Der Junge, der seinem Vater nach Auschwitz folgte - Jeremy Dronfield - E-Book
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Der Junge, der seinem Vater nach Auschwitz folgte E-Book

Jeremy Dronfield

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Beschreibung

Der SPIEGEL-Bestseller über die unglaubliche Geschichte von Gustav und Fritz Kleinmann während der Shoah Fritz Kleinmann fasst einen unglaublichen Beschluss. Da er seinen Vater nicht allein lassen will, folgt er ihm nach Auschwitz. Jeremy Dronfields Bestseller "Der Junge, der seinem Vater nach Auschwitz folgte" ist ein eindringliches Plädoyer gegen das Vergessen. Basierend auf den geheimen Tagebüchern des jüdischen KZ-Häftlings Gustav Kleinmann, erzählt der Autor in diesem historischen Sachbuch die Geschichte von Gustav und seinem Sohn Fritz, die den "Todesfabriken" der Nazis entkamen. Eine Geschichte von unermesslicher Grausamkeit, doch auch von Menschlichkeit, Mut und Hoffnung. 1939 werden Gustav Kleinmann, ein jüdischer Polsterer aus Wien, und sein sechzehnjähriger Sohn Fritz mit hunderten anderen jüdischen Männern von der SS festgenommen. Aus dem Kreis ihrer Familie gerissen, werden die beiden zunächst nach Deutschland deportiert. Im KZ Buchenwald zur Zwangsarbeit im Steinbruch eingeteilt, gehören sie zu den Häftlingen, die das Lager überhaupt erst mit aufbauen. Nach einiger Zeit wird Gustav – schwer gezeichnet von den unmenschlichen Zuständen – für die Deportation nach Auschwitz selektiert. Doch für Sohn Fritz ist der Gedanke, von seinem Vater getrennt zu werden, unerträglich. Trotz seines Wissens darum, dass niemand aus Auschwitz zurückkehrt, erklärt sich Fritz freiwillig bereit, seinen Vater zu begleiten. So beginnt für die beiden ein Leidensweg, der noch brutaler, noch hoffnungsloser ist, als alles, was sie bis dahin erlebt haben – und den Vater und Sohn doch gemeinsam überstehen. »Die Geschichte, die in "Der Junge, der seinem Vater nach Auschwitz folgte" erzählt wird, ist einzigartig; sie gleicht einem Wunder.« The Times »Umso erschütternder, da eine ganz und gar wahre Geschichte. Dieses Buch erscheint zur rechten Zeit und verdient die größtmögliche Leserschaft.« Daily Express

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Seitenzahl: 574

Veröffentlichungsjahr: 2019

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Jeremy Dronfield

Der Junge, der seinem Vater nach Auschwitz folgte

Eine wahre Geschichte

Aus dem Englischen von Ulrike Strerath-Bolz

Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG.

Über dieses Buch

1939 werden der jüdische Polsterer Gustav Kleinmann und sein sechzehnjähriger Sohn Fritz in das KZ Buchenwald deportiert und dort zur Zwangsarbeit im Steinbruch eingeteilt. Nach einiger Zeit wird Gustav für den Transport nach Auschwitz selektiert. Doch Fritz lässt seinen Vater nicht im Stich: Trotz des Wissens, dass keiner aus dem Todeslager zurückkehrt, erklärt er sich freiwillig bereit, Gustav zu begleiten. So beginnt für die beiden ein Leidensweg, der noch brutaler, noch hoffnungsloser ist, als alles, was sie bis dahin erlebt haben – und den Vater und Sohn doch gemeinsam überstehen.

Inhaltsübersicht

Widmung

Motto

Vorbemerkung

Vorwort von Kurt Kleinmann

Prolog

Teil 1 Wien

1 »Wenn’s Judenblut vom Messer spritzt …«

2 Volksverräter

Teil 2 Buchenwald

3 Blut und Steine: Konzentrationslager Buchenwald

4 Der Steinbrecher

5 Der Weg ins Leben

6 Eine günstige Entscheidung

7 In der Neuen Welt

8 Unwertes Leben

9 Tausend Küsse

10 Himmelfahrtskommando

Teil 3 Auschwitz

11 Eine Stadt namens Oświęcim

12 Auschwitz-Monowitz

13 Das Ende des Juden Gustav Kleinmann

14 Widerstand und Kollaboration: der Tod von Fritz Kleinmann

15 Unerwartete Menschlichkeit

16 Fern von der Heimat

17 Widerstand und Verrat

Teil 4 Überleben

18 Der Todeszug

19 Mauthausen

20 Das Ende aller Tage

21 Der lange Weg nach Hause

Epilog

Dank

Glossar

Bibliografie und Quellen

Interviews des Autors

Interviews aus Archiven

Archive und unveröffentlichte Quellen

Bücher, Artikel und Aufsätze

Für Kurt

und in Erinnerung an

Gustav

Tini

Edith

Herta

Fritz

Der Zeuge zwingt sich, Zeugnis abzulegen.

Für die Jugend von heute, für die Kinder,

die morgen geboren werden.

Er will nicht, dass seine Vergangenheit

zu ihrer Zukunft wird.

 

Elie Wiesel

(aus dem Vorwort einer englischen Übersetzung von Die Nacht)

Vorbemerkung

Dies ist eine wahre Geschichte. Die Personen und Ereignisse, jede Wendung und jeder noch so unglaubliche Zufall sind historischen Quellen entnommen. Man wünschte, die Geschichte wäre nicht wahr, wäre nie geschehen, viel zu schrecklich und schmerzhaft sind die geschilderten Erlebnisse. Aber sie ist geschehen, und die Überlebenden erinnern sich noch.

Es gibt viele Holocaust-Geschichten, doch keine ist so wie diese. Die Geschichte von Gustav und Fritz Kleinmann, Vater und Sohn, enthält Elemente anderer Schicksale, und doch ist sie ganz anders. Nur wenige Juden erlebten die Konzentrationslager der Nazis von den ersten Massenverhaftungen Ende der Dreißigerjahre durch die Jahre der sogenannten Endlösung bis zur Befreiung. Und ich kenne keinen Fall, wo Vater und Sohn das gesamte Inferno zusammen durchlebt haben, vom Anfang bis zum Ende, vom Leben unter der Naziherrschaft über die Haft in Buchenwald und Auschwitz, den Widerstand der Häftlinge gegen die SS, die Todesmärsche, schließlich Mauthausen, Mittelbau-Dora und Bergen-Belsen. Nur ganz wenige haben all das überlebt. Glück und Mut spielten eine Rolle dabei, aber was Gustav und Fritz letztlich am Leben gehalten hat, war ihre Liebe zueinander und ihre Hingabe. »Der Junge ist meine größte Freude«, schrieb Gustav in sein geheimes Buchenwald-Tagebuch. »Wir geben einander Kraft. Wir sind eins, sind untrennbar.« Ihre enge Verbindung wurde ein Jahr später auf eine harte Probe gestellt, als Gustav nach Auschwitz deportiert wurde – was einem Todesurteil gleichkam – und Fritz beschloss, seine eigene Sicherheit hintanzustellen und ihn zu begleiten.

Ich habe ihre Geschichte mit viel Herzblut zum Leben erweckt. Sie liest sich wie ein Roman, denn ich bin ebenso sehr Geschichtenerzähler wie Historiker. Doch es war nicht nötig, etwas dazuzuerfinden oder auszuschmücken, selbst die Dialogfragmente sind den Primärquellen entnommen oder daraus rekonstruiert. Die Grundlage bildet das Lagertagebuch, das Gustav Kleinmann von Oktober 1939 bis Juli 1945 führte, ergänzt durch Aufzeichnungen von Fritz und ein Interview mit ihm aus dem Jahr 1997. Keine dieser Quellen ist leichte Kost, weder emotional noch sprachlich. Das Tagebuch, das unter extremen Bedingungen entstand, ist skizzenhaft und voller kryptischer Anspielungen, die dem normalen Leser nichts sagen. Selbst Holocaust-Spezialisten mussten für manche Passagen ihre Referenzwerke zurate ziehen. Gustav schrieb es nicht, um einen Bericht zu verfassen, sondern um sich selbst bei Verstand zu halten. Für ihn waren die Anspielungen damals vollkommen klar. Einmal erschlossen, gewährt diese Quelle einen detailreichen, erschütternden Einblick in das Leben unter den Bedingungen des Holocaust, Woche für Woche, Monat für Monat und Jahr für Jahr. Und sie legt Zeugnis von Gustavs unverwüstlicher Kraft und seinem Optimismus ab: »Jeden Tag spreche ich leise dieses Gebet«, schreibt er im sechsten Jahr seiner Lagerhaft. »Nicht verzweifeln, Zähne zusammenbeißen, die Mörder der SS dürfen nicht siegen.«

Gespräche mit überlebenden Mitgliedern der Familie haben zusätzliche persönliche Details beigesteuert. Den Hintergrund bilden ausgiebige Recherchen in Dokumenten über das Leben im Wien der Dreißigerjahre, die Konzentrationslager und die Personen, die in dieser Geschichte eine Rolle spielen. Diese Dokumente umfassen Aufzeichnungen von Überlebenden, Lagerakten und andere offizielle Schriftstücke. Sie belegen, dass diese Geschichte wahr ist, in ihrem gesamten Verlauf und Schritt für Schritt, selbst dort, wo sie völlig abwegig erscheint und ganz und gar unglaublich klingt.

 

Jeremy Dronfield, März 2018

Vorwort von Kurt Kleinmann

Liebe Leserin, lieber Leser,

seit den schrecklichen Tagen, die in diesem Buch beschrieben werden, sind bereits mehr als siebzig Jahre vergangen. Die Geschichte meiner Familie, ihres Überlebens, ihres Sterbens und ihrer Rettung steht für alle Menschen, die in jener Zeit inhaftiert waren, Familienmitglieder verloren oder das Glück hatten, dem Naziregime zu entkommen. Sie steht für alle, die während jener Tage gelitten haben, und darf deshalb niemals vergessen werden.

Die Erfahrungen meines Vaters und meines Bruders über sechs Jahre in fünf verschiedenen Konzentrationslagern geben ein lebendiges Zeugnis von den Ereignissen und Tatsachen des Holocaust. Ihr Überlebenswille, die enge Bindung zwischen Vater und Sohn, ihr Mut, aber auch ihr Glück liegen jenseits aller heutigen Vorstellungskraft, doch sie waren es, die die beiden während aller Qualen am Leben hielten.

Meine Mutter erkannte sofort die Gefahr, in der wir uns befanden, als Hitler Österreich annektierte. Sie ermutigte meine älteste Schwester, nach England zu fliehen, und half ihr 1939 bei der Flucht. Ich lebte für drei Jahre in Wien unter dem Naziregime, bis meine Mutter im Februar 1941 meine Ausreise in die USA ermöglichte. Das rettete mir nicht nur das Leben, sondern gab mir auch ein neues Zuhause, inmitten einer liebevollen Familie, die mich als einen der Ihren aufnahm. Meine Schwester hatte dieses Glück nicht. Sowohl sie als auch meine Mutter wurden eines Tages verhaftet und gemeinsam mit Tausenden anderen Juden in ein Vernichtungslager bei Minsk deportiert. Seit Jahrzehnten weiß ich, dass sie dort getötet wurden, ich habe sogar den abgelegenen Ort besucht, an dem es passierte, und dennoch war ich tief berührt, ja am Boden zerstört, als ich in diesem Buch zum ersten Mal las, was genau sich dort abspielte.

Dass mein Vater und mein Bruder ihre Qualen überstanden, ist auf wunderbare Weise in diesem Buch dargestellt. Ich traf sie wieder, als ich 1953 während des Militärdienstes nach Wien zurückkehrte, fünfzehn Jahre nach meiner Abreise. In den darauffolgenden Jahren fuhr meine Frau Diane mit mir viele Male nach Wien, gemeinsam mit unseren Söhnen, die ihren Großvater und Onkel dort trafen. Es hatte eine enge familiäre Beziehung bestanden, die die Trennung und den Holocaust überlebte und bis heute fortbesteht. Deshalb leide ich unter keinem Trauma oder hege gegenüber Wien und Österreich feindselige Gefühle. Dennoch heißt das nicht, dass ich vollständig verzeihen oder Österreichs Geschichte vergessen kann. 1966 besuchten mein Vater und meine Stiefmutter mich in den USA. Abgesehen davon, dass wir ihnen unsere wunderbare neue Heimat zeigten, hatten sie so die Möglichkeit, meine Pflegefamilie in Massachusetts kennenzulernen. Dieses Treffen voller Dankbarkeit und Freude brachte all jene zusammen, die mir am Herzen liegen und denen ich meine Existenz und mein Überleben zu verdanken habe.

Der Junge, der seinem Vater nach Auschwitz folgte ist die einfühlsame, lebhafte und zugleich bewegende und gut recherchierte Geschichte meiner Familie. Es fällt mir fast schwer, meine Dankbarkeit gegenüber Jeremy Dronfield in Worte zu fassen, dafür, dass er alle Teile zusammengefügt und dieses Buch geschrieben hat. In wunderschöner Sprache verwebt es meine Erinnerungen und die meiner Schwester mit der Geschichte meines Vaters und Bruders in den Konzentrationslagern. Ich bin dankbar und weiß zu schätzen, dass die Geschichte meiner Familie während des Holocaust nun breite Aufmerksamkeit erfährt und nicht vergessen werden wird.

 

Kurt Kleinmann, August 2018

Prolog

Österreich, Januar 1945

Fritz Kleinmann nahm die Bewegungen des Zuges mit dem gesamten Körper auf. Er zitterte im eisigen Wind, der über die Seitenwände des offenen Güterwaggons pfiff. Neben ihm, zusammengekauert, döste sein erschöpfter Vater. Um die beiden herum schattenhafte Gestalten. Das Mondlicht hob die hellen Streifen ihrer Häftlingskleidung und die Gesichtsknochen hervor. Es wurde Zeit, dass Fritz flüchtete, sonst war es zu spät.

Seit acht Tagen waren sie jetzt unterwegs von Auschwitz. Die ersten sechzig Kilometer waren sie zu Fuß gegangen; die SS-Leute hatten Tausende Häftlinge durch den Schnee nach Westen getrieben, auf der Flucht vor der vorrückenden Roten Armee. Gelegentlich waren aus dem hinteren Teil der Kolonne Schüsse zu hören gewesen, wo diejenigen, die nicht mithalten konnten, ermordet wurden. Niemand blickte zurück.

Dann hatte man sie in Züge verladen, die sie in Lager im Inneren des Reichs bringen sollten. Sie hatten es geschafft, zusammenzubleiben. Wie immer. Ihr Ziel war Mauthausen in Österreich, wo die SS-Leute die letzten Reste von Arbeitskraft aus ihnen herauspressen wollten, bevor sie sie in den Tod schickten. Einhundertvierzig Männer in jedem offenen Güterwaggon. Am Anfang hatten sie stehen müssen, aber nach ein paar Tagen waren so viele von ihnen vor Kälte gestorben, dass man sich setzen konnte. Die Leichen wurden am Ende des Waggons aufgestapelt, ihre Kleidung wurde verteilt, um die Lebenden zu wärmen.

Sie standen an der Schwelle des Todes, und doch gehörten sie zu den Glücklichen, denn sie waren immer noch als Arbeitskräfte einsetzbar. Die meisten ihrer Brüder und Schwestern, Ehefrauen, Mütter und Kinder waren längst ermordet worden oder starben auf den Todesmärschen gen Westen.

Fritz war noch ein Junge gewesen, als der Albtraum vor sieben Jahren begonnen hatte. In den Lagern der Nazis war er zum Mann herangewachsen, hatte gelernt, war gereift und hatte dem Druck widerstanden, die Hoffnung aufzugeben. Er hatte diesen Tag vorhergesehen und sich darauf vorbereitet. Unter ihrer Lagerkleidung trugen er und Papa Zivilkleidung, die er von Freunden aus den Widerstandsgruppen in Auschwitz bekommen hatte.

Der Zug war durch Wien durchgefahren, die Stadt, die einmal ihr Zuhause gewesen war. Dann ging die Fahrt weiter nach Westen, jetzt waren sie nur noch fünfzehn Kilometer von ihrem Ziel entfernt. Sie waren wieder in ihrer Heimat, und wenn ihre Flucht gelang, konnten sie als einheimische Arbeiter durchgehen. Jetzt oder nie!

Nur aus Sorge um seinen Vater hatte Fritz die Entscheidung hinausgeschoben. Gustav war dreiundfünfzig Jahre alt und erschöpft – ein Wunder, dass er überlebt hatte. Und jetzt konnte er nicht versuchen zu fliehen. Seine Stärke war dahin. Doch er wollte seinem Sohn nicht die Chance verbauen zu überleben. Der Schmerz, sich nach so vielen Jahren der gegenseitigen Hilfe und Unterstützung zu trennen, würde entsetzlich sein, aber er drängte Fritz, es allein zu versuchen. Fritz flehte ihn an mitzukommen, vergeblich. »Gott schütze dich«, sagte sein Vater. »Ich schaffe es nicht, ich bin zu schwach.«

Wenn Fritz es nicht bald versuchte, wäre es zu spät. Er stand auf, zog die verhasste Häftlingskleidung aus, umarmte und küsste seinen Papa und kletterte mit seiner Hilfe die eisglatte Seitenwand des Waggons hinauf.

Der Wind und die Kälte von minus zwanzig Grad trafen ihn mit voller Wucht. Vorsichtig schaute er zu den Bremserhäuschen der anderen Waggons, in denen bewaffnete SS-Wachen saßen. Der Mond schien hell, zwei Tage vor Vollmond, und tauchte die verschneite Landschaft in einen geisterhaften Schimmer. Er würde viel zu gut zu sehen sein.1 Der Zug donnerte mit Höchstgeschwindigkeit dahin. Fritz nahm all seinen Mut und seine Hoffnung zusammen und sprang in die eiskalte, windige Nacht.

Teil 1

Wien

Sieben Jahre zuvor

1 »Wenn’s Judenblut vom Messer spritzt …«

 

אבא

Gustav Kleinmanns schlanke Finger schoben den Stoff unter den Nähfuß, die Nadel ratterte und führte den Faden in einem langen, perfekten Bogen. Neben dem Arbeitstisch stand der Sessel, für den der Stoff bestimmt war, ein Skelett aus Buchenholz mit fester Verspannung und einem Polster aus Rosshaar. Als der Bezug fertig war, legte ihn Gustav über die Armlehne und nagelte ihn mit seinem kleinen Hammer fest: einfache Nägel für die Innenseite, Ziernägel mit runden Messingköpfen für außen, eng beieinander wie kleine Soldatenhelme. Tap-tapatap.

Es war gut, arbeiten zu können. Sein Verdienst reichte nicht immer für einen Mann mittleren Alters mit Ehefrau und vier Kindern. Gustav war ein begabter Handwerker, aber kein besonders gewiefter Geschäftsmann. Doch irgendwie waren sie immer über die Runden gekommen. Er war in einem kleinen Dorf an einem See in Galizien geboren, das zu jener Zeit zu Österreich gehörte (heute ist es auf Polen und die Ukraine aufgeteilt). Mit fünfzehn war er nach Wien gekommen, um eine Ausbildung als Polsterer zu machen, und hatte sich dort niedergelassen. Mit einundzwanzig war er zum Militär eingezogen worden, hatte im Weltkrieg gedient, war zweimal verwundet worden und hatte einen Tapferkeitsorden bekommen. Nach Kriegsende war er nach Wien zurückgekehrt, hatte sein bescheidenes Handwerk wieder aufgenommen und die Meisterprüfung gemacht. Seine Freundin Tini hatte er noch während des Krieges geheiratet, und gemeinsam hatten sie vier gute, fröhliche Kinder. So sah sein Leben aus: bescheiden, arbeitsam und wenn nicht rundum zufrieden, so doch meistens gut gelaunt.

Flugzeugdröhnen unterbrach seine Gedanken. Es schwoll an und ab, als würden die Maschinen über der Stadt kreisen. Neugierig geworden, legte Gustav sein Werkzeug hin und trat auf die Straße.

»Im Werd« war eine geschäftige Straße, in der ständig das Klappern von Pferdehufen und das Rumpeln von Wagenrädern zu hören waren. Es roch nach vielen Menschen, Rauch und Pferdeäpfeln. Einen verwirrenden Moment lang dachte Gustav, es würde schneien – im März! –, aber dann sah er, dass Papier vom Himmel regnete und sich auf dem Kopfsteinpflaster und den Ständen des Karmelitermarktes niederließ. Er hob ein Blatt auf.

Volk von Österreich!

 

Zum ersten Mal in der Geschichte unseres Vaterlandes verlangt die Führung des Staates ein offenes Bekenntnis zur Heimat …2

Es ging um die Abstimmung an diesem Sonntag. Im ganzen Land redete man darüber, die gesamte Welt schaute auf Österreich. Es ging um viel, aber für Gustav, der Jude war, ging es um alles. Eine Volksabstimmung über die Frage, ob Österreich unabhängig bleiben sollte von der deutschen Tyrannei.

Seit fünf Jahren blickte das nationalsozialistische Deutschland gierig auf den österreichischen Nachbarn. Adolf Hitler, selbst gebürtiger Österreicher, war geradezu besessen von der Idee, sein Heimatland dem Deutschen Reich anzuschließen. Es gab durchaus österreichische Nazis, die diese Vereinigung eifrig unterstützten, aber die meisten Österreicher waren dagegen. Bundeskanzler Kurt Schuschnigg stand unter starkem Druck, Mitglieder der nationalsozialistischen Partei in seine Regierung aufzunehmen. Hitler drohte mit heftigen Konsequenzen, wenn dies nicht geschah: Man werde Schuschnigg stürzen und durch einen Marionettenkanzler ersetzen, das Land ans Deutsche Reich anschließen und schlucken. Bei den hundertdreiundachtzigtausend österreichischen Juden löste diese Vorstellung Entsetzen aus.3

Die Welt beobachtete den Ausgang der Abstimmung mit regem Interesse. In einem letzten verzweifelten Akt hatte Schuschnigg sie angesetzt, um den Österreichern selbst die Entscheidung zu überlassen, ob sie die Unabhängigkeit behalten wollten. Ein mutiger Schachzug: Schuschniggs Vorgänger war bei einem fehlgeschlagenen nationalsozialistischen Staatsstreich ermordet worden, und Hitler versuchte alles, um die Volksbefragung zu verhindern. Sie war für Sonntag, den 13. März 1938 angesetzt.

Nationalistische Parolen wie »Ja zur Unabhängigkeit!« waren an allen Wänden und auf dem Straßenpflaster zu sehen. Und heute, zwei Tage vor der Abstimmung, ließen Flugzeuge Schuschniggs Propaganda vom Himmel regnen. Gustav las weiter.

Für ein freies und deutsches, unabhängiges und soziales, für ein christliches und einiges Österreich! Für Friede und Arbeit und die Gleichberechtigung aller, die sich zu Volk und Vaterland bekennen.

… die Welt soll unseren Lebenswillen sehen; darum, Volk von Österreich, stehe auf wie ein Mann und stimme mit Ja!4

Für Juden enthielten diese eindringlichen Worte eine gemischte Botschaft. Sie hatten ihre eigenen Vorstellungen vom Deutschsein. Gustav war sehr stolz darauf, seinem Land im Weltkrieg gedient zu haben, er fühlte sich in erster Linie als Österreicher und erst dann als Jude.5 Doch in Schuschniggs germanisch-christlichem Ideal kam er nicht vor. Auch Schuschniggs austrofaschistische Regierung betrachtete er mit Zurückhaltung. Er war Mitglied der Sozialdemokraten gewesen, die seit dem Aufstieg der Austrofaschisten 1934 ebenso unterdrückt und illegalisiert worden waren wie die Nationalsozialistische Partei.

Doch für die österreichischen Juden war im Moment alles besser als die offene Verfolgung, wie sie in Deutschland vor sich ging. Die jüdische Zeitung Die Stimme schrieb in ihrer aktuellen Ausgabe: »Wir unterstützen Österreich! Alle zu den Wahlurnen!«6 Und auch die orthodoxe Zeitung Jüdische Presse schrieb: »Niemand muss die österreichischen Juden eigens auffordern, abzustimmen. Sie wissen, was dies bedeutet. Jeder muss seine Pflicht erfüllen!«7

Über geheime Kanäle hatte Hitler Schuschnigg gedroht, Deutschland würde Maßnahmen ergreifen, um die Abstimmung zu verhindern, wenn er sie nicht absagte. Und tatsächlich wurden in diesem Augenblick, als Gustav auf der Straße stand und das Flugblatt las, deutsche Truppen an der Grenze zusammengezogen.

 

אמא

Tini Kleinmann warf noch einen Blick in den Spiegel, strich ihren Mantel glatt, nahm ihre Einkaufstasche und ihren Geldbeutel und verließ die Wohnung. Ihre kleinen Absätze klackten auf den Stufen, dass es im Treppenhaus hallte. Als sie auf die Straße trat, sah sie Gustav vor seiner Werkstatt, die im Erdgeschoss des Hauses lag. Er hielt ein Flugblatt in der Hand, die ganze Straße war voll davon, sie hingen in den Bäumen, lagen auf den Dächern, überall. Als sie einen Blick darauf warf, schauderte sie. Tini hatte böse Vorahnungen, die der stets optimistische Gustav nicht teilte. Er war nicht besonders religiös, doch er rechnete immer mit einem guten Ausgang. Das war seine Stärke und Schwäche zugleich.

Mit raschen Schritten ging Tini über das Kopfsteinpflaster zum Markt. Viele Händler waren Bauern, die am Morgen in die Stadt kamen, um ihre Waren zu verkaufen, aber es gab auch Wiener Händler, etliche davon Juden. Mehr als die Hälfte der Geschäfte in der Stadt waren in jüdischem Besitz, gerade auch in dieser Gegend. Die Nazis betonten das immer wieder, um den Antisemitismus der Arbeiter zu schüren, die unter der Wirtschaftskrise litten – als würden die Juden nicht selbst darunter leiden.

Tini Kleinmann, um 1939

© Kurt Kleinmann

Gustav und Tini waren beide nicht sehr religiös. Ein paarmal im Jahr, zu hohen Fest- und Feiertagen, gingen sie in die Synagoge, aber ihre Kinder trugen deutsche Namen, wie es bei den meisten jüdischen Familien in Wien der Fall war. Trotzdem folgten sie den alten Bräuchen wie alle anderen. Tini kaufte beim Metzger Zeisel dünn geschnittene Kalbsschnitzel, aus denen sie Wiener Schnitzel machen würde. Die Abendsuppe am Sabbat würde sie mit Resten von Hühnerfleisch zubereiten. Sie kaufte frische Kartoffeln und Salat, Brot, Mehl, Eier, Butter … Auf ihrem Weg durch den geschäftigen Karmelitermarkt wurde ihre Tasche immer schwerer. An der Ecke zur Leopoldsgasse, der Hauptstraße, fielen ihr arbeitslose Putzfrauen ins Auge, die eine Anstellung suchten. Sie standen vor der Pension Klabouch und dem Kaffeehaus. Wenn sie Glück hatten, kamen wohlhabende Frauen aus den umliegenden Straßen vorbei und nahmen sie mit. Wer den Eimer mit Seifenwasser selbst mitbrachte, bekam einen Schilling Lohn, was einer heutigen Kaufkraft von zwei bis drei Euro entspricht. Tini und Gustav hatten manchmal Mühe, über die Runden zu kommen, aber so tief waren sie zum Glück noch nicht gesunken.

Überall las man die Pro-Unabhängigkeit-Slogans. Sie waren in großen Lettern aufs Straßenpflaster gemalt – »Wir sagen Ja!« Und überall sah man das Kruckenkreuz-Zeichen der Austrofaschisten. Aus offenen Fenstern ertönte laut patriotische Radiomusik. Tini beobachtete einen Lastwagenkonvoi mit uniformierten Jugendlichen, die rot-weiße Flaggen wehen ließen und noch mehr Flugblätter verteilten.8 Ein paar Zuschauer jubelten ihnen zu, begrüßten sie mit flatternden Taschentüchern, warfen die Hüte in die Luft und riefen: »Österreich! Österreich!«

Es sah ganz so aus, als würde die Unabhängigkeit siegen … solange man die grimmigen Gesichter in der Menge nicht beachtete. Die Sympathisanten der Nazis waren heute sehr still. Und ihre Zahl war klein – sehr seltsam.

Plötzlich verstummte die fröhliche Musik, und aus den Radios ertönte eine dringliche Ankündigung: Alle unverheirateten Reservisten wurden sofort zum Dienst einberufen. Der Grund, so der Sprecher, sei die Sicherung der Abstimmung am Sonntag, aber sein Ton verhieß nichts Gutes. Wofür brauchte man denn da zusätzliche Soldaten?

Tini wandte sich ab und ging durch den geschäftigen Markt nach Hause.

Was auch immer in der Welt passierte, wie nah die Gefahr auch sein mochte, das Leben ging weiter. Was konnte man denn sonst tun als weiterleben?

 

ןב

In der ganzen Stadt lagen die Flugblätter: im Wasser des Donaukanals, in den Parks und Straßen. Am späten Nachmittag, als Fritz Kleinmann von der Handelsschule an der Hütteldorfer Straße im Westen der Stadt kam, lagen sie auch dort auf dem Pflaster und hingen in den Bäumen. Eine Lastwagenkolonne nach der anderen, voll mit Soldaten, dröhnte die Straße entlang in Richtung der zweihundert Kilometer entfernten Grenze. Aufgeregt, wie Jungs eben sind, beobachteten Fritz und die anderen Jungen die Reihen von bewaffneten Männern mit Helmen.

Fritz war vierzehn Jahre alt und sah seinem Vater sehr ähnlich – dieselben Wangenknochen, dieselbe Nase, derselbe Mund mit vollen, geschwungenen Lippen. Aber während Gustav eher einen sanften Eindruck machte, wirkten Fritz’ große, dunkle Augen eindringlich wie die seiner Mutter. Er war von der Oberschule abgegangen und lernte seit sechs Monaten das Handwerk seines Vaters.

Auf dem Heimweg durch die Stadtmitte spürten er und seine Freunde den Stimmungswechsel in den Straßen. Um drei Uhr am Nachmittag verstummte die Propaganda der Regierung für die Volksabstimmung. Es gab keine offiziellen Nachrichten mehr, nur noch Gerüchte von Kämpfen an der deutsch-österreichischen Grenze, von Naziaufständen in den Provinzstädten und – besonders beunruhigend – dass die Wiener Polizei sich im Fall einer Konfrontation den Nazis anschließen würde. Gruppen von begeisterten Männern liefen jetzt durch die Straßen, manche riefen »Heil Hitler!«, während andere trotzig mit »Heil Schuschnigg!« antworteten. Doch die Nazis waren lauter, wurden mutiger, die meisten jung, ohne Lebenserfahrung und vollgepumpt mit ideologischem Gedankengut.9

So ging es schon seit Tagen, und es hatte sogar gelegentliche Übergriffe gegen Juden gegeben,10 aber heute fühlte es sich anders an.

Als Fritz zum Stephansplatz kam, wo die Wiener Nazis mitten in der Stadt ihr geheimes Hauptquartier unterhielten, wimmelte es vor dem Dom von herumbrüllenden, grölenden Menschen. Hier hieß es nur noch »Heil Hitler«, ohne dass sich Widerstand regte.11 Polizisten standen in der Nähe, beobachteten das Ganze, redeten miteinander, unternahmen aber nichts. Auch die geheimen Mitglieder der österreichischen SA standen beobachtend am Rand, ohne sich zu erkennen zu geben. Diszipliniert hielten sie sich an ihre Befehle – noch war ihre Zeit nicht gekommen.

Fritz vermied die Begegnung mit den Demonstranten, überquerte den Donaukanal und ging in die Leopoldstadt, wo er bald die Nummer 16 erreichte und die Treppe hinaufpolterte. Zuhause, Wärme, Familie.

 

החפשמ

Der kleine Kurt stand auf einem Hocker in der Küche und sah seiner Mutter zu, die den Pfannkuchenteig für die Hühnersuppe vorbereitete, das traditionelle Essen am Freitagabend. Es war eine der wenigen Traditionen, die die Familie einhielt. Tini zündete keine Kerzen an und sprach auch nicht den Segen. Kurt war da anders. Er war erst acht Jahre alt, aber er sang schon im Chor der Synagoge und war ziemlich fromm. Er hatte sich mit einer orthodoxen Nachbarsfamilie angefreundet, und dort schaltete er am Sabbatabend das Licht an.

Er war der Jüngste, das geliebte Nesthäkchen. Die Kleinmanns waren alle eng verbunden, aber Kurt war Tinis Liebling. Und er half ihr gern beim Kochen.

Kurt, um 1937

© Peter Kleinmann

Während die Suppe köchelte, beobachtete er mit offenem Mund, wie sie den Eierteig schlug und die dünnen Pfannkuchen briet. Das war eine seiner Lieblingsbeschäftigungen, aber am allerliebsten half er beim Braten der Wiener Schnitzel. Seine Mutter klopfte das Kalbfleisch mit dem Fleischklopfer, bis es so dünn und weich wie Samt war. Dann durfte er es dünn mit Mehl bestreuen, in Ei und Milch wälzen und panieren. Immer zwei Scheiben wurden in die Pfanne mit dem siedenden Butterfett gelegt, bis der Duft die ganze kleine Wohnung erfüllte und die Schnitzel aufgingen und goldbraun wurden. Heute Abend jedoch duftete es nach gebratenen Pfannkuchen und Hühnerfleisch.

Aus dem Nebenzimmer, das als Wohn- und Schlafzimmer diente, war Klavierspiel zu hören. Kurts Schwester Edith, achtzehn Jahre alt, spielte sehr gut und hatte ihm ein hübsches kleines Lied namens »Kuckuck Kuckuck« beigebracht, an das er sich immer erinnern würde. Seine andere Schwester, die fünfzehnjährige Herta, betete er geradezu an. Sie stand ihm auch im Alter näher als die erwachsene Edith. Hertas Bild von Schönheit und Liebe würde immer einen Platz in Kurts Herzen einnehmen.

Herta Kleinmann, um 1939

© Kurt Kleinmann

Tini lächelte über die Ernsthaftigkeit ihres Jüngsten, der ihr half, die Pfannkuchen aufzurollen und in dünne Streifen zu schneiden, die sie dann in die Suppe gab.

Die Familie setzte sich im warmem Sabbatlicht zum Essen – Gustav und Tini, Edith und Herta, Fritz und der kleine Kurt. Ihr Zuhause war klein, es umfasste nur dieses Zimmer und das gemeinsame Schlafzimmer, wo Gustav und Fritz sich ein Bett teilten, Kurt und seine Mutter das zweite. Edith schlief in einem eigenen Bett und Herta auf dem Sofa. Doch es war eben ihr Zuhause, und hier waren sie glücklich.

Draußen jedoch zogen dunkle Wolken auf. An diesem Nachmittag war aus Deutschland ein Ultimatum gekommen, das die Absage der Volksabstimmung und den Rücktritt von Kanzler Schuschnigg verlangte. Er sollte durch den rechten Politiker Arthur Seyß-Inquart, heimliches Mitglied der Nationalsozialistischen Partei, ersetzt werden, der eine nazifreundliche Regierung errichten sollte. Hitler begründete das Ultimatum damit, dass Schuschniggs Regierung die »wahren Deutschen« Österreichs – in seinen Augen gleichbedeutend mit »Nazis« – unterdrückte. Zusätzlich verlangte er, dass die ins Exil verbannte Österreichische Legion, ein Trupp von dreißigtausend Nazis, zurück nach Wien beordert würde, um die Ordnung auf den Straßen zu sichern. Die Frist des Ultimatums lief um halb acht an diesem Abend ab.12

Nach dem Abendessen musste Kurt sich beeilen, um zum Abendgottesdienst in der Synagoge zu kommen. Er bekam fürs Singen einen Schilling, der am Samstagmorgen in Schokolade umgesetzt wurde – es handelte sich also zugleich um eine wirtschaftliche und religiöse Pflicht.

Fritz begleitete Kurt wie üblich. Er war der ideale große Bruder: Freund, Spielgefährte und Beschützer gleichermaßen. Auf den Straßen war an diesem Abend viel los, aber die Unruhe und der Lärm hatten sich gelegt und einer lauernden Bosheit Platz gemacht. Normalerweise begleitete Fritz seinen kleinen Bruder nur bis zu der Billardhalle auf der anderen Seite des Donaukanals und ging dann eine Runde Billard spielen. Aber an diesem Abend reichte das nicht. Sie gingen zusammen bis zum Stadttempel.

Als Fritz zurück nach Hause kam, lief das Radio. Das übliche Programm wurde durch eine Ankündigung unterbrochen: Die Volksabstimmung war verschoben worden. Es fühlte sich an wie ein drohendes Tippen auf die Schulter. Dann, kurz nach halb sieben, verstummte die Musik wieder, und eine Stimme erklärte: »Achtung! In wenigen Minuten hören Sie eine sehr wichtige Ankündigung.« Dann folgte eine Pause, drei Minuten war nur Knistern und Rauschen zu hören. Und dann kam die Stimme von Kanzler Schuschnigg, die vor Erregung zitterte.

»Österreicher und Österreicherinnen! Der heutige Tag hat uns vor eine schwere und entscheidende Situation gestellt.« Jeder, der in der Nähe eines Radios war, hörte gespannt zu, viele in Angst, manche voller Begeisterung, während der Kanzler das deutsche Ultimatum beschrieb. Österreich musste sich dem deutschen Befehl unterwerfen, sonst drohte seine Zerstörung. Man habe beschlossen, der Gewalt zu weichen, sagte er. »Wir haben, weil wir um keinen Preis, auch in dieser ernsten Stunde nicht, deutsches Blut zu vergießen gesonnen sind, unserer Wehrmacht den Auftrag gegeben, für den Fall, dass der Einmarsch durchgeführt wird, ohne wesentlichen Widerstand …«, er zögerte, »… ohne Widerstand sich zurückzuziehen …« Seine Stimme brach, er musste sich zusammenreißen, um seine Rede zu beenden. »So verabschiede ich mich in dieser Stunde von dem österreichischen Volke mit einem deutschen Wort und einem Herzenswunsch: Gott schütze Österreich!«13

Gustav, Tini und ihre Töchter saßen wie erstarrt da, während die Nationalhymne gespielt wurde. Im Rundfunkstudio, von den Menschen weder gesehen noch gehört, brach Schuschnigg in diesem Moment weinend zusammen.

 

ןב

Die süßen Klänge des Hallelujas, geleitet vom Tenor des Kantors und erfüllt von den Chorstimmen, ertönten durch das große Oval des Stadttempels, umfingen die Marmorsäulen und vergoldeten Verzierungen der Emporen mit ihren Harmonien. Von seinem Platz im Chor auf der obersten Empore konnte Kurt direkt auf den Thoraschrein und die Gemeinde schauen. Es war voller als sonst, als suchten die Menschen angesichts der großen Unsicherheit Trost in ihrer Religion. Rabbi Dr. Emil Lehmann, der von den neuesten Nachrichten noch nichts gehört hatte, hatte bewegend über Schuschnigg gesprochen, die Volksabstimmung betont und mit dem längst verklungenen Ruf des Kanzlers geendet: Wir sagen Ja!14

Nach dem Gottesdienst begab sich Kurt nach unten, nahm seinen Schilling entgegen und fand Fritz vor der Tür, der auf ihn wartete. Draußen drängten sich die Gemeindemitglieder auf dem Kopfsteinpflaster. Von hier sah man die Synagoge kaum, sie verbarg sich in der Reihe der Wohnhäuser. Der Hauptteil lag hinter der Fassade, eingeklemmt zwischen dieser und der nächsten Straße. Die Leopoldstadt war inzwischen das wichtigste jüdische Viertel der Stadt, doch diese kleine Enklave im alten Stadtkern, wo seit dem Mittelalter Juden gelebt hatten, war das kulturelle Herz des jüdischen Lebens in Wien. Man erkannte es an den Häuser- und Straßennamen – Judengasse, Judenplatz. Jüdisches Blut war auf diesem Kopfsteinpflaster geflossen, seitdem die Pogrome des Mittelalters die Menschen in die Leopoldstadt getrieben hatten.

Tagsüber war die enge Seitenstettengasse vom Lärm der Stadt abgeschirmt, aber in der Dunkelheit des Sabbatabends erwachte sie zum Leben. Nicht weit von hier, in der Kärntnerstraße, einer langen Durchgangsstraße auf der anderen Seite der Nazienklave am Stephansplatz, versammelte sich jetzt ebenfalls eine Menschenmenge. Die Braunhemden der SA hatten den Befehl bekommen, ihre Waffen aus dem Versteck zu holen und die Armbinden mit dem Hakenkreuz anzulegen. Sie marschierten, und die Polizei marschierte mit ihnen. Lastwagen voller SA-Leute fuhren vorbei, Männer und Frauen tanzten und brüllten im Licht von Fackeln.

Durch die ganze Stadt dröhnte es: »Heil Hitler! Sieg Heil! Nieder mit den Juden! Nieder mit den Katholiken! Ein Volk, ein Reich, ein Führer, ein Sieg! Nieder mit den Juden!« Grobe, fanatische Stimmen grölten »Deutschland über alles« oder »Heute gehört uns Deutschland und morgen die ganze Welt«.15 Der Dramatiker Carl Zuckmayer hat geschrieben: »Die Unterwelt hatte ihre Pforten aufgetan und ihre niedrigsten, scheußlichsten, unreinsten Geister losgelassen … Was hier entfesselt wurde, war der Aufstand des Neids, der Missgunst, der Verbitterung, der blinden böswilligen Rachsucht …«16 Ein britischer Journalist, der die Vorgänge beobachtete, sprach von einem »unbeschreiblichen Hexensabbat«.17

Das Echo erreichte auch die Seitenstettengasse, wo sich die Juden vor dem Stadttempel zerstreuten. Fritz führte Kurt durch die Judengasse und über die Brücke. Minuten später waren sie wieder in der Leopoldstadt.

Die Nazis kamen, begleitet von Horden von wetterwendischen neuen Freunden, zogen zu Zehntausenden durch die Stadtmitte in den jüdischen Bezirk. Die Flutwelle überschwemmte die Brücken, drang in die Leopoldstadt, in die Taborstraße, die Leopoldsgasse, den Karmelitermarkt und Im Werd. Hunderttausend grölende, brüllende Männer und Frauen, trunken von Triumph und Hass. »Sieg Heil! Tod den Juden!« Die Kleinmanns saßen in ihrer Wohnung, hörten den Tumult draußen und erwarteten, dass ihre Tür eingetreten würde.

Doch das passierte nicht. Stundenlang beherrschte der Mob die Straßen, laut und voller Wut, richtete jedoch wenig materiellen Schaden an. Einige unglückliche Juden wurden auf der Straße erwischt und misshandelt, »jüdisch aussehende« Leute wurden zusammengeschlagen, bekannte Schuschnigg-Anhänger wurden angegriffen, und einige Wohnungen und Geschäfte wurden geplündert. Aber der Sturm der Zerstörung brach in dieser Nacht noch nicht los. Verwundert fragten sich manche, ob die legendäre zivilisierte Art der Wiener vielleicht selbst das Benehmen der Nazis mäßigte.

Doch diese Hoffnung erwies sich als trügerisch. Der Grund für die Zurückhaltung war ganz einfach der, dass die SA die Straßen regierte. Diese Leute waren diszipliniert, sie wollten ihre Beute methodisch fangen und vernichten, nicht im Zuge eines wilden Aufruhrs. Zusammen mit der Polizei, die bereits mit Hakenkreuz-Armbinden ausgestattet war, besetzte die SA öffentliche Gebäude. Prominente Mitglieder der Regierungspartei wurden verhaftet oder flohen. Schuschnigg wurde ebenfalls in Haft genommen. Aber das war nur das Vorspiel.

Am nächsten Morgen drangen die ersten deutschen Truppen ins Land.

Die europäischen Mächte – Großbritannien, Frankreich, die Tschechoslowakei – verurteilten den deutschen Einmarsch in ein souveränes Land, aber Mussolini, der doch angeblich ein Verbündeter Österreichs war, verweigerte jedes militärische Eingreifen. Er wollte Deutschland nicht einmal verbal verurteilen. Der internationale Widerstand zerfiel, bevor er überhaupt entstanden war. Die Welt ließ Österreich vor die Hunde gehen.

Und Österreich hieß die Hunde willkommen.

 

אבא

Gustav erwachte von Motorengeräuschen. Ein dumpfes Dröhnen, das schleichend wie ein Geruch in seinen Schädel drang und immer lauter wurde. Flugzeuge. Einen Moment lang dachte er, er stünde wieder auf der Straße vor seiner Werkstatt, als wäre es noch gestern, vor dem Albtraum. Es war noch früh. Tini klapperte in der Küche schon mit ihren Töpfen, aber die Kinder schliefen noch.

Als Gustav aufstand und sich anzog, wurde das Dröhnen noch lauter. Vom Fenster aus sah man nichts, nur Dächer und ein Stückchen Himmel, also zog er die Schuhe an und ging nach unten.

Auf der Straße und am Karmelitermarkt sah man kaum Spuren des nächtlichen Terrors. Nur ein paar verlorene »Stimmt mit Ja!«-Flugblätter lagen zertrampelt in den Ecken. Die Händler bauten ihre Stände auf und öffneten ihre Läden. Alle schauten in den Himmel, wo das Dröhnen immer lauter wurde, sodass die Fenster zitterten und die Straßengeräusche übertönt wurden. Es war ganz anders als gestern – das hier war ein Gewitter, das sich näherte. Jetzt sah man die Flugzeuge über den Dächern, Dutzende Bomber in dichter Formation und schnelle Kampfflugzeuge, die über sie hinwegflogen. Sie flogen so niedrig, dass man die deutschen Abzeichen selbst von hier unten sehen konnte. Die Bombenklappen öffneten sich.18 Ein Schaudern durchlief die Menge auf dem Marktplatz.

Doch es fielen keine Bomben, sondern wieder Papier, das über die Dächer und Straßen flatterte. Das politische Klima bestimmte die Wetterlage, es schneite wieder. Gustav hob ein Flugblatt auf. Der Text war kürzer und schlichter als gestern. Unter dem Nazi-Reichsadler stand zu lesen, dass das nationalsozialistische Deutschland das nationalsozialistische Österreich und seine neue Regierung grüße. »Vereint durch ein treues, unlösbares Band. Heil Hitler!«19

Das Motorengeräusch war ohrenbetäubend. Nicht nur die Bomber flogen über die Menschen hinweg, sondern mehr als hundert Transportflugzeuge. Während die Bomber über der Stadt kreisten, begaben sich die übrigen Flugzeuge Richtung Südosten. Noch wusste niemand, dass diese Truppentransporter auf dem Flugplatz Aspern außerhalb der Stadt landen würden und die ersten Truppen in die österreichische Hauptstadt brachten. Gustav ließ das Papier fallen, als wäre es vergiftet, und ging wieder ins Haus.

Das Frühstück an diesem Morgen war eine traurige Mahlzeit. Von diesem Tag an verfolgte ein Gespenst jede Bewegung, jedes Wort und jeden Gedanken der österreichischen Juden. Sie alle wussten, was in Deutschland in den letzten fünf Jahren passiert war. Was sie nicht wussten: In Österreich würde die Verfolgung nicht schleichend vor sich gehen, hier würden sie alle Schrecken auf einmal zu spüren bekommen.

Die Wehrmacht kam, die SS und die Gestapo, und es wurden sogar Gerüchte laut, der »Führer« selbst sei in Linz und würde bald nach Wien kommen. Die Nazis der Stadt drehten fast durch vor Begeisterung und Triumph. Die Mehrheit der Bevölkerung, die sich vor allem Stabilität und Sicherheit wünschte, passte sich den neuen Verhältnissen an. Jüdische Läden in der Leopoldstadt wurden systematisch von SA-Trupps geplündert, ebenso wie die Wohnungen wohlhabender Juden. Der Neid und Hass gegen jüdische Geschäftsleute, Handwerker, Anwälte und Ärzte war während der Wirtschaftskrise gestiegen, und jetzt entlud sich all das mit einem Schlag.

Man hatte immer behauptet, es läge nicht in der Natur der zivilisierten Wiener, mit Straßenkämpfen und Aufständen Politik zu machen. »Der echte Wiener«, so hieß es naserümpfend, als die Nazis die Straßen mit Lärm und Wut erfüllten, »diskutiert Meinungsunterschiede im Kaffeehaus und geht zur Wahl wie ein zivilisierter Mensch.«20 Doch es sollte nicht lange dauern, bis die »echten Wiener« sich höchst zivilisiert in ihr Schicksal ergaben. Das Land wurde von Wilden regiert.

Gustav Kleinmann, der unverbesserliche Optimist, glaubte seine Familie immer noch in Sicherheit. Schließlich waren sie viel mehr Österreicher als Juden. Die Nazis würden doch sicher nur die frommen, die offen jüdischen, die Orthodoxen verfolgen, oder?

 

בת

Edith Kleinmann ging hoch erhobenen Kopfes durch die Straßen. Wie ihr Vater fühlte sie sich mehr als Österreicherin denn als Jüdin. Überhaupt dachte sie nicht viel über derlei nach. Sie war achtzehn Jahre alt, lernte Hutmacherei und wollte bald ihre eigene Kollektion entwerfen. In ihrer Freizeit amüsierte sie sich, ging mit jungen Männern aus, liebte Musik und Tanz. Edith war ganz einfach eine junge Frau mit allen Wünschen und Sehnsüchten der Jugend. Die jungen Männer, mit denen sie ausging, waren meistens keine Juden. Gustav war das nicht recht. Es war schon in Ordnung, sich als Österreicher zu fühlen, aber Bindungen sollte man mit seinen eigenen Leuten eingehen, fand er. Den Widerspruch nahm er nicht wahr.

Seit dem Einmarsch der Deutschen waren ein paar Tage vergangen. An diesem Sonntag, Tag des Einmarsches, hätte die Volksabstimmung stattfinden sollen. Die meisten Juden waren zu Hause geblieben, aber Ediths Bruder Fritz, mutig wie immer, war natürlich auf den Straßen unterwegs. Er berichtete, dass ein paar tapfere Wiener die deutschen Soldaten mit Steinen beworfen hatten. Aber sie waren bald von der jubelnden Mehrheit überwältigt worden. Als die deutschen Truppen in voller Stärke und im Triumphzug die Hauptstadt einnahmen, mit Adolf Hitler an der Spitze, schienen ihre Kolonnen endlos: ein Strom glänzender Limousinen, Motorräder, Panzerwagen, Tausende feldgraue Uniformen, Helme und Stiefel. Überall flatterten die roten Hakenkreuzfahnen, gehalten von Soldaten, von Gebäuden hängend, an Autos. Hinter den Kulissen war Heinrich Himmler eingeflogen worden und hatte die Übernahme der Polizei ins Werk gesetzt.21 Die Plünderungen in den Wohnungen und Geschäften wohlhabender Juden gingen weiter, und täglich hörte man von Selbstmorden.

Edith ging mit schnellen Schritten. Irgendetwas tat sich an der Ecke Schiffamtsgasse/Leopoldsgasse. Vor der Polizeiwache dort hatte sich eine große Menschenmenge versammelt.22 Edith konnte Lachen und Jubelrufe hören. Sie wollte die Straßenseite wechseln, wurde dann aber langsamer, weil sie ein vertrautes Gesicht in der Menge sah: Vickerl Ecker, ein alter Schulfreund. Seine strahlenden, gierigen Augen begegneten ihrem Blick.

»Da! Das ist eine!«23

Gesichter wandten sich ihr zu. Sie hörte das Wort »Jüdin«, dann wurde sie am Arm festgehalten und mitgerissen. Vickerl trug ein braunes Hemd und eine Armbinde mit Hakenkreuz. Vorbei ging es an lüsternen, bösartigen Gesichtern. Ein halbes Dutzend Männer und Frauen knieten auf dem Gehweg und schrubbten mit Bürsten das Straßenpflaster. Alles Juden, alle gut gekleidet. Eine Frau umklammerte fassungslos ihren Hut und ihre Handschuhe mit einer Hand und schrubbte mit der anderen, während ihr feiner Mantel über die nassen Steine schleifte.

»Auf die Knie mit dir!« Jemand drückte Edith eine Bürste in die Hand und schubste sie zu Boden. Vickerl zeigte auf die Kruckenkreuze am Boden und die »Sagt Ja!«-Slogans. »Weg mit der dreckigen Propaganda, Judensau!« Die Zuschauer johlten, als Edith anfing zu schrubben. Einige Gesichter kannte sie, Nachbarn, Bekannte, gut gekleidete Geschäftsleute, brave Hausfrauen, derbe Arbeiterinnen und Arbeiter. Sie alle hatten zu ihrer Welt gehört, doch jetzt verwandelten sie sich in einen grölenden Mob. Edith schrubbte, aber die Farbe ging nicht weg. »Die richtige Arbeit für Juden!«, rief jemand, und die anderen lachten. Einer der SA-Leute nahm einen Wassereimer und schüttete ihn einem der knienden Männer über den Kopf, sodass sein Kamelhaarmantel durchnässt wurde. Die Menge jubelte.

Nach etwa einer Stunde bekamen die Opfer eine Bescheinigung für ihre Arbeit und durften gehen. Edith taumelte nach Hause, mit zerrissenen Strümpfen und schmutzigen Kleidern. Sie konnte kaum an sich halten, so sehr schämte sie sich.

In den nächsten Wochen wurden diese »Spielchen« zum Alltag in den jüdischen Vierteln. Da die patriotischen Parolen nicht abgingen, gab die SA Säure ins Wasser, die die Hände der Opfer verätzte, sodass die Haut Blasen bildete.24 Edith hatte das Glück, nicht noch einmal erwischt zu werden, aber ihre fünfzehnjährige Schwester Herta wurde gezwungen, die Kruckenkreuze vom Glockenturm auf dem Marktplatz zu schrubben. Andere Juden wurden gezwungen, in leuchtend roter und gelber Farbe antisemitische Slogans an jüdische Geschäfte zu schmieren.

Mit atemberaubender Geschwindigkeit verwandelte sich das vornehme Wien. Es war, als hätte man das weiche, bequeme Polstermaterial von einem vertrauten Sofa gezogen, sodass nun die scharfen Sprungfedern und Nägel sichtbar wurden. Gustav irrte sich, die Kleinmanns waren nicht in Sicherheit. Niemand war mehr in Sicherheit.

 

החפשמ

Sie zogen sich alle ihre besten Kleider an, bevor sie die Wohnung verließen. Gustav trug seinen Sonntagsanzug, Fritz seine knielangen Schulhosen. Edith, Herta und Tini hatten ihre schicken Kleider an, und der kleine Kurt trug seinen Matrosenanzug. In Hans Gemperles Fotoatelier schauten sie in die Linse der Kamera, als wollten sie einen Blick in die eigene Zukunft werfen. Edith lächelte unbehaglich, eine Hand auf der Schulter ihrer Mutter. Kurt sah ganz zufrieden aus, mit seinen acht Jahren verstand er noch nicht viel von den Veränderungen seiner Welt. Fritz trug die nonchalante Lässigkeit des Teenagers zur Schau, während Herta – gerade sechzehn Jahre alt geworden und schon eine junge Frau – in die Kamera strahlte.

Herr Gemperle, der kein Jude war und dessen Geschäft in den nächsten Jahren aufblühen sollte, drückte auf den Auslöser und fing Gustavs böse Vorahnungen ebenso ein wie Tinis stoischen Blick aus dunklen Augen. Inzwischen hatten sie begriffen, was passierte, selbst der optimistische Gustav. Tini hatte darauf gedrängt, dass sie sich fotografieren ließen. Sie hatte die dumpfe Vorahnung, dass die Familie nicht mehr lange zusammen sein würde, und wollte ein Bild von ihren Kindern, solange es noch ging.

Das Gift in den Straßen hatte sich auf Regierungsbüros und Justiz ausgebreitet. Unter den Nürnberger Rassegesetzen von 1935 verloren nun auch die österreichischen Juden alle Bürgerrechte. Am 4.April wurden Fritz und alle seine jüdischen Schulkameraden von der Handelsschule verwiesen. Auch seine Lehrstelle wurde ihm entzogen. Edith und Herta verloren ihre Stellen, und Gustav konnte sein Handwerk nicht mehr ausüben. Seine Werkstatt wurde beschlagnahmt und geschlossen. Man verbot den Menschen, bei Juden einzukaufen, und wer es doch tat, musste sich mit einem Schild um den Hals mit der Aufschrift »Ich bin Arier, aber ein Schwein – ich kaufe bei Juden ein« zur Schau stellen.25

Vier Wochen nach dem »Anschluss« kam Hitler noch einmal nach Wien und hielt im Nordwestbahnhof eine Rede, nur wenige hundert Meter von der Straße Im Werd entfernt. Zwanzigtausend SA-Leute und Mitglieder der Hitlerjugend hörten ihm zu. Er habe mit seinem Leben gezeigt, donnerte er, dass er mehr erreichen könne als die Zwerge, die dieses Land in den Ruin getrieben hätten. Noch in hundert Jahren würde sein Name als der eines der großen Söhne dieses Landes genannt werden.26 Und die Menge antwortete mit stürmischen »Sieg Heil!«-Rufen, die unaufhörlich und ohrenbetäubend in die jüdischen Viertel der Leopoldstadt hallten.

Wien war voll mit Hakenkreuzen, die Zeitungen verherrlichten den »Führer«. Am nächsten Tag fand die lange erwartete Volksabstimmung über die Unabhängigkeit statt. Juden durften natürlich nicht mehr mit abstimmen. Außerdem wurde die Abstimmung von der SS kontrolliert und überwacht, sodass am Ende, wenig überraschend, ein Ergebnis von 99,7 Prozent für den »Anschluss« herauskam. Hitler erklärte, das Ergebnis übersteige alle seine Erwartungen.27 Die Glocken der protestantischen Kirchen in der Stadt läuteten fünfzehn Minuten lang, und die Führung der Evangelischen Kirche ordnete Dankgottesdienste an. Die Katholiken verhielten sich still, solange sie noch nicht wussten, ob der »Führer« sie nicht womöglich genauso behandeln würde wie die Juden.28

Ausländische Zeitungen wurden verboten. Überall tauchten jetzt Reversnadeln mit Hakenkreuzen auf, wer keine trug, machte sich verdächtig.29 In den Schulen wurde der Gruß »Heil Hitler« nach dem täglichen Morgengebet eingeführt. Jüdische Ritualbücher wurden verbrannt, und die SS besetzte die Israelitische Kultusgemeinde in der Nähe des Stadttempels. Die Rabbiner und andere Mitarbeiter dort wurden gedemütigt und eingeschüchtert.30 Von jetzt an war die IKG ein Regierungsorgan, mit dessen Hilfe die »Judenfrage« gelöst werden sollte. Sie musste eine Entschädigung an den Staat zahlen, um ihre eigenen Räume behalten zu dürfen.31 Das Regime beschlagnahmte jüdischen Besitz im Wert von 2,25 Milliarden Reichsmark, Häuser und Wohnungen nicht mitgerechnet.32

Gustav und Tini gaben sich alle Mühe, die Familie zusammenzuhalten. Gustav hatte ein paar gute nichtjüdische Freunde unter seinen Kollegen, die ihn sporadisch mit Arbeit versorgten, Fritz und seine Mutter bekamen vom Besitzer der Molkerei die Erlaubnis, Milch auszuliefern. Das passierte früh am Morgen, und die Kunden wussten nicht, dass sie ihre Milch von Juden gebracht bekamen. Sie bekamen zwei Pfennige pro Liter, was etwa eine Mark pro Tag ergab – ein Hungerlohn. Ansonsten überlebte die Familie nur mithilfe von Mahlzeiten aus der jüdischen Suppenküche.

Es war kaum möglich, dem Zugriff der Nazis zu entgehen. Gruppen von Braunhemden und Hitlerjugend zogen durch die Straßen und sangen Lieder mit Texten wie »Wenn’s Judenblut vom Messer spritzt, dann geht’s noch mal so gut«.

In anderen Liedern drohten sie, die Juden aufzuhängen und katholische Priester an die Wand zu stellen. Einige der Sänger waren alte Freunde von Fritz, die sich erschreckend schnell in Nazis verwandelt hatten. Einige hatten sich sogar der SS angeschlossen. Tatsächlich war die SS überall und ließ sich von Passanten die Papiere zeigen. Stolz und selbstgefällig sahen die SS-Leute in ihren makellosen Uniformen aus, und sie genossen allem Anschein nach ihre Macht. Ihr Gift breitete sich aus, ständig hörte man Schimpfwörter wie »Saujud«. Schilder mit der Aufschrift »Nur für Arier« wurden an den Parkbänken angebracht. Fritz und seine verbliebenen Freunde durften den Sportplatz und das Schwimmbad nicht mehr betreten. Das traf Fritz besonders hart, schwamm er doch für sein Leben gern.

Im Laufe des Sommers ließ die antisemitische Gewalt nach, aber die offiziellen Repressionen blieben, und unter der Oberfläche stieg der Druck. Ein Ortsname machte die Runde und verbreitete Angst: »Haltet den Kopf unten und seid still«, mahnten Juden sich gegenseitig, »sonst kommt ihr nach Dachau.« Tatsächlich verschwanden immer wieder Menschen. Erst prominente Personen wie Politiker und Geschäftsleute, dann kräftige jüdische Männer, die unter fadenscheinigen Vorwänden abgeholt wurden. Manchmal schickte man ihren Familien ihre Asche. Ein neuer Name wurde geflüstert: Buchenwald. Die Konzentrationslager, Merkmal der Naziherrschaft seit ihren Anfängen in Deutschland, wurden immer mehr.33

Die Verfolgung der Juden wurde bürokratisiert. Besondere Aufmerksamkeit galt ihren Ausweisen und Meldedaten. Im August kam die Anordnung, wer noch keinen anerkannt jüdischen Vornamen trage, müsse einen zweiten Vornamen annehmen: Israel die Männer, Sarah die Frauen.34 Die Personalausweise wurden mit einem gestempelten »J« für »Jude« versehen. In der Leopoldstadt hatte man sich ein besonderes Verfahren ausgedacht. Die Bewohner wurden, sobald ihre Ausweise, die sogenannten Juden-Kennkarten, gestempelt waren, in einen weiteren Raum zum Fotografieren geschickt, zunächst Kopf und Schultern, dann nackt. »Gegen ihr Widerstreben«, so ein Zeuge, »mussten sie sich vollständig ausziehen … um von allen Seiten fotografiert zu werden. Fingerabdrücke wurden genommen, die Menschen wurden vermessen, Blutproben wurden genommen, und alles wurde genau aufgeschrieben und mit Nummern versehen.«35 Alle Juden mussten diese demütigende Prozedur über sich ergehen lassen, ohne Ausnahme. Einige flüchteten, sobald ihre Kennkarten gestempelt waren. Daraufhin ordnete die SS an, die Fotos zuerst zu machen.

Im September 1938 war in Wien alles recht ruhig. So etwas wie ein normales Leben kehrte wieder ein, selbst für die Juden innerhalb ihrer Viertel.36 Aber die Nazis waren noch lange nicht zufrieden. Sie brauchten für das Volk einen neuen Auslöser, um den Judenhass der Menschen neu zu entfesseln.

Im Oktober kam es zu einem Vorfall in Belgien, der ahnen ließ, was noch bevorstand. Die Hafenstadt Antwerpen hatte ein großes, wohlhabendes jüdisches Viertel. Am 26. Oktober 1938 gingen dort zwei Journalisten der nationalsozialistischen Propagandazeitung Der Angriff an Land und machten Fotos in der jüdischen Diamantenbörse. Dabei benahmen sie sich so aggressiv und unverschämt, dass einige Juden zornig reagierten. Bei dem Versuch, die Journalisten hinauszuwerfen, kam es zu einem Handgemenge, bei dem einer der Deutschen verletzt wurde. Die Kameras wurden konfisziert.37 In der deutschen Presse wurde der Vorfall zu einem empörenden Angriff auf unschuldige, hilflose Deutsche aufgeblasen. Die wichtigste Wiener Zeitung berichtete, eine Gruppe deutscher Touristen sei von einer Bande von fünfzig jüdischen Verbrechern angegriffen, blutig geschlagen und beraubt worden. Man habe sie dann bewusstlos liegen lassen. Besonders empörte sie sich über das Schweigen der belgischen Presse. Es sei bezeichnend für das Missverhältnis in solchen Blättern, die sich umgekehrt nicht scheuten, Rabatz zu machen, wenn ein einzelner Jude für seine Verbrechen zur Rechenschaft gezogen werde.38 Die Nazizeitung Völkischer Beobachter warnte, weitere Akte jüdischer Gewalt gegen Deutsche könnten unberechenbare, sehr unangenehme Folgen haben.39

Die Drohung war mehr als deutlich, und die Spannungen vertieften sich.

Anfang November suchte die antisemitische Stimmung im gesamten Deutschen Reich ein Ventil. Das fand sich weit entfernt, in Paris, wo ein polnischer Jude namens Herschel Grynszpan, wütend über die Vertreibung seines Volkes aus Deutschland – inklusive seiner eigenen Familie –, mit einem frisch gekauften Revolver in die deutsche Botschaft eindrang und auf den ersten Beamten, der ihm in die Quere kam, Ernst vom Rath, fünf Kugeln abfeuerte.

Die Wiener Zeitungen nannten diesen Anschlag eine »empörende Provokation« und forderten, man müsse den Juden eine Lektion erteilen.40

Vom Rath starb am Mittwoch, dem 9. November. Noch in derselben Nacht kam es zu einer massiven Naziaktion in Berlin, München, Hamburg, Wien und sämtlichen Städten des Reichs. Lokale Parteiführer und Gestapo führten die Regie, SA und SS kamen mit Vorschlaghämmern, Äxten und brennbarem Material. Ziel ihrer Anschläge waren alle Häuser und Geschäfte, die sich noch in jüdischer Hand befanden. Juden wurden verprügelt und ermordet, wenn sie sich in den Weg stellten. Die SA-Leute rissen und brannten nieder, was sie erreichen konnten, aber vor allem erinnerte man sich später an das viele zerbrochene Glas, das die Straßen bedeckte; in Deutschland nannte man sie deshalb später »Kristallnacht«. Die Juden sprachen vom Novemberpogrom.

Der Befehl lautete, keine Plünderungen zuzulassen, nur zu zerstören.41 Im nachfolgenden Chaos wurde dieser Befehl aber häufig missachtet, und jüdische Wohnungen und Geschäfte wurden unter dem Vorwand ausgeraubt, man suche nach Waffen und »illegalen Büchern«.42 Juden, die von ihren Nachbarn denunziert wurden, mussten erleben, dass Braunhemden in ihre Wohnungen einbrachen, ihre Möbel und sonstigen Besitz zerschlugen, Kleider zerrissen. Mütter stellten sich vor ihre verängstigten Kinder, Paare klammerten sich entsetzt aneinander und verfolgten wie versteinert die Verwüstung ihrer Wohnungen.

In der Leopoldstadt wurden Juden, die man auf der Straße aufgriff, zum Karmelitermarkt getrieben und geschlagen. Nach Mitternacht wurden die Synagogen angezündet. Von der Wohnung der Kleinmanns aus konnte man sehen, wie das Dach der Synagoge in der Leopoldsgasse brannte. Die Feuerwehr rückte aus, wurde aber von der SA am Löschen gehindert, bis das schöne Gebäude vollkommen niedergebrannt war. In der Stadtmitte wurde der Stadttempel, den man wegen der angrenzenden Häuser nicht anzünden konnte, verwüstet. Die großartigen Schnitzarbeiten und weiß-goldenen Malereien wurden zerstört, der Baldachin und der Thoraschrein heruntergerissen und zertrümmert.

Vor Morgengrauen begannen die Verhaftungen. Tausende Juden, zumeist kräftige Männer, wurden auf den Straßen aufgegriffen oder von SA-Leuten aus ihren Häusern gezerrt.

Gustav und Fritz Kleinmann gehörten zu den Ersten, die verhaftet wurden.

2 Volksverräter

 

אבא

Sie wurden ins Polizeiamt gebracht, ein beeindruckendes rotes Backsteingebäude mit behauenem Granit unweit des Praters.43 Die Kleinmanns hatten an Feiertagen oft den Prater besucht, waren durch den Park spaziert oder hatten sich im Biergarten erholt. Die Kinder hatten sich im Vergnügungspark in Fahrgeschäften und Schaustellerbetrieben amüsiert. An diesem düsteren Wintermorgen war es still hier, niemand an den Kassen, und das stählerne Spinnennetz des Riesenrads erhob sich drohend über den Dächern. Gustav und Fritz fuhren am Eingang des Parks vorbei, ohne ihn zu sehen. Sie saßen mit vielen anderen Männern aus der Leopoldstadt in einem Lastwagen.

Vater und Sohn waren von Nachbarn bei der SA angezeigt worden, von engen Duzfreunden, Männern, mit denen Gustav oft geplaudert hatte, die er kannte und denen er vertraut hatte. Sie kannten seine Kinder und seine Lebensgeschichte. Und doch hatten sie ihn ohne Not und ohne dass er ihnen Anlass dazu gegeben hätte, ausgeliefert.

Im Polizeiamt angekommen, wurden die Häftlinge ausgeladen und in ein aufgelassenes Stallgebäude gepfercht.44 Hunderte von Männern und Frauen befanden sich bereits dort, die meisten ebenso wie Gustav und Fritz aus ihren Wohnungen gezerrt, Hunderte Weitere am Morgen verhaftet, als sie sich vor den Botschaften und Konsulaten anderer Länder anstellten,45 um dort Schutz zu suchen. Und viele waren einfach willkürlich von der Straße weg verhaftet worden. Man schnauzte sie an: »Jude oder Nichtjude?«, und wenn die Antwort »Jude« lautete oder das Aussehen des Betreffenden darauf hindeutete, dann landeten sie auf dem Lastwagen. Viele wurden auch durch die Straßen getrieben, wo sie von den Menschen misshandelt und beschimpft wurden. »Volkes Stimme« nannten die Nazis das. Und diese Stimme heulte durch die Straßen wie Sirenen und ließ auch im Morgengrauen nicht nach. Ein Albtraum, aus dem es kein Erwachen gab.

Mehr als sechstausendfünfhundert Juden, die meisten Männer, waren in der ganzen Stadt verhaftet worden.46 Im Polizeiamt am Prater waren besonders viele von ihnen gelandet. Nach den ersten Verhaftungen quollen die Zellen über, und so pferchte man die Menschen jetzt so dicht in den Stall, dass sie mit erhobenen Händen stehen mussten. Einige wurden auch gezwungen, sich hinzuknien, damit die Neuankömmlinge über sie hinwegkriechen konnten.

Gustav und Fritz standen zusammen im Gedränge. Stunden vergingen. Sie standen oder knieten, hungrig und durstig, mit schmerzenden Gelenken, umgeben von Gemurmel, Stöhnen und Gebeten. Vom Hof her waren Beschimpfungen und Schläge zu hören. Alle paar Minuten wurden zwei oder drei zum Verhör gerufen. Keiner kam zurück.

Fritz und sein Vater wussten nicht mehr, wie lange sie dort ausgeharrt hatten, als ein Finger auf sie zeigte und sie durch das Gedränge zur Tür taumelten. Sie wurden in ein anderes Gebäude gebracht und einem Beamten vorgeführt. Das Verhör bestand im Wesentlichen aus Beschimpfungen: Saujude, Volksverräter, jüdischer Verbrecher. Jeder Häftling wurde gezwungen, sich zu diesen Beschimpfungen zu bekennen und sie zu wiederholen. Dann wurden jedem Mann dieselben Fragen gestellt: »Wie hoch sind deine Ersparnisse? Bist du homosexuell? Hast du ein Verhältnis mit einer arischen Frau? Hast du schon mal an einer Abtreibung mitgewirkt? Bist du Mitglied irgendeiner Partei oder Vereinigung?«

Nach dem Verhör wurden die Häftlinge verschiedenen Gruppen zugewiesen. Wer das Etikett »Zurück« bekam, wurde wieder in das Stallgebäude gebracht und musste dort warten. Diejenigen mit dem Etikett »Entlassung« wurden freigelassen, zumeist Frauen, Ältere, Jugendliche und versehentlich verhaftete Ausländer. Die gefürchtetste Bezeichnung jedoch war »Tauglich«, denn sie bedeutete Deportation nach Dachau oder Buchenwald – oder an den neuen Ort, dessen Name geflüstert wurde: Mauthausen, das Lager in Österreich.47

Gustav und Fritz erwarteten ihr Urteil in einer Art Dachboden, von dem aus sie den Hof überblicken konnten. Hier sahen sie auch den Grund für die Geräusche, die sie gehört hatten. Die Männer draußen mussten sich in dichten Reihen aufstellen, die Hände erhoben, und wurden von SA-Leuten mit Schlagstöcken und Peitschen misshandelt. Sie mussten sich hinlegen, aufstehen, herumrollen, wurden geschlagen, getreten, ausgelacht. Ihre Mäntel und guten Anzüge waren dreckverschmiert, die Hüte in den Schmutz getreten. Einige wurden besonders heftig geschlagen. Und wer gerade nicht an der »Gymnastik« teilnahm, musste brüllen: »Wir sind jüdische Verbrecher! Wir sind Saujuden!«

Die reguläre Polizei, altgediente Männer, die die Bewohner der Leopoldstadt gut kannten, standen die ganze Zeit dabei und halfen, wenn es verlangt wurde. Zwar beteiligten sich nur wenige an den Misshandlungen, aber niemand leistete Widerstand. Mindestens einer der Polizisten nahm auch an den Misshandlungen im Hof teil.48

Nach langer Wartezeit wurden Fritz und Gustav ihre Urteile verkündet. Fritz, der erst fünfzehn Jahre alt war, sollte entlassen werden und konnte gehen. Gustav bekam das Etikett »Zurück« und wurde wieder in die Zellen geführt. Fritz konnte nichts tun als entsetzt zusehen, wie sein Papa weggebracht wurde.

 

ןב

Es war bereits Abend, als er das Polizeiamt verließ und allein nach Hause ging, vorbei am vertrauten Eingang des Praters. So oft war er hier entlanggelaufen, wenn er mit seinen Freunden in der Donau geschwommen war, nach Tagen im Park, den Bauch glückselig voller Kuchen oder schwirrend vor Adrenalin. Jetzt empfand er nur Leere.

Die Straßen waren düster und blutverschmiert, dumpf wie nach einer nächtlichen Orgie. Die Leopoldstadt war verwüstet, das Straßenpflaster der Einkaufsgassen und des Karmelitermarktes übersät mit Glasscherben und zersplittertem Holz.

Zu Hause angekommen, fiel Fritz seiner Mutter und den Schwestern in die Arme. »Wo ist Papa?«, fragten sie. In wenigen Worten erzählte er, was passiert war und dass man Papa dabehalten hatte. Jäh standen die schrecklichen Namen im Raum: Dachau, Buchenwald. Sie warteten die ganze Nacht, aber es gab keine Nachricht von Gustav. Auch auf ihre vorsichtigen Nachfragen gab es keine Antwort.

Überall auf der Welt wurden die Nachrichten von dem Pogrom mit Abscheu aufgenommen. Die USA riefen ihren Botschafter aus Berlin zurück,49 der US-Präsident erklärte, die Nachrichten hätten das amerikanische Volk tief betroffen. »Ich kann kaum glauben, dass so etwas im zwanzigsten Jahrhundert möglich ist.«50 Der Londoner Spectator schrieb, die »Barbarei in Deutschland« habe solche Ausmaße angenommen und sei so diabolisch und von offizieller Seite inspiriert, »dass die Folgen … noch gar nicht absehbar sind«.51

Aber die Nazis taten die Berichte über ihre Gräueltaten als Falschmeldungen ab, die lediglich vom wahren Skandal ablenken sollten: dem terroristischen Anschlag eines Juden auf einen deutschen Diplomaten. Sie beglückwünschten sich, dass sie den Juden die gerechte Strafe hatten zukommen lassen, und bezeichneten das Pogrom als »Ausdruck gerechter Empörung in breiten Schichten des deutschen Volkes«.52 Die Verurteilungen aus dem Ausland wurden als »Schmutz und Schund, fabriziert in den bekannten Einwandererzentren Paris, London und New York und von der jüdisch beeinflussten Weltpresse gelenkt« bezeichnet.53 Die Zerstörung der Synagogen sei nur erfolgt, um die Juden fortan daran zu hindern, unter dem Deckmantel von Gottesdiensten Pläne gegen den Staat auszuhecken.54

Fritz, Tini, Herta, Edith und Kurt warteten den ganzen Freitag, erfuhren aber nichts über Gustavs Verbleib. Als es dunkel wurde und der Sabbat begann, klopfte es an der Tür. Ängstlich ging Tini und öffnete. Und da stand er, ihr Ehemann. Er lebte.

Erschöpft, ausgehungert, dehydriert und hagerer als je zuvor, betrat Gustav die Wohnung wie einer, der von den Toten auferstanden ist. Doch alle jubelten. Er erzählte, was er erlebt hatte: Die Nazis nahmen zur Kenntnis, dass er im Weltkrieg gedient hatte, und alte Freunde unter den Polizisten hatten seine Verwundungen und seine Auszeichnungen bezeugt. Noch galt der SS-Befehl, Veteranen zu verschonen, ebenso wie Kranke, Ältere und Jugendliche.55 Nicht einmal die Nazis gingen so weit, einen Kriegshelden ins Konzentrationslager zu schicken. Gustav Kleinmann wurde entlassen.

In den nächsten Tagen begannen die Transporte. Überall in der Stadt fuhren die grünen Polizeiwagen und brachten jüdische Männer zur Verladerampe des Westbahnhofs. Darunter waren durchaus auch Kriegsveteranen, aber sie hatten entweder nicht Gustavs Auszeichnungen oder keine Bekannten bei der Polizei. Auf dem Westbahnhof wurden die Häftlinge in Güterwaggons verladen. Einige kamen nach Dachau, andere nach Buchenwald. Viele wurden nie wieder gesehen.

 

אבא

Zum Klang des Hammers wickelte sich Gustav mit abwesendem Blick einen Stoffstreifen um die Finger: ein Stück Abfall, Überrest seiner Werkstatt, mit der er seinen Lebensunterhalt verdient hatte. Auf der anderen Straßenseite trieb ein Mann Nägel in die Bretter, mit denen zerbrochene Fensterscheiben verschlossen wurden. Früher hatten sie zu einem jüdischen Laden gehört, der jetzt nicht mehr jüdisch war.

Gustav schaute die Straße Im Werd hinunter, zum Markt, zur Leopoldsgasse. So viele Geschäfte hatten jüdischen Freunden gehört und standen jetzt leer oder waren von Nichtjuden übernommen worden. So wie die Nachbarn, die ihn und Fritz der SA ausgeliefert hatten, waren viele neue Besitzer mit den Vorgängern befreundet gewesen. Ochshorns Parfümerie am anderen Ende des Marktplatzes gehörte jetzt Willi Pöschl, einem Nachbarn von Gustav. Die Metzger, Geflügel- und Obsthändler hatten ihre Marktstände verloren. Eine ehemalige Freundin von Gustav, Mitzi Steindl, hatte sich besonders darin hervorgetan, die Juden zu verdrängen und ihre Geschäfte zu übernehmen. Sie war arm gewesen, und Gustav hatte sie oft als Näherin beschäftigt, um ihr ein wenig zu helfen.

Nachdem nun von staatlicher Seite eine ganze Bevölkerungsgruppe zu Feinden erklärt worden war und angesichts der Chance, schnell Profit zu machen, wandten sich manche »Freunde« ohne zu zögern und ohne Skrupel gegen ihre Freunde. Viele von ihnen hatten regelrecht Freude daran, andere hereinzulegen, einzuschüchtern, zu plündern, zu prügeln – und an den Deportationen. Für die weitaus meisten konnte es keine Freundschaft mit Juden geben. Denn wie könnte ein gefährliches Raubtier mit einem Menschen befreundet sein? Unvorstellbar!

Ein englischer Journalist schrieb: »Es ist wahr, dass es keine formellen Todesurteile gegen die Juden in Deutschland gibt. Man macht es ihnen lediglich unmöglich zu leben.«56



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