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Thomas Heise

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Beschreibung

Die Gangster von nebenan

Auf den Straßen deutscher Großstädte tobt ein Machtkampf: Kriminelle arabisch-stämmige Clans haben in Berlin, Bremen, Dortmund oder Essen über Jahre Großstadtkieze erobert – und kaum jemand hat sie aufgehalten. Lange waren Polizei und Justiz machtlos gegen die um sich greifende Gewalt. Nun hat der Staat den Kampf mit den Familienbanden aufgenommen. Bereits seit 2003 verfolgen die SPIEGEL-TV-Reporter Thomas Heise und Claas Meyer-Heuer die kriminellen Machenschaften dieser Clans. Sie trafen Clan-Mitglieder bei Boxabenden und Gerichtsverhandlungen, sie waren bei Razzien vor Ort oder als auf offener Straße Prügeleien ausbrachen. In ihrem Buch geben sie tiefe Einblicke in die Strukturen der Clans, beschreiben, wie die Familienbanden so stark werden konnten – und analysieren, ob es dem Staat nun gelingen kann, die Kontrolle zurückzuerlangen.

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DIE GANGSTER VON NEBENAN

Auf den Straßen deutscher Großstädte tobt ein Machtkampf: Kriminelle arabisch-stämmige Clans haben in Berlin, Bremen, Dortmund oder Essen über Jahre Großstadtkieze erobert – und kaum jemand hat sie aufgehalten. Lange waren Polizei und Justiz machtlos gegen die um sich greifende Gewalt. Nun hat der Staat den Kampf mit den Familienbanden aufgenommen. Bereits seit 2003 verfolgen die SPIEGEL-TV-Reporter Thomas Heise und Claas Meyer-Heuer die kriminellen Machenschaften dieser Clans. Sie trafen Clan-Mitglieder bei Boxabenden und Gerichtsverhandlungen, sie waren bei Razzien vor Ort oder als auf offener Straße Prügeleien ausbrachen. In ihrem Buch geben sie tiefe Einblicke in die Strukturen der Clans, beschreiben, wie die Familienbanden so stark werden konnten – und analysieren, ob es dem Staat noch gelingen kann, die Kontrolle zurückzuerlangen.

DIE AUTOREN

Thomas Heise, geboren 1959 in Berlin (Ost), ist seit 1994 Reporter für SPIEGELTV. Er war Redaktionsleiter des SPIEGELTV Magazins sowie Stellvertretender Chefredakteur, derzeit ist er verantwortlicher Leiter für Investigation. Seit 2003 recherchiert er über den Aufstieg krimineller Banden und Clans in Deutschland.

Claas Meyer-Heuer, geboren 1978, ist Absolvent der RTL-Journalistenschule für TV und Multimedia. Er arbeitete als Regionalreporter für RTL, bevor er 2007 Reporter für SPIEGELTV wurde. Seit 2003 recherchiert er über den Aufstieg krimineller Banden und Clans in Deutschland.

Thomas Heise und Claas Meyer-Heuer schrieben zusammen mit Jörg Diehl den Bestseller »Rockerkrieg«, der 2013 als SPIEGEL-Buch bei DVA erschien.

Besuchen Sie uns auf www.dva.de und Facebook

Thomas Heise

Claas Meyer-Heuer

DIE MACHT DER CLANS

Arabische Großfamilien und

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Copyright © 2020 Deutsche Verlags-Anstalt, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München und SPIEGEL-Verlag Rudolf Augstein GmbH & Co. KG, Ericusspitze 1, 20457 Hamburg

Lektorat: Christoph Scheuring

Fotos: © SPIEGEL-TV GmbH Hamburg; Polizei Berlin; »Big Maple Leaf«: REUTERS/Heinz-Peter Bader

Bildbearbeitung: Helio-Repro, München

Covergestaltung: Büro Jorge Schmidt, München

Coverabbildungen: shutterupeire/Shutterstock.com

Satz: DVA/Andrea Mogwitz

E-Book Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 978-3-641-26746-9V006

www.dva.de

Wir widmen dieses Buch unseren Quellen,

»Wer Infos aus der Hölle will, kann nicht nur mit Engeln reden.«

LKA-Ermittler in einem Mordprozess 2018

INHALT

Maximale Abschottung, maximale Gewinne

Einführung in die ehrenwerte Welt der Clans

»Wir sind die Al Zeins, du fickst unsere Familie! Wir bringen dich um.«

Ein Kronzeuge packt aus

817.260 Euro in 79 Sekunden

Die Al Zeins und der Überfall aufs KaDeWe

Patriarchat und Blutrache

Das Wertesystem einer Parallelgesellschaft

Herzlich willkommen!

Die arabischen Clans und das Versagen der deutschen Politik als Chronique scandaleuse

Der Kokser, deutscher Hip-Hop und falsche Polizisten

Die kriminellen Methoden der Clans

Die Jagd nach der Beute

Wie die Clans ihre Millionen sichern. Und wie der Staat sie ihnen wieder streitig macht

Clans in den Medien

Spektakuläre Fälle

Der Dicke, Issa und ein Miri-Oberhaupt

Geschichten aus dem Innenleben der wichtigsten Clans in Deutschland

Neue Ansätze in der Clan-Politik

(K)ein schöner Ausblick

Verwendete Quellen

Personenregister

Bildteil

MAXIMALE ABSCHOTTUNG, MAXIMALE GEWINNE

Einführung in die ehrenwerte Welt der Clans

Es ist tief in der Nacht, mitten in Berlin, am 27. März 2017, als drei Gestalten über die Gleise der S-Bahn klettern. Die mächtigste Frau der Welt schläft gerade mal hundert Meter von ihnen entfernt in ihrer Wohnung. Rund um die Uhr bewacht von der Polizei. Die bekommt von den drei schwarz gekleideten Männern allerdings nichts mit. Das Ziel der drei ist ein Fenster im Erdgeschoss des Bode-Museums. 160 Fenster hat dieses Gebäude insgesamt. Ein einziges ist nicht mit einer Alarmanlage gesichert. Dort steigen die Männer ein. Sie laufen durch die Flure direkt zu einer Vitrine, in der gerade eine der größten und wertvollsten Münzen der Welt ausgestellt ist. »Big Maple Leaf«, geprägt 2003 in Kanada, 100 Kilogramm reines Gold, eines von weltweit sechs Exemplaren. Es ist die Leihgabe eines Privatmanns. Ihr Wert beläuft sich auf ca. 3,3 Millionen Euro.

Auch die Vitrine weist keine gesonderte Alarmanlage auf. Kein Mensch mit Verstand würde versuchen, mit einer 100 Kilogramm schweren Münze unter dem Arm zu flüchten. Das war die Überlegung der Museumsleitung. Die drei Männer jedoch haben ein Rollbrett dabei, wie es bei jedem gewöhnlichen Umzug zum Einsatz kommt. Sie zertrümmern das Glas der Vitrine, rollern die Scheibe zum Fenster und wuchten die 100 Kilo zu dritt auf die Bahngleise. In einer mitgebrachten Schubkarre geht es zu einem Fluchtfahrzeug. Seitdem gibt es keine Spur mehr von dieser Münze. Wahrscheinlich wurde sie zersägt und in kleinen Stücken verkauft.

Die Täter allerdings werden geschnappt und im Februar 2020 zu viereinhalb Jahren Jugendstrafe verurteilt. Zwei von ihnen sind Mitglieder der Rammo- (oder Remmo-) Familie, die zu den mächtigsten kriminellen Clans in Berlin gehört.

Clan-Mitglieder reden nicht mit der Polizei. Oder mit anderen staatlichen Stellen. Seit sie sich festgesetzt haben in den Nischen unserer Gesellschaft, verweigern sie jede denkbare Form der Integration.

Begonnen hat alles in den frühen 1980er-Jahren. Damals flohen mehrere solcher Familien aus dem Libanon vor dem dortigen Bürgerkrieg in die Bundesrepublik Deutschland und kriminalisierten sich. Unbeachtet von der Gesellschaft. Und unbeobachtet von den Strafverfolgungsbehörden. Mittlerweile sind sie zu einer echten Bedrohung für die deutsche Zivilgesellschaft geworden. Dabei geht es nicht nur um solche spektakulären Fälle wie den Münzdiebstahl aus dem Bode-Museum. Auch Schutzgelderpressungen, Diebstähle, Betrug und Drogendelikte gehören zu ihren Betätigungsfeldern. Die Clans kontrollieren in manchen Bezirken die Prostitution, sie terrorisieren Nachbarschaften und ganze Straßenzüge. Es gibt Orte, da sind sie zu Armeen geworden, die in wenigen Minuten mehrere Hundert Kämpfer mobilisieren können. Dort sind Parallelgesellschaften entstanden, die nicht mehr zu kontrollieren sind und in denen nicht mehr die Gesetze unseres Staates Gültigkeit haben, sondern nur noch das Recht der Stärke. Und vielleicht noch der Schiedsspruch eines von der Familie ernannten »Friedensrichters«, der dann über die strittigen Konflikte entscheidet.

Wie konnte so etwas in einem Land wie Deutschland passieren? Was sind die Ursachen für die Abkapselung krimineller Gruppen innerhalb unserer Gesellschaft? Mit diesen Fragen beschäftigt sich dieses Buch. Was hat aus einfachen, bildungsfernen Geflüchteten eine Gefahr für unsere Zivilgesellschaft gemacht? Was passiert im Verborgenen dieser Parallelgesellschaften? Wie sind sie strukturiert? Nach welchen Gesetzmäßigkeiten funktionieren sie? Wie ist ihnen beizukommen? Warum war der Staat über so viele Jahre blind für das, was dort im Verborgenen blühte? Lässt sich die Entwicklung überhaupt noch zurückdrehen? Oder ist es bereits zu spät dafür?

Schon der Name reicht als Drohung

Es war im Jahr 2003, als wir zum ersten Mal für SPIEGELTV im Clan-Milieu recherchierten. Damals stand Mahmoud Al Zein alias »El Presidente« im Fokus unserer Berichterstattung. »Der Dicke«, wie er von Ermittlern genannt wird, war die beherrschende Unterweltgröße Berlins. Und der Archetyp eines Clan-Mitglieds, an dem sich so ziemlich jedes Problem festmachen lässt, das die Gesellschaft mit diesen Strukturen hat. 1982 reiste Al Zein aus dem Libanon nach Westberlin ein, sein Asylantrag wurde abgelehnt, sein Aufenthalt in der Stadt aber geduldet. Seine Familie kassierte Sozialhilfe, er selbst chauffierte im Daimler durch die Stadt und regelte »Dinge«. Zum Beispiel für einen Bordellbetreiber, der Stress hatte mit seiner Konkurrenz. Überall dort, wo es darum ging, Angst zu verbreiten und Stärke zu demonstrieren, war er zur Stelle. Das war so etwas wie sein Geschäftsmodell: »Ich habe vor niemandem Angst. Ich kenne überhaupt keine Angst«, erklärte er damals im Interview. Das war auch nicht nötig, denn alle anderen Menschen hatten schon Angst vor ihm und seiner Familie.

Viele weitere Dokumentationen von uns zu diesem Thema folgten. Damit waren wir die Ersten, die derart umfangreich über die Clans berichteten. Wir haben einmal zusammengerechnet: Die TV-Beiträge erreichten insgesamt mehr als 30 Millionen Zuschauer. Dazu kommen über die Jahre Dutzende Artikel auf SPIEGELONLINE und im SPIEGEL. Mit der Titelgeschichte über die »Macht der Clans« konnte die SPIEGEL-Ausgabe 8/2019 eine der besten Auflagen des Jahres erzielen.

Die politische Resonanz hielt sich trotzdem über all die Jahre in engen Grenzen. Das lag zum einen an den Medien, die sich schwer damit taten, Zusammenhänge zwischen Straftaten und einzelnen ethnischen Gruppen aufzuzeigen, um einem wachsenden unterschwelligen Rassismus in unserem Land nicht in die Hände zu spielen. Dasselbe galt auch für die Berliner Behörden, die aus politischen Gründen in ihrer Kriminalstatistik Straftäter mit Migrationshintergrund nicht extra erfassten.

Ähnlich verhielt sich die Politik in Nordrhein-Westfalen, dem zweiten Schwerpunkt arabischer Clan-Kriminalität, für die solche Strukturen lange kein Thema waren.

Dabei gibt es dort seit einigen Jahren schon Stadtteile, die sozio-kulturell im Sinne einer aufgeklärten Mehrheitsgesellschaft »gekippt« sind. Die Macht der Clans hat den deutschen Rechtsstaat und die Macht seiner Strafverfolgungsbehörden ersetzt. Meistens müssen Clan-Mitglieder dafür nicht einmal drohen. Es reicht schon die Erwähnung ihres Namens. In den Vierteln hat sich eine Paralleljustiz etabliert, für die unsere Verfassung und ihre Gesetze keine Bedeutung mehr haben. Auch die Polizei hat dort jeden Einfluss verloren, weil sie den Clans schon zahlenmäßig schlicht unterlegen ist. Nach unseren Recherchen gibt es Familien, die es innerhalb von nur drei Generationen auf mehrere Hundert Mitglieder gebracht haben, die alle in verwandtschaftlichen Beziehungen zueinander stehen und alle innerhalb weniger Stunden zu mobilisieren sind. Viele dieser Mitglieder aus der zweiten oder dritten Generation sind zwar in Deutschland geboren, aber im Sinne der Großfamilie sozialisiert, so dass nicht nur auf den Straßen und in der lokalen Geschäftswelt der Machtanspruch der Familie durchgesetzt wird. Schon die Grundschulen bilden diese Strukturen ab. Da werden Mitschüler erpresst oder abgezogen oder Kopf voran in die Toilette gestopft und dann die Spülung betätigt. Immer in dem Wissen, dass die Macht der Familie jede Sanktionierung verhindert.

Macht und Rechtsstaat

Erst seit wenigen Jahren setzt sich in der Politik die Einsicht durch, dass es hier um mehr geht als nur die Klassifizierung einzelner Straftaten. Tatsächlich geht es um den Hoheitsanspruch des Staates und das Bild, das er von sich selbst bei dessen Durchsetzung abgibt. Es geht um kriminelle Strukturen, die mit ihren Gebiets- und Machtansprüchen das gesamte Rechtssystem in Frage stellen. Es geht um einen Krieg zwischen den verbrieften Rechten einer Ordnungsmacht und der Macht krimineller Wertesysteme. Es geht um die moralischen Vorstellungen unseres Wertekanons und um die Frage, ob diese Rechte Bestand haben im Kampf der Kulturen: Das Recht des Staates gegen das Recht des Stärkeren. Die Gesetze unserer Verfassung gegen das Gesetz der Ehre. Die Regeln unseres Zusammenlebens gegen die Macht eines Baseballschlägers.

Dieser Konflikt findet sich exakt genauso in anderen kriminellen Strukturen wie der Mafia wieder. Oder bei Rockerclubs wie den Hells Angels oder den Bandidos: Immer wird eine hermetisch abgeschlossene, hierarchisch organisierte Gruppierung gebildet und ein eigenes, außerhalb der Gesetze stehendes Wertesystem etabliert. Bei den Bikergangs manifestiert sich diese Gedankenwelt im Begriff der »Bruderschaft«. Bei der Mafia ist es die Idee der Familie, ohne dass im eigentlichen Sinne familiäre Beziehungen bestünden. Und bei den Clans schließlich ist es dann tatsächlich die Großfamilie, die über allem anderen steht. Ihre Gesetze haben einen quasi religiösen Absolutheitsanspruch. Selbst unberechtigte Vorwürfe oder Verurteilungen werden ohne Widerspruch akzeptiert. Niemals käme ein Mitglied auf die Idee, in einem Streitfall ein deutsches Gericht anzurufen. Die Mafia nennt das Omertà. Das Gesetz des Schweigens. Aber auch bei den Rockern und den arabischen Clans kommt ein Zusammenarbeiten mit den deutschen Behörden einer Todsünde gleich. Oder bringt gleich den Tod.

Es gehört zu den systemimmanenten Handlungsmustern, dass die Clans versuchen, staatliche Institutionen aus ihrem Kosmos herauszudrängen. Gewalt ist dabei immer das Mittel der Wahl. Opfer von Straftaten werden massiv unter Druck gesetzt, Zeugen werden bedroht oder bestochen und manchmal sogar gefoltert. Immer wieder werden vor Gericht Anzeigen gegen Clan-Mitglieder zurückgenommen, oder Opfer erinnern sich plötzlich nicht mehr oder wurden »doch nicht verprügelt«, sondern sind nur »die Treppe heruntergefallen«. Selbst vor Polizisten und Staatsanwälten schrecken die Clans mit ihren Einschüchterungen nach unseren Erfahrungen nicht zurück.

Trotzdem hat es bis in das Jahr 2019 gedauert, dass der Innenminister Nordrhein-Westfalens Herbert Reul auf einer Expertentagung in Essen zum ersten Mal zugab, dass die Politik das Problem unterschätzt und auf den »Frontalangriff auf den Rechtsstaat« nicht adäquat reagiert hat. Auch das Landeskriminalamt Berlin zieht mittlerweile nach und listet in seinem alljährlich erscheinenden »Lagebild Organisierte Kriminalität« jetzt die »sogenannte Clan-Kriminalität, die durch Angehörige aus ethnisch abgeschotteten Subkulturen begangen wird«, gesondert auf. Weiter heißt es da: »Der Phänomenbereich ist von einer in weiten Teilen der arabischstämmigen Community bestehenden Parallelgesellschaft geprägt und geht einher mit einer mangelnden Akzeptanz oder sogar Ablehnung des in Deutschland vorherrschenden Werte- und Normensystems.«

Den Ermittlungsbehörden hilft ein solches Umdenken allerdings nur bedingt. Zwar rechnet die Polizei in Nordrhein-Westfalen beispielsweise solchen Familien jetzt für die Jahre 2016–2018 mehr als 14 000 Straftaten mit 6449 Tatverdächtigen zu. Aber auch diese Zahlen bringen nicht wirklich Licht in das Dunkel, weil sich die Datenanalyse darauf beschränkt, Tatverdächtige mittels ihrer Staatsangehörigkeit in libanesisch, türkisch, syrisch, deutsch oder staatenlos zu sortieren. Die Wirklichkeit der Clans lässt sich so nur ungenügend beschreiben, da in diesen Familien der Vater möglicherweise Libanese ist, der Onkel als staatenlos gilt und die Söhne die deutsche Staatsbürgerschaft haben. Das macht das Aufzeigen von Zusammenhängen nicht einfacher. Für die Polizei aber ist gerade die Frage nach den familiären Strukturen von entscheidender Bedeutung, wenn es um die Zerschlagung solcher hermetischer Parallelgesellschaften geht.

10 Millionen für ein Interview

Außerdem existieren auch andere Stimmen in der Politik, die entsprechende Zuordnungen eher kritisch sehen. Zum Beispiel Mehrdad Mostofizadeh, Grünen-Politiker im nordrhein-westfälischen Landtag, der schon das Wort »Clan-Kriminalität« als stigmatisierend ablehnt und lieber nur von »Organisierter Kriminalität« sprechen will. Oder der Berliner Politiker Niklas Schrader von den »Linken«, für den »nicht die Familien kriminell sind, sondern nur deren Taten«. Nach seiner Vorstellung liegt die Lösung des Problems denn auch nicht in einer verstärkten Polizeipräsenz. Sondern in einer staatlich kontrollierten Abgabe von Drogen, weil sie den Schwarzmarkt austrocknet und den Clans eine wichtige Säule ihrer Finanzierung entzieht.

All das soll im vorliegenden Buch Thema sein. Grundlage dafür sind Recherchen, die wir seit nunmehr fast 20 Jahren in diesem Milieu betreiben. Es sind Recherchen, die sich niemals einfach gestaltet haben, weil für Journalisten dasselbe gilt wie für die Polizei: Maximale Abschottung seitens der Clans. Und minimaler Kontakt. Und wenn doch einmal einer zustande kommt, beschränkt er sich meistens auf wüste Beschimpfungen. Dazu kommen absurde Honorarvorstellungen, sollte sich ein Clan-Mitglied mal zu einem Interview herablassen. Sie reichten von »moderaten« 50 000 Euro bis zu einer Summe von zehn Millionen Euro, für die man bereit wäre, den Mund aufzumachen. Dann aber würde man auch wirklich fast alles erzählen.

Der Verbleib der Beute aus den Raubzügen, die das Berliner Landeskriminalamt mittlerweile den einzelnen Clans zuordnen kann, gehört sicherlich nicht dazu. Noch nie hat ein Clan-Mitglied darüber gesprochen. Weder vor Gericht noch vor den Ermittlungsbehörden. Es sind exorbitante Summen, die da zusammenkommen. Zum Beispiel bei den Rammos: Nach Auswertung von 1146 Vorgängen summiert sich die Schadenssumme allein bei einem Zweig dieser Familie auf geschätzte 28 Millionen Euro. In den sozialen Medien bezeichnen sie sich selbst als die »Löwen«. Wahrscheinlich, weil sie im Rudel jagen und weil in der Wildnis jeder Mensch lieber freiwillig Abstand hält. Dabei sind die Rammos nur einer von einem guten Dutzend krimineller, arabischstämmiger Clans, die der Hauptstadt-Polizei Probleme bereiten. In Nordrhein-Westfalen sind es zehn »türkisch-arabische« Großfamilien, die den Behörden bekannt sind. All diesen Familien gehören jeweils zwischen 250 und 1000 Personen an. Bei zehn und mehr Kindern pro Ehepaar wachsen diese Strukturen exponentiell. Obwohl nicht jedes Familienmitglied kriminell ist, sind die Siedlungsgebiete der Clans trotzdem immer auch Kriminalitätsschwerpunkte in der Region. Das hat ein polizeilicher Datenabgleich in Nordrhein-Westfalen ergeben.

Ein Grund dafür ist, dass sich »Kriminalität vererbt«, wie es der Neuköllner Stadtrat für Jugend und Gesundheit Falko Liecke formuliert. Mit Liecke sind wir als erste Journalisten in den Aktenkeller des Jugendamtes gestiegen und haben über die unzähligen Geschichten und Fälle in den Akten der Clans gesprochen. Beginnend mit der Väter- über die 25–30-jährige Folgegeneration bis hin zu deren Kindern, die jetzt schon als Nachwuchskriminelle die Behörden und Jugendgerichte in Atem halten.

Noch einmal: Nicht alle Familienmitglieder sind kriminell. Einigen ist die Integration geglückt, sie gehen einem regulären Beruf nach oder studieren und sehen die Entwicklung der Parallelgesellschaft sehr kritisch. Und damit keine Missverständnisse entstehen, sei hier einmal deutlich gesagt: Unsere Berichterstattung bezieht sich ausschließlich auf die nachweislich kriminell organisierten Angehörigen arabischer Großfamilien – um die Tausende unbescholtener Einwanderer, die unabhängig davon aus dem arabischen Raum nach Deutschland kommen, geht es hier nicht.

Nicht nur für die Ermittlungsbehörden, auch für uns Journalisten ist es schwer, in den familiären Geflechten der Clans den Überblick zu behalten. Auch weil es für einige Clans die unterschiedlichsten Namensvariationen gibt. Die Großfamilie Omeirat aus Nordrhein-Westfalen beispielsweise firmiert in den Akten unter 17 verschiedenen Schreibweisen. Und der Berliner El-Zein-Clan kommt sogar auf noch eine Schreibweise mehr.

Manchmal verbergen sich dahinter unterschiedliche Zweige eines Gesamtstammbaums, manchmal sind die handelnden Figuren identisch, manchmal ist es auch nur eine phonetische Ähnlichkeit ohne realen Bezug. Das alles macht die Zuordnungen so kompliziert und bringt das Aktenstudium in die Nähe einer wissenschaftlichen Arbeit.

Es sind im Laufe der Jahre mehrere Hundert Leitz-Ordner mit polizeilichen Ermittlungsakten gewesen, die wir auswerten konnten. Darunter Haftbefehle, Personendossiers, abgehörte Telefonate, Sachstandsberichte, Vermögensaufstellungen, Grundbuchakten, Mordermittlungsunterlagen, Steuererklärungen, Sozialhilfebescheide, Verhörprotokolle, Einwohnermeldedaten, Statistiken und vieles mehr. Dazu kamen Akten, die »Nur für den Dienstgebrauch« klassifiziert waren. Es gab vorläufige »Lageanalysen«, in denen die vermuteten Täter beim Namen genannt wurden, auch wenn es dazu noch keine gerichtsfesten Erkenntnisse gab. Nicht jeder dieser Fälle wurde später auch zur Anklage gebracht.

Bushido ist auch dabei

Einige Papiere und Datenträger enthielten Vorgänge von hoher Brisanz, andere waren von einer Ausführlichkeit, wie sie der Öffentlichkeit bisher noch niemals präsentiert werden konnten. Dank dieser Unterlagen ist es nun möglich, ein sehr genaues Bild vom kriminellen Innenleben der Clans zu zeichnen: Wie sie denken, wie sie reden, wie sie ihre Raubzüge planen, an welchem Wertesystem sich ihr Alltag orientiert.

Da sind zum Beispiel die Ermittlungen in Sachen Abou-Chaker und Ferchichi, bekannt laut Staatsanwaltschaft Berlin als »Sprachgesangskünstler Bushido«, die die Medien seit Jahren in Atem halten: Einmal »überredeten« die Mitglieder des Abou-Chaker-Clans Bushido dazu, ihnen eine Generalvollmacht mit Zugriff auf all seine Konten zu erteilen. Wir konnten alle Ermittlungsakten einsehen und zahllose heimlich aufgenommene Telefonate protokollieren.

Andere, als Verschlusssache deklarierte Akten erzählen ausführlich von den unterschiedlichsten Methoden der Clans, sich auf betrügerische Weise das Geld vertrauensseliger Menschen zu erschleichen. Da geht es dann beispielsweise um die Methode »Falscher Polizist«, die vor allem in Niedersachsen und Bremen ein florierendes Geschäftsmodell darstellt. Clan-Mitglieder geben sich als Polizisten aus und überreden alte Menschen dazu, ihnen ihr gesamtes erspartes Vermögen anzuvertrauen.

Ein weiterer großer Themenkomplex dieses Buches befasst sich mit den Finanzermittlungen der Berliner Polizei, die den Gewinnen aus den kriminellen Machenschaften zu folgen versucht. Zum ersten Mal in der bundesdeutschen Kriminalgeschichte ist es anhand der LKA-Ermittlungen und unserer Recherchen möglich, die Finanzströme nachzuzeichnen und die Wege auszumachen, auf denen die Clans versuchen, ihre kriminellen Gewinne in den legalen Wirtschaftskreislauf zu transferieren.

Solche Informationen waren bisher nicht zu bekommen. Das liegt vor allem daran, dass die Clans noch abgeschotteter agieren als alle anderen kriminellen Organisationen. Es gibt keine andere Möglichkeit, Mitglied in einem solchen Clan zu werden, als in ihn hineingeboren zu sein. Und es gibt keinen Weg hinaus als den auf der Bahre. Noch nie ist es deshalb der Polizei gelungen, einen V-Mann im inneren Kreis dieser Familien zu etablieren. Und lange Zeit konnte sie von dort auch keinen Kronzeugen rekrutieren.

Viele Details in diesem Buch stützen sich trotzdem auf Informationen aus dem inneren Zirkel. Sie stammen unter anderem aus einer Akte, die die Berliner Staatsanwaltschaft unter dem Zeichen 251 Js 246/16 angelegt hat und deren Existenz ohne Übertreibung durch das Wort »Sensation« zu beschreiben ist. Zum ersten Mal in der Geschichte der arabischen Clan-Kriminalität haben sich zwei Insider der Polizei anvertraut und als Kronzeugen über die inneren Strukturen und Straftaten einer Familie berichtet. Mittlerweile leben diese beiden Männer irgendwo mit neuen Identitäten.

Für das vorliegende Buch konnten auch wir – als erste Journalisten überhaupt – einen Blick in diese Akte werfen. Fünfzig Leitz-Ordner ist sie dick. Allein die Geschichte, wie es am Ende überhaupt zu einer solchen Akte kam, wirft schon ein abenteuerliches Schlaglicht auf die inneren Mechanismen der arabischen Clans.

KAPITEL 1»WIR SIND DIE AL ZEINS, DU FICKST UNSERE FAMILIE! WIR BRINGEN DICH UM.«

Ein Kronzeuge packt aus

Die Geschichte der Akte beginnt mit einer Reise in die Türkei im Jahr 2014. Zaki Al Zein, 54, ein Clan-Oberhaupt aus Berlin, will dort seinen Vater besuchen. In seiner Heimat spricht ihn jemand an, der in Berlin ebenfalls eine große Familie hat. Kein Clan, nur weitverzweigte Verwandtschaft. Es gebe da ein Problem, erzählt dieser Mann, ob Zaki Al Zein nicht vielleicht eine Lösung wüsste.

Das Problem, sagt der Mann, sei die Ehefrau eines Verwandten namens Hayrettin A. Sie sei aus ihrer Ehe geflohen und hätte mit einem anderen Mann ein neues Leben begonnen, ebenfalls entfernte Verwandtschaft. Jetzt bräuchte man jemanden, der dieses Problem beseitige. Ob die Al Zeins da nicht helfen könnten?

Klar können sie, antwortet ihm Zaki. Schließlich gehört es zum Selbstverständnis seiner Familie, dass sie vor nichts und niemandem kapituliert. Die Al Zeins sind nicht irgendwer. Sie sind der mächtigste Clan Berlins. Oder wollen die Stellung zumindest für sich selbst reklamieren.

Zurück in Berlin nimmt Zaki deshalb Kontakt mit dem verlassenen Ehemann auf. Der verlangt nicht weniger als den Tod jenes Mannes, der ihm die Ehefrau ausgespannt hat. Eine Schmach, die öffentlich und für jeden sichtbar getilgt werden muss. Das verlangt das Gesetz der Ehre. Nicht einmal wie ein Unfall soll es erscheinen. »Dieser Mann verdient den Tod. Bitte, mach ihn tot«, sagt Hayrettin A., 40, schon beim ersten Treffen der beiden. 150 000 Euro ist ihm ist das Ganze wert. Bar auf die Hand, versteht sich.

In den nächsten Tagen trifft sich der Auftraggeber deshalb immer wieder mit den Al Zeins. Mal ist nur das Oberhaupt Zaki dabei, manchmal begleitet ihn auch ein Bruder. Oder einer der Söhne. Aber eigentlich will Zaki kein Mitglied aus seinem Clan opfern für diesen Job. Auftragsmorde sind ein heikles Geschäft. Der kleinste Fehler bringt einen mindestens ein halbes Leben lang in den Knast. Oder ein ganzes Leben lang ins Exil.

Seine Wahl fällt deshalb auf zwei Männer, die keine Familienmitglieder sind, denen er aber trotzdem vertraut. Der eine von ihnen heißt Ali H., auf der Straße wird er nur »Krokodil« genannt. Der andere ist Mehmet A., sein Spitzname lautet »Corum«.

Ali H., 39, ist jemand, den es bei den arabischen Clans eigentlich gar nicht gibt. Kein wirkliches Clan-Mitglied, kein echter Al Zein, aber seit 20 Jahren trotzdem immer im Dunstkreis dieser Familie. Früher war er mal als Kickboxer unterwegs. Ein großer massiger Typ, neben den Al Zeins sieht er aus wie ein SUV zwischen lauter Ferraris. Er trägt ihre Waffen, er zählt ihr Geld, er ist immer dabei und hält immer den Mund. Auch wenn die Polizei ihn verhört. Das hat er schon mehrfach bewiesen.

Sein bester Kumpel ist Mehmet A., 33, etwas kleiner als er, aber mit genauso viel Kraft. Eigentlich sind die beiden nur Kleinkriminelle aus der Neuköllner Hood, eher Loser als Gangster, die wie Flipperkugeln ziel- und richtungslos durch ihr eigenes Leben schießen: dem Glücksspiel und dem Kokain zugetan. Fünf bis zehn Kapseln ziehen sich die beiden pro Tag durch die Nase. Eine Kapsel enthält ein halbes Gramm Kokain. Kostenpunkt: 50 Euro. Mit Hartz IV lässt sich das nicht finanzieren. Da kommt dann das Angebot gerade recht, für 150 000 Euro einen Mord zu begehen. Das Geld würde reichen für ungefähr ein Jahr feines Leben.

Das erste Gespräch, das Zaki mit den beiden Männern führt, klingt wie eine Szene aus einem Scorsese-Film:

»Es gibt einen Job«, sagt Zaki zu Mehmet, »würdest du ihn machen für mich?«

»Was für ein Job?«, antwortet Mehmet.

»Du wirst auf jemanden schießen. Einen Mann.«

»Wie schießen?«

»Du sollst ihn umbringen. Du kriegst dafür 150 000 Euro von mir.«

»Was ist mit diesem Mann?«, fragt Mehmet noch.

»Eine Ehrensache«, antwortet Zaki, »ist so ein Ehrenmord.«

Der Mann, der umgebracht werden soll, heißt Ömer A., von Beruf ist er Automatenaufsteller. Er wohnt mit seiner neuen Frau Sarah in einer kleinen Seitenstraße in Berlin-Neukölln. Nur die engsten Familienangehörigen wissen davon. An Klingelschild und Briefkasten steht ein anderer Name.

Trotzdem dauert es nicht lange, bis Krokodil-Ali und Mehmet die Adresse des Paares herausbekommen. Danach allerdings erschöpft sich der Elan der angeheuerten Killer erst einmal wieder. Ali und Mehmet koksen und zocken lieber, als dass sie einen Menschen töten, den sie noch nicht einmal kennen. Mal brauchen sie Geld für ein Auto zum Oberservieren, mal wollen sie eine Waffe kaufen, aber der Vorschuss ist angeblich schon wieder aufgebraucht. Irgendwann verliert Zaki Al Zein die Geduld. Er hat von dem betrogenen Ehemann bereits 75 000 Euro kassiert, bar überreicht in einer Plastiktüte, aber von diesem Geld rückt er jetzt nichts mehr heraus. Erst soll gemordet werden, dann gibt es alles auf einen Schlag.

Nur bei der Waffe wollen die Al Zeins noch behilflich sein. Es ist Fadie Al Zein, Zakis zweitältester Sohn, alias Derwisch, alias Darwisch, alias Dervis, der Mehmet schließlich eine Pistole besorgt: Kaliber 7,65 mm, eine Browning aus belgischer Produktion, der VW Golf unter den Handfeuerwaffen.

Das Krokodil will mehr

Fadie Al Zein ist so etwas wie der Prototyp des kriminellen Clan-Mitglieds. 1982 geboren, deutscher Staatsbürger, Hartz-IV-Empfänger, verheiratet, vier Kinder und massiv vorbestraft. Die Schule hat er in der achten Klasse ohne Abschluss verlassen. Mit 16 steht er das erste Mal vor Gericht. Es geht um Körperverletzung in Tateinheit mit Sachbeschädigung und Beleidigung. Danach kommt im Monatsrhythmus ein neues Delikt hinzu: Diebstahl, Fahren ohne Fahrerlaubnis, Hausfriedensbruch, Sachbeschädigung, Raub. Meistens, man glaubt es kaum, belassen es die Richter bei einer Ermahnung. Oder die Verfahren werden nach § 47 JGG eingestellt. Dieser Paragraf besagt, dass ein »Richter das Verfahren vorläufig einstellen und dem Jugendlichen eine Frist von höchstens sechs Monaten setzen kann, binnen derer er den Auflagen, Weisungen oder erzieherischen Maßnahmen des Gerichts nachkommen« muss.

Bei Fadie Al Zein laufen alle diese Maßnahmen gründlich ins Leere. Im Juli 2011 wird er schließlich in Bayern wegen Drogenhandels zu acht Jahren und sechs Monaten Gefängnis verurteilt und zurück nach Berlin überstellt. Drei Jahre später wechselt er dort schon wieder in den offenen Vollzug und macht nahtlos weiter, wo er gerichtsbedingt aufgehört hat. Für den Auftragsmord besorgt er die Waffe und übergibt sie den dilettierenden Killern.

Es ist der frühe Abend des 20. Oktober 2015, als Krokodil-Ali und Mehmet jetzt doch endlich zuschlagen wollen. Im Fernsehen läuft gerade die Tagesschau, Laternen werfen ein spärliches Licht, in der Neuköllner Seitenstraße ist kein Verkehr. Auf der einen Seite der Straße befinden sich Einfamilienhäuser und kleine Gärten, auf der anderen Seite stehen dreigeschossige Bauten aus den 1950er-Jahren.

Hinter einer der Ecken lauert Mehmet mit seiner Browning. Als Ömer A. nach Hause kommt, läuft er praktisch direkt in seinen Killer hinein. Nur ein paar Meter trennen die beiden. Und beiden schlägt das Herz bis zum Hals. Mehmet hat die belgische Pistole geladen, Ömer ahnt, was kommen wird, und ruft noch auf Kurdisch »Mach mal nicht!«. Dann drückt Mehmet dreimal ab. Der Notarzt stellt danach einen »Schussbruch Oberschenkel links, zwei Einschüsse« fest.

Mehmet hat nur auf die Beine gezielt. So erzählt er es später in den Vernehmungen, die zu dieser Akte führen. Auch Krokodil-Ali bestätigt die Aussagen. Beide hatten vereinbart, das Opfer nicht zu ermorden, sondern nur zu verletzen. Für die ausgelobten 150 000 Euro müsste es trotzdem reichen, so das Kalkül, immerhin sei die Ehre dadurch wiederhergestellt.

Auf der Flucht nach den Schüssen wirft Mehmet die Waffe dann von einer Brücke in den Teltowkanal. Das ist sein zweiter Fehler. Der Clan will die Pistole zurück. Man weiß ja nie, was kommt und ob die Browning noch mal gebraucht wird. Also treffen sich die Al Zeins mit Krokodil-Ali, fragen nach Mehmet und verlangen die Waffe: »Wir werden ihn quälen, bis er die Waffe zurückgibt«, sagen sie. »Wir werden ihn festnehmen, wir werden ihn schlagen und quälen.« Aber die Waffe ist weg und das Opfer lebt, der betrogene Ehemann will die Restsumme nicht mehr bezahlen und die Al Zeins sind nicht amüsiert. Für Mehmet und Krokodil-Ali beginnen schwierige Zeiten.

Dabei sind sie sich selbst keiner Verfehlung bewusst. Nach ihrer Wahrnehmung haben sie eine Dienstleistung erbracht, die honoriert werden muss. Sie brauchen mal wieder Geld. Die Preise für Kokain sind stabil und der Eigenverbrauch nicht gesunken.

Also wendet sich Krokodil-Ali direkt an den betrogenen Ehemann. Mit dabei bei diesem Meeting ist dessen Bruder. Es kommt zu einem dieser typischen Gaunertreffen, die dann gerne einmal eskalieren. Am Anfang macht jeder auf dicke Hose, weil jeder sein Gesicht wahren muss. Es geht um die Ehre, natürlich, und um irgendeine Mutter, die man ficken wird, dann verweist Hayrettin A. auf Zaki Al Zein, schließlich hätte er ihm den Auftrag gegeben. Krokodil-Ali brüllt: »Ich will mein Geld. Ich ficke Zaki und seine Mutter.« Dann rastet er völlig aus und verprügelt den Mann. Die Schläge wirken, schließlich war Ali H. früher als Kickboxer unterwegs. 15 000 Euro gehen am Ende über den Tisch.

Letzte Rettung Polizei

In der Welt der Clans verbreiten sich Respektlosigkeiten in Lichtgeschwindigkeit und so erfährt Zaki Al Zein sehr schnell von der Sache. Wenn es um die Ehre geht, gibt es kein Zögern. Schon gar nicht gegenüber zwei Koksern, die nicht einmal Familie sind.

Mehmet, der Schütze, wird deshalb von den Al Zeins in eine Wohnung bestellt. Diesmal ist Zaki al Zein nicht dabei. Dafür sind es seine Söhne. Auch von diesem Treffen erzählt Mehmet bei seinen Verhören. Er sagt:

»Dann waren wir in einem Kreis. Ralid hat eine Waffe an meinen Kopf gehalten, eine silberne Browning, glaube ich. Diese Waffe hat Ralid schon bei der Schießerei in der Yorckstraße benutzt. Dann sagte er: Normalerweise würde ich dich jetzt erschießen, aber ich will Ali erschießen, nicht dich. Er hat nicht gesagt, warum er das will. Ich hatte mir vor dem Treffen auch überhaupt nichts dabei gedacht, bin ganz normal hingegangen. Dann sind alle sechs auf mich los und haben versucht, mich zu schlagen. Aber ich bin in Abwehrhaltung gegangen, habe zurückgeboxt und bin schließlich weggerannt, so dass ich keine Verletzungen bekommen habe.«

Zu Ende ist die Sache damit allerdings nicht. Das wissen auch die beiden »Killer«. Die Frage ist nur: Wird beim nächsten Mal gleich geschossen? Ins Knie? Oder sofort in den Kopf? Oder versuchen die Al Zeins, es als Unfall zu deklarieren? Wie ein Pate mischt sich jetzt Zakis Schwager Adnan ein und versucht zu vermitteln. Auch er redet mit Ali und Mehmet. Die beiden wollen noch immer das ganze Geld, Adnan verspricht zu helfen. Doch nichts passiert. Dafür nehmen die Bedrohungen zu.

Irgendwann überlegen Ali und Mehmet, sich einen neuen »Rücken« zu suchen. Jemand, der ihnen Schutz bieten kann. Ein anderer Clan scheidet aus. Keine Familie würde wegen zwei Koksern einen Krieg mit den Al Zeins riskieren. Also bleibt nur noch die Polizei. Doch Schutz beim Staat gibt es nicht umsonst. Schutz gegen Verrat, neue Existenz gegen Kronzeugenregelung, so lautet dort immer der Deal, danach wird kein Weg mehr zurück existieren. Es wäre ein One-Way-Ticket heraus aus ihrem bisherigen Leben. Das ist kein Schritt, den man leichtfertig tut.

Noch bevor die beiden eine Entscheidung treffen, meldet sich Schwager Adnan wieder bei Mehmet. Er sagt:

»Ich ficke deine Mutter, wenn du nicht zur Polizei gehst. … Mach, ich hab’ keine Angst vor der Polizei.«

Warum er so redet, erschließt sich den beiden nicht. Wahrscheinlich will Adnan nur testen, ob die Polizei für die beiden eine Option sein könnte. Spätestens jetzt ist sie es.

Schon einen Tag später droht Adnan damit, Mehmet, den Mann, der geschossen hatte, umzubringen, falls er doch mit den Bullen redet. Deshalb verabredet sich Mehmet ein letztes Mal mit Adnan Al Zein. Treffpunkt ist diesmal die Schlittschuhbahn in der Nähe des Flughafens Tempelhof. Dort verlangt Mehmet erneut die Zahlung des restlichen Geldes für ihren versuchten Mord. Das ist der Preis für ihr Schweigen gegenüber der Polizei.

Adnan antwortet, dass er zwei Mitglieder seiner Familie opfern wird, um ihn zu töten. Später kommt auf Mehmets Handy noch eine Sprachnachricht an: »Wo bist du, du Schwein? Wir sind die Al Zeins, du fickst unsere Familie! Wir bringen dich um.«

Danach ist Ali H. und Mehmet A. klar, dass es für sie keinen Ausweg mehr gibt. Über ihren Rechtsanwalt fädeln sie einen Deal mit den Behörden ein und reden sich anschließend den ganzen Schmutz von der Seele.

Die Polizei freut sich über die besten Zeugen, die sie je hatte im Zusammenhang mit den Clans. Besonders Ali H. ist ein Glücksfall für sie. Er ist der erste Mensch aus dem inneren Kreis eines Clans, der sein Wissen mit den Behörden teilt. Es sind Informationen aus erster Hand. Auch weil Ali H. bei vielen Verbrechen selbst mitgemacht hat. Sogar bei einem der berühmtesten Raubzüge in der deutschen Geschichte der Clans: Dem Überfall auf das KaDeWe.

KAPITEL 2817.260 EURO IN 79 SEKUNDEN

Die Al Zeins und der Überfall aufs KaDeWe

Vielleicht ist der Überfall auf das KaDeWe nicht der spektakulärste Raubzug, den Berlin jemals gesehen hat. Er ist auch nicht der Raub mit der größten Beute. Aber dank der Akte 251 Js 246/16 ist er der Raub, über den die Polizei bisher das meiste weiß. Und er ist so etwas wie das idealtypische Clan-Verbrechen. Ein Raubzug, der eine Art Blaupause ist für die klassische Vorgehensweise der Clans: Wenig strategisch, aber immer sehr wirkungsvoll. Eher dreist als intelligent. Meistens brachial und wenig raffiniert. Gern spektakulär, aber selten subtil. Es sind keine Gentlemen-Taten, die sich den Clans zuordnen lassen. Sondern eher Gewaltexzesse, die mit Einschüchterung arbeiten und manchmal auch mit körperlicher Gewalt.

Beim Überfall auf das KaDeWe erzählen sogar Tatort und Beute noch etwas über die Wertewelt der Familien.

Das KaDeWe: Hier findet sich auf engstem Raum alles, was bei den Clans Status hat und womit sich in ihrem Kiez oder auf Instagram protzen lässt: Gucci, Rolex, Prada, Chopard. In den Shops unten im Erdgeschoss des KaDeWe liegt diese Ware dicht an dicht in den Vitrinen. Oben in der Feinkostabteilung werden dann Austern und Champagner geschlürft und an den Tischen mischen sich die Wilmersdorfer Witwen im Pelz mit russischen Touristen, die in ihren Handtaschen mehr Geld herumtragen, als eine Bundeskanzlerin in einem Jahr verdient. Auch die harten Jungs der Berliner Halbwelt treffen sich hier gerne mal bei Spaghetti Scampi.

Auch Zaki, besagtes Oberhaupt der Al Zeins, war schon hier. Von ihm stammt die Idee, sich an den Auslagen zu bedienen. Ausführen sollten die Tat dann andere Mitglieder seines Clans. Einer wie er macht sich seine Hände mit so etwas nicht mehr schmutzig. Ohne seine Zustimmung und seinen Anteil geschieht allerdings auch nichts bei den Al Zeins. Zumindest kein Raub diesen Kalibers.

In diesem Fall soll die nächste Generation den Überfall organisieren.

Da ist zum einen sein Sohn Jehad Al Zein, nur 1,73 Meter groß, aber athletisch gebaut, mit kräftigem Hals, leichtem Doppelkinn und zusammengewachsenen Augenbrauen. Seine Fingernägel sind meistens abgekaut. Geboren wurde Jehad 1986 in Berlin, er besitzt die deutsche Staatsbürgerschaft, im polizeilichen System gibt es zu ihm 98 Treffer. Meist als Tatverdächtiger: räuberischer Diebstahl, Körperverletzung, gemeinschaftlich versuchter Raub in Tateinheit mit Sachbeschädigung, die ganze Palette des Strafgesetzbuchs.

Der zweite ist Khalil El Zein. Er ist der Neffe von Zaki und damit der Cousin von Zakis Sohn Jehad. Drei Jahre jünger, zwei Zentimeter größer, aber schmaler gebaut. Kleiner Kopf, volle Lippen, leichte Segelohren, freudlose Mimik. Die großen Augen schauen meistens gelangweilt. Einen sonderlich zuverlässigen Ruf hat er nicht in der Szene. Eher der Typ »kommste heut’ nich, kommste morgen«. Auch er ist einschlägig polizeibekannt.

Der Dritte im Bunde ist Ali H., das Krokodil. Kein gebürtiger Al Zein und älter als die beiden anderen. Er ist einen ganzen Kopf größer und bringt deutlich mehr Kampfgewicht auf die Waage. Die kräftigen Schultern und wuchtigen Hände lassen erahnen, dass er hart zuschlagen kann und es gerne tut. Immer wenn das Kokain rein und reichlich ist, sind seine Augen aufgerissen und blicken lustig.

Einer verschläft den Überfall

Die heiße Planungsphase ihres Raubzugs beginnt im Oktober 2014. Zweimal observiert die Truppe das KaDeWe, um alles auszubaldowern. Sie schauen sich den Schmuck in den Vitrinen an und legen fest, welche Objekte genau sie mitnehmen wollen. Bei Chopard ist es eine Uhr für 380 000 Euro. Außerdem eine Kette mit schwarzen und braunen Steinen, die 180 000 Euro kosten soll. Dazu ein Paar Ohrringe für 18 000 Euro und ein zweites Paar Creolen mit 92 Diamanten pro Stück für 220 000 Euro.

Der Rolex-Stand hat acht oder neun Schauvitrinen, so genau zählen sie nicht. Jede enthält neun teure Uhren, die wertvollste kostet 36 000 Euro. Diese Vitrinen sehen aus wie eingelassene Fenster. Der Plan ist, einfach alle Fenster und Vitrinen mit einer Axt oder Ähnlichem zu zerschlagen. Am Anfang gedenken sie noch, dies außerhalb der Öffnungszeiten zu tun. Viel mehr Zeit, keine Eile, keine Verletzten und keine Gefahr, von Sicherheitskräften überwältigt zu werden. Jehad allerdings ist dagegen, weil die teuren Exponate nachts wahrscheinlich in einem Panzerschrank liegen, den dann keiner von ihnen öffnen kann.

Also soll es während der regulären Öffnungszeit sein. Da aber muss es schnell gehen und dafür brauchen sie definitiv Verstärkung. Jehad will, dass der Sohn seiner Schwester, Aladin, dabei ist, als Nächster kommt noch sein Bruder Hamza dazu, am Start ist jetzt ein kleines, kriminelles Familienunternehmen. Es ist Donnerstag, der 18. Dezember 2014, am frühen Vormittag, die Ausrüstung für alle Beteiligten liegt bereit: Masken, eine Machete, diverse Zimmermannshämmer, mehrere Dosen Reizgas.

Wer nicht bereit ist, ist Ali, das Krokodil. Er verschläft den Einsatz zu Hause in seinem Bett. Jeder Versuch, ihn zu wecken, schlägt fehl, am Ende geben die anderen auf und verschieben den Coup auf den kommenden Samstag.

Am 20. Dezember ist es dann endlich so weit. Exakt um 10.24 Uhr stoppt ein schwarzer Audi A4 Avant vor dem Seiteneingang des KaDeWe in der Ansbacher Straße. Der Wagen hat silberfarbene Fensterrahmen, schicke Alufelgen und gehört einem Mitglied des Miri-Clans. Noch im Wagen ziehen sich die Täter die Masken über ihre Gesichter, dann steigen sie aus und stürmen ins Kaufhaus. Den Wagen lassen sie ohne Fahrer zurück.

In der Eingangshalle des KaDeWe steht zu dieser Zeit ein riesiger, bunt geschmückter Tannenbaum. Aus den Lautsprechern tönt Weihnachtsmusik. »Oh, du fröhliche …« als Untermalung für das perfekte Shoppingerlebnis. Vorne weg rennen Jehad und Hamza direkt zum Rolex-Stand und sprühen Reizgas, die wenigen Kunden und Mitarbeiter bringen sich schreiend in Sicherheit. Krokodil-Ali fuchtelt unterdessen mit seiner Machete herum. »Dawai, dawai«, schreit er, damit die Leute denken, dass die Täter unter den Masken Russen seien.

Hamza ist der Erste, der dann mit einem Hammer auf die Vitrinen einschlägt. Aber nichts passiert. Erst dem knasterfahrenen Jehad gelingt es, das Sicherheitsglas zu zertrümmern. Das restliche Glas reißt er mit den Händen heraus. Zwei andere helfen. Auch Ali, das Krokodil, prügelt jetzt mit seiner Machete auf eine Vitrine ein. Das Resultat bleibt ebenfalls überschaubar.

Vom Rolex-Stand rennt die Truppe dann rüber zu Chopard. Eigentlich soll dort in einer Art Säule eine Uhr für 380 000 Euro ausgestellt sein. Davon hatten jedenfalls Zaki und Jehad berichtet. Aber die Uhr ist nicht mehr in der Vitrine. Die Täter zerschlagen trotzdem die Säule und stopfen sich den Schmuck in die Jacken. Die Kette für 180 000 Euro. Und die beiden Ohrringe, die zur Kette gehören. Und alle anderen Stücke, die sie auf die Schnelle noch greifen können.

Zur gleichen Zeit erreicht der erste Notruf die Polizei. Es ist exakt 10.24 Uhr und 52 Sekunden:

»Ja, guten Tag«, sagt eine Frauenstimme. »Im KaDeWe wurde gerade … also ist gerade ’n Überfall.«

»Im KaDeWe?«, fragt der Polizist am Telefon irritiert.

Die Anruferin hat es eilig. »Hier im Seitenausgang. Ich hab da grad vier maskierte Männer …«

Darauf die Polizei: »Moment. Warten Sie doch mal! Passauer Straße ist det, ja?«

Anruferin: »Nee, nicht Passauer Straße. Ansbacher Straße. Sie sind gerade hier vorgefahren …«

Der Polizei unterbricht: »Moment, Moment. Warten Sie mal. Bleiben Sie mal dran. Ansbacher, ja? Ick muss erst mal ’nen Wagen losschicken, ja?«

Darauf die Anruferin: »Und das Autokennzeichen ist …«

Der Polizist unterbricht sie ein drittes Mal: »Moment. Langsam, langsam. Ick bin noch nicht so weit. So. Wat für’n Auto is det denn …?«

Dann spricht auch die Anruferin dazwischen: »Und jetzt kommen sie wieder raus …«

»Papa, wir haben das KaDeWe gemacht.«

Da sind exakt 79 Sekunden vergangen. Die Bande springt wieder in ihren Audi A4 und rast davon. Noch immer ist wenig Verkehr an diesem Samstagmorgen. Es geht die Tauentzienstraße entlang, am Hotel Esplanade vorbei und dann das Schöneberger Ufer hinunter bis nach Neukölln. Der Wagen stoppt schließlich direkt vor dem Haus der Al Zeins. Es ist ein Mietshaus, vier Etagen, weiß verputzt. Zaki und Jehad haben dort ihre Wohnungen: Vier Treppen hoch, dann rechts. Oben in der Wohnung kippt Jehad die Beute auf einen Tisch. Er sagt: »Papa, wir haben das KaDeWe gemacht.«

Der liegt zu diesem Zeitpunkt noch im Bett. Während er die Beute untersucht, wechseln die Täter ihre Klamotten. Krokodil-Ali zieht sich Schuhe und eine Kapuzenjacke von Zaki an, dann wird zusammengerechnet: Trotz der fehlenden Chopard-Uhr ist es eine ansehnliche Summe. Aus dem Rolex-Shop sind es 15 Uhren mit einem Gesamtverkaufswert von 263.050 Euro. Unter den Schmuckstücken von Chopard ist das »Schwalbencollier« mit 449 weißen und 696 schwarzen Diamanten. Und zwei Ohrclips, die im Katalog »Temptations« heißen und besetzt sind mit echten Amethysten, Saphiren und Rubinen. Die Preisschilder geben einen Wert von 554.210 Euro an. Zusammen mit den Uhren beläuft sich die Beute auf 817.260 Euro.

Zaki Al Zein ist dann derjenige, der die Sachen unter die Leute bringt. Als Erstes verkauft er eine Rolex an einen Unbekannten. 8000 Euro bekommt er für die wertvollste Uhr. Im KaDeWe hätte sie 36 000 Euro gekostet. Das Etikett entfernt er noch, bevor die Uhr den Besitzer wechselt. Wenn er das Preisschild an eine günstige Rolex-Uhr heftet, kann er damit vielleicht einen ahnungslosen Hehler übers Ohr hauen.

Am Ende verkauft er die restlichen 14 Uhren trotzdem en bloc für insgesamt 135 000 Euro an Yakup, den Hehler. Der Verbleib des Schmucks kann dagegen nicht mehr geklärt werden. Lediglich das »Schwalbencollier« wird später in einem Pfandleihhaus in Berlin-Charlottenburg sichergestellt.

Von dem ganzen Geld behält Zaki die Hälfte. Das ist immer so. Ohne seine Zustimmung läuft nichts im Clan. Und ohne seinen Anteil auch nicht. Egal was passiert, der Chef des Clans kassiert immer mit.

Noch am selben Tag fährt Jehad mit einem Clan-Freund in den FKK-Club Artemis, der zu den etwas feineren Bordellen der Stadt gehört. Auf 4000 m² kommt dort laut Eigenwerbung »die erotische Komponente nie zu kurz«. Wer sich »mit einem der zahlreichen weiblichen Gäste vergnügen möchte, kann das jederzeit tun«. Gegen Bezahlung, versteht sich. Um die Auswahl zu erleichtern, laufen die Frauen hier nackt herum. Für gläubige Clan-Mitglieder ist das eigentlich keine angemessene Umgebung. Die Al Zeins halten es trotzdem für den passenden Ort, um ihren Coup zu feiern.

Im Artemis hat sich die Tat schon herumgesprochen. Auch dass Jehad Al Zein einer der Täter ist. Die Information kommt wahrscheinlich von einer der schillerndsten Unterweltfiguren Berlins: Dennis Witt. Ein kräftiger Kerl, durchtrainiert und anabolikagestählt, für jede Linie zu haben. Einer, der keiner Keilerei aus dem Weg geht und vor Jahren einem Rocker fast den Arm abgehackt hat.

Vielleicht hat die Nachricht aber auch ein Bursche verbreitet, den alle Chick nennen und der an diesem Abend ebenfalls Gast im Artemis ist. Chick ist mit Jehad befreundet. Aber er gehört zu einem anderen Clan. Den Miris. Er hat Jehad den Audi A4 Avant geliehen. Als die Polizei ihm Monate später das Tatfahrzeug zuordnen kann, hält sie zum ersten Mal einen Faden in der Hand, der sie vielleicht zu den Tätern führt.

Auch Chick ist der Polizei seit seiner Jugend bekannt. Damals sorgte er als Mitglied in einer Jugendgang häufig für Ärger. In circa 100 Ermittlungsverfahren wird er mittlerweile bei der Berliner Polizei als Tatverdächtiger aufgeführt. Sein Anwalt ist Rüdiger Portius, der Ehemann der Grünen-Politikerin Renate Künast. »Mit der Abschiebung seines Vaters 2001 gab es einen Bruch in der Familie«, versucht er zu erklären. »Seitdem war die Jugendgang seine Orientierungsgröße.« Jetzt verhaftet ihn die Polizei wegen des KaDeWe-Überfalls. Am 15. März 2015 wandert er ins Untersuchungsgefängnis. Damit ist der Ärger unter den Clans vorprogrammiert.

Wie verhindert man einen Clan-Krieg?

Untersuchungshaft ist in Berlin nicht gerade ein Zuckerschlecken. Besonders, wenn man ausnahmsweise gar nichts verbrochen hat. Chick hat keine Lust dort zu versauern und verspricht, mit der Polizei umfassend zu kooperieren. Er erzählt, dass er das Auto an seinen Freund Jehad verliehen hat und dass dieser ihn sogar gefragt habe, ob er bei dem Raub mitmachen will. Er habe sich aber geweigert. Als die Ermittler anschließend Chicks Wohnung durchsuchen, finden sie nichts Verdächtiges, bis auf sechs Mobiltelefone.

Dafür wird jetzt ein Ermittlungsverfahren gegen Jehad Al Zein eröffnet. Als der Richter einen Haftbefehl ausstellt, stürmt die Polizei Ende März am frühen Morgen mit der Ramme voran seine Wohnung. Im Polizeiprotokoll liest sich das so: »Die Wohnungstür ist von Beamten des LKA 641 AOD gewaltsam geöffnet worden. Dabei wurde die Tür im Schlossbereich und das Schloss selbst beschädigt, so dass die Wohnung nicht mehr ordnungsgemäß verschlossen werden konnte.«

Der Gesuchte wird allerdings nicht mehr angetroffen. Jehad Al Zein ist längst auf der Flucht. Über die Grenze, Richtung Süden, in die alte Heimat des Clans.

Dafür haben die Ermittler jetzt ein paar Namen und Telefonnummern aus dem Clan-Milieu, die sie abhören können. Auch diese Protokolle sind in der Akte archiviert. Eine typische Konversation dort geht so:

»Hallo«, sagt der Anrufer ins Telefon.

»Wat los«, antwortet der Mensch am anderen Ende der Leitung.

»Die Bullen sind bei mir eingeritten.«

»Warum?«

»Ali soll am KaDeWe-Überfall mitgemacht haben.«

»Und jetze?«

»Meine ganze Wohnung hamse demoliert. Weißt du was? Die sind mit Gewehrmaschinen reingekommen. Ich musste auf den Boden gehen. Mein Leben ist einfach gefickt. Sie haben meine ganze Wohnung misshandelt. Und weißt du, wie viel Geld die mitgenommen haben von mir? 5000 Euro.«

»Aber das kriegst du wieder.«

»Ja, aber sie haben gesagt, ist wegen Insolvenz. Sie sind vom Jobcenter, haben sie gesagt.«

»Interessiert doch nicht. Weil ist doch nicht dein Geld. Hast du nur für jemanden anders gehortet.«

»Das waren sonne Bullenfotzen.«

Auch der zweite Tatverdächtige Khalil El Zein wird jetzt abgehört. Er ist ebenfalls auf der Flucht, aber den Ermittlern ist es trotzdem gelungen, sein Mobiltelefon zu orten. Der Dialog, den sie zu hören bekommen, klingt nicht gerade beruhigend. Eher so, als stünde Berlin kurz vor einem Krieg. Khalil fragt darin: »Heißt das, Miri hat sich geäußert?«

Eine Stimme, die sich Ibo nennt, antwortet: »Ja, er hat ausgesagt.«

Khalil: »Ich schlage ihn zusammen, ich schwör auf den Koran, bei Gott, so … schau her, ich schwöre auf den Koran, ich bringe ihn um, ich schwör …«

So ein Krieg zwischen zwei Clans ist keine gute Idee. Schon weil er eine Flanke öffnet für Angriffe seitens der Polizei. Normalerweise werden Konflikte deshalb durch Verhandlungen der Oberhäupter geklärt. Also wendet sich Khalil an einen Onkel in der Türkei, ein wichtiges Familienmitglied, das über Einfluss verfügt. Auch das macht er über die abgehörte Telefonleitung. Er sagt: »Miri hat ausgesagt.«

Der Onkel antwortet: »Was ist das für eine Sauerei? Einer sagt gegen den anderen aus, damit er rauskommt. Lässt du dem Kerl eine Botschaft zukommen. Wenn ihr gegen mich aussagt, sage ich gegen euren Vater aus.«

Bevor es dazu kommt, wird Khalil allerdings schon verhaftet. Neun Tage später nehmen griechische Polizisten dann Jehad Al Zein an der Grenze fest. In der Polizeimeldung heißt es dazu: »Der bereits mit einer Öffentlichkeitsfahndung gesuchte Mann hatte versucht, sich mit falschen Papieren von Griechenland in die Türkei abzusetzen. Ein zur Unterstützung an der Grenze eingesetzter Polizeibeamter der Bundespolizei war sehr aufmerksam und erkannte den Gesuchten wieder. Er ließ den Flüchtigen von seinen griechischen Kollegen ergreifen.«

Das Einzige, was die Polizei zu diesem Zeitpunkt gegen Jehad in der Hand hat, ist die Aussage Chicks von den Miris. Anfangs versuchen die Al Zeins deshalb noch alles, damit er seine Aussage widerruft. Besser noch einräumt, gelogen zu haben. Sogar Geld nehmen sie in die Hand für dessen Anwalt. Chick allerdings bleibt bei seinen Aussagen, wonach er das Tatfahrzeug an Jehad verliehen hat.

»Chicks Mutter soll Schwarz anziehen«, sagt Zaki Al Zein deshalb bei einer Unterredung. »Ihr Sohn wird seine Hochzeit nicht mehr erleben.« Auch denjenigen, der Chick töten soll, hat er bereits bestimmt. Leider bekommt er ihn vor der Verhandlung nicht mehr zu fassen. Jehad und Khalil El Zein werden ein halbes Jahr nach dem Überfall angeklagt.

Jehad wandert durch die Aussage Chicks »wegen besonders schweren Raubes in Tateinheit mit 13-facher Körperverletzung« für sechs Jahre und acht Monate ins Gefängnis. Die Beweise gegen Khalil in der 92 Seiten langen Anklageschrift sind dagegen bestenfalls überschaubar. Er wird noch während des Prozesses am 4. März 2016 freigesprochen und für die erlittene Untersuchungshaft entschädigt. Zitat aus dem Urteil: »Die Kammer hat den Angeklagten aus tatsächlichen Gründen freigesprochen, denn trotz gewisser nicht von der Hand zu weisender Verdachtsmomente war die Kammer nach der durchgeführten Beweisaufnahme aufgrund der zur Verfügung stehenden Beweismittel nicht in der Lage, sich mit der für eine Verurteilung erforderlichen Sicherheit von der Schuld des Angeklagten Khalil El Zein zu überzeugen. Der Angeklagte Khalil El Zein hat sowohl im Ermittlungsverfahren als auch in der Hauptverhandlung von seinem Recht, sich nicht zur Sache einzulassen, Gebrauch gemacht.«

Für die Al Zeins ist der spektakuläre Fall damit allerdings noch nicht zu Ende. Es sind die Aussagen von Ali H. aus der Akte 251 Js 246/16, die dann auch alle anderen Tatbeteiligten ins Gefängnis bringen.

Hamza Al Zein, der es noch nicht einmal geschafft hatte, ein einziges Vitrinenglas zu zertrümmern, kommt mit einer Jugendstrafe von zwei Jahren und neun Monaten davon. Aladin Ö., Jehads Neffe, wird zu drei Jahren verurteilt. Nur Khalil hat Glück gehabt, weil das Gericht ihn in diesem Fall bereits rechtskräftig freigesprochen hatte und das Gesetz eine neuerliche Anklage damit verbietet. Trotz aller Beweise.

Auch dem Oberhaupt Zaki Al Zein wird aufgrund der Aussagen Ali H.s der Prozess gemacht. Am Ende spricht ihn das Gericht wegen Beihilfe zu einem besonders schweren Raub und wegen versuchter Anstiftung zum Mord in Tateinheit mit Anstiftung zu gefährlicher Körperverletzung schuldig und verhängt eine Gesamtfreiheitsstrafe von sechs Jahren und elf Monaten. Das ist, ähnlich wie die Akte 251 Js 246/16, auch eine Sensation. Zum ersten Mal gelingt damit die Verurteilung eines der Hintermänner des Clan-Milieus.

Bisher hatten diese Gestalten nie etwas zu befürchten. Sie selbst machten sich nicht mehr die Hände schmutzig. Und für alles andere würde es die Aussagen eines Zeugen brauchen. Davor schützen sie die Familie und das Gesetz des Schweigens und die Angst, die sie verbreiten können, weil sie sich einen gesellschaftlichen Raum erobert haben, auf den der Staat keinen Zugriff mehr hat.

Für die Ermittler ist das einerseits sehr frustrierend. Andererseits ist es ein Wegweiser, wie man dieser Seuche in den kommenden Jahren doch Herr werden könnte. Sobald es der Polizei gelingt, die Menschen wirksam zu schützen, so dass die Angst in den Vierteln weniger wird, lassen sich die Täter und Hintermänner auch überführen. Denn darin ist der KaDeWe-Überfall ebenfalls typisch für die Verbrechen der Clans: Besonders clever ist das alles nicht, was sie tun.

KAPITEL 3PATRIARCHAT UND BLUTRACHE

Das Wertesystem einer Parallelgesellschaft

In einem Punkt sind sich alle einig, die direkt oder indirekt mit arabischen Clans zu tun haben: Ihre Ausbreitung in Deutschland ist so etwas wie eine beispiellose Erfolgsgeschichte. Als sie vor ungefähr 40 Jahren nach Westdeutschland kamen, waren die meisten von ihnen mittellose und ungebildete Flüchtlinge aus einer der ärmsten Regionen des Nahen Ostens. Ohne begründete Aussicht auf finanziellen Erfolg und nennenswerte gesellschaftliche Bedeutung. Doch die neu angekommenen Familien breiteten sich mit einer rasenden Geschwindigkeit zuerst über Berlin und danach über halb Westdeutschland aus. Sie besetzten Territorien, schufen Enklaven mit eigenen Regeln und eigenen Machtstrukturen und etablierten eine Parallelgesellschaft, vor der das deutsche Rechtssystem heute immer öfter kapituliert. Die staatlichen Strafverfolgungsorgane haben dort kaum noch Zugriff.

In dem Machtvakuum, das entstand, entwickelten sich einige dieser Clans zu hochprofitablen kriminellen Unternehmen, mit jährlichen Umsätzen im geschätzten mittleren zweistelligen Millionenbereich. Und die Frage, die seitdem alle umtreibt, lautet: Wie konnte so etwas passieren? Was ist der Grund dafür, dass sich mitten im Herzen unserer aufgeklärten, westlichen Welt ein solches kriminelles Geschwür breitgemacht hat? Wer ist dafür verantwortlich? Wie hätte man diese Entwicklung verhindern können? Und welche Möglichkeiten hat unsere Gesellschaft, um die Zeit wieder zurückzudrehen?

Im Wesentlichen sind drei Faktoren für die »Erfolgsgeschichte« der kriminellen Clans verantwortlich: Da ist zum einen die völlig verfehlte Integrationspolitik der Bundesrepublik in den 80er- und 90er-Jahren, die es den Neuankömmlingen praktisch unmöglich machte, einer geregelten Arbeit nachzugehen und sich dadurch aus eigener Kraft einen geachteten Platz in der Mitte unserer Gesellschaft zu verdienen.

Zum zweiten lag es an einer Rechtsauffassung, in deren Raster das Individuum als asoziales, parasitäres und unmoralisches Wesen überhaupt nicht vorkam. Stattdessen galt der Einzelne als »benachteiligt«, »fehlgeleitet« oder ein »Opfer der Verhältnisse«. In jedem Fall aber war er bekehrbar, weshalb die Rechtsprechung eher auf »Erziehung« und »Förderung« setzte und weniger auf Abschreckung und Strafe. Auch die Politik weigerte sich damals, Angriffe auf den Rechtsstaat als solche zu sehen und sich entsprechend dagegen zu wappnen.

Der dritte Faktor ist das Selbstverständnis der Clan-Mitglieder selbst, die im Verhalten der Bundesrepublik und ihrer Behörden nichts anderes sehen konnten als eine Schwäche. Das wiederum war Ausdruck ihres eigenen rigorosen, selbstbezogenen Wertesystems, in dem die Familie alles bedeutet und alle anderen nichts und in dem der Staat – in welcher Form er auch immer auftritt – prinzipiell nur als etwas vorkommt, das man entweder ausbeuten kann oder fürchten muss.

Das alles erschuf zusammen jenen Brutschrank, in dem die kriminellen Clans in den vergangenen Jahrzehnten nahezu ungestört gediehen. Wir werden uns deshalb hier erst einmal ausführlich mit allen drei Faktoren beschäftigen müssen.

DIE WURZELN DER MHALLAMI

Es ist unmöglich, das Auftreten der arabischen Clans und ihrer Mitglieder in Deutschland zu verstehen, ohne ihren geografischen Ursprung zu beleuchten. Vieles von dem, was sich an gesellschaftlichen Auffälligkeiten in Deutschland mittlerweile manifestiert hat, resultiert aus der Geschichte dieser Familien, die alle ursprünglich in einem relativ eng begrenzten Gebiet in der südanatolischen Provinz Mardin beheimatet sind. Nach Syrien sind es von dort nur 50 Kilometer, auch der Irak liegt gleich um die Ecke. Istanbul dagegen ist 1500 Kilometer entfernt. Das ist nicht nur geografisch eine Weltreise. Auch in allen anderen Bereichen ist diese anatolische Provinz weit von der Stadt am Bosporus entfernt.

Mardin ist eine raue Gegend mit wenig Vegetation, alles ist sandfarben braun, trocken und unwirtlich. Die Sommer sind heiß, meist fällt nur im Januar etwas Niederschlag, in manchen Wintern ist es so klirrend kalt wie im Hochgebirge. Die Menschen dort leben vorwiegend von der Viehzucht oder vom Handel. Die Region ist wirtschaftlich und infrastrukturell unterentwickelt und aufgrund ihrer Trockenheit auch für den Ackerbau nicht geeignet.

Die Häuser in den Dörfern sind einfache Quader mit flachen Dächern, aus Lehmziegeln oder Feldsteinen errichtet. Viele sind mittlerweile dem Verfall preisgegeben. Nur ein paar Schafe und Ziegen werden noch durch die verlassenen Straßen getrieben.

Eines dieser Dörfer heißt Üçkavak. Die Einwohner selbst nennen den Ort Raschdiye. Vielleicht 1100 Menschen leben heute noch hier. Die meisten arabischen Clans in Deutschland haben in diesem einen Ort ihre Wurzeln. Auch die Al Zeins, beispielsweise, die für den KaDeWe-Raub verantwortlich sind, stammen ursprünglich von hier.

Wie genau es um die Geschichte dieser Enklave und um die Herkunft der Menschen dort steht, ist selbst unter Einheimischen strittig. Sind sie nun Türken oder Kurden oder Araber oder gar Aramäer? Eine ihrer Erzählungen geht so: Wir sind Kurden, sprechen aber einen arabischen Dialekt, weil unsere Vorfahren aus dem Irak stammen. Zum Beispiel aus der Gegend um die irakische Stadt Kirkuk. Andere verorten die Ur-Heimat eher in Mossul, ebenfalls im Irak gelegen, etwa 260 Kilometer südlich von Üçkavak. Wieder andere sagen, ihre Vorfahren seien nirgends wirklich verwurzelt gewesen, sondern Halbnomaden vom Stamm der Mhallami.

Erwähnungen in Berichten von westlichen Reisenden zu finden, ist auch nicht so einfach. Eine der profundesten Quellen ist noch Mark Sykes, ein britischer Offizier, der mehrere Reisen in den Nahen Osten unternahm und 1919 in einem Pariser Hotelzimmer an der Spanischen Grippe starb. Sir Tatton Benvenuto Mark Sykes, wie sein vollständiger Name lautet, hinterließ buchstäblich seine Spuren auf der Weltkarte, aufgrund seiner Rolle als führender Unterhändler der britischen Regierung in einem geheimen Abkommen mit Frankreich 1916, um das Osmanische Reich zu zerschlagen. Der Offizier legte mit dem »Sykes-Picot-Abkommen« den Grundstein für die Grenzen eines Großteils des heutigen Nahen Ostens. In dieser Hinsicht war Sykes einer der wichtigsten Diplomaten seiner Zeit. 2008 brachte er es in England zu einiger Bekanntheit, weil man seinen Leichnam exhumierte. Wissenschaftler hatten – leider vergeblich – gehofft, in seinem Bleisarg Viren der Spanischen Grippe zu finden.

Lieutenant-Colonel Sykes unternahm sieben Reisen quer durch den Nahen Osten. Darauf und auf seinen historischen Recherchen beruhend, schrieb er das Buch »The Caliphs’ Last Heritage: A Short History of the Turkish Empire«. In 36 Kapiteln lässt er die Geschichte des Nahen Ostens auferstehen, illustriert mit Fotos und historischen Landkarten, auf denen die wechselnden Einflussgebiete der jeweiligen Herrscher und Völker dargestellt sind. Zwei seiner Touren brachten ihn auch nach Südanatolien und dort durch Orte, deren »Bevölkerung gemischt christlich und muslimisch ist«, mehrheitlich sogar christlich, aber sie sprächen dabei einen »barbarischen Dialekt« der arabischen Sprache. Sykes fallen Einheimische mit hellem Teint und hellblonden Haaren und Bärten auf. Mit »schmalen blauen Augen und einer großen Hakennase«.

Er schreibt: »Die Mhallami-Araber, die Seite an Seite mit Christen leben, sind nach ihrer äußeren Erscheinung eher wie Kurden, auch wenn sie sich als Söhne Ismaels (dem Stammvater der Araber) sehen.« Auf Seite 578 findet sich noch ein weiterer Hinweis zu den »Mhallami«: Es sind »800 Familien. Dieser Stamm hat eine besondere Geschichte. Sie geben an, dass sie vor 350 Jahren Christen waren. Während einer Hungersnot fragten sie den Patriarchen um Erlaubnis, während der Fastenzeit Fleisch zu essen. Der Patriarch lehnte ab und angeblich deshalb konvertierten sie zum Islam. Sie sprechen ein primitives Arabisch, die Frauen tragen rote Kleidung und verschleiern sich nicht. Jetzt sind sie eine gemischte Rasse von Arabern und Kurden. Einige Familien sollen immer noch Christen sein.«

In den Großfamilien selbst werden auch andere Theorien kolportiert. Jede Volksgruppe braucht eine Heldensaga als identitätsstiftendes Moment in ihrer Historie. Bei den Deutschen ist es zum Beispiel die Schlacht im Teutoburger Wald und der Sieg über die römischen Legionen. Die Mhallami sehen sich als die Nachfahren arabischer Kämpfer, die unter dem Kalifen Harun ar-Raschid im 8. Jahrhundert auf dessen Kriegszügen in die Region Mardin umgesiedelt wurden, um die dortige christliche Bevölkerung zu überwachen. Der Name Mhallami bzw. Mhallamiya soll sich von Mahal (arabisch für »Ort«) und Me’a (arabisch für »Hundert«) ableiten, was sinngemäß »Ort der Hundertschaft« (Mahal al-Me’a) bedeuten soll.

Vielleicht sind sie aber doch eher arabische Bauern aus dem Irak, die im 15. oder 16. Jahrhundert von den Osmanen inmitten des Kurdengebietes um Mardin zwangsangesiedelt wurden, mit dem Ziel, den politischen Einfluss der Kurden zu neutralisieren.

Wie dem auch sei, haben sich diese Stämme von Anfang an kaum in das jeweils bestehende Staatssystem integriert. Darin sind sich alle Historiker einig. Der unterschiedlichen Herkunftsmythen ungeachtet, hat sich die Bezeichnung »Mhallami« für die Volksgruppe allgemein durchgesetzt.

WIR UND DER STAAT IM STAAT

Die Stämme der Mhallami hatten seit jeher ein ablehnendes Verhältnis zur Obrigkeit. Das hat sich bis heute nicht signifikant geändert. Auch die staatliche Personenregistrierung der Türken zum Beispiel haben die Mhallami immer zu vermeiden versucht, um dem obligatorischen Militärdienst zu entgehen.

Im Jahre 2004 erstellte eine Bund-Länder-Projektgruppe unter Beteiligung der Länder Bremen, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen sowie des BKA einen Abschlussbericht. Titel: »Ethnisch abgeschottete Subkulturen«. In der 148-seitigen Ausarbeitung heißt es, dass die Bewohner aus Dörfern wie Üçkavak »ob der bekannten Gewalttätigkeit« keinen guten Ruf bei den einheimischen Kurden genössen. Und an anderer Stelle wird ausgeführt, dass »die Mhallamis städtische Banditen seien, verantwortlich für Chaos und Unordnung in Mardin«.

Solche pauschalen Urteile werden der historisch gewachsenen Struktur dieser Großfamilien allerdings nur eingeschränkt gerecht. Vieles, was sich an gesellschaftsschädigendem Verhalten bei ihnen zeigt, hat seine Wurzeln in einem tradierten, archaischen Wertesystem.