Rand. Die linke untere Hälfte liegt für den Scanner im toten Winkel. Die Überwachungskameras müssen sie auch nicht fürchten. Das Fenster, durch das sie einsteigen wollen, liegt im Schatten des Außenturms, kein Licht fällt in die Ecke, nur Wärmekameras würden etwas abbilden können. Die existieren nicht im Sicherheitskonzept des Schlosses. So sehen die Kameras nichts anderes als eine schwarze Fläche.

Einer der Männer löst jetzt das Gitter ab. Auch das bekommt keiner mit. Nun muss nur noch das Fenster geöffnet werden, was nicht so einfach ist, weil das ganze Fenster keine Klinke und keinen inneren Riegel hat, sondern nur aus Sicherheitsglas und einem feststehenden Rahmen besteht. Dafür ist es aber auch nicht durch eine Alarmvorrichtung gesichert. Weder Signaldrähte noch Infrarot- oder Magnetmelder. Nichts.

Für dieses Fenster haben die Männer einen hydraulischen Rettungszylinder mitgebracht. Der kann einen Druck von 14 Tonnen aufbauen und ist ein echtes Profigerät. Selbst ohne Akku wiegt er circa 17 Kilogramm. Hersteller ist die bayerische Firma Lukas mit Sitz in Erlangen. Sie hat das Gerät entwickelt, um nach einem Unfall eingeklemmte Menschen aus einem zusammengeschobenen Wagen befreien zu können. In kriminellen Kreisen wird das Teil auch gerne für die gepanzerte Tür eines Geldtransporters benutzt. Im Prinzip funktioniert es wie ein Wagenheber mit einem hydraulischen Stempel.

Hier haben die Männer noch ein Rohr an das sogenannte Widerlager am Fuß geschweißt, um den »Rettungszylinder« in die Innenseite des historischen Gitters einhängen zu können. So verteilt sich die Kraft auf eine größere Fläche. Mit dem Lukas-Rettungszylinder drücken sie jetzt das Fenster samt Rahmen aus der Verankerung. Ein kurzes Warten. Alles ist still. Kein Alarm. Auch nicht in der Sicherheitsleitstelle des Schlosses.

Die genaue Lage der Leitzentrale ist eines der am strengsten gehüteten Geheimnisse des Sicherheitskonzepts. Wie im Krieg der Befehlsstand der Generäle. Sollte von außen ein Angriff auf die unfassbaren Werte im Schloss erfolgen, so die Überlegung, muss die Leitzentrale im 2. Obergeschoss des Südflügels autonom agieren können. Ohne dass die Sicherheitsmitarbeiter Gefahr laufen, ausgeschaltet zu werden.

An der Überwachungswand in diesem Raum hängen vier große Monitore. Auf jedem Monitor sind vier Kameras aufgeschaltet. Dazu kommen auf den Tischen drei Arbeitsplätze mit je drei Monitoren. Am mittleren Arbeitsplatz befindet sich der sogenannte »Überfallmelder«. Wird er gedrückt, läuft bei der Polizei direkt eine Meldung auf. Dass das System funktioniert, wissen die Sicherheitsleute, seit die Nichte einer Mitarbeiterin einmal aus Versehen den Knopf gedrückt hat. Fünf Minuten später war das ganze Residenzschloss umstellt. Lustig fand das die Polizei damals nicht. Einen Ernstfall gab es dagegen noch nie seit der Neueröffnung des Grünen Gewölbes. Einer der Monitore ist nur dafür da, Alarmmeldungen anzuzeigen. Tagsüber kommt das ständig vor. Ein roter Stern leuchtet immer dann auf, wenn zum Beispiel die empfindlichen Vitrinen berührt werden. Oder wenn sich jemand einem der freistehenden Exponate nähert. Oder wenn sich eine Gardine in der aufsteigenden Luft der Heizung bewegt. Kein Scherz. Das kommt häufiger vor. Jeder Alarm wird überprüft und anschließend durch die Zentrale zurückgestellt. Alles Routine.

4.56 Uhr – 5.20 Uhr

Um 4.56 Uhr ist in diesem Raum noch alles wie immer. Niemand hat den Stromausfall auf der Straße bemerkt. Auch der Brandgeruch im Pegelhaus ist nicht bis zu den Menschen hier vorgedrungen. Der Schichtwechsel ist in vollem Gange. Kollegen kommen und gehen. Sandra Kaiser* ist unter denen, die Feierabend haben. Sie verlässt Raum und Schloss und geht Richtung Zwinger. Dort trifft sie die beiden Sicherheitsleute beim Zigarettenschmauchen. Anschließend bringt Makarenko seinen Partner mit der kalten Schnauze zurück ins Büro. Ein kräftiger Wind bläst. Nach anderthalb Stunden Streifendienst muss auch ein Deutscher Schäferhund mal wieder ins Warme. Jetzt ist niemand mehr auf der Straße zwischen Zwinger und Schloss zu sehen. Die zwei Männer, die unter dem Fenster lauern, bemerkt Sandra Kaiser nicht.

Die anderen beiden Einbrecher schieben sich durch das aufgedrückte Fenster und stehen dann direkt im Pretiosensaal. Das ist der zentrale Raum des Grünen Gewölbes. Ein großer, rundum verspiegelter Saal mit Marmorboden, einem weißen Stuckgewölbe und goldenen Konsolen vor den Spiegeln, auf denen die Kostbarkeiten des Raums ohne Vitrinen oder Gitter ausgestellt sind. Goldverzierte Trinkgefäße aus Nautilus-Schneckenhäusern oder Straußeneiern, Schalen aus Bergkristall, Japsis oder Achat, besetzt mit Emaille oder Edelsteinen. Die meisten Teile stammen aus dem 17. Jahrhundert. Jedes für sich ist ein Vermögen wert. Trotzdem steht kein Exponat hinter Glas oder Gitter. Gesichert nur mit Sensoren und Scannern. Die beiden Männer würdigen die Kostbarkeiten mit keinem Blick.

Sie laufen quer durch den Raum zur Tür, die ins »Wappenzimmer« führt, der nächste Saal dahinter ist das »Juwelenzimmer« des Grünen Gewölbes. Hier lagern die kostbarsten Schätze der ganzen Sammlung. Hinter Glas. Das Juwelenzimmer ist der einzige Raum mit fest installierten Vitrinen aus Borosilikat-Sicherheitsglas. Besonders resistent gegen Angriffe mit Kälte und Säure. Die Männer haben in ihren Taschen Äxte dabei.

In der Sicherheitsleitzentrale ist der Schichtwechsel jetzt vorüber. Der diensthabende Wachmann ist Markus Hahne*, 32 Jahre, Katzenliebhaber, wie jeden Morgen ist er mit dem Fahrrad zur Arbeit gefahren. Gerade steht er mit dem Rücken zu den Monitoren, als plötzlich der zweite Mann im Raum ruft: »Was ist hier los?«

Hahne dreht sich um. Was er sieht, raubt ihm den Atem: Auf dem Alarm-Bildschirm blinkt eine ganze Reihe roter Sterne auf. Dazu ein Signalton. Über den Monitoren hängt eine digitale Anzeige. »25 NOV 04:57:38« wird angezeigt.

Der erste Alarm kommt vom Bodenscanner unter dem Fenster im Pretiosensaal. Der zweite läuft aus dem Wappenzimmer ein. Die Überwachungskamera im Juwelenzimmer zeigt zuerst nur den Schein einer Taschenlampe. Dann tauchen zwei Typen auf dem Monitor auf. Einer der beiden Eindringlinge läuft erst zu weit, bremst ab, dreht sich um und drischt dann mit seiner Axt auf zwei verschiedene Vitrinen ein. Die Schaukästen melden den nächsten Alarm. In exakt 29 Sekunden schlägt der Einbrecher 26-mal zu. Dann ist das Loch so groß, dass eine zweite Axt in die Lücke passt. Mit ihr reißt der zweite Mann Stücke aus der Scheibe heraus. Er ist deutlich erkennbar Linkshänder. Als eine Hand durch den Spalt passt, greifen sie sich die Beute.

Eigentlich müssten die Wachleute jetzt den »Überfallmelder« auf dem mittleren Arbeitsplatz drücken, der direkt die Polizei alarmiert. Stattdessen wählt einer von den beiden mit dem Telefon exakt 51 Sekunden nach Beginn des Einbruchs die Notrufnummer der Polizei 110. Zuerst läuft nur eine Ansage vom Band: »Sie haben den Notruf der Polizei gewählt. Sie werden verbunden.« Nach weiteren 13 Sekunden meldet sich ein Beamter.

Er sitzt im Polizeipräsidium in der Schießgasse 7. Zu Fuß sind es von dort nur 700 Meter bis zum Grünen Gewölbe. Das Präsidium gleicht einer Festung mit zwei runden Haupttürmen. Ende des 19. Jahrhunderts als »Königlich Sächsisches Polizeipräsidium« erbaut, ein typisches Beispiel der Neorenaissance und des Neobarocks in Dresden. Im Inneren des alten Gemäuers befinden sich auch die Leitzentrale und das Polizeirevier Mitte. In einem der drei Innenhöfe warten die Streifenwagen. Immer bereit für den Einsatz.

»Polizeinotruf PD Dresden, recht schönen guten Tag!«, sagt der Beamte am Notruf.

Anrufer aus dem Grünen Gewölbe: »Nu, Leitzentrale im Residenzschloss. Und zwar haben wir bei uns einen Einbrecher gerade in den Kameras gesehen. Und zwar im historischen Grünen Gewölbe. Zwei Personen. Wir bräuchten polizeiliche Unterstützung.«

Beamter: »Ja, den haben Sie jetzt auf der Kamera gesehen, im Gebäude?«

Anrufer: »Im Gebäude drin, ja.«

Beamter: »Und wie sollen die Kollegen da anfahren? Direkt zu vorm Residenzschloss?«

Anrufer: »Ja. Oder am besten …«

Beamter: »Okay, ich schick die Kollegen sofort los!«

Anrufer: »Alles klar.«

Nach 45 Sekunden ist das Telefonat beendet. Es sind jetzt also genau 96 Sekunden vergangen, bis die Polizei Einsatzkräfte losschickt.

4.59 Uhr

Im Einsatzprotokoll wird jetzt als »polizeiliche Erstmitteilung« vermerkt: »2 Täter im Grünen Gewölbe, Wachdienst vom Residenzschloss sieht diese auf Kamera im Ereignisort.«

Die Einbrecher stopfen in der Zwischenzeit die Juwelen in ihre Taschen. Nicht nur Kleinteile, auch einen mit Brillanten besetzten Degen nehmen sie mit. Ganz offensichtlich haben sie einen genauen Plan. Gezielt greifen sie nach Stücken der »Brillantgarnitur«. Sie ist die weitaus kostbarste Juwelengarnitur des Grünen Gewölbes. Solche Garnituren bestehen in der Regel aus Orden, Broschen, Gürtelschnallen, Manschetten, Westenknöpfen und einem Paradedegen. Die prachtvollsten Teile sind der damaligen Mode folgend die »Hutagraffe« und das Achselband oder die »Epaulette«. Dort wurden die größten und schönsten Steine verbaut. Herzstück der Epaulette der Brillantgarnitur ist ein Brillant mit dem Namen »Sächsischer Weißer«. Fast 50 Karat schwer; als August der Starke ihn 1728 vom Hamburger Juwelier Moses Abraham kaufte, zahlte er 200000 Taler für ihn. Zum Vergleich: Der Bau seines gesamten Sommerschlosses in Pillnitz kostete ihn nur ein Fünftel der Summe.

Der heutige Versicherungswert der Beute beläuft sich auf 116,8 Millionen Euro. Insgesamt greifen sich die Täter 21 Schmuckstücke, die insgesamt mit mehr als 4300 Brillanten und Diamanten besetzt sind. Während der eine Täter die letzten Teile in einen Beutel stopft, läuft der andere wieder zum Einstiegsfenster und kommt mit einem Feuerlöscher zurück. Den Inhalt versprüht er im ganzen Raum, um die Spuren zu vernichten. Dann ist der Feuerlöscher leer.

So planvoll, wie die Einbrecher vorgehen, so ratlos sind die Sicherheitsleute in der Leitzentrale. Wie sollen sie reagieren? Laut Sicherheitskonzept müssten sie das Licht in den von den Einbrechern angegriffenen Räumen anmachen. Sie tun es nicht. Runterrennen und die Einbrecher stellen, ist zu gefährlich. Laut Alarminstruktionen ist nicht vorgesehen, dass sie bei einem Überfall ihren Raum verlassen. Immerhin geben sie den Kollegen vom Sicherheitsdienst im gegenüberliegen Zwinger Bescheid.

Als das Telefon schrillt, ist Marco Hanke*, 31, gerade dabei, die Übergabe zu machen. Er geht sofort raus auf die Straße. Alles ist dunkel wegen der ausgefallenen Straßenbeleuchtung, nur die Laterne, unter der er gerade steht, brennt seltsamerweise noch. Hanke will nicht entdeckt werden und bewegt sich aus ihrem Kegel. Auf Höhe der Schinkelwache vor dem Zaun am Grünen Gewölbe, gleich neben dem großen Werbeschild, sieht er mehrere Gestalten an einem Auto. Die Kofferraumklappe ist auf. »Los, komm, mach schnell«, hört Hanke jemanden in gebrochenem Deutsch sagen. Hanke ist ein kräftiger Kerl. Die Haare zwei Finger breit über den Ohren ausrasiert, Viertagebart, im Gürtel trägt er eine Pistole. Er könnte die Waffe ziehen und schießen. Genau wie sein Kollege. Auch der ist bewaffnet. Zur Eigensicherung.

Makarenko steht etwas entfernt, zum Fluchtauto sind es von ihm ungefähr zwanzig Meter. Den Hund hatte er so schnell nicht mehr mitnehmen können. Makarenko gibt alles über Funk durch. Dann hört er, wie einer in gebrochenem Deutsch ruft: »Raschid, schmeiß rein!« Es klirrt wie Glas, als ein großer Beutel in den Kofferraum fliegt. Makarenko erkennt an den Rückleuchten, dass es ein Audi A6 Kombi ist. So einen wollte er auch schon immer mal haben. Er funkt in die Zentrale: »Die steigen ein und fahren los!«

Beide Sicherheitsleute denken nicht daran zu schießen. Das gibt die Lage einfach nicht her. Niemand wird bedroht, kein Menschenleben ist akut gefährdet. Das Ganze ist, so bizarr es klingt, nur ein Blitzeinbruch, bei dem sich der Gebrauch einer Waffe verbietet.

Statt zu schießen, zückt Hanke sein Handy und filmt, wie der Audi um 5.02 Uhr davonrast. Richtung Theaterplatz. Seit dem ersten Alarm sind genau 4 Minuten und 18 Sekunden vergangen. Der Sicherheitsmann glaubt zu sehen, wie der Wagen links abbiegt runter zur Elbe. Die Augustusbrücke ist wegen Bauarbeiten ja sowieso gesperrt.

Im Präsidium dauert es jetzt eine gefühlte Ewigkeit, bis sich das elektrische Tor vom Hof der Polizeidirektion endlich öffnet. Mit zwei Streifenwagen macht sich die Polizei auf den Weg zum Schloss. Blaulicht und Sirene sind aus. Noch heißt es ja, die Täter seien »im« Grünen Gewölbe. Da will man niemanden aufschrecken. Außerdem sind die Straßen um diese Zeit sowieso menschenleer. Es geht links raus aus der Einfahrt in die Rampische Straße, dann über den Neumarkt, die Augustusstraße lang, dann links in die Chiaverigasse zum Theaterplatz. Dann wieder links. Nach 900 Metern trifft der erste der beiden Streifenwagen von Norden kommend am Tatort ein. Das Fluchtfahrzeug haben sie um exakt 100 Sekunden verpasst. Genau 96 Sekunden dauerte das Alarmieren der Polizei über den Notruf. Hätten die Sicherheitsleute den Alarmbutton gedrückt, wäre die Flucht der Einbrecher wohl gescheitert, weil die Streifenwagenbesatzung die Rücklichter des Audi noch gesehen hätte.

In einem der Streifenwagen, die als erste eintreffen, sitzt Polizeikommissarin Kristina Katte. 31 Jahre, die Haare streng nach hinten gebunden, stressfest und durchtrainiert, eine passionierte Joggerin. Im Urlaub wandert sie gerne durchs Hochgebirge.

Makarenko und Hanke warten auf der Straße vor dem Zaun am Grünen Gewölbe. Es sind jetzt rund sechs Minuten vergangen, seit in der Leitzentrale des Residenzschlosses der Alarm ausgelöst wurde. Hanke erzählt der Kommissarin sofort von dem Fluchtweg, den er beobachtet haben will und zeigt sein Video mit dem Tatfahrzeug. Viel zu sehen ist darauf nicht. Die Qualität ist derart lausig, dass man weder Fahrzeugtyp noch Kennzeichen erkennen kann. Katte gibt wenigstens den vermuteten Fluchtweg an ihre Kollegen weiter.

Auf der nur 200 Meter entfernten Augustusbrücke, ist zu dieser Zeit eine junge Frau mit dem Fahrrad unterwegs. Sie will weiter zum Hauptbahnhof. Offiziell ist die Brücke für den Fahrzeugverkehr gesperrt. Überall Bauarbeiten, die Fahrbahn ist teilweise aufgerissen, Gehwegplatten liegen herum. Fußgänger können die Brücke allerdings noch benutzen. Ab und an fährt auch ein Auto entlang. Vorzugsweise ortsunkundige Touristen, die blind auf die Karte oder das Navi starren. Vor der Frau liegt der unfassbar schöne Blick auf die andere Seite der Elbe. Die barocke Gebäudesilhouette erhebt sich über den breiten und geschwungenen Fluss. So schön, so ruhig. Es ist der berühmte Canaletto-Blick: Das Panorama der Altstadt, vom rechten Elbufer gesehen, unterhalb der Augustusbrücke. 1748 hat der Maler Bernardo Bellotto, genannt Canaletto, diese Perspektive gemalt und Dresden damit in ganz Europa bekannt gemacht. Auch heute besuchen die meisten Menschen die sächsische Metropole wegen genau dieser Ansicht.

Auf der Mitte der Brücke bemerkt die Frau, dass am Ufer Rauch aufsteigt. Sie hört ein Rumpeln. Dann brettert ein Fahrzeug trotz der Baustellensperrung hochtourig an ihr vorüber. Kurz überlegt sie, die Polizei per Notruf zu alarmieren, weil sie Jugendliche vermutet, die mal wieder ein illegales Autorennen fahren. Dann sieht sie das Blaulicht eines Streifenwagens und denkt, dass die Polizei bereits informiert ist.

Stattdessen ruft sie die Feuerwehr. Es ist 5.5.13 Uhr, als es dort klingelt.

Feuerwehr: »Notruf Rettungsdienst und Feuerwehr, schönen Tag.

Anruferin: Hallo, ich bin hier in der Altstadt, da an der Brücke, und da brennt’s. An der Hofkirche. Ist das schon irgendwie gemeldet worden?«

Feuerwehr: »Nee, noch nicht. Wo ist das, in welcher Straße?

An der katholischen Hofkirche am Schlossplatz?«

Anruferin: »Genau, da.«

Feuerwehr: »Und wo brennt es dort?«

Anruferin: »Ähm, an der Baustelle eigentlich, ähm im Gemäuer, unten drin. Und das klappert ganz schön laut. Ich weiß auch nicht, was das ist.«

Feuerwehr: »Hm, Terrassenufer quasi?«

Anruferin: »Ähm, ich weiß es nicht. Irgend … es steigt nur wahnsinnig viel Rauch auf und es klappert unten im Gemäuer drin ganz schön laut. Ich weiß auch nicht, was das ist.«

Feuerwehr: »Hm, hab’ ich so verstanden. Ich lass Ihnen mal Hilfe zukommen.«

Anruferin: »Okay, alles klar, … also ich wusste jetzt nicht, ob es gemeldet wurde, weil, es ist schon ganz schön viel Rauch.«

Feuerwehr: »Nee, okay, ich schick Hilfe zu. Ist noch nicht gemeldet. Danke für die Information.«

Nach dem Telefonat verlässt die Frau erst einmal nicht das Geschehen. Vielleicht braucht jemand ihre Aussage, denkt sie. Noch bevor die Feuerwehr eintrifft, wird sie von zwei Wachleuten befragt: Ob sie etwas gesehen hat? Irgendetwas Auffälliges? Das um diese Zeit nicht hierhergehört?

Die Frau ist so sehr auf den Rauch und das Rumpeln im Gemäuer fokussiert, dass sie den Audi in der Hektik komplett vergisst. Nach der falschen Aussage des Security-Mannes Hanke ist das der zweite Grund, warum die Polizei die Täter in dem Audi unten auf der Uferstraße vermutet.

Also rast einer der ersten Streifenwagen links an der Elbe entlang, am Landtag vorbei bis zur Autobahnauffahrt Altstadt. Hier entscheiden sich die Beamten wieder links zu fahren, Richtung Autobahn 17. Die führt durch das Erzgebirge auf dem kürzesten Weg nach Tschechien.

Insgesamt machen um 5.09 Uhr 16 Streifenwagen Jagd auf die Täter. Darunter auch die Streifenwagen mit den internen Bezeichnungen »01« und »03« vom Polizeirevier Mitte. Sie sollen den Flüchtenden den Weg abschneiden. Wagen 01 bezieht den Posten am Restaurant »Radeberger Bierausschank« in der Nähe des Schlosses.

Da parkt der silberne Audi allerdings schon in der Tiefgarage in der Kötzschenbroder Straße. Es ist Punkt 5.07 Uhr, als eine Mieterin der Wohnanlage mit ihrem Wagen dort in der Tiefgarage vor das Rolltor fährt und an dem Strick zieht, der den Rollmechanismus betätigt. Noch bevor sich das Tor komplett geöffnet hat, quetscht sich der Audi an ihr vorbei in den hinteren Teil der Garage.

Fünf Minuten später beobachtet ein Kurierfahrer, wie zwei Männer auf Höhe der Hausnummer 8 eilig in ein Mercedes-Benz-Taxi steigen, das dann Richtung Autobahn fährt. Nur zwei Kilometer sind es von hier bis zur Auffahrt »Elbepark, Dresden Neustadt«. Auch hier fällt das Taxi Dresdner Pendlern auf. Zwei Spuren führen an der letzten Ampel vor der Auffahrt geradeaus, nach 200 Metern verengt sich die Straße auf eine Spur, die dann auf die Autobahn Richtung Norden führt. An diesem Morgen haben sich alle Autos rechts einsortiert, als links ein Taxi herangeschossen kommt. Ganz knapp vor einem Lkw zieht es rüber nach rechts, brettert die Auffahrt hoch, wechselt direkt auf die Mittelspur, von dort auf die linke Überholspur. Ruckzuck hat die E-Klasse mit dem Taxi-Schild auf dem Dach auf knapp 200 km/h beschleunigt.

Kurz darauf erreichen auch die Polizisten im Streifenwagen 01 die Autobahn. Sie postieren sich am nahen Autobahnkreuz. Rechts geht es gen Osten nach Bautzen und Polen. Links führt die A13 Richtung Berlin. Hier scannen die Polizisten den morgendlichen Berufsverkehr. Sie suchen nach drei Männern in einem hellen Audi A6. Da brennt der Wagen bereits – allerdings noch unbemerkt – in der Garage.

Es ist 5.12 Uhr, als eine Mieterin zu ihrem Wagen auf Stellplatz 66 läuft und einen stechenden Gummigeruch bemerkt. Auch das Garagenlicht funktioniert nicht mehr. Dann geht an einem anderen Wagen die Warnblinkanlage los. Sie denkt an einen Einbrecher, als die automatische Brandmeldeanlage schrillt. Der Alarm läuft gleichzeitig bei der Feuerwehr auf. Dann explodiert etwas im hinteren Teil des Gebäudes. Auf die erste Explosion folgt sofort eine zweite. Bumm. Bumm Bumm. »Nur raus hier«, denkt die Mieterin. Auf der Flucht trifft sie den Hausmeister. Der hat den Notruf bereits gewählt, mehrere Löschzüge rasen heran. Vier Fahrzeuge brennen schon lichterloh, auf einem nicht regulären Stellplatz, direkt vor der Brandschutztür auch der Audi A6. Die Rauch- und Rußentwicklung erschwert das Löschen beträchtlich.

Am Terrassenufer trifft etwa zur selben Zeit ebenfalls die Feuerwehr ein. Aber keiner weiß, wie man in die Räume des Pegelhauses kommt, um den Brandherd zu löschen. Dabei qualmt es aus allen Ritzen. Zuerst versuchen es die Brandbekämpfer durch die linke Tür. Keine Chance. Dahinter wäre es auch nicht weitergegangen. Die rechte Tür widersetzt sich ebenfalls. Oben existiert auch noch ein Zugang, aber das Resultat ist dasselbe. Schließlich wird die Stahltür unten am Terrassenufer »mit Schaden« geöffnet. Es riecht nach verbranntem Plastik und Isoliermaterial. Zwei Feuerwehrleute kämpfen sich innen die Treppe hoch und sehen, dass es sich um einen Kabelbrand handelt. Löschen nicht möglich. Also ziehen sich die Männer zurück und stellen einen Lüfter auf, der den Qualm herausblasen soll. Irgendwann geht das Feuer selbstständig aus.

5.20 Uhr – 6.30 Uhr

Im Grünen Gewölbe beginnen die Kriminalbeamten jetzt mit ihrer Ermittlungsarbeit. Wenn ein derartiger Einbruch passiert, heißt es für die Polizei erst einmal, sich einen Überblick zu verschaffen. Wichtig dabei sind drei Grundsätze: Schnelligkeit. Gründlichkeit. Und bloß keine Panik. Das oberste Gebot lautet: Ruhe bewahren. Die ersten Fragenkomplexe, die abgeklärt werden müssen, sind: Wer hat was gesehen? Wie ist die Spurenlage am Tatort?

In diesem Fall kommt sofort noch eine zusätzliche Überlegung hinzu: Die Ermittler fragen sich: Wie konnten die Einbrecher so schnell in das Gebäude eindringen? Schließlich sind vor den Fenstern Stahlgitter angebracht, die im Zweiten Weltkrieg sogar die Bombennacht und den Feuersturm überstanden haben. Und wieso konnten die Fenster einfach aufgedrückt werden, ohne dass ein Alarm losging? Was ist mit der Überwachung der Fassade? Gibt es da nicht einen Außenscanner für die Fassade? Und was ist mit den Überwachungskameras oben auf dem Zwinger? Wenn es offenbar überall Schwachstellen gab, wieso kannten die Täter diese? War es vielleicht ein sogenannter »Inside-Job«, weil jemand vom Sicherheitspersonal beteiligt war? Mit Rat? Oder mit Tat? Vieles ist bereits in diesen ersten Minuten denkbar.

Der erste Weg von Polizeikommissarin Katte und ihren Kollegen führt deshalb in die Sicherheitsleitzentrale des Residenzschlosses. Ihre Aufgabe ist das, was in der Polizeisprache »der erste Angriff« heißt. Was Katte auffällt: Sie muss ständig nachfragen, hat zeitweise den Eindruck, als würde sie ignoriert. Klassische Männer-Überheblichkeit? Oder Methode? »Kann ich jetzt mal eine Antwort bekommen?«, blafft sie die Sicherheitsleute an.

Dann geht sie zum Tatort, um sich selbst ein Bild vom Geschehen zu machen. Marco Hanke, der die Täter filmte, begleitet sie. Schon nach ein paar Metern erkennt sie das Ausmaß der Zerstörung. Außerdem bemerkt sie im Lichtschein der Taschenlampe die feinen Staubpartikel, die immer noch durch die Luft wirbeln und langsam als weiße Schicht auf den Fußboden sinken. Sie glaubt zuerst, das kommt von den eingeschlagenen Glasscheiben der Vitrinen.

Hier muss auf jeden Fall die KT, die Kriminaltechnik, her, entscheidet sie. Der Tatort wird »eingefroren«, wie es in der Polizeisprache heißt. Es ist eben nicht wie jeden Sonntag im ARD-Tatort, dass die Ermittler einfach rumlaufen und anfassen, was und wie es ihnen gefällt. Im wahren Polizeileben hat die Spurensicherung Vortritt: Keiner darf rein, alles bleibt, wie es ist.

Also kehrt Katte zurück in die Leitzentrale. Sie will die Videoaufzeichnungen von den Außenkameras ansehen und sichern. Das Führungs- und Lagezentrum der Polizei braucht dringend ein Update, um die Fahndung zu konkretisieren. Was nützt es, mit diversen Streifenwagen in der Stadt unterwegs zu sein, wenn man gar nicht weiß, wonach man eigentlich sucht?

Katte bekommt seltsamerweise nur die Überwachungsbilder aus dem Inneren des Gebäudes zu sehen: Den Kegel der Taschenlampe. Das Einschlagen der Vitrinen. Einer versucht, die Überwachungsvideos der Außenkameras aufzurufen. Es gelingt ihm nicht. Sind die Sicherheitsleute komplett überfordert? Oder sabotieren sie die Ermittlungen? Langsam verliert Katte die Geduld: »Wir müssen hier zusammenarbeiten«, sagt sie. »Nicht gegeneinander.«

Irgendwann meldet sich auch noch Pförtner Bannschke und berichtet, dass er ja ein Auto gesehen hat, als er zum Dienst wollte. Eben jenen Wagen, der angerast kam, vor ihm wendete und Licht und Motor anließ. Das sei ihm jetzt noch eingefallen, erklärt er. Da ist es bereits kurz vor sechs und der Überfall seit einer Stunde Geschichte.

Etwa zu dieser Zeit kommt in der Leitzentrale die Meldung an, dass der Stromverteiler unter der Augustusbrücke gebrannt hat. Da sich dort die Straßenbeleuchtung bündelt, ergibt sich für die Ermittler ein Zusammenhang mit dem Raub. Und ein nächster Ermittlungsansatz: Woher wussten die Täter von der Bedeutung des Ortes? Von außen ist jedenfalls nicht erkennbar, was sich hinter den Sandsteinmauern und Eisentüren verbirgt.

Noch seltsamer ist, dass bei der späteren Untersuchung keine Einbruchsspuren zu finden sind. Völlig unklar, wie die Täter in die Räume gekommen sind. Kein Feuerwehrmann kann sich an eine offene Tür erinnern.

Wenn aber keine Tür offenstand, dann müssen die Täter im Besitz eines Schlüssels gewesen sein. Und das zu einer Zeit, in der sich der Begriff »kritische Infrastruktur« schon ins kollektive Bewusstsein der Gesellschaft gegraben hat. Und Zugänge dazu sich nicht mehr am Kiosk besorgen lassen.

Dafür bringt die Untersuchung des zweiten Feuers eine erste Erkenntnis. Als das Feuer gelöscht ist, steht das Gemisch aus Wasser, Benzin und Löschschaum kniehoch in der Garage. Der Strom ist abgestellt. An dem Audi ist hinten das Dresdner Kennzeichen abgefallen. Offenbar war es nur notdürftig angebracht. Im Fußraum auf der Beifahrerseite liegt ein Revolver. Marke TAURUS, Modell 689, mit Patronenmunition im Kaliber .357 Magnum. Das ist eine Waffe, die Jäger gerne benutzen, um weidwunden Tieren den Fangschuss zu geben. Schnell ist klar, dass der Brand in der Tiefgarage unmittelbar im Zusammenhang steht mit dem Einbruch im Grünen Gewölbe.

Dort versucht sich die Polizei kurz nach 6.30 Uhr noch an einem weiteren »Angriff«. Ein Fährtenhund wird angefordert. Damit alles gerichtsfest ist, dokumentiert Polizeimeister Stubbe den Laufweg des Hundes. Angesetzt, wie es in der Fachsprache heißt, wird er am Fenstergitter, weil sich die Einbrecher dort aufgehalten haben und der Geruch nicht durch den Feuerlöscher kontaminiert ist. Weil das Gelände unter dem Fenster eingezäunt ist, geht der Hund außen herum. Zwei Sekunden schnuppert er, dann setzt er seinen Weg fort. Rüber über die Sophienstraße Richtung Schinkelwache. Genau zu der Stelle, an der die beiden jungen Männer standen, als die beiden Wachleute sie bemerkten. Dann folgt der Hund einer Spur 20 Meter Richtung Theaterplatz. Auch hier sind die beiden Gestalten gewesen. Dann läuft der Hund zurück an den Ausgangspunkt. Um 6.42 Uhr wird die »Absuche« ergebnislos eingestellt.

Allen Beteiligten bei der Polizei sind zu diesem Zeitpunkt drei Dinge klar. Erstens: Menschen, die so etwas durchziehen, müssen hartgesottene Kerle sein. Ich-stabil, erfahren und sturmfest. Das war definitiv nicht der erste Raub dieser Bande. Zweitens: In irgendeiner Form war die Tat ein Inside-Job. Also müssen die Ermittler jeden überprüfen im Schloss. Sie müssen Listen besorgen von den Mitarbeitern und sie müssen Querverbindungen finden ins kriminelle Milieu. Entweder verwandtschaftlicher Natur. Oder aber es half jemand aus Geldnot. Oder aus Gier.

Und der dritte Fakt ist: Der öffentliche und politische Druck wird enorm. Noch nie in der Geschichte Sachsens hat es eine Straftat gegeben von einem derartigen Interesse. Noch nie stand die Ermittlungsarbeit der Polizei so im Rampenlicht. Kritisch beäugt durch die Medien und durch die Politik. Bereits eineinhalb Stunden nach der Tat hat Innenminister Roland Wöller seinen Ministerpräsidenten Michael Kretschmer davon unterrichtet.

Kapitel 2: Das Historische Grüne Gewölbe

Kapitel 2

Das Historische Grüne Gewölbe

Schwierige Zeiten

Der Diebstahl der Juwelen aus dem Historischen Grünen Gewölbe war nicht nur der Juwelenraub mit der wertvollsten jemals gestohlenen Beute. Wahrscheinlich sogar weltweit. Es war auch ein Angriff auf den Stolz und ein Stich ins Herz des ganzen Landes.

»Nicht nur die Staatlichen Kunstsammlungen wurden bestohlen«, ließ Ministerpräsident Michael Kretschmer am selben Tag schon wenige Stunden nach dem Einbruch verlauten. »Sondern wir Sachsen! Die Werte … im Grünen Gewölbe und im Residenzschloss … sind von den Menschen im Freistaat Sachsen über viele Jahrhunderte hart erarbeitet worden.«

Dies war einerseits richtig. Aber andererseits auch eine Beschönigung der Geschichte. Zwar waren es in der Mehrzahl sächsische Handwerker und Künstler, die die meisten Exponate im Grünen Gewölbe geschaffen hatten. Und natürlich verdankten die sächsischen Herrscher den Reichtum zuallererst ihren Untertanen. Aber wie überall im Absolutismus war dieser Reichtum auch ein Resultat von Ausbeutung, Leibeigenschaft und Fronarbeit. Während der bürgerlichen Revolutionen des 18. und 19. Jahrhunderts galten die Schatzkammern in Europa deshalb als Symbole des menschenverachtenden, absolutistischen Machtanspruchs und wurden von den Aufständischen als Erstes geplündert.

Nur die Sachsen plünderten nicht. Deshalb ist ihre heute die reichste Schatzkammer Europas. Und das, obwohl sie anderen Gefahren ausgesetzt war in ihrer langen Geschichte. Die heftigste Bedrohung waren der Zweite Weltkrieg und die Bombennächte im Februar 1945, als auch Teile des Residenzschlosses dem Feuer zum Opfer fielen. Drei Räume des Grünen Gewölbes stürzten damals ein, auch die restlichen fünf waren danach unbegehbar. Glücklicherweise hatten die Nationalsozialisten die kostbarsten Stücke schon vor dem Krieg in die Festung Königstein ausgelagert.

Nach dem Sieg der Alliierten kassierte die Sowjetunion 1945 den Staatsschatz ein, gab ihn aber 1958 in einem feierlichen Akt an die DDR zurück. Der allerdings fehlten die Mittel, die alten Räume angemessen zu restaurieren. Ein Teil der Schätze wurde im Albertinum ausgestellt, das im real existierenden Sozialismus in Dresden eine Art Universalmuseum für alles und jedes war. Das Grüne Gewölbe verfiel unterdessen; zur Wende war nicht viel mehr von ihm übrig als eine Ruine.

Trotzdem beginnen die Dresdner sofort nach der Wende mit dem Wiederaufbau des Grünen Gewölbes. Von Anfang an ist es das Ziel der Stadt, sich bei der Rekonstruktion und Renovierung des Museums so exakt wie möglich an der historischen Vorlage zu orientieren. Dreißig Betriebe arbeiten an der Rekonstruktion, es werden die alten Farben gemischt und die Spiegel nach einer alten, giftigen, gesetzlich verbotenen Methode mit Zinnamalgam und Quecksilber bedampft. Dafür wird sogar das Gesetz außer Kraft gesetzt. Nur um den ursprünglichen Glanz der Räume zu reanimieren.

Zum Schluss bekommt jedes Exponat seinen angestammten Platz. Der befindet sich in der Regel wie in den vergangenen 400 Jahren nicht in einer Vitrine. Sondern frei im Raum stehend auf einer Konsole. Nur die Juwelen werden hinter Glas ausgestellt. Auch das entspricht dem historischen Vorbild.

Das Sicherheitskonzept

Anfangs hat es noch Überlegungen gegeben, alle Schätze hinter einer raumhohen Verglasung zu präsentieren. Am Ende aber setzt sich die Idee eines barrierefreien Museums durch. Nicht die Exponate werden in Vitrinen verbannt. Sondern der ganze Raum wird selbst zu einer Vitrine.

Für die Überwachung der Ausstellungstücke bedeutet das einen immensen Mehraufwand. Das dafür nötige »Konzept für kriminelle Handlungen«, wie Michael John es nennt, wird Anfang der 2000er-Jahre entwickelt. Michael John ist der »Leiter im Bereich Bautechnik und Sicherheit der Staatlichen Kunstsammlungen« und damit verantwortlich für dieses Konzept. Mit am Tisch bei der Planung sitzen das LKA, das damalige Hochbauamt und die Staatlichen Kunstsammlungen Dresden. Zusammen schreiben sie einen Wettbewerb aus mit einem detaillierten Lastenheft unter Berücksichtigung der baulichen Vorgaben: Wie hoch ist die mechanische Sicherheit der Türen und Fenster, wie stabil sind die historischen Gitter, welche Kraftentwicklung muss das Glas aushalten können? Welche elektronischen Maßnahmen sind außen notwendig und welche innen?

Wie jedes Sicherheitskonzept steht auch das im Grünen Gewölbe auf drei verschiedenen Säulen: bauliche Voraussetzung, personelle Ausstattung, elektronische Maßnahmen. Entscheidend für den Erfolg ist ein abgestimmter, ineinandergreifender Mix.

An dem historischen Gebäude lässt sich nichts modifizieren, es ist so da, wie es ist. Unten im Erdgeschoss sichern Gitter die Fenster. Die haben bereits den Zweiten Weltkrieg überstanden und damit hohe Stabilität bewiesen. Sie dürfen bleiben. Bei den Fenstern entscheidet man sich für eine Festverglasung. Keine Flügel. Keine Öffnungen. Nichts, was man zusätzlich sichern muss. Auch Schächte für den Rauch- und Wärmeabzug existieren hier nicht.

Im Inneren sollen dann Dual-Bewegungsmelder mit Infrarotanteil und Laserscanner zum Einsatz kommen. Diese sichern einzelne Bereiche und manchmal auch nur einzelne Exponate ab und lösen einen Alarm in der Leitzentrale aus, sobald sich eine Hand in die Nähe eines Objektes schiebt. An den Vitrinen werden Magnetkontakte, Riegelkontakte und Erschütterungsmelder verbaut. Und alles lässt sich durch Blockschlösser mit kapazitivem System aus- oder scharfschalten, je nach Bedarf.

Ähnliche Systeme sind auch für den Außenbereich vorgesehen. Die ganze Fassade wird mittels lückenlos platzierter Laserscanner überwacht. Das System soll eine Art unsichtbarer Vorhang sein, der ursprünglich vom Dach bis zum Boden reicht. Weil auf den unteren Metern zu viele Fehlalarme ausgelöst werden, beginnt der Vorhang dann aber erst auf einer Höhe von zwei Meter fünfzig. Jedem dieser Scanner sind Kameras zugeordnet, die ihr Bild automatisch auf den sogenannten Alarmmonitor in der Leitzentrale aufblenden, wenn der Scanner irgendwo eine fremde Bewegung erkennt.

Kernstück des ganzen Sicherheitssystems ist wie überall die Sicherheitsleitzentrale. In manchen vergleichbaren Objekten liegt sie im Bereich des Diensteinganges. Im Dresdner Residenzschloss ist sie mitten im Gebäude untergebracht. Sicher vor einem Hochwasser der Elbe. Uneinnehmbar bei einem Angriff von oben. Und vor allem gibt es keinen direkten Zugang von der Straße aus. In der Zentrale selbst sollen nur speziell geschulte Mitarbeiter eingesetzt werden. Auch wenn sie 1,50 Euro mehr pro Stunde kosten.

Als das Grüne Gewölbe dann 2006 mit einer feierlichen Zeremonie eröffnet wird, sind die Fachleute begeistert von dem »revolutionären Sicherheitskonzept«. 45 Millionen Euro hat die Renovierung des Grünen Gewölbes gekostet. Ein großer Teil wurde für die Sicherheit verwendet.

Die Öffentlichkeit allerdings interessiert sich mehr für den gesellschaftlichen Aspekt der Feier: Alle, die sich mit Schätzen auskennen, sind gekommen, um bei der Eröffnung dabei zu sein: die Rothschilds, die Begum, Sotheby’s, der britische Botschafter und die erste Riege des internationalen Adels. Die Zeitungen sprechen wahlweise vom »Grünen Wunder« oder dem »großen Spektakel«, und es gibt niemanden, der nicht wenigstens »zutiefst beeindruckt ist vom Wundertresor«. Oder »überwältigt von der märchenhaften Aura« der Räume.

Innerhalb kürzester Zeit wird das Grüne Gewölbe zum Pflichtprogramm für jeden Dresden-Besucher. Auch für die aus der Politik. Die Obamas. Angela Merkel. Alle geraten sie angesichts der Pracht ins Schwärmen. Wie in früheren Jahren, als selbst so ein rationaler Misanthrop wie der Philosoph Arthur Schopenhauer von einem »Feen-Palast« fabulierte. Und Gerhart Hauptmann, deutscher Nobelpreisträger für Literatur, meinte vor 100 Jahren nach einem Besuch: »Wer das Staunen verlernt hat, hier lernt er es wieder.«

Die frühen Jahre

Genau das war schon immer der tiefere Sinn des »Grünen Gewölbes«. Als das Wort zum ersten Mal auftauchte, im Jahr 1572, beherbergte der Ort bereits alles, was staunenswert war und zur damaligen Zeit den Anschein von Wert besaß: Natternzungen, Korallenzinken, Hasengeweihe, Schildkrötenpanzer und Ziersäulen aus Elfenbein, die der Kurfürst von Sachsen selbst drechselte, wenn das Regieren ihm Zeit dafür ließ.

Damals war das Grüne Gewölbe allerdings nicht viel mehr als ein begehbarer Tresor im Residenzschloss zu Dresden. Eine »geheime Verwahrung«, mit fünf verschlossenen Schränken in einem Raum, der mit malachitgrüner Farbe gestrichen war. Daher der Name.

August der Starke

150 Jahre später war daraus bereits »eine der reichsten Schatzkammern Europas« geworden. Vielleicht sogar überhaupt die reichste. Vergleichbar nur mit der Tribuna in den Uffizien von Florenz, die damals die Macht der Medici illuminierte. Und mit der Schatzkammer des Sonnenkönigs, Ludwigs XIV., in Versailles. Beide Räumlichkeiten hatte August der Starke, Kurfürst von Sachsen, der angeblich mit bloßer Hand ein Hufeisen biegen konnte, auf seinen Reisen besucht. Und sie bei der Gestaltung des Grünen Gewölbes dann zum Vorbild genommen. Die erste Skizze für die Neugestaltung der Schatzkammer hat er eigenhändig gezeichnet. Das Dokument existiert noch immer im Grünen Gewölbe.

Geplant hatte er eine Neun-Raum-Schatzkammer, die – ganz im Sinne des barocken Gesamtkunstwerks – einer wohlüberlegten Dramaturgie gehorchte. Es war eine Art Steigerungslauf, beginnend mit dem warmen Glanz des Bernsteinzimmers und endend mit einem Feuerwerk aus Diamanten, Rubinen und Smaragden im letzten Raum.

Umgesetzt wurden die Ideen von 1723 bis 1729 durch seinen Hofarchitekten Daniel Pöppelmann.

August der Starke war im frühen 18. Jahrhundert in vielerlei Hinsicht einer der modernsten Herrscher seiner Epoche. Es war die Zeit des Barock, in Europa herrschte immer irgendwo Krieg, und die Könige und Fürsten sammelten vor allem Truppen um sich herum. August der Starke sammelte Pretiosen. Er war einer der ersten Potentaten, der verstand, dass man Länder auch anders erobern kann als mit einer Armee.

Polen zum Beispiel: Dieses Land war eine Republik von Adligen, die sich traditionell selbst ihren König wählten. August der Starke versprach, der geeignete Kandidat zu sein. Zum Einen, weil er wusste, wen er bestechen musste. Zum Zweiten, weil er rechtzeitig vor der Wahl zum katholischen Glauben konvertierte. Aber noch wichtiger war: Weil er reich genug schien, um bedeutend zu sein.

Dies war der eigentliche Zweck, den eine Schatzkammer damals hatte. Die meisten Fürstenhäuser, die auf sich hielten, sammelten Schatzkunst, um die eigene Macht und den eigenen Reichtum nach außen zu dokumentieren. Es war so etwas wie ein Wettbewerb unter den Herrschern, und jeder versuchte, die anderen Häuser zu blenden, aber keiner beherrschte dieses Spiel so virtuos wie der sächsische Kurfürst. Keiner inszenierte seine Kostbarkeiten gekonnter, keiner ging bei der Beschaffung konsequenter zu Werke und kaum einer war kreativer im Organisieren von Geldern und dann schleppender in seiner Zahlungsmoral.

Die wertvollsten Exponate

Deshalb hatte er am Ende auch die beeindruckendsten Exponate in seiner »geheimen Verwahrung«. Zum Beispiel den Tischaufsatz »Hofstaat zu Delhi«, den er bei seinem Hofgoldschmied Johann Melchior Dinglinger in Auftrag gegeben hatte. Das war eine Art königliche Puppenstube mit 137 Figürchen aus Gold und Silber, verziert mit 5223 Diamanten, 189 Rubinen, 175 Smaragden und einem Saphir. Das Kunstwerk kostete August den Starken 58485 Reichstaler, was damals ungefähr dem Jahresgehalt von 1000 Beamten entsprach. Nach heutiger Rechnung wären das ungefähr 100 Millionen Euro. Auch das »Goldene Kaffeezeug« mit 5600 Diamanten war mit 50000 Talern nur unwesentlich günstiger.

93 Goldschmiede lebten zu dieser Zeit in Dresden von den Aufträgen des Kurfürsten, und trotzdem streiften seine Einkäufer auch noch über die Messe in Leipzig, zu jener Zeit der größte Umschlagplatz für Waren in Mitteleuropa. Jeder Juwelier von Rang stellte in Leipzig seine Arbeiten aus. August ließ alles aufkaufen, was kostbar, virtuos verarbeitet und ohne jeden Gebrauchswert war.

Genau darum ging es in diesem Genre. Schatzkunst war eine Kunstform, die Gegenstände des Alltags mit höchster Handwerkskunst und wertvollsten Materialien jenseits jeder Funktionalität überhöhte: Schalen, Becher, Löffel, Spielzeug oder Vasen zum Beispiel, die kein Mensch benutzte und die keinen anderen Zweck hatten außer dem, wertvoll zu sein. Auch technische Gerätschaften gehörten dazu, bei denen nicht so sehr die Genauigkeit der Mechanik im Fokus stand, sondern die Dekoration des Gehäuses.

Für die Krönungsfeier zum polnischen König ließ August der Starke dann den »Hofstaat« und das »Goldene Kaffeezeug« nach Warschau karren, um auf diese Weise die Gunst der zaudernden polnischen Adligen zu gewinnen.

Solche Objekte waren allerdings nur ein Teil des Inventars. Der andere, mindestens genauso wichtige, waren die Kronjuwelen. Kronjuwelen sind Kleiderschmuck. Jeder barocke Herrscher hatte mehrere Garnituren davon zu besitzen. Sie waren der Inbegriff des absolutistischen Machtanspruches. Ihre Ausgestaltung gab direkten Aufschluss über die Bedeutung des Trägers. 

Diese Garnituren umfassten in der Regel Westen-, Manschetten- und Kleiderknöpfe, Gürtelschnallen, Schuhschnallen, Orden, Paradewaffen wie einen Degen oder einen Hirschfänger. Die beiden wichtigsten Accessoires waren die Agraffe, die am Hut getragen wurde, und die Epaulette, die an der Schulter befestigt war. Weil Kleiderschmuck der Mode unterworfen war, wurden die Stücke über die Jahre immer wieder umgearbeitet und verbessert. Neue Edelsteine kamen hinzu, weniger reine wurden durch schönere ersetzt, jeder größere Stein in einer heutigen Garnitur hat eine lange Historie in anderen Garnituren hinter sich.

Dadurch kulminiert der Wert solcher Garnituren im Laufe ihrer Geschichte, so dass ihnen nicht nur eine repräsentative Bedeutung zukam, sondern auch eine finanzielle. Gängige Praxis unter den Potentaten war es, dass Garnituren in Kriegs- oder Hungerzeiten verpfändet wurden, um die Staatskasse aufzufüllen. Die Brillantgarnitur der sächsischen Kurfürsten beispielsweise wurde 1806 für die damals unvorstellbare Summe von 1400000 Gulden (knapp 1000000 Taler) in Amsterdam verpfändet und dann 1817 wieder ausgelöst.

Wahrscheinlich rettete auch diese Praxis den sächsischen Kronjuwelen das Leben. Denn der Nachteil solcher Pretiosen in anderen Herrschaftshäusern war, dass sie gerne »vermünzt« wurden, wenn mal wieder Ebbe in der Staatskasse war. Sie ließen sich besser verkaufen als Ölbilder und leichter einschmelzen als Denkmäler. Das Einzige, was einen klammen Herrscher manchmal bremste, war die Schmach der »Öffentlichmachung« seiner angespannten Finanzen durch den Verkauf.

In Sachsen betraf dies eher die späteren Kurfürsten. August der Starke selbst kam zeit seines Lebens finanziell nicht in eine derart missliche Situation. Deshalb nutzte er den Schatz noch für andere Zwecke. Überliefert ist, dass er seine Reichtümer manchmal in die Privaträume schleppen ließ, um Dagobert-Duck-mäßig in ihnen zu »schwelgen«. Oder er geleitete die eine oder andere Dame seines Herzens in die Schatzkammer, in der Hoffnung, dass Wille und Widerstand schwach werden würden angesichts dieser Pracht.

Die Schatzkammer als Museum

Wenige Monate vor seinem Tod im Dezember 1732 verfügte August der Starke dann, dass »Fremden wie Einheimischen die im grünen Gewölbe befindlichen Juwelen und Kostbarkeiten gezeigt werden« dürften. Allerdings immer nur drei Personen gemeinsam, in Begleitung eines Inspektors, dem nach der Führung eine »Verehrung in Form eines Dukaten zu zahlen sei«.