Der Jahrhunderttraum - Richard Dübell - E-Book
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Der Jahrhunderttraum E-Book

Richard Dübell

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Beschreibung

Das Ende der Bismarckzeit: Die Geschwister Otto, Amalie und Levin von Briest sehen der Wende zum neuen Jahrhundert entgegen und allen Verheißungen, die es mit sich bringt. Die Menschheit erobert den Himmel, die Flugpioniere begeistern die Massen. Gleichzeitig spalten politische Entwicklungen und nationalistische Tendenzen die Nation. Frauen treten jetzt für ihre Rechte ein, wollen ihre Zukunft selbst gestalten. Auch die Geschwister von Briest müssen sich entscheiden, welche Wege sie einschlagen. Als sie von einem geplanten Attentat auf die preußische Regierung erfahren, sind sie die Einzigen, die diesen Plan durchkreuzen können, und halten plötzlich das Schicksal des neuen Jahrhunderts in ihren Händen ...

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Das Buch

Auf Gut Briest in Preußen hat sich im September 1891 die ganze Familie versammelt. Moritz von Briest trauert gemeinsam mit seiner Frau Antonie und seinen Kindern um deren Großeltern, die bei einem Zugunglück in der Schweiz ums Leben gekommen sind. Edgar von Trönicke, ein Freund der Familie, ist ebenfalls zur Testamentsverlesung angereist. Er vermutet hinter dem Unglück einen Sabotageakt. Trönicke ist Privatdetektiv und bietet an, Nachforschungen anzustellen.

Otto von Briest, ältester Sohn der Familie, ist sofort Feuer und Flamme. Am liebsten würde er selbst in die Schweiz reisen, wäre da nicht sein Studium und die allgemeine Erwartung, dass er seinem Vater nachfolgt und Ingenieur wird.

Sein Bruder Levin kann sich dagegen für gar nichts begeistern, er sucht noch nach seiner Bestimmung im Leben. Doch dann sieht er durch Zufall, wie Otto Lilienthal einen Flugversuch mit seiner selbstgebauten Apparatur unternimmt. Der Traum vom Fliegen hat ihn erfasst und lässt ihn nicht wieder los.

Amalie von Briest, einzige Tochter des Hauses, soll sich in der Frauenbewegung engagieren. So lautet zumindest der Wunsch ihrer Mutter. Antonie von Briest ist eine wichtige Figur im Verein zur Wahrung der Interessen der Arbeiterinnen. Doch Amalie sieht, wie schwer das Amt ihrer Mutter die Ehe ihrer Eltern belastet. Außerdem hat Amalie ganz andere Dinge im Sinn: Sie will unbedingt ihrer Freundin Emma von Schley dabei helfen, ihren Traum zu verwirklichen und als erste Frau mit einem Fallschirm zu springen.

Der Autor

Richard Dübell, geboren 1962, lebt in Landshut. Als Autor von historischen Romanen stürmt er seit Jahren die Bestsellerlisten. Mit Der Jahrhundertsturm legte er den Grundstein für die große Deutschland-Saga, die nun mit Der Jahrhunderttraum fortgesetzt wird.

Besuchen Sie den Autor unter: www.duebell.de

Von Richard Dübell sind in unserem Hause bereits erschienen:

Der Jahrhundertsturm· Allerheiligen · Himmelfahrt

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ISBN 978-3-8437-1388-7

Originalausgabe im Ullstein Taschenbuch

1. Auflage Januar 2017

© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2017

Umschlaggestaltung: zero-media.net, München

Titelabbildung: © FinePic®, München (Hintergrund, Flugzeug);

© Lee Avison/Trevillion Images (Pärchen)

Gestaltung der Karte von Berlin:

© Angelika Solibieda, cartomedia Karlsruhe

E-Book: LVD GmbH, Berlin

Alle Rechte vorbehalten.

Für alle, die träumen. Hört nie damit auf!

Wenn du ein Schiff bauen willst, dann lehre die Männer die Sehnsucht nach dem weiten Meer.

Antoine de Saint-Exupéry, Citadelle

Juni 1891

»Die Brücke ist noch weit weg.«

Friedrich Wenger

1

Paul Baermann schaute aus dem Fenster. »Wenger und Bodmer fahren zu schnell«, sagte er.

Seine Frau Louise stellte die Aussage nicht in Frage. Pauls Instinkt bei allem, was mit der Eisenbahn zusammenhing, hatte sich noch nie getäuscht. »Kann das gefährlich werden?«, fragte sie.

»Ja.«

»Was wirst du tun?«

»Ich geh vor zu den Lokomotiven und sorge dafür, dass sie langsamer fahren.«

Louise beugte sich zu ihrem Mann und küsste ihn auf die Wange. »Dann tu das, mein Lieber«, sagte sie und stand auf, um ihn aus der Sitzbank rutschen zu lassen. Er zwinkerte ihr zu und ging durch den Mittelgang des Erste-Klasse-Reisezugwagens nach vorn.

Es war der 14. Juni 1891, kurz vor halb drei Uhr am Nachmittag. Ein Sonntag mit strahlendem Sonnenschein. Zehn Minuten zuvor hatte der Zug Nr. 174 der privaten Jura-Simplon-Bahngesellschaft den Centralbahnhof Basel verlassen.

Louise ahnte nicht, dass der Kuss der letzte war, den sie Paul jemals geben würde.

2

Der Zug war voll besetzt – über fünfhundert Passagiere. Die meisten davon wollten zu einem Bezirksgesangsfest in Münchenstein, das bereits am Vormittag begonnen hatte. Wegen des hohen Fahrgastaufkommens hatte die Bahngesellschaft zwei weitere Personenwagen eingestellt und eine zweite Lokomotive vorgespannt.

Paul war von der Zugkombination überrascht worden. Niemand hatte ihm die Änderung mitgeteilt. Er war versucht gewesen, dagegen Einspruch zu erheben. Doch als er und Louise auf dem Bahnsteig eingetroffen waren, waren die zusätzlichen Personenwagen bereits zum Großteil besetzt gewesen. Die Passagiere wieder aussteigen zu lassen, die beiden Wagen auszuspannen und den Zug neu zusammenzustellen, hätte zu einer Verspätung geführt, die den gesamten Zugverkehr aus Basel an diesem Tag zum Erliegen gebracht hätte. Ganz zu schweigen von dem Chaos auf dem Bahnsteig und der Wut der Passagiere, die bereits Fahrkarten gelöst hatten, aber hätten zurückgelassen werden müssen. Paul hatte es nicht übers Herz gebracht, und er wusste auch nicht, ob er sich gegen den Zugführer hätte durchsetzen können. Die Bahngesellschaft hatte ihm weitreichende Kompetenzen verliehen, aber diese erstreckten sich nur auf Zustand und Wartung des Schienennetzes, nicht auf den Zugverkehr an sich.

Der Zug lief ruhig auf dem Gleis. Den Rangier- und Güterbahnhof der Schweizer Centralbahngesellschaft hatte er bereits passiert. Danach hatte er deutlich beschleunigt. In den nächsten Minuten würde er in die weite Kurve einlaufen, die auf die Birsbrücke führte, und dann in den Bahnhof von Münchenstein. Die Brücke war erst vor fünfzehn Jahren eingeweiht worden, eine Arbeit des Architekturbüros von Gustave Eiffel, der große Erfahrung im Bau von Eisenbahnbrücken und Viadukten besaß. Vor zehn Jahren hatte ein Hochwasser die Brücke stark beschädigt; sie war sofort repariert worden, und vor einem Jahr hatte man sie weiteren Verstärkungsmaßnahmen unterzogen. Dass Paul und Louise sich im Zug befanden, hatte mit diesen Reparaturen zu tun.

Paul Baermann war seit seiner Jugend von der Eisenbahn fasziniert. Die erste Fahrt einer dampfgetriebenen Lokomotive auf deutschem Boden, die Fahrt des legendären Adler von Nürnberg nach Fürth, hatte sein gesamtes weiteres Leben bestimmt. Seiner Leidenschaft wegen hatte er sein gutbürgerlich vorgeplantes Leben in München aufgegeben und war nach Stationen in Berlin und Paris schließlich auf Gut Briest in Preußen heimisch geworden – ohne jemals seinen Beruf wirklich aufzugeben. Aus dem Münchner Lehrjungen war ein preußischer Gutsherr geworden, aus dem Abenteurer ein verheirateter Mann, aus dem Ingenieur ein begehrter Streckenplaner, dessen unfehlbarer Instinkt ihn zu einer Koryphäe hatte werden lassen. Auch heute noch war seine Expertise gefragt.

Paul war mittlerweile siebzig. Man sah es ihm kaum an. Das blonde Haar und der kurzgeschnittene Bart waren grau geworden, die Schultern ein wenig runder, die Hüften ein wenig breiter. Seine Augen und sein Lachen waren aber immer noch zwanzig Jahre alt. Er liebte seinen Beruf, er liebte sein Leben, er liebte Louise so wie an dem Tag, an dem er sie in Paris kennengelernt hatte. Damals hatte Pauls bester Freund, Alvin von Briest, mit dem er nach Frankreich gegangen war, Paul eröffnet, dass er unsterblich in Louise verliebt war. Es war niemals leicht gewesen in den fünfzig Jahren, die seitdem vergangen waren, aber drei Dinge hatten immer Bestand gehabt: Pauls Liebe zu Louise, Pauls Freundschaft zu Alvin und Pauls Leidenschaft für die Eisenbahn.

Er und Louise hatten Plätze im ersten Waggon nach dem Gepäckwagen erhalten; die Betreiber der Jura-Simplon-Bahn hatten ihn mit vielen Vollmachten und Privilegien ausgestattet. Sie hatten Paul gebeten, ihr gesamtes Netz in Augenschein zu nehmen und gegebenenfalls Empfehlungen für Ausbesserungen auszusprechen. Der Schweizer Nationalrat arbeitete an einer neuen Norm speziell für Eisenbahnbrücken. Die Jura-Simplon-Bahn war erst vor einem Jahr aus mehreren kleinen Betreibergesellschaften gegründet worden. Die Gesellschafter wollten etwaigen schlagartig auftretenden Mehrkosten und daraus resultierenden Finanzproblemen, die aus dem Inkrafttreten der Norm zustande kommen mochten, entgegenwirken. Daher hatten sie den in Eisenbahnkreisen berühmten Paul Baermann engagiert. Paul hatte nicht lange überlegt. Der Auftrag bedeutete mehrere Wochen Aufenthalt in der Schweiz, im Frühsommer, mit allem Luxus und zu einem fürstlichen Gehalt. Er hatte Louise an Ostern mit der Reise überrascht. Auch sie hatte nicht gezögert, die Einladung anzunehmen. Auch dann nicht, als Paul ihr eröffnet hatte, dass es noch einen anderen, weniger öffentlichen Grund für die Reise gab. Im Gegenteil: Louises Augen hatten vor Abenteuerlust gefunkelt.

Paul klopfte gegen die Hüfttasche seines Jacketts, während er durch den Gepäckwagen eilte. Der Brief war darin. Er hatte ihn an den Mann geschrieben, der ihm seinen zweiten, geheimen Auftrag gegeben hatte. In dem Brief stand, dass alle bisher gezogenen Schlussfolgerungen falsch waren. Dass die Hinweise in die falsche Richtung gedeutet hatten. Dass es ein Verbrechen gab, aber ein viel schlimmeres als das, was er und sein Auftraggeber gemutmaßt hatten. Dass sie sich geirrt hatten. Plötzlich hatte Paul das Gefühl, er hätte den Brief unbedingt aufgeben sollen, bevor er in den Zug gestiegen war. Er nahm sich vor, ihn sofort nach der Ankunft in Münchenstein zur Poststation zu tragen. An einem Tag voller Ausflügler wie diesem würde sie geöffnet haben, auch wenn Sonntag war.

Nach dem Gepäckwagen kam der Tender der zweiten Lokomotive. Draußen huschten die Häuser der beiden Brüglinger Siedlungen vorbei. Die von Hecken und Baumgruppen bestandene Ebene flirrte in sattem Grün. Paul hatte das Gefühl, dass der Zug immer noch an Dampf zulegte. Die flache Brüglinger Ebene lud zum Beschleunigen ein, aber nach ihr kamen die weite Rechtskurve und dann die Birsbrücke – gefährliche Streckenabschnitte für einen Zug, der eigentlich zu lang und zu schwer war.

Paul schritt durch den schmalen Gang des Tenders. Kohlehaufen türmten sich links und rechts. Er roch den Rauch vom Schornstein der Lok, der einen flackernden Schatten über den offenen Tender warf; Funken wirbelten über Pauls Kopf hinweg. Er atmete den Duft des Rauchs ein. Die meisten Zugpassagiere beklagten sich gern, dass ihre gesamten Kleider nach dem Rauch rochen, wenn sie mit dem Zug reisten. Für Paul war und blieb es der Duft von Fortschritt, von der Vernetzung eines ganzen Kontinents, von der Freiheit des Menschen zu reisen.

Der Heizer war eifrig bemüht nachzulegen und beachtete ihn nicht. Kaum dass er Platz machte, damit sich Paul an ihm vorbeiquetschen konnte. Das Feuerloch der Lokomotive glühte. Der Lokführer musterte Paul über die Schulter, als er in den Führerstand trat. Er hieß Friedrich Wenger und ließ sich anmerken, dass er Pauls Anwesenheit auf seiner Lokomotive als Eindringen empfand.

»Sie fahren zu schnell«, rief Paul gegen den Fahrtwind, das Stampfen der Dampfmaschine und das Rauschen der Räder auf den Schienen.

»Nein, tu ich nicht!«, erwiderte Wenger in Baslerdütsch. Die meisten Angestellten der Bahngesellschaft, die wussten, dass Paul aus Preußen kam, hatten sich von Anfang an bemüht, so breit wie möglich in ihrem Dialekt zu sprechen. Die Schikane verfehlte ihr Ziel, da Paul in München geboren und aufgewachsen war, seinen bayerischen Dialekt nie verloren hatte und gut in der Lage war, das Baslerdütsch zu verstehen.

»Sie fahren mindestens fünfzig Kilometer pro Stunde«, sagte Paul.

»Woher wollen Sie das wissen?«

»Ich weiß es.«

»Na und?« Der Lokomotivführer gab seinem Heizer einen trotzigen Wink, und dieser schaufelte Kohle nach. Wenger starrte Paul herausfordernd an. Paul lehnte sich aus der Fensteröffnung. Der Zug näherte sich bereits der Kurve. Dahinter sah Paul die Uferbewachsung der Birs. Die Schienen führten mitten hinein, auf die Brücke zu, von der von hier aus nur das diesseitige Widerlager erkennbar war. Dahinter erhob sich der schmale Felsrücken im Zentrum Münchensteins mit der Burgruine darauf; der helle Stein schimmerte durch das Grün.

»Auf der Brücke dürfen Sie höchstens dreißig Stundenkilometer fahren«, erklärte Paul.

»D’Brugg isch no wyd«, versetzte Wenger verächtlich.

»Die ist schneller da, als Sie denken. Ihr Zug ist schwerer und braucht länger, um Fahrt zu verlieren. Nehmen Sie Dampf weg, Herr Wenger.«

»Ich brauche mir von Ihnen nichts sagen zu lassen.«

Der Zug fuhr in die Kurve ein. Paul fühlte, wie die Fliehkraft das lange Gespann nach links zerrte; nicht gefährlich, sagten Pauls Instinkte, aber doch stärker, als ihm lieb war.

»Wie sieht das Ihr Kollege in der vorderen Lok?«

»Herr Bodmer sieht das genauso wie ich.«

Die beiden Männer lieferten sich ein stummes Blickduell, das Wenger nur unterbrach, um seinem Heizer zuzunicken und sich einmal nach draußen zu lehnen, um zu sehen, wo der Zug sich befand. Die Säulenreihe der schlanken Pappeln auf dem diesseitigen Ufer der Birs kam näher und näher.

Wenger versuchte einzulenken. »Wir haben seit Basel fünf Minuten Verspätung. Wir müssen das einholen.«

»Fünf Minuten sind doch kein Problem.«

»Die Jurabahn fährt immer pünktlich!«

Der Zug ratterte durch den Zenit der Kurve. Man musste Pauls feines Gespür für die Eisenbahn haben, um wahrzunehmen, dass die Fliehkraft nun stärker war, als dem Zug guttat. Er neigte sich nach links. Nicht weit, nur so weit, dass die Räder auf der rechten Seite ihre Schienenhaftung einzubüßen begannen. Eine Unebenheit, eine schlecht verlegte Schiene, eine kleine Bodenverwerfung auf dem rechtsseitigen Schienenstrang konnten jetzt dazu führen, dass der Zug das Gleichgewicht zu verlieren begann. Seine ungeheure Masse war durch die schnelle Fahrt durch die Kurve zu weit nach links verlagert. Paul hielt den Heizer, der nachlegen wollte, auf. Auf keinen Fall durfte noch mehr Dampf auf den Kessel.

Friedrich Wenger, der nicht Pauls Instinkte besaß, aber Hunderte von Stunden Erfahrung auf dieser Strecke, bemerkte ebenfalls, dass er Geschwindigkeit wegnehmen musste. Er zog am Regulator, um den Dampfdruck zu vermindern, und kurbelte an der Steuerung. Der abgelassene Dampf entwich schrill pfeifend aus dem Ventil des Dampfdoms.

Die Geschwindigkeit des Zugs verringerte sich nicht. Paul wusste, warum. Johannes Bodmer, der Führer der ersten Lok, hatte nichts gemerkt und folgte immer noch der vorher zwischen den beiden Lokführern abgesprochenen Maxime: die verlorene Zeit wieder einzuholen. Er löste sogar ein fröhliches Antwortsignal auf den Pfiff der zweiten Lok aus. Und es gab noch einen zweiten Grund: die vielen Wagen. Sie hätten die beiden Loks auch mit unverminderter Geschwindigkeit vor sich hergeschoben, wenn beide Lokomotiven versucht hätten, Fahrt wegzunehmen.

»Nicht bremsen!«, rief Paul scharf, als er die Bestürzung im Gesicht Wengers erkannte.

»In der Kurve? Halten Sie mich für blöd?«, schnappte Wenger. Er riss ein rotes Fähnchen aus einer Halterung, lehnte sich nach draußen und wedelte damit wie verrückt. Dazu brüllte er: »Bodmer! He, Bodmer!« Beides nützte nichts. Der vordere Zugführer konnte das Gebrüll nicht hören, und er sah sich anscheinend nicht um, so dass er das Warnsignal hätte sehen können.

»Nundedie!«, fluchte Wenger. Er steckte das Fähnchen zurück und kurbelte hastig weiter an der Steuerung.

Paul spähte nach hinten. Der Fahrtwind riss an seinen Haaren und stellte den Kragen seines Gehrocks auf. Der Hauptteil des Zugs hatte den Zenit der Kurve passiert.

»Jetzt können Sie bremsen!«, rief er.

»Aber wenn Bodmer nicht mitbremst …«

»Er muss den Ruck bemerken. Dann wird er aufwachen. Los, bremsen Sie, Mann!«

Die Brücke war höchstens noch einen halben Kilometer voraus. Der Zug hatte die Kurve ohne Unglück hinter sich gelassen, aber er war jetzt instabil. Die Gefahr, dass er auf der Brücke aus den Schienen sprang, war groß, erst recht bei diesem Tempo.

»Bremsen Sie, Wenger!«, brüllte Paul.

Wenger betätigte das Führerbremsventil und den Zusatzbremshahn gleichzeitig. Er nahm Dampf aus dem Kessel. Die Lok pfiff gellend. Von der vorderen Lok ertönte jetzt auch das schrille Pfeifen von entweichendem Dampf. Johannes Bodmer hatte die Gefahr endlich erkannt und versuchte ebenfalls, den Zug abzubremsen. Die Westinghouse-Bremsen, ein System von Druckluftbehältern und Bremszylindern, wirkte auf die Räder des Zugs ein.

Der Zug wurde langsamer. Aber es reichte nicht. Die Masse der Wagen verhinderte ein effektives Verlangsamen.

Mit weit aufgerissenen Augen sah Paul, der jetzt nach vorn blickte, Bodmers Lok auf die Brücke fahren. Der Zug war noch immer viel zu schnell. Die Führungslok pfiff schrill. Wenger nahm die Hände von den Bremshebeln. Er war bleich. Er wusste genau, was geschah, wenn der Zug mitten auf der Brücke zu bremsen versuchte. Der Bremsimpuls würde sich über die Schienen auf das jenseitige Widerlager auswirken wie ein gewaltiger Stoß; der Zug würde notgedrungen schwanken und die Konstruktion der Brücke verwinden. Paul sah an Wengers Miene, dass er plötzlich an die Hochwasserschäden der Brücke dachte. Repariert, gewiss – aber alles, was repariert war, war danach schwächer als zuvor. Und wie gut waren die Reparaturen gewesen? Wie lange hatte man sich dafür Zeit genommen, hatte man den einträglichen Schienenverkehr stillgelegt? All diese Gedanken huschten in Sekunden über Wengers Gesicht, gefolgt von der geradezu inbrünstigen Hoffnung, dass Johannes Bodmer ebenso dachte und nicht in Panik versuchte, den Zug noch mehr abzubremsen.

Wengers Hoffnung erfüllte sich nicht. Paul vernahm den Ruck, mit dem der Führer der ersten Lok die Bremsen erneut betätigte.

Er spürte etwas in der Brückenkonstruktion nachgeben. Es war wie bei einem Knochenbruch im eigenen Körper – man merkt, dass etwas zerbricht, dann erst fühlt man den Schmerz. Der Zug konnte keinen Schmerz empfinden, aber er konnte, wie ein Mensch, der sich ein Bein brach, zur Seite kippen.

Der Zug kippte.

Paul sprang in den Tender. Ihm war klar, dass der Zug die Brücke einreißen und in den Fluss stürzen würde. Die Loks würden das jenseitige Widerlager der Brücke vielleicht noch erreichen, aber die Wagen nicht, und diese würden die Loks zurückzerren. Die ersten beiden Waggons und der Gepäckwagen würden als Erste in den Fluss fallen, die Lokomotiven würden sie unter sich begraben, danach würden die nachdrängenden Wagen auf sie fallen. Wer darin saß, würde zermalmt werden. Wer trotzdem überlebte, würde unter Wasser eingeklemmt sein und ertrinken.

Paul versuchte, den Gepäckwagen zu erreichen und durch ihn hindurch den Wagen, in dem Louise saß. Er wusste, dass niemand den Zug noch retten konnte. Alles, was er wollte, war, bei Louise zu sein. Ihre Hand zu nehmen, wenn die Katastrophe sie beide verschlang.

Der Brief in seiner Jackentasche fiel ihm ein, der Brief, den er hatte nach Berlin schicken wollen, um einen Irrtum aufzuklären. Um eine Verschwörung zu verhindern. Zu spät. Er hätte ihn tatsächlich zur Post geben sollen, bevor er in den Zug eingestiegen war. Er dachte an Louise und vergaß den Brief wieder. Sein ganzes Streben war jetzt nur noch darauf gerichtet, zu seiner Frau zu gelangen.

Er rannte durch einen entgleisenden Tender, als die Brücke zwischen der ersten und der zweiten Lok brach. Er verlor den Boden unter den Füßen und sah die Kohlenhaufen links und rechts wie in einem surrealen Traum auseinanderfliegen, weil der Tender im freien Fall war.

Er rannte zu Louise, um sie festzuhalten.

Er rannte, während er mit dem Zug zusammen fiel.

Ein Mann, der seine große Liebe nie aufgegeben hatte und nun gegen alle Wahrscheinlichkeit darum kämpfte, zu ihr zu gelangen, um mit ihr vereint zu sterben.

September – Dezember 1891

»Gott hat den Vögeln die Flügel gegeben, nicht den Menschen.«

Georg Wilhelm von Siemens

3

Edgar Trönicke kletterte vom Phaëton und betrachtete die Auffahrt von Gut Briest. Die Familie hatte ihm den Wagen zum Bahnhof von Genthin geschickt, um ihn abzuholen. Er hatte den Lenker hier anhalten lassen, anstatt sich bis zum Eingang des Gutshofs fahren zu lassen. Er hatte das Gefühl von Heimat wieder in sich wecken wollen, das er damals immer gespürt hatte.

Fast zwanzig Jahre war das her. Wann war er zum letzten Mal hier gewesen? Vor fünfzehn Jahren. Manchmal verlor man Orte und Menschen aus den Augen, obwohl man sie liebte.

Gut Briest war nicht Edgars wirkliche Heimat. Obwohl … das stimmte nicht. In den Wochen seiner Rekonvaleszenz war es doch Heimat gewesen. Als Edgar sich mit dem Gedanken hatte abfinden müssen, dass er als einhändiger Mann durch sein weiteres Leben würde gehen müssen. Dass er seine Träume, was er nach dem Abschied vom Militär alles tun würde, begraben musste, weil er dazu zwei Hände gebraucht hätte. All das ganz abgesehen davon, dass er damals auch hatte lernen müssen, mit dem tobenden Schmerz in einer Gliedmaße umzugehen, die er gar nicht mehr besaß. In jenen Wochen hatte ihn die Gewissheit getröstet, dass er auf Gut Briest immer willkommen sein würde.

Unwillkürlich sah er zu seiner linken Hand hinunter. Sie steckte in einem Handschuh und öffnete und schloss sich mit seltsamen, zittrigen Bewegungen. Er rieb sich über den linken Oberarm, um den sich die Ledermanschette der Prothese schloss, und fragte sich, wann er jemals genug Geld beisammenhaben würde, um sich eine richtig funktionierende Prothese zu kaufen. Eine, die zu den Schulterbewegungen auch die passenden Fingerbewegungen ausführte oder sich nicht selbständig bewegte, ohne dass er es wollte. Eine, deren Gurte ihn nicht im Lauf des Tages genauso schmerzten wie die eingebildete Verletzung in der nicht mehr existierenden Hälfte seines linken Arms.

Hauptsächlich aber fragte er sich, wie die Familie, die im Gutshaus auf ihn wartete, ihn begrüßen würde. Würde man ihm vorhalten, dass er den Tod Pauls und Louises mit verschuldet hatte? Hatte er es? Er fragte sich, wie viel Paul und Louise ihrem Sohn und ihrer Schwiegertochter überhaupt von den Gesprächen erzählt hatten, die Paul und Edgar vor dessen Abreise geführt hatten. Edgar hatte keine Ahnung, wo Moritz und seine Familie im Frühsommer gewesen waren. Moritz’ Arbeit bei der Firma Siemens trieb ihn über den ganzen Erdball. Er konnte im Juni in Timbuktu gewesen sein, nach allem, was Edgar wusste. Wenn er nicht im Land gewesen war, würde Paul ihn wohl kaum informiert haben. Edgar und Paul waren sich einig gewesen, dass nur das Allernötigste zu Papier gebracht werden sollte in der Angelegenheit.

»Wollnse wieder einsteigen, Herr?«, fragte der Wagenlenker.

»Nee, fahrnse ma, ick jeh die letzten Schritte zu Fuß.« Edgar sah das Grinsen des Wagenlenkers und erinnerte sich daran, dass er sich hier ein bisschen zusammenreißen musste mit seiner Ausdrucksweise. Es würde ohnehin vergebliche Liebesmüh sein. Sein Berlinerisch kam immer durch, egal wie er sich anstrengte.

»Wie Se wünschen, Herr.«

Edgars Herz klopfte langsam und schwer, während er zum Eingang des Gutshauses schritt. Er wünschte sich, nicht zur Testamentseröffnung eingeladen worden zu sein. Wieso war er überhaupt dazugebeten worden?

Rechter Hand lag die Kapelle, in der Edgar in den ersten Tagen seiner Rekonvaleszenz darum gebetet hatte, dass die Phantomschmerzen vergingen und er seinem neuen Leben einen Sinn abgewinnen konnte. Links lag der große Fischteich mit den mächtigen Bäumen an seinem Ufer. Er hatte sich im stillen Wasser immer wieder gespiegelt, den Oberkörper frei, das anfangs stark geschwollene Narbengewebe und gerötete Fleisch betrachtend, das da war, wo nach dem Ellbogen sein Unterarm hätte beginnen sollen. Die Herbstkälte hatte er nicht gespürt. Er hatte versucht, mit diesem neuen Abbild von sich klarzukommen: Edgar Trönicke, Feldwebel a. D., Kriegsversehrter.

Vor den Stufen, die zum Eingangsportal des Gutshofs hinaufführten, zögerte er. Als Paul und Louise ihn hier aufgenommen hatten, um zu gesunden – nachdem sie erfahren hatten, in welchem Zustand Edgar aus Frankreich zurückgekehrt war –, war er hier aus und ein gegangen wie ein Familienmitglied. Obwohl die paar Dutzend Schritte vom Tor des Guts bis hierher das Heimatgefühl wieder geweckt hatten, kam es für ihn nicht in Frage, an die alte Vertrautheit anzuknüpfen. Er zog an der Klingelschnur, trat einen Schritt zurück und wartete. Plötzlich traf ihn die Erkenntnis, dass Paul und Louise tot waren, mit voller Wucht. Wer immer ihn an der Tür begrüßte, es würden nicht sie sein. Niemals wieder.

4

Moritz von Briest nahm Edgar persönlich an der Tür in Empfang. Er war Pauls und Louises ältester Sohn, knapp vier Jahre älter als Edgar, der fünfundvierzig war. Sie lächelten sich an. Ihre Beziehung Freundschaft zu nennen, wäre vielleicht zu weit gegriffen gewesen. Aber Edgar hatte Moritz zweimal im Leben einen wichtigen Dienst erwiesen. Beide Männer wussten, dass sie sich im Notfall wieder aufeinander würden verlassen können.

»Mein herzliches Beileid«, murmelte Edgar und drückte Moritz’ Hand.

»Danke, Edgar. Es tut mir leid, dass wir uns jetzt erst sehen. Wir hätten dich viel früher einladen sollen. Aber du weißt ja, wie es ist …« Moritz machte eine vage Handbewegung. »Wenigstens waren Antonie und ich nicht weit weg. Wenn das ein Jahr früher passiert wäre, wären wir nicht auf Borkum gewesen, sondern auf St. Lucia in der Karibik. Dann befänden wir uns immer noch auf der Rückreise.«

»Du wirst bald wieder zurückmüssen, wa?«, fragte Edgar, dem nun klar war, dass Moritz und seine Frau keine Ahnung hatten von dem, was Edgar ihren Vater in der Schweiz nachzuforschen gebeten hatte.

»Ja und nein. Ich werde später was dazu sagen. Darf ich dich bis dahin um Geduld bitten?«

Edgar zuckte mit den Schultern. Er schluckte die Bemerkung hinunter, dass auch er noch eine Ankündigung zu machen hatte.

In der Tür zum Salon stand Antonie von Briest, Moritz’ Frau, und begrüßte Edgar mit einer leichten Umarmung. Edgar sprach erneut sein Beileid aus und blickte Antonie dabei ins Gesicht. Er erinnerte sich, als er sie zum ersten Mal gesehen hatte – das war während der Feiern anlässlich des Sieges des preußischen Heers über die Österreicher bei Königgrätz gewesen. 1866. Fünfundzwanzig Jahre her. Eine ganze Generation. Während die Berliner ihre Soldaten hatten hochleben lassen, hatte Edgar Trönicke, damals Soldat bei der königlichen Garde, wegen eines alkoholisierten Fehltritts in Ungnade gefallen und daher vom Ehrenspalier ausgeschlossen, in einem Boot gesessen und Moritz und Antonie durch die Berline Kanäle geschippert. Moritz und Antonie waren ein Liebespaar gewesen, das ein paar Augenblicke abseits von Eltern und Aufpassern gebraucht hatte, um sich über ihre Liebe klarzuwerden. Edgar war so eine Art grinsender, verständnisvoller Amor gewesen, der betont in die andere Richtung geschaut hatte und seinen Posten im Ehrenspalier keine Sekunde vermisste, weil er dort, wo er war, einen viel ehrenvolleren Posten bekleidete.

»Kaum zu glauben, dass sie plötzlich nicht mehr da sein sollen«, sagte Antonie. »Nicht wahr?«

»Sie sagen es, Frau von Briest.«

Edgar spürte die Neugier im Blick Antonies. Sie fragte sich, wieso die Notariatskanzlei ihn eingeladen hatte. Moritz stellte sich wahrscheinlich dieselbe Frage, konnte es aber besser verbergen. Nun, mit dieser Neugier waren sie schon zu dritt. Erneut wünschte er sich, nicht hier zu sein, obwohl er mit der Erinnerung an Gut Briest und seine Bewohner nur Wärme und Kameradschaft verband.

Der Rest der Familie hatte sich im Salon versammelt. Seit Pauls und Louises Tod war ein Vierteljahr vergangen. Zeit für die Hinterbliebenen, sich wieder zu fangen, sich mit dem Verlust zu arrangieren. Sich Dinge zu sagen wie: Sie hatten ein erfülltes Leben!, und Wenigstens waren sie in ihren letzten Augenblicken zusammen!, und Sie würden wollen, dass wir uns voll Freude an sie erinnern, nicht voller Trauer. Alles Aussagen, die darüber hinwegtrösten sollten, dass man den Verlust spürte und ihn noch lange spüren würde und irgendwo, irgendwie im Herzen ein Loch an der Stelle zurückblieb, an der die Verstorbenen ihren Platz gehabt hatten. Das Fehlen der beiden Menschen, die diese Familie zusammengehalten hatten, war auch im Raum spürbar. Edgar war im Lauf seines bürgerlichen Berufs immer wieder auf Menschen gestoßen, denen der Tod geliebte Angehörige viel zu plötzlich entrissen hatte. Es war überall das Gleiche gewesen – eine verwaist wirkende Familie hatte sich unwillkürlich um einen leeren Mittelpunkt herumgruppiert.

Edgar kannte jedes Mitglied der Familie, auch wenn er sie alle seit Jahren nicht mehr gesehen hatte. Moritz und Antonie von Briest hatten drei Kinder. Otto, der nach dem im vorigen Jahr zurückgetretenen preußischen Ministerpräsidenten, Otto von Bismarck, benannt war; er war einundzwanzig und sah seinem Großvater Paul zum Verwechseln ähnlich mit seiner athletischen Figur und dem blonden Haarschopf. Levin war der zweite Sohn, er war sechzehn und sah niemandem ähnlich, den Edgar von der Familie der Briests kannte – weder seinen Eltern noch seinen Großeltern. Vielleicht kam bei ihm ein weiter zurückliegendes Familienmitglied durch – Pauls Vater oder der von Louise. Amalie, die einzige Tochter, war dreizehn, blond und eher unscheinbar. Man konnte ihr allerdings ansehen, dass sie in ein paar Jahren die gleiche Schönheit wie ihre Mutter sein würde.

Die Familienverhältnisse der Briests waren kompliziert. Louise, Moritz’ Mutter, war mit Alvin von Briest verheiratet gewesen, hatte aber zugleich Paul Baermann geliebt, Alvins besten Freund. Sie hatte sich nie endgültig für einen der beiden entscheiden können. Die Männer hatten es – nicht ohne Schwierigkeiten – akzeptiert. Das Dreiecksverhältnis hatte erst mit Alvins Tod geendet. Moritz, der als Sohn Alvins aufgewachsen war, war in Wahrheit von Paul gezeugt worden, eine Tatsache, die Louise den beiden Männern lange verschwiegen hatte. Auch damit hatten sich die drei Liebenden arrangiert. Sie hatten ein ungewöhnliches, nicht immer konfliktfreies Leben geführt. Aber ihre Liebe und die Freundschaft Alvins und Pauls waren stets größer gewesen als all diese Verwicklungen. Die großherzige Einstellung war etwas, das Moritz von seinen Eltern gelernt hatte. Seine Frau Antonie, Moritz’ große Liebe, hatte im Lauf der Jahre eine weniger gelassene Haltung zu den Dingen entwickelt und sich dadurch von Moritz, aber auch von ihren Kindern entfernt.

Die beiden jungen Männer standen auf und schüttelten Edgar die Hand. Levin starrte mit ungenierter Faszination auf die im Handschuh verborgene Kunsthand Edgars, und dieser versuchte, so zu tun, als bemerke er es nicht, bis Otto seinem kleinen Bruder einen Stoß verpasste. Amalie knickste zuerst, aber dann reichte sie Edgar auch die Hand und lächelte ihm zu. Edgar murmelte eine dreimalige Beileidsbekundung, setzte sich in den angebotenen Sessel und blickte zum Schreibtisch hinüber, hinter dem ein Mann mit weißem Backenbart, der Notar der Familie von Briest, seufzte: »Guten Tag, Herr Trönicke. Ich bin Doktor Carl Schwerdtfeger, der Notar der Familie. Dann können wir ja wohl anfangen, oder?«

Edgar beobachtete die Familie, während die Einzelheiten des Testaments halb gehört an ihm vorbeidrifteten. Er konnte nicht einmal damit aufhören, als es ihm bewusstwurde. Innerlich seufzte er. Berufskrankheit, wie die Staublunge eines Bergarbeiters, das Rheuma einer Wäscherin oder die Ekzeme eines Bäckers. Weniger schmerzhaft, aber manchmal genauso belastend.

Moritz von Briest: niedergeschlagen und traurig und nur halb bei der Sache, ein Mann, der über eine Zukunft nachdachte, die gerade ein bisschen komplizierter geworden war.

Antonie von Briest: ebenso traurig und irgendwie alleingelassen, als habe sie eine wichtige Stütze verloren. – Louise?

Otto von Briest: unruhig, nervös, wie jemand, der sich im Wald verirrt hat und es nur nicht zugeben möchte.

Levin von Briest: lustlos, ratlos, ein junger Mann, der nicht weiß, was er will, aber eine klare Vorstellung von dem hat, was er nicht will, nämlich: alles.

Amalie von Briest: still, an der Schwelle vom Kind zur Frau, mehr verwirrt von der verlorenen Ausstrahlung ihrer Mutter als vom Tod ihrer Großeltern.

»Nun kommt noch ein Zusatz«, erklärte Doktor Schwerdtfeger. »Herr Baermann hat ihn in Form eines Briefs dem Testament beigefügt, den er per Post aus der Schweiz an meine Kanzlei hat senden lassen.« Edgar horchte bestürzt auf. »Der Inhalt des Briefs und damit des testamentarischen Zusatzes ist der Grund für die Anwesenheit von Herrn Trönicke. Herr Baermann hat dies in einer Begleitnotiz spezifiziert, die mich auch ermächtigt hat, den Brief vorab zu lesen, um seine Rechtsgültigkeit als testamentarischer Zusatz zu bestätigen.«

Edgar fühlte die Blicke der Familie auf sich. Er räusperte sich und zuckte mit den Schultern. »Wenn det so is«, sagte er und verstummte dann verlegen.

Der Notar beugte sich über den Brief und begann vollkommen ausdruckslos und mit undeutlicher Stimme zu lesen. Mit derselben Diktion hatte er sich bereits durch das Testament genuschelt.

»›Ihr Lieben, wir haben diesen Zusatz zu unserem Testament verfasst aus der Befürchtung heraus, dass unsere Reise in die Schweiz böse enden könnte. Diese Befürchtung hat etwas zu tun mit einer Sache, mit der unser alter Freund Edgar Trönicke uns beauftragt hat. Es ist seine Sache, euch darüber so viel zu erzählen, wie nötig ist, deshalb haben wir Herrn Doktor Schwerdtfeger gebeten, ihn zur Testamentseröffnung einzuladen. Es ist seltsam, von seiner eigenen Testamentsverlesung zu schreiben … noch dazu, da wir beide eigentlich glauben, dass dieser Brief völlig unnötig ist und wir uns alle gesund wiedersehen. Was wir im Auftrag Edgars herausgefunden haben und womit auch er sicher nicht gerechnet hat, haben wir ihm in einem getrennten Brief mitgeteilt. Wir hoffen, dass er diese Informationen zu dem Zeitpunkt, an dem diese Zeilen verlesen werden, bereits dazu nutzen konnte, dem Gesetz auf die Sprünge zu helfen und den Tod von vielen hundert Menschenleben in der nahen Zukunft zu vermeiden. Vielleicht gelingt es ihm sogar, etwas aufzuhalten, was sonst unsere Gesellschaft und unser Land in einen Abgrund aus Hass führt.‹«

Der Notar unterbrach sich und musterte die Anwesenden der Reihe nach. Edgar fühlte sich wie vor den Kopf geschlagen. Sein Herz pochte wie verrückt. Ein Brief? Paul wollte ihm einen gesonderten Brief geschrieben haben? Mit Informationen, die den Tod von Hunderten verhindern und das Land vor Unheil bewahren sollten? In die Stille, die sich über den Raum legte, hörte er seine Kunsthand sich bewegen, hörte das leise Knarren, Quietschen und Klacken. Er versuchte, still zu sitzen und seine Schultermuskulatur zu entspannen. Die Hand zuckte weiter. Die Blicke der anderen brannten auf ihm. Er konnte ihnen nicht begegnen.

Paul Baermanns letzte Botschaft erklang wieder, vernuschelt und verschliffen mit der Lesestimme des Notars. »›Edgar, du weißt selbst am besten, was davon an die Öffentlichkeit darf und was nicht. Ich möchte betonen, dass wir Dir freiwillig unsere Unterstützung zugesichert haben und dass niemand von uns ahnen konnte, was unsere Nachforschungen ergeben würden. Nichts, was passiert ist, ist auch nur im Entferntesten Deine Schuld. Du hast uns ein sehr großzügiges Honorar angeboten. Wir haben es abgelehnt, weil wir für diese Reise schon von der Eisenbahngesellschaft bezahlt werden, die nichts davon ahnt, dass meine Untersuchungen in zwei Richtungen laufen. Da die Dinge sich nun aber so entwickelt haben, wie ich Dir in meinem Brief geschrieben habe, möchte ich, dass Du das gesparte Geld dafür verwendest, weiter an der Sache dranzubleiben. Für jede Mark, die Du ausgibst, legen wir aus unserem Vermögen eine weitere Mark obendrauf. Bitte nimm diese testamentarische Verfügung an. Dein Auftrag hat uns eine Möglichkeit gegeben, noch ein letztes Mal für die Zukunft unserer Kinder zu kämpfen, und uns auf etwas gestoßen, das sonst im Dunkeln weitergetrieben wäre und schreckliche Früchte getragen hätte. Nimm die Verfügung als unseren Dank an Dich dafür. Die Kanzlei von Herrn Doktor Schwerdtfeger wird Dich in allen buchhalterischen Belangen unterstützen.‹«

Der Notar blickte auf. »Unser Honorar für diese Leistung können wir im Vorfeld berechnen und von den in Frage kommenden Beträgen abziehen«, sagte er hilfreich. Er räusperte sich erneut. »Der Testamentszusatz trägt die erforderlichen Unterschriften inklusive zweier Zeugen und eine ärztliche Bestätigung, dass Ihre Eltern, Herr von Briest, im Vollbesitz ihrer geistigen Kräfte waren. Er ist aus meiner Sicht nur schwer anfechtbar – wenn Sie das vorhaben sollten.«

»Ich … nein … ich weiß nicht …«, stotterte Moritz. Er starrte Edgar mit einem ratlosen Blick an. »Ich bin völlig … Edgar, was soll das?«

»Ick kann det nich annehmen«, hörte Edgar sich sagen. »Det jeht nich.« Er hielt seine Kunsthand fest, damit sie aufhörte, zu zucken und ihre unwürdigen Geräusche von sich zu geben.

Antonie hatte still zu weinen begonnen. Jetzt putzte sie sich die Nase und sagte entschlossen: »Wenn es der Wunsch meiner Schwiegereltern war, sollten Sie ihn nicht so schnell ablehnen. Wir müssen reden. Ich glaube, Sie haben uns viel zu erzählen, Herr Trönicke, selbst wenn Paul meinte, einiges davon wäre brisant. Sie haben ihm vertraut. Sie können uns vertrauen.«

Der Notar stieß seine Blätter zusammen, stand auf und verstaute sie in einer Tasche. »Alle nötigen Unterschriften können später in meiner Kanzlei erbracht werden«, sagte er. »Ich überlasse Sie nun Ihren Gesprächen und versichere Ihnen, Herr und Frau Briest, nochmals meiner aufrichtigen Anteilnahme.«

»Ich lasse den Wagen holen, der Sie nach Genthin bringt«, sagte Moritz und zog an der Klingel für das Hausmädchen. »Danke für Ihren Beistand, Herr Doktor.«

»Keine Ursache.« Der Notar schüttelte allen die Hand, Edgar zuletzt. Jetzt, aus der Nähe, sah Edgar, dass der Mann ein Glasauge hatte, perfekt gemacht und vorher nicht erkennbar. Die Haut um das Glasauge herum war mit feinem weißen Narbengewebe überzogen. Die Reparatur der Verletzung musste eine Unsumme Geld gekostet haben, aber sie war es wert gewesen. Der Notar schielte zu Edgars künstlicher linker Hand hinunter. »Siebzig-einundsiebzig?«, fragte er leise.

»Dreiundsiebzig«, erwiderte Edgar überrascht. »Letztet Kontingent. Kleener Abschiedsgruß von den Franzosen. Bombe im Zuch.«

Der Notar nickte. Mit der freien Hand deutete er auf sein Glasauge. »Siebzig. Sedan.«

»War ’ne Knochenmühle«, bestätigte Edgar. Der Notar drückte ihm noch einmal die Hand und verließ sie dann. Sie hörten die Kutsche davonfahren, die ihn nach Genthin brachte.

Moritz stand auf und trat zum Fenster. Er blickte hinaus. Edgar wusste, dass er dort draußen die Gespenster Pauls und Louises sah.

»Stimmt es, was mein Schwiegervater angedeutet hat?«, fragte Antonie. »Dass sein und Louises Aufenthalt in der Schweiz mit Ihnen zu tun hatte?«

»Nur der Teil, der ihnen den Tod jebracht hat«, erwiderte Edgar bitter. Erneut fühlte er schockierte Blicke auf sich ruhen. Er hatte es gesagt, wie er es gemeint hatte. Ihm war schlecht.

»Was kannst du uns erzählen, Edgar?«, fragte Moritz.

»Jar nüscht!«, stieß Edgar hervor.

»Weil der Brief meines Vaters so viel brisantes Material enthält?«

»Weil ick nie ’nen Brief jekriegt habe!«, rief Edgar. »Vastehste, was det bedeutet, Moritz? Wenn dein Vater und deine Mutter wegen irjendwelcher Informationen jestorben sind, die se uffjeschnappt haben, denn sinse völlich umsonst jestorben, weil ick die Informationen nie bekommen hab!«

»Aber … es ging doch um Hunderte von Leben!«, sagte Otto fassungslos. »Um die Zukunft Deutschlands!«

»Ja«, sagte Edgar grimmig. »Und det Wissen darüber ham Paul und Louise mit ins Grab jenommen.«

In das Schweigen nach seinen Worten begann seine Kunsthand wieder zu knarren, zu quietschen und zu klacken.

5

Am 16. September 1873 verließ ein Zug mit den letzten deutschen Soldaten Frankreich. Die Raten der im Frieden von Frankfurt vereinbarten Kontributionen waren alle entrichtet worden. Frankreich gehörte wieder den Franzosen.

In diesem Zug saß Feldwebel Edgar Trönicke vom 4. Garde-Regiment zu Fuß, Spandau, und langweilte sich. Er wünschte, der Zug würde schneller fahren. Er brannte darauf, aus dem Militärdienst auszuscheiden. Der Feldzug gegen Frankreich, die Belagerung von Paris – er war froh, dass alles vorbei war. Er hoffte, dass er nie wieder auf Menschen würde schießen müssen.

Zu Hause würde er sich ausmustern lassen. Sein Dienstzeugnis würde glänzend sein. Er war nicht immer ein vorbildlicher Untergebener gewesen, aber stets ein hervorragender Soldat, und kein Regimentskommandeur würde einem Veteranen des Krieges mit seinen Leistungen eine schlechte Bemerkung in den Ausmusterungsbescheid schreiben, nur weil er ab und zu Befehle eher ausgelegt als befolgt hatte. Außerdem hatte er das Glück gehabt, dass zwei Schutzengel während der letzten Jahre seiner Dienstzeit die Hände über ihn gehalten hatten. Der eine war Oberst von Briest gewesen, dessen Familie er seit Jahren auf vage Weise freundschaftlich verbunden gewesen war. Der andere war ein Hauptmann der Dragoner namens Ferdinand Graf von Zeppelin, dem er mit einem gezielten Schuss das Leben gerettet und dafür gesorgt hatte, dass der Mann zu einer Legendenfigur des Krieges geworden war. Zeppelin hatte es Edgar mit einer Freundschaft gedankt, die Klassen- und Hierarchieschranken nicht achtete. Edgar vermisste den jungen, unkonventionellen Grafen schon jetzt.

Der Zug war überbesetzt mit heimkehrenden Soldaten und deren Ausrüstung sowie Zivilisten, die von der deutschen Garnison gelebt hatten. Die Offiziere hatten ihre Familien mit dabei. Der Zug fuhr langsam und ratterte in seinem Gleis. In Abständen waren Frachtplattformen zwischen den Personen- und geschlossenen Frachtwagen eingeklinkt. Bewaffnete Soldaten hinter niedrigen Sandsackbarrieren saßen darauf. Sie sicherten den Zug. Der Friedensschluss vor zweieinhalb Jahren hatte zwar die regulären Kampfhandlungen beendet, aber nicht die Wut der Franzosen auf die deutschen Besatzer. Revanchisten hatten Anschläge auf die preußischen Militäreinrichtungen verübt. Es stand zu befürchten, dass die Unruhestifter versuchen würden, die Gelegenheit zu nutzen und den abziehenden Soldaten einen letzten, blutigen Denkzettel zu verpassen.

Wenn er erst aus dem Militärdienst ausgeschieden war, standen Edgar zwei Wege in die Zukunft offen. Der eine war, in das kleine Unternehmen seines Vaters einzusteigen. Edgar Trönicke senior betrieb eine Fischerei auf der Spree. Mehrere hochklassige Berliner Restaurants waren Stammkunden. Darauf konnte man aufbauen, besonders wenn man das Angebot auf Vergnügungsfahrten auf dem Fluss und den angrenzenden Seen ausdehnte. Edgars erste Begegnung mit Moritz und Antonie hatte ihm diese Idee eingegeben. Man würde den ganzen Tag selbst mit an den Riemen sitzen und pullen, aber das und die damit verbundene körperliche Anstrengung scheute Edgar nicht. Wenn das Unternehmen erfolgreich wurde, konnte man ja weitere Boote kaufen und Ruderer anheuern, und bis dahin würde Edgar eben alle Arbeit selbst erledigen. Wer ein paar Jahre als Soldat gedient hatte, den schreckten weder Kälte noch Nässe, noch Mühsal, noch die Eintönigkeit eines ganzen Tages gleichförmigen Schaffens.

Die andere Möglichkeit war, Berlin zu verlassen und nach Süddeutschland zu gehen. Ferdinand von Zeppelin hatte sie Edgar angeboten. Der Graf hing einem Traum an – einen lenkbaren Ballon zu bauen, der Menschen und Lasten durch die Luft befördern konnte. In ihren Gesprächen hatte der Graf immer wieder damit angefangen. Die Amerikaner hatten in ihrem Bürgerkrieg, den Zeppelin als militärischer Beobachter vor Ort mitverfolgt hatte, Ballons für die Observation der Schlachtfelder eingesetzt. Die Franzosen hatten aus dem belagerten Paris welche aufsteigen lassen, um deutsche Geschützstellungen aus der Luft zu identifizieren. Wenn die Ballons ihre Halteleine verloren, waren sie hilflos mit dem Wind davongetrieben. Es musste eine Möglichkeit geben, Ballons lenkbar zu machen! Edgar hörte seinen ungleichen Freund und Kameraden Zeppelin noch immer voller Elan sagen: »Denn wäret des koi Ballon mehr, denn isch des e Luftschiff!« Zeppelin hatte Edgar gefragt, ob er an der Konstruktion und beim Bau eines solchen »Luftschiffs« teilhaben wollte. Er, Zeppelin, würde die Mittel dafür schon auftreiben, besonders nachdem er die preußische Heeresführung von der Nützlichkeit einer solchen Erfindung überzeugt hatte. Edgar hatte auf das Unternehmen seines Vaters hingewiesen.

»Böötle, des war geschtern«, hatte Zeppelin leidenschaftlich gesagt. »D’Eisebaa isch heut. Morge – des isch die Zeit vom Luftschiff!«

Edgar lächelte in sich hinein. Er konnte sich also aussuchen, ob er seine Zukunft in etwas Gestrigem oder etwas Morgigem fand. So oder so – die Zukunft würde die Zeit von Edgar Trönicke sein.

Dann explodierte die Bombe, und der Zug entgleiste. Und die Zukunft war nicht mehr die Zeit von Edgar Trönicke.

6

Als ich aus dem Militärlazarett entlassen wurde, haben Paul und Louise mich auf Gut Briest eingeladen«, erklärte Edgar, nachdem er die Vorgeschichte erzählt hatte. Er bemühte sich, hochdeutsch zu sprechen. »Meine Eltern hätten mich natürlich auch aufgenommen, aber ich hatte den Blick gesehen, den mein Vater auf den leeren Ärmel meiner Uniformjacke geworfen hatte, als ich nach Hause kam. Er war … enttäuscht. Ich hatte keinen Wert mehr für ihn. Wenn man die Riemen eines Boots pullt, braucht man zwei gesunde Hände. Und fürs Fischen auch. Ich hatte nur noch eine. Die hier …«, er hob den linken Arm mit der Prothese hoch, »… habe ich zu der Zeit noch gar nicht gehabt. Aber sie hätte eh nichts genützt.« Die Kunsthand öffnete und schloss sich. Alle starrten darauf. Edgar fühlte, wie der erinnerte Schmerz in seiner echten Hand sich meldete, und senkte die Prothese wieder. Er ahnte, dass er heute Nacht wieder mit Phantomschmerzen wach liegen würde.

»Was ist passiert mit Ihrer Hand?«, fragte Levin, als alle anderen schwiegen. »Wer hat die Bombe gelegt?«

Antonie verdrehte die Augen über die neue Taktlosigkeit, aber Edgar machte es nichts aus. Er fand betretenes Schweigen belastender als eine offene, neugierige Frage.

»Wer die Bombe gelegt hat – darauf komm ich gleich noch. Damals dachten wir jedenfalls, es wären Revanchisten gewesen. Was meine Pfote betrifft … Die Bombe hat einen der Frachtwaggons gesprengt. Das hat den Zug zum Entgleisen gebracht. Die Waggons rutschten und rollten den Damm hinunter, haben sich verkeilt, sich gegenseitig zerschmettert oder zerdrückt. Je weiter vorn der Waggon im Zug eingehängt war, desto schlimmer haben ihn die nachdrängenden Wagen zugerichtet. Ich hab doppelt Glück gehabt; ich war in einem der hinteren Waggons, und ich war wach. Deshalb konnte ich mich halbwegs festhalten, als der Wagen sich überschlug. Die Kameraden, die geschlafen haben, sind herumgeschleudert worden wie Lumpenpuppen. Sie brachen sich das Genick, den Schädel, das Rückgrat, prallten gegeneinander oder wurden durch die Fenster nach draußen geworfen und vom Gewicht des Wagens zermalmt. Ich hab nur den linken Unterarm verloren. Ich lag ein paar Stunden unter den Trümmern des Wagens und den zerschmetterten Kameraden begraben, bis ich befreit wurde. Das Schlimmste in der ganzen Zeit waren die Schreie der Verletzten. Die der Menschen und die der Pferde.«

Nun schwieg auch Levin. Edgar räusperte sich. Er hatte die Geschichte nicht oft erzählt, und er hatte auch jetzt einiges ausgelassen. Die Angst, lebendig zu verbrennen, als er den Geruch von Rauch und Feuer wahrgenommen hatte. Die Panik, ersticken zu müssen unter Trümmern und toten Körpern. Die Furcht, zu verbluten, als ihm das Ausmaß seiner Verletzung klargeworden war. Die Erwartung, dass Revanchisten auf der Lauer gelegen hatten und jetzt das Wrack des Zugs stürmten, um die Überlebenden zu erschlagen. Und den Schmerz, den eisigen, bohrenden, wühlenden, tobenden, rasenden Schmerz in dem, was von seinem linken Unterarm übriggeblieben war, eingeklemmt unter einer zerborstenen Sitzbank. Dass er sich bemüht hatte, nicht vor Schmerz und Panik zu heulen wie ein Wolf und es doch getan hatte.

»Ich erzähle euch das alles, damit ihr wisst, was Paul und Louise mir bedeutet haben«, sagte Edgar. »Hier auf Gut Briest hab ich wieder Hoffnung für die Zukunft bekommen. Mit deinem Vater, Moritz, hab ich Abende lang beisammengesessen und habe überlegt, zu was ich noch tauge. Meine Idee mit der Fischerei und den Bootsausflügen – passé. Bei Graf Zeppelin würde ich auch nicht einsteigen können, ein Konstrukteur braucht beide Hände so nötig wie ein Fischer.«

»Deshalb bist du am Ende Detektiv geworden«, sagte Moritz.

Edgar nickte. »Es stellte sich heraus, dass das etwas war, was ich konnte. An Dingen dranbleiben. Muster finden. Spuren vergleichen. Zuhören, besonders, was zwischen den Zeilen gesagt wird.«

»Ich hab das meiste davon nicht mitbekommen«, erklärte Moritz. »Wir waren zuerst für Siemens in Halifax, dann in Brest, dann auf Cape Cod, dann in Cornwall – wo immer die Firma die transatlantischen Telegrafenkabel verlegte. Zuletzt auf St. Lucia, dann auf Borkum … ich hätte dir wohl öfter schreiben sollen …«

»Du hattest dein Leben, Moritz, ich meines. Seien wir ehrlich – so nahe haben wir uns nie gestanden, dass wir uns wöchentlich mit Neuigkeiten über unser Fortkommen auf dem Laufenden hätten halten wollen. Ich ging zuerst nach Dresden zu Heinrich Römer, der dort ein Büro nach dem Vorbild der Pinkerton-Agentur in Chicago eröffnet hatte und mit Vorliebe ehemalige Polizisten und Soldaten anheuerte. Das Detektiv- und Rechtsbüro Rex.«

Levin von Briest sagte plötzlich: »Hatten Sie da schon Ihre …?« Er verstummte und deutete mit verspäteter Verlegenheit auf Edgars Kunsthand.

Antonie seufzte.

Edgar lächelte. Auch danach offen gefragt zu werden war ihm lieber als das verstohlene Starren. Nur das ständige Eigenleben der Prothese war ihm so peinlich wie eh und je. »Nein. Aber nachdem ich Römer gezeigt hatte, dass ich die linke Hand nicht brauchte, um schreiben, schießen und zuschlagen zu können wie jeder andere, und das Schießen sogar noch besser, nahm er mich ohne Zögern auf.«

»Schreiben, schießen und zuschlagen …«, sagte Otto, aber es hörte sich weniger ablehnend als fasziniert an.

»Ich hab das in der falschen Reihenfolge gesagt«, meinte Edgar. »Der zweitgrößte Anteil an der Arbeit eines Detektivs ist das Schreiben. Berichte, Überwachungsprotokolle, Anklagevorbereitungen …«

»Und was ist dann der größte Anteil? Das Schießen oder das Zuschlagen?«

»Otto!«, rief Antonie tadelnd.

»Was denn, Mama? Ich frag doch nur.«

»Den größten Anteil«, entgegnete Edgar und grinste, »hat die Warterei.«

»Die Warterei?«

»Und zwar die sinnlose.«

»Oh!«

»Nur det hier keene falschen Illusionen wachsen«, sagte Edgar und grinste noch breiter.

»Entschuldige, aber ich weiß leider gar nichts«, sagte Moritz. »Bist du noch bei Römer in Dresden? Ich dachte, Doktor Schwerdtfegers Kanzlei hätte dich in Berlin erwischt?«

»Ich wechselte zu einer Berliner Agentur, sobald es dort eine gab. Sie wurde von ein paar ehemaligen Offizieren ins Leben gerufen – Caspari-Roth, Roffi und Pelzer. Das war vor zehn Jahren. Aber mittlerweile bin ich selbständig. Bei Römer in Dresden hab ich mich auf Wirtschaftskriminalität spezialisiert, das kam mir dann in Berlin zugute, und als ich mich selbständig machte, konnte ich ein paar wichtige Klienten zu mir rüberziehen. Ick komm um die Runden.«

»Wirtschaftskriminalität«, sagte Otto mit einem enttäuschten Unterton. »Was ist das denn?«

»Viel schreiben, wenig schießen«, erwiderte Edgar lächelnd. »Wissen Sie, was eine Versicherungsgesellschaft darstellt?«

»Nein.«

»In Berlin firmiert seit fast zwanzig Jahren die sogenannte Transatlantische Güterversicherungs-Gesellschaft. Sie übernimmt das Risiko für einen großen Teil des Warenverkehrs in Europa und nach Übersee – Straße, Schiene, Fluss, Meer, worauf immer auch der Gütertransport abgewickelt wird. Die Mitglieder dieser Gesellschaft zahlen relativ geringe Beiträge in die Kasse der Versicherungsgesellschaft, die es ihnen ermöglichen, Verluste auf dem Transportweg in voller Höhe ersetzt zu bekommen. Da solche Verluste die Ausnahme sind, muss die Versicherung auch nur in diesen Ausnahmefällen bezahlen. Kritisch wird es, wenn die Verluste sich so häufen, dass die Auszahlungen drohen, das Kapital der Gesellschaft zu übersteigen.«

»Zum Beispiel weil viele Unfälle passieren«, sagte Otto.

»Zum Beispiel, weil viele Unfälle mit Absicht herbeigeführt werden, um für wertlose, aber hoch versicherte Ware einen Verlust geltend zu machen, der den tatsächlich erlittenen Schaden bei weitem übersteigt. So etwas nennt man Versicherungsbetrug.«

»Und das verfolgen Sie mit Ihrer Agentur?«

»Im Wesentlichen«, sagte Edgar. »Es ist das, was die Agentur am Leben erhält. Der Rest ist sozusagen die Beilage zum Menü.«

»Aber das kommt doch sicher nicht oft vor«, warf Antonie ein.

Edgar seufzte. »Beim großen Börsenkrach damals, 1873, sind viele Unternehmer erfinderisch geworden, um sich vor dem Ruin zu retten. Einige davon haben die Methoden auch nach der Krise fortgeführt.«

»Das hat Siemens damals auch ganz schön zu schaffen gemacht«, bestätigte Moritz. »Und danach musste sich die Firma auf die neuen Regeln einstellen, die helfen sollten, die Krise in Deutschland zu überwinden – Schutzzölle auf ausländische Waren, künstlich hochgehaltene Preise, Steuerbefreiungen für die Industrie und erhöhte Lebenshaltungskosten für das einfache Volk … und natürlich das blödsinnige Geschrei und die Hetzereien gegen die Bankiers, die das alles nach sich zog – vor allem gegen die jüdischen Banken … also ich habe genügend jüdische Bankiers erlebt, die sich anständig verhalten haben.«

»Es haben sich aber einige bei der Krise bereichert«, warf Otto ein. »Haben Sie selbst erzählt, Papa.«

»Stimmt. Die meisten davon saßen in der Regierung und gingen am Sonntag brav in die Kirche statt am Samstag in den Tempel.«

»Und wer sich nicht durch die finanzpolitischen Maßnahmen bereichern oder wenigstens sein Fell retten konnte, fand andere Methoden«, sagte Edgar. »Im Dezember 1875 gab es einen Sprengstoffanschlag auf ein Auswandererschiff in Bremerhaven. Eine Bombe zündete frühzeitig auf dem Dock, noch während des Beladens. Es gab über achtzig Tote. Wäre die Bombe auf hoher See explodiert, wie vorgesehen, wäre das Schiff gesunken, und es hätte über vierhundert Tote gegeben. Das Motiv für den Anschlag: Versicherungsbetrug.«

Antonie von Briest schluckte. Moritz und die beiden Söhne starrten Edgar voller Horror an. Amalie hatte die Augen geschlossen.

»Ich bitte um Entschuldigung«, sagte Edgar. »Das zu erzählen ist taktlos. Ich habe mich hinreißen lassen.«

Moritz machte eine abwehrende Handbewegung. »Das war nicht der einzige Fall, oder?«

»Ich hab bei Römer, dann bei Caspari und später selbst einen Haufen Nachforschungen angestellt. Die Transatlantische Güterversicherungs-Gesellschaft, von der ich vorhin gesprochen habe, ist mein Hauptklient. 1877 kollidieren zwei Fracht- und Passagierschiffe im Ärmelkanal, die Avalanche und die Forest: hundertsechs Tote. Angeblich waren Navigationsfehler eines der beiden Kapitäne schuld, doch es war ein versuchter Versicherungsbetrug. 1879 sinkt die Passagierschiff Borussia im Nordatlantik: hundertneunundsechzig Tote. Zwei Monate später stürzt die Eisenbahnbrücke über den Firth of Tay in Schottland ein: siebzig Tote. 1881 brennen in Nizza, Prag und Wien Theater ab: über sechshundert Tote. 1882 entgleist die Breisachbahn in der Nähe von Freiburg: neunundsechzig Tote. 1883 sinkt das Passagierschiff Cimbria bei Borkum: vierhundertsiebenunddreißig Tote. 1887 sinkt die W. A. Scholten im Ärmelkanal: hundertzweiunddreißig Tote. 1889 …« Edgar unterbrach sich plötzlich. Er räusperte sich. »Ich glaube, das reicht. Es tut mir leid, dass ich so viel Tod und Verbrechen in euer Haus getragen habe.«

»Waren das alles Versicherungsbetrügereien?«, fragte Antonie fassungslos.

»Nicht immer nachweisbar. Und die Muster passen nicht ganz zusammen. Bei den Schiffskatastrophen lässt sich nachvollziehen, dass hoch versicherte Fracht an Bord war. Da sie in allen Fällen irgendwo auf dem Meeresgrund gelandet ist, kann keiner mehr sagen, ob sie überversichert war oder nicht. Aber ich nehme es an. Die drei Theaterbrände wurden angeblich durch unachtsamen Umgang mit Gaslaternen ausgelöst, aber ich glaube nicht daran – andererseits war in allen drei Häusern die Brandversicherung nicht höher als der Wert der Häuser, niemand hatte davon einen Gewinn. Und die Zugunglücke … die Breisachbahn, ein Jahr später eines in Steglitz, jetzt Münchenstein, dazu kommen drei weitere, die nur mit Glück oder durch die Umsicht des Bahnpersonals verhindert werden konnten, von beschädigten Schienen an gefährlichen Stellen bis zu defekten Bremssystemen … Jedenfalls kann ich derzeit bei diesen Vorfällen noch überhaupt keinen Nutznießer erkennen. Vielleicht ist es wirklich nur in allen Fällen Schlamperei oder einfach Pech gewesen. Aber …«

»… aber du hast meinen Vater gebeten, in der Schweiz die Augen und Ohren offen zu halten, wenn er schon dort war und sich mit der Bahn beschäftigte.«

»Richtig.« Edgar seufzte.

»Edgar – Paul und Louise wären auch dann in der Schweiz gewesen und hätten in diesem Zug gesessen, wenn du sie nicht um Hilfe gebeten hättest.«

»Danke, dass du das sagst, Moritz. Es tröstet mich nicht. Besonders nicht im Licht von Pauls letzter Nachricht.«

»Der Brief, von dem mein Schwiegervater geschrieben hat, ist nie bei Ihnen angekommen?«

»Nie«, bestätigte Edgar.

Da Moritz schwieg, sprach Antonie weiter. »Meine Schwiegereltern haben im Hotel Krafft in Basel logiert. In ihrem Zimmer wurde kein Brief an Sie gefunden, sonst hätten wir ihn schon längst an Sie weitergeleitet. Und was sie … was sie mit sich führten …« Sie unterbrach sich.

Edgar brauchte nicht weiterzufragen. Unwillkommene Bilder stiegen in ihm hoch. Er hatte gesehen, was von manchen seiner Kameraden in dem letzten Militärzug aus Frankreich übriggeblieben war. Er wollte sich nicht vorstellen, in welchem Zustand man die Leichen aus dem Zugunglück von Münchenstein gefunden hatte.

»Was immer Paul mir mitteilen wollte, es hat mich nicht erreicht«, sagte Edgar abschließend. »Daher muss ich die testamentarische Verfügung zurückweisen. Ich weiß nicht, auf welche Spur er mich bringen wollte.«

»Du hast vorhin gesagt, man hätte anfangs geglaubt, dass der Zug mit den Soldaten von Revanchisten gesprengt wurde«, sagte Moritz plötzlich. »Was war der wirkliche Grund? Versicherungsbetrug?«

Edgar holte Luft. »Es gab nie eine offizielle Version, dass es nicht Revanchisten gewesen sein könnten. Inoffiziell gab es eine Untersuchung, denn die französische Regierung versicherte hoch und heilig, dass keine der zu diesem Zeitpunkt noch bestehenden Revanchistengruppen den Anschlag verübt hätte. Alle seien froh gewesen, die verfluchten Deutschen aus dem Land zu haben, dabei wollte man sie nicht noch aufhalten. Es stellte sich heraus, dass ein Teil der Ladung, die zerstört wurde, hoch versichert war – sie gehörte einem zivilen Kriegsgewinnler.«

»Und diese Güter waren zufällig in dem Waggon, der gesprengt wurde!«, sagte Otto verächtlich.

»Nein, waren sie nicht. Aber da es sich um jede Menge Zerbrechliches aus Museen und Porzellanmanufakturen handelte, war trotzdem alles hin. Ein Verdacht blieb trotzdem, weil sich die meisten dieser Sachen nie auf dem freien Markt hätten verkaufen lassen. Die Franzosen hätten sie ersatzlos zurückfordern können. Die Versicherung jedoch musste bezahlen.«

»Wenn es Versicherungsbetrug war«, sagte Moritz und schaute nun betont auf Edgars Prothese, »hättest du ein ganz eigenes Interesse daran, Pauls Nachforschungen weiterzuführen. Ein Zug, ein möglicher Versicherungsbetrug, ein Zugunglück, viele Tote – und deine zerstörte Zukunft. Es ist von Anfang an dein persönlicher Fall. Wer immer es war, sie schulden dir Stunden voller Schmerz, deinen halben Arm und deine gesamten Träume.«

Antonie schnappte nach Luft. »Moritz!«, stieß sie hervor.

Edgar sagte und versuchte, seine Stimme gelassen klingen zu lassen: »In solchen Situationen erinnere ich mich, wie resolut deine Mutter sein konnte.«

»Hab ich recht oder hab ich recht?«, fragte Moritz.

»Moritz, warum bist du auf einmal so aggressiv?«, fragte Antonie.

»Weil ich möchte, dass Edgar die Verfügung annimmt und weiterforscht – Papa und Mama zuliebe. Mit dem Geld, das die beiden nicht angenommen haben. Und mit der Zusage aus dem Testament über die Verdoppelung des Spesenaufwands. Und …«, er zögerte kurz, »… mit meiner Zusage, dass ich alle Spesen bezahle, die anfallen, wenn das Honorar aufgebraucht ist. Edgar, ich beauftrage dich hiermit, im Namen meines Vaters und meiner Mutter herauszufinden, ob mit ihrem Tod nur ein Unglück oder ein Versicherungsbetrug in Verbindung zu bringen ist!«

Edgar schwieg. Seine Gedanken überschlugen sich. Er überlegte, ob er dieser Runde mitteilen sollte, worüber er sich Gedanken machte, seit der Notar Pauls Brief vorgelesen hatte. Aber das hätte geheißen, sie in seine Welt mitzunehmen – in die Welt von Täuschung, Verschleierung, Lüge und Gier. Und dort wollte er sie nicht haben. Es gab genügend Tage im Jahr, an denen er selbst nicht dort sein wollte.

Doch wenn er den Auftrag annahm, würde diese Familie, die ihm so teuer war wie die, die er nie selbst gehabt hatte, von all diesem Schmutz befleckt werden. Was sollte er tun? Das Schlimme war: Jedes einzelne von Moritz’ Worten war zutreffend gewesen.

»Setz einen Vertrag auf, ich komme morgen in deine Agentur nach Berlin und unterschreibe ihn«, sagte Moritz.

»Warum so eilig?«, fragte Edgar, um Zeit zu gewinnen.

»Weil ich möchte, dass du dich sofort um diese Sache kümmerst. Ich kann es nämlich nicht tun. Das ist das, was ich zu sagen angekündigt habe, als ich dich begrüßt habe. Wir alle werden – mit Ausnahme Ottos, der sein Ingenieurstudium an der Technischen Hochschule beendet und für den gesorgt ist – demnächst nach Amerika gehen. Ich übernehme die neue Elektromotorenfabrik von Siemens in Chicago.«

»Wir tun was?«, fuhr Levin auf, während Otto und Amalie überrascht dasaßen und die Köpfe schüttelten. »Ich hab keine Lust, nach Amerika zu gehen. Da leben nur Wilde.«

»Dann passen wir ja dazu«, sagte Moritz mit einem schiefen Lächeln.

In Edgar erwachte die Berufskrankheit von neuem und versorgte ihn mit unwillkommenen Beobachtungen: dass Levin von Briest seinen Eltern noch Probleme bereiten würde, wenn er mit nach Chicago ging; dass Otto sich plötzlich von der Familie ausgeschlossen fühlte; dass Amalie Angst vor der Umsiedlung hatte – und dass Antonie von Briest, Moritz’ Frau, nur deshalb mitging, weil die gesellschaftlichen Konventionen ihr keine Wahl ließen. Die Briests waren eine Familie, die ihren inneren Zusammenhalt verloren hatte.

7

Einige Tage später waren die Briests in Werder, einem Berliner Ausflugsort an der Havel. Es war der 27. September 1891, ein Sonntag. An diesem Tag änderte sich Levin von Briests Leben für immer.

An diesem Tag sah er einen fliegenden Mann.

Der Tag begann mit einem Besuch bei Georg Wilhelm von Siemens. Moritz nahm Antonie, Levin und Amalie zu diesem Besuch mit. Otto war von der kurzen Reise nach Werder ausgenommen geblieben, worüber Levins großer Bruder nicht unglücklich gewesen war. Levin beneidete ihn glühend. Er hatte keine Lust, zu einem von seines Vaters Arbeitstreffen mit seinen Chefs mitgeschleift zu werden, noch dazu an einem warmen, sonnigen Herbstsonntag wie diesem. Aber Moritz hatte keine Widerrede geduldet. Natürlich war Levin klar, weshalb er, Amalie und ihre Mutter mitgenommen wurden – Moritz’ oberster Chef sollte die Familie des Mannes kennenlernen, dem er in ein paar Monaten den Bau und die Leitung seines ersten Werks in Amerika anvertrauen würde. Er wusste, wie wichtig es war, dass die Firmenleitung – die Brüder Arnold und Georg Wilhelm von Siemens und deren Onkel Carl von Siemens – einen guten Eindruck bekamen, deswegen machte er gute Miene und versuchte, sich so ordentlich zu benehmen, wie er es als kleiner Junge gelernt hatte.

Die Familie von Siemens besaß ein Sommerhaus in Werder mit allem Komfort. Arnold und Georg Wilhelm von Siemens begrüßten sie freundlich, doch Levin kam es so vor, als habe zumindest Georg Wilhelm, der jüngere der beiden Brüder, Vorbehalte. Besonders als er Antonie die Hand gab und sich darüber verbeugte, einen Handkuss andeutend, schien er steifer als sein Bruder. Die Gespräche drehten sich um die geplanten Geschäftspartner, mit denen die neu zu gründende Siemens & Halske Electric Company of America zusammenarbeiten würde. Levin verstand, dass Arnold von Siemens der Unternehmensleiter der ausländischen Siemens-Gesellschaften war und damit der eigentliche Chef seines Vaters, und dass Arnold kurz vor der Abreise nach Amerika stand, um dort die endgültigen Möglichkeiten auszuloten, wie sich die Geschäfte des Unternehmens nach Übersee ausdehnen ließen, und die nötigen Geschäftspartnerverträge zu unterzeichnen.