Fritz und Kurt – Zwei Brüder überleben den Holocaust. Eine wahre Geschichte - Jeremy Dronfield - E-Book

Fritz und Kurt – Zwei Brüder überleben den Holocaust. Eine wahre Geschichte E-Book

Jeremy Dronfield

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Beschreibung

Der Junge, der seinem Vater nach Auschwitz folgte

Es ist das Jahr 1938. Die Brüder Fritz und Kurt leben mit ihrer Familie in Wien. Wie alle Juden geraten sie nach dem Einmarsch der Nationalsozialisten in Lebensgefahr. Der Vater Gustav und Fritz werden zunächst ins Konzentrationslager Buchenwald deportiert. Als Gustav nach Auschwitz verlegt wird, folgt Fritz dem Vater freiwillig.

Kurt erhält die Möglichkeit, nach USA auszureisen und wächst bei einer amerikanischen Familie auf.

Fritz und seinem Vater Gustav gelingt es, die Hölle von Auschwitz zu überleben – durch ihren außerordentlichen Mut und ihr Durchhaltevermögen und die Hilfe von Freunden. Sie kehren beide nach Wien zurück. Kurt folgt ihnen im Jahr 1956.

Kein Roman – sondern das Schicksal der jüdischen Familie Kleinmann. Recherchiert und aufgeschrieben hat diesen erschütternden Bericht der Historiker Jeremy Dronfield. Die Lebensgeschichte von Gustav und Fritz wurde zunächst als Buch für Erwachsene veröffentlicht (in Deutschland unter dem Titel „Der Junge, der seinem Vater nach Auschwitz folgte“). Die vorliegende Ausgabe wurde ergänzt durch das Schicksal des jüngeren Bruders Kurt und mit vielen Zeichnungen des renommierten Illustrators David Ziggy Greene versehen.

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Seitenzahl: 343

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Autor

Jeremy Dronfield, geboren 1965, ist Historiker und Archäologe. Er hat mehrere preisgekrönte Biografien und Bücher zu historischen Themen veröffentlicht.

Übersetzerin

Birgit Franz ist Buch- und Kommunikationswissenschaftlerin und betreut mit ihrer Agentur Marketing & Text seit zwei Jahrzehnten verschiedenste Projekte unter anderem im Bereich Kinder- und Jugendbuch. Sie engagiert sich für die Leseförderung, kuratiert ein Kinderlesefestival und andere Veranstaltungen und hat zahlreiche Bücher übersetzt.

Jeremy Dronfield

Zwei Brüder überleben den Holocaust

Eine wahre Geschichte

Zeichnungen von David Ziggy Greene

Aus dem Englischen von Birgit Franz

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor.

Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Erstmals als cbt Taschenbuch Januar 2024

© 2024 für die deutschsprachige Ausgabe

cbj Kinder- und Jugendbuch Verlag in der

Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

Die Originalausgabe erschien 2023 unter dem Titel

»Fritz and Kurt« bei Puffin Books, Penguin Random House UK, London

Text © Jeremy Dronfield, 2023

Illustrationen © David Ziggy Greene, 2023

Übersetzung: Birgit Franz

Lektorat: Eva Spessa

Covergestaltung: Suse Kopp

Coverillustration: David Ziggy Greene

ck · Herstellung: AJ

Satz und E-Book-Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 978-3-641-30236-8V001

www.cbj-verlag.de

Dieses Buch ist der Erinnerung an

Gustav,

Tini,

Edith,

Herta,

Fritz,

Kurt,

und allen Opfern und Überlebenden der Verfolgung durch die Nationalsozialisten gewidmet.

Länder und Grenzen in Europa vor 1933

Inhalt

Einleitung

Sagt Ja!

Sabbat

Das Ungeheuer

Der Anschluss und die Ausgrenzung

Kristallnacht

Die Reise

Das kleine Lager

Der Steinbrecher

Leise Hoffnung

Der Weg ins Leben

Neue Welt

Glückskind

Die Endlösung

Let’s all fight!

Eine Stadt, die Auschwitz heißt

Der Tag wird kommen, an dem wir frei sind

Weit weg von zu Hause

Der Widerstand

Ein zuverlässiger Freund

Für das Leben kämpfen

Ein verzweifelter Plan

Der Todesmarsch

Das Ende der Welt

Alle haben gekämpft

Die Rückkehr

Was danach geschah

Nachtrag

Zeittafel

Anmerkungen für Eltern, Erzieher und Lehrer

Fußnoten

Einleitung

Die Geschichte in diesem Buch ist wahr. Ich muss das immer wieder sagen, denn manchmal könnte man meinen, sie sei erfunden. Die Menschen darin erleben so viele schockierende und unfassbare Dinge, dass es verzeihlich wäre, zu glauben, dass nichts davon wirklich passiert sein kann.

Ich kannte einen dieser Menschen. Kurt Kleinmann war acht Jahre alt, als diese Geschichte begann. Kurt und sein Bruder Fritz sahen schon als Kinder Dinge, die niemand jemals sehen müssen sollte. Kurts Mutter musste ihn ganz allein um die halbe Welt schicken, um ihn in Sicherheit zu bringen. Fritz war älter und hatte weniger Glück. Er wurde in ein furchtbares Lager geschickt, wo Tag für Tag Menschen getötet wurden.

Einige Mitglieder von Kurts Familie – darunter Fritz und sein Vater – haben in Büchern oder Tagebüchern darüber geschrieben, was passiert ist. Andere Menschen, die zur selben Zeit gelebt haben, haben auch darüber geschrieben, was damals los war. Außerdem gibt es offizielle Aufzeichnungen. Ich habe sie alle gründlich studiert und kann euch versichern, dass diese Geschichte nicht erfunden ist, auch wenn sie manchmal unglaubwürdig scheint. Ich wünsche mir oft, sie wäre erfunden, denn sie erzählt von so vielen entsetzlichen Dingen, die es eigentlich nicht geben darf. Aber sie erzählt auch von Mut und Liebe und von der Güte einiger Menschen.

Die in diesem Buch beschriebenen Ereignisse fanden während des Holocaust statt – eine schreckliche Zeit von 1933 bis 1945 in Deutschland und auch anderswo in Europa. Es begann damit, dass ein Mann namens Adolf Hitler in Deutschland Kanzler wurde. Hitler war der Anführer der Nazipartei. Die Nazis – oder auch Nationalsozialisten – tauchten kurz nach dem Ersten Weltkrieg auf, der 1918 geendet hatte. Deutschland und sein Verbündeter Österreich hatten diesen Krieg verloren, und in der Folge herrschten in Deutschland schreckliche Armut, Arbeitslosigkeit und Chaos. Hitler und seine Nazis gaben den Juden die Schuld daran – an der Niederlage ebenso wie am Chaos danach. Die Nazis waren fanatische Rassisten – sie verabscheuten jeden, der anders war als sie, und jüdische Menschen mochten sie am wenigsten.

Misstrauen und Hass gegenüber Juden nennt man Antisemitismus. Der war leider damals schon nicht neu, aber Hitler und seine Nazis hoben den Antisemitismus noch einmal auf eine ganz neue Ebene. In Hitlers Augen waren die Juden die Ursache für alles, was falsch lief in Deutschland, auch dafür, dass man den Krieg verloren hatte. Er glaubte, dass jüdische Menschen enormen Einfluss in der Weltpolitik und in der Wirtschaft hatten, und dass sie diese Macht für üble Zwecke nutzten. Das stimmte überhaupt nicht, und außerdem war es unfair. Deutsche und österreichische Juden hatten mutig im Krieg gekämpft, und die Niederlage Deutschlands war ganz sicher nicht ihre Schuld. Aber es war einfach, das zu behaupten, also taten es die Nazis.

Bis 1933 hatten die Nazis so viele Anhänger gewonnen und so viele Menschen teilten ihre Ideen, dass es Hitler gelang, an die Macht zu kommen. Hitlers Partei – die »Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei« oder kurz NSDAP – hatte zwar keine absolute Mehrheit, aber mehr Sitze im Parlament als jede andere Partei. Nach den Wahlen traf Hitler eine Abmachung mit mächtigen Leuten in Wirtschaft und Politik und konnte so auch ohne absolute Mehrheit im Parlament Reichskanzler werden. Die mächtigen Leute glaubten, dass sie Hitler kontrollieren und dafür sorgen könnten, dass die Nazis keinen Schaden anrichten. Da lagen sie falsch. Die Nazipartei übernahm sehr bald alles, von den Schulen über die Polizei bis hin zur Armee. Sie schafften die Wahlen ab und verboten alle anderen Parteien. Adolf Hitler wurde nur noch »der Führer« genannt. Alle in Deutschland mussten ihm gehorchen und niemand durfte ihn kritisieren.

Die Nazis begannen sofort, Juden zu drangsalieren. Sie nahmen ihnen ihre Arbeit und ihre Geschäfte weg, sie schlossen ihre Kinder von der Schule aus und versuchten, sie zu zwingen, Deutschland zu verlassen.

Wenn die Nazis Leute nicht mochten, sperrten sie sie in spezielle Lager, die Konzentrationslager genannt wurden. Zunächst betraf das ihre politischen Gegner und Menschen, die gegen die Nazis protestierten oder sich ihnen widersetzten. Doch schließlich begannen sie, auch Juden in diese Lager zu sperren – einfach nur, weil sie Juden waren.

Hitlerdeutschland marschierte in einige andere Länder ein, darunter das ehemals verbündete Österreich, die Tschechoslowakei und Polen, und 1939 begann der Zweite Weltkrieg. Nach Kriegsbeginn war es für jüdische Bürger praktisch unmöglich, Deutschland zu verlassen. Diese Menschen wurden in östliche Länder deportiert mit dem »Versprechen«, dort einen neuen Lebensraum zu finden. Tatsächlich kamen sie in Konzentrationslager, in denen der kleinste Teil von ihnen arbeiten musste, alle anderen wurden meist noch am Tag ihrer Ankunft ermordet. »Vernichtung durch Arbeit« war das Motto dieser Lager. Dieses unaussprechliche Verbrechen wird als Holocaust bezeichnet (ein altes Wort, das »völlige Verbrennung« bedeutet) oder als Shoah (hebräisch für »die Katastrophe«). Die Nazis selbst hatten einen anderen Namen dafür. Sie nannten es »die Endlösung der Judenfrage«.

Der Holocaust war erst beendet, als die Kriegsgegner von Nazideutschland – darunter Großbritannien, die USA und die Sowjetunion – 1945 den Krieg schließlich gewannen. Bis dahin waren sechs Millionen Juden ermordet worden, und Millionen andere von den Nazis gehasste oder gefürchtete Menschen, wie zum Beispiel Sinti und Roma, Polen, Russen, Homosexuelle, Transpersonen und Menschen mit Behinderungen.

Mein Freund Kurt hat einiges davon erlebt, bevor er fliehen konnte. Sein Bruder Fritz musste es ganz durchleiden. Sie waren Kinder, als es begann, und es hat sie für immer verändert. Ihre Geschichte ist es, die dieses Buch erzählt. Sie beginnt 1938, in dem Jahr, als Hitler beschloss, in Kurts und Fritz’ Heimat Österreich einzumarschieren.

All das ist lange her – damals waren eure Großeltern noch nicht einmal geboren, und deren Mütter und Väter, eure Urgroßeltern, waren noch Kinder, ungefähr in dem Alter, in dem ihr jetzt seid. Die Welt war ein angsteinflößender Ort, voller Gefahren und Bedrohungen: Es gab Kriege und wütende Menschen, und viele Dinge änderten sich auf eine Weise, die niemand hatte vorhersehen können. Die Eltern machten sich Sorgen, wie sie ihre Kinder in so einer Welt beschützen konnten.

Ich erzähle die Geschichte einer Familie, die mehr Grund zur Sorge hatte als viele andere. Sie hieß Kleinmann. Gustav und seine Frau Tini hatten vier Kinder: zwei Mädchen und zwei Jungen – Edith und Herta, Fritz und Kurt. Sie lebten in Wien, der schönen alten Hauptstadt von Österreich.

Sagt Ja!

Kopfball!«

Fritz sprang in die Luft und streckte sich nach dem Fußball, den sein Freund Leo geschossen hatte. Der Ball flog über seinen Kopf, knallte gegen einen Laternenpfahl und rollte auf die Straße. Fritz rannte ihm nach. Ein Fuhrwerk, das von einem riesigen struppigen Pferd gezogen wurde, donnerte auf ihn zu.

»Weg da!«, schrie der Fahrer, und Fritz machte einen Satz rückwärts.

Er hörte den Hufschlag und das Rattern der Räder, dann war das Gefährt vorüber. Das Pferd war auf den Ball getreten und hatte ihn platt gedrückt. Es war kein echter Fußball, nur ein Bündel Lumpen, zusammengerollt und fest verschnürt. Fritz und seine Freunde konnten sich keinen echten Lederfußball leisten. Fritz drückte und rollte das Bündel, bis es wieder rund war, dann kickte er den Lumpenball zu Leo zurück.

Fritz Kleinmann und Leo Meth wohnten nicht weit voneinander entfernt. Fritz hatte viele Freunde – eine große Bande –, aber Leo war der, an den er sich sein ganzes Leben lang erinnern würde. Sie spielten nachmittags auf dem freien Platz am Karmelitermarkt, gleich gegenüber der Wohnung von Fritz’ Familie. Nach der Schule waren die Marktstände schon geschlossen, dann hatten die Bauern ihre unverkauften Waren zusammengepackt und waren mit ihren Karren nach Hause geklappert.

Fritz und die anderen Kinder liefen zwischen den leeren Ständen herum und kickten sich gegenseitig den Ball zu. Nur Frau Capek, die Obstverkäuferin, war noch da. Sie packte immer erst zusammen, wenn es dunkel wurde. Im Sommer schenkte sie den Kindern Maiskolben. Die meisten Jungen und Mädchen, die sich hier herumtrieben, waren arm und nahmen jedes Essen an, das sie geschenkt bekamen. Manchmal waren es ein paar Scheiben Wurst vom Metzger, alte Brötchen vom Bäcker oder – und das war das Beste von allem – Cremeschnitten oder rosa Waffeln von der Konditorei in der Taborstraße. Die Wiener Torten waren die besten der Welt.

Leo kickte den Ball wieder hoch in die Luft, und zwei ihrer Freunde sprangen ihm nach, aber dieses Mal stoppte Fritz ihn mit dem Kopf. Er begann auf dem Kopfsteinpflaster über den Platz zu dribbeln. Gerade wollte er den Ball mit einem harten Schuss über den Stand von Frau Capek hinwegbefördern, als er einen Polizisten auf sie zukommen sah. Das konnte Ärger geben, wenn er sie beim Fußballspielen erwischte. Ballspiele waren auf dem Marktplatz verboten, auch wenn es die einzige freie Fläche in der Nachbarschaft war.

Der Polizist warf den Jungen einen strengen Blick zu. Schnell wie der Blitz ließ Fritz den Ball unter dem Stand verschwinden und Frau Capek stülpte eine Kiste darüber. Sie legte den Zeigefinger auf den Mund. Pssst. Der Polizist sah die Jungen misstrauisch an, als er vorbeiging, aber die machten die unschuldigsten Gesichter der Welt. Dann war er weg.

Als Fritz den Ball wieder herausholte und sich bei Frau Capek bedankte, hörten sie in der Ferne einen Alarm. Tra-ra, tra-ra! Die Feuerwehr rückte aus!

Fritz und Leo hatten sofort denselben Gedanken. Ehe ihre Freunde begriffen, was los war, waren die beiden schon in Richtung des Lärms losgelaufen. Sie rannten bis zum Ende der Standreihe und bogen dann in die Leopoldsgasse ab.

»Fritz! Wart’ auf mich! Fritz!«

Fritz drehte sich um und sah seinen kleinen Bruder Kurt. Kurt hatte keine Chance, sie einzuholen: Fritz und seine Freunde waren vierzehn Jahre alt, Kurt gerade eben acht. Er hatte eine eigene Bande gleichaltriger Kinder, aber oft schlossen sie sich den älteren Jungen an, die sie unter ihre Fittiche nahmen.

Fritz wartete ungeduldig. Als Kurt ihn endlich eingeholt hatte, waren Leo und die anderen schon fast außer Sichtweite.

»Mama sagt, du sollst heimkommen«, sagte Kurt. »Es gibt Abendessen.«

Fritz wollte noch nicht nach Hause. Er wollte weiter, den Feuerwehrwagen sehen. Er stand am Gehsteigrand und überlegte, ob er die Straße überqueren und seinen Freunden hinterherlaufen sollte oder umkehren und mit Kurt heimgehen.

Auf der Straße war viel Verkehr, Lastwagen waren unterwegs und die schweren Karren der Kohlenhändler und Brauereien. Dann sah er, dass Herr Löwy, ihr Nachbar, auf der gegenüberliegenden Seite stand und die Fahrbahn überqueren wollte. Herr Löwy hatte als Soldat im Krieg sein Augenlicht verloren. Nun stand er am Bordstein, horchte auf den donnernden Verkehr und tastete mit seinem Gehstock über den Boden.

Fritz schlängelte sich zwischen den Fahrzeugen durch auf die andere Straßenseite und nahm Herrn Löwy bei der Hand.

»Ich bin’s, der Fritz«, sagte er. »Ich helf Ihnen.«

»Der Junge von Gustav?«, fragte der alte Mann. »Wie geht es deinem Vater?«

»Es geht ihm gut, danke, Herr Löwy. Da ist eine Lücke! Beeilen Sie sich.«

Fritz führte Herrn Löwy über die Straße, und dieser setzte seinen Weg fort, mit dem Gehstock über die Pflastersteine tastend.

Als Fritz zu Kurt zurückkehrte, starrte dieser auf den Boden. »Was ist das?«, fragte er und zeigte auf das Pflaster.

Fritz schaute hinunter und sah, dass jemand auf jede freie Stelle Parolen gepinselt hatte – auf den Gehweg, die Straße, sogar an die Hauswände. Überall stand in weißer Farbe derselbe Aufruf:

SAGTJA!

JAFÜRÖSTERREICH!

JAZURFREIHEIT!

Fritz wusste, was es damit auf sich hatte. Diese Parolen waren einer Gründe, warum sich ihre Mutter in letzter Zeit solche Sorgen machte, wenn sie noch nach Einbruch der Dunkelheit draußen spielten. Sie warben für die große Abstimmung, die in ein paar Tagen stattfinden sollte.

»Es geht um Hitler«, sagte Fritz. »Wir werden ihm zeigen, wer hier das Sagen hat.«

Den Namen Hitler hatte Kurt schon gehört. Auch wenn er nicht wirklich verstand, wer Hitler war, wusste er, er war gefährlich. Ein kalter Schauer rieselte ihm den Rücken hinunter.

Fritz wiederum wusste, dass von allen Gefahren auf der Welt Adolf Hitler die schlimmste war. Österreich war das Nachbarland von Deutschland, wo Menschen an die Macht gekommen waren, die sich Nationalsozialisten, oder kurz »Nazis«, nannten. Adolf Hitler war ihr Anführer.

Die Nazis waren sehr wütend und wollten alles und jeden kontrollieren. Hitler und sein Gefolge trugen Uniformen wie Soldaten. Sie liebten den Krieg und hassten alle Menschen, die anders waren als sie selbst: Fremde, Menschen mit anderer Hautfarbe, fahrende Völker, homosexuelle Menschen, alle, die andere Vorstellungen davon hatten, wie eine Gesellschaft funktionieren sollte, und überhaupt alle, die sie nicht für »wahre Deutsche« hielten. Weil die Nazis in Deutschland regierten, entschieden sie, wer kein »wahrer Deutscher« war. Und das war im Grunde jeder, den sie nicht mochten. Das ergab zwar keinen Sinn, aber das war den Nazis egal. Deutschland sollte groß und mächtig sein, und sie wollten, dass es wie in alten Zeiten war – das heißt so, wie sie sich diese alten Zeiten vorstellten. Sogar moderne Künstler, die in neuen Stilrichtungen malten, wurden »entartet« genannt, und ihre Werke wurden verboten.

Vor allem aber hassten die Nazis jüdische Menschen. Juden gibt es bereits seit vielen Tausend Jahren, und ihre Religion hat einige Ähnlichkeiten mit dem christlichen Glauben. Aber ihre Vorstellungen von Gott unterscheiden sich von denen der Christen, und sie haben ihre eigenen Traditionen und Feiertage. Viele Menschen misstrauen jedem, der anders ist als sie selbst, und die Nazis waren besonders misstrauisch gegenüber allem, was anders war. Sie hielten jeden, der nach ihrer eigenen Definition kein »echter Deutscher« war, für eine Gefahr für die gesamte Gesellschaft in Deutschland. Und was jüdische Menschen betraf: Die Nazis glaubten – ohne jede Begründung –, dass sie die Ursache allen Übels auf der Welt waren.

Adolf Hitler reichte es nicht, in Deutschland zu regieren. Er wollte auch in Österreich an die Macht. Österreicher sprechen deutsch, die beiden Länder haben viel gemeinsam, und Hitler war in Österreich geboren worden – also fand er, dass ihm das Land ebenfalls zustehe. Er hatte den Anschluss an das Deutsche Reich gefordert, aber der österreichische Bundeskanzler Kurt Schuschnigg lehnte das ab. Am kommenden Sonntag sollte eine große Abstimmung stattfinden, die beweisen sollte, dass das österreichische Volk unabhängig bleiben wollte. Darum ging es in den Parolen auf dem Bürgersteig – Ja zu Österreich! Ja zur Freiheit! Hitler war darüber sehr wütend. So wütend, dass er vielleicht sogar seine Soldaten zur Eroberung Österreichs schicken würde.

In der Gegend rund um den Karmelitermarkt lebten Hunderte jüdische Familien, darunter auch Fritz und Kurt und ihre Familie, die Kleinmanns. Der Gedanke, dass die deutschen Nationalsozialisten an die Macht kommen könnten, jagte der jüdischen Bevölkerung große Angst ein.

Noch beängstigender war, dass es auch in Wien Menschen gab, die die Nationalsozialisten mochten und wollten, dass Hitler hierherkam.

Fritz und Kurt drehten sich um und wollten nach Hause gehen.

»He, Fritz!«

Das war Leo, und bei ihm war Hans, ein gemeinsamer Freund. Leo hielt ein süßes Sahneteilchen in der Hand und beide Jungen hatten einen verschmierten Mund.

»Der Bäcker Anker hat uns Kuchen geschenkt!«, sagte Leo. »Ich habe dir einen aufgehoben. Aber die Feuerwehr haben wir aus den Augen verloren.«

Das Sahneteilchen hatte schon bessere Zeiten gesehen und war ein bisschen zerdrückt, aber immer noch lecker. Fritz brach es in der Mitte auseinander und teilte es mit Kurt, während sie zu viert nach Hause liefen.

»Glaubst du, dass Hitler kommt?«, fragte Fritz.

»Nach Wien?«, antwortete Leo. »Keine Ahnung.« Leo war auch Jude, wie viele ihrer Freunde.

»Ich glaub schon«, sagte Hans. »Das würde zu ihm passen.«

Hans war zum Teil jüdisch und wusste, wovon er sprach. Seine Familie war vor ein paar Jahren aus Deutschland nach Wien gezogen, nachdem sein Vater Schwierigkeiten bekommen hatte, weil er gegen die Nazis protestiert hatte. Hans’ Vater war Friseur, und er erzählte allen Männern der Nachbarschaft, die sich bei ihm die Haare schneiden ließen, von den schrecklichen Dingen, die man den Juden in Berlin angetan hatte.

»Ja, Hitler wird kommen«, wiederholte Hans und leckte sich die Sahne von den Fingern.

»Aber nicht heute!«, sagte Leo und stupste Fritz freundschaftlich an.

Leo hatte recht. Heute war ein guter Tag gewesen. Fritz nahm die Hand seines Bruders, sie war klebrig vom Zuckerguss. Sie gingen über die Straße zum Wohnhaus, in dem sie lebten. Hans und Leo rannten in der anderen Richtung über den Karmelitermarkt nach Hause.

»Wird Hitler wirklich kommen?«, fragte Kurt ängstlich. Fritz war sein Held, er war älter und klüger. Kurt vertraute niemandem mehr als seinem Bruder.

Fritz antwortete nicht sofort. Er wusste es selbst nicht und er wollte auch gar nicht darüber nachdenken.

»Vielleicht«, gab er zurück. »Vielleicht auch nicht.«

Er strubbelte Kurt durch die Haare und schmierte ihm dabei etwas Sahne hinein.

»Es ist, wie Leo es gesagt hat: heute nicht! Und jetzt machen wir uns ein bisschen sauber. Mama wird ärgerlich, wenn sie mitkriegt, dass wir vor dem Abendessen Kuchen gegessen haben.«

Sabbat

Als Fritz am nächsten Nachmittag die Schule verließ, ereignete sich etwas Seltsames.

Fritz war Schüler an der Gewerbeschule, an der Jungen Handwerksberufe wie Klempner oder Schreiner erlernten (Mädchen war das zu dieser Zeit noch nicht erlaubt). Er machte eine Ausbildung zum Polsterer – er lernte, die weichen Bezüge für Sessel und Sofas herzustellen. Sein Vater war Polsterer und Fritz wollte so sein wie er.

Heute war Freitag und sein Kopf war voller Pläne für das Wochenende. Als er vor die Tür trat, fiel ein Schneesturm aus flatterndem Weiß vom Himmel, wirbelte im lärmenden Verkehr der Straße und blieb in den Bäumen hängen. Das war kein Schnee, das war Papier!

Fritz schaute nach oben und sah, wie ein Flugzeug zahllose Flugblätter abwarf, die sich tanzend über die Straßen und Dächer verteilten.

Er bückte sich und hob eines auf. Auf dem Flugblatt waren dieselben Parolen abgedruckt, die auch auf alle Gehsteige in der Nähe ihrer Wohnung gemalt worden waren: »VOLKVONÖSTERREICH!«, begann der Aufruf für ein freies und unabhängiges Österreich, das sich nicht von Deutschland herumschubsen ließ. Er endete mit: »… stimme mit JA für Österreich!« Unterschrieben war er mit »Schuschnigg«, dem Namen des Bundeskanzlers.

Schon in zwei Tagen würden die Erwachsenen zur Abstimmung gehen. Die meisten Wiener unterstützten Kurt Schuschnigg, aber es gab auch Anhänger der Nazis, die wollten, dass Hitler die Macht übernahm und Österreich Teil des Deutschen Reichs wurde.

Motorenlärm näherte sich, und ein langer Konvoi von Militärfahrzeugen, voll besetzt mit Soldaten, donnerte an Fritz vorbei. Er nahm an, dass sie auf dem Weg zur Grenze waren, um sie vor den Deutschen zu schützen. Mit einem Mal hatte er doch etwas Angst. Die Vorstellung, dass Hitler kam, schien plötzlich ein kleines bisschen weniger weit weg.

Der Heimweg durch das Stadtzentrum bis auf die andere Seite des Donaukanals war weit. Als Fritz den Karmelitermarkt erreichte, begannen die Händler gerade, ihre Stände zu schließen. Aber heute würden sie nicht Fußball spielen. Für den heutigen Abend hatte Fritz andere Pläne.

Seine Mutter kam ihm mit vollen Einkaufstaschen vom Markt entgegen. Sie sah ihn und rief: »Fritz, hilf mir tragen!« Fritz nahm die schwerste Tasche und roch das Mehl, das frische Brot und den Kohl. Mama wirkte besorgt. Ihre Lippen waren zu einer dünnen Linie zusammengepresst und rund um ihre dunklen, hübschen Augen sah er Sorgenfalten. In letzter Zeit sah sie oft so aus. Sie machte sich Sorgen wegen allem und Fritz machte sich Sorgen um sie.

Der Markt und die Straße waren übersät mit den Flugblättern an das »Volk von Österreich«. Als Fritz und seine Mutter darauf warteten, die Straße überqueren zu können, näherte sich eine Lastwagenkolonne. Auf den Ladeflächen saßen Jungen und Mädchen der Österreichischen Jugendbewegung (so etwas wie die Pfadfinder heute). Sie sangen die Nationalhymne und warfen noch mehr Flugblätter. Ein paar von ihnen schrien: »Sagt Ja!«, und: »Stimmt mit Ja für Österreich!«

Die Menschen jubelten ihnen zu, schwenkten die Hüte, stimmten in den Gesang ein und riefen: »Österreich! Österreich!«

Mama lächelte und die Linien um ihre Augen verschwanden. Aber Fritz fiel auf, dass nicht alle Menschen jubelten. Eine kleine Gruppe von älteren Jungen und Männern stand an der Straßenecke, blickte finster drein und tuschelte. Nazis, dachte Fritz, als er die Straße überquerte. Die österreichische Nazipartei war zwar offiziell verboten, hatte aber viele heimliche Mitglieder.

Fritz rannte die Stufen zum zweiten Stock hinauf. Als er in die Wohnung kam, war Kurt schon zu Hause – seine Grundschule war nur wenige Straßen entfernt. Er saß mit seiner großen Schwester Edith am Klavier und sie brachte ihm das fröhliche Kinderlied »Kuckuck, Kuckuck, ruft’s aus dem Wald« bei.

Die Wohnung war winzig, sie hatte nur zwei Räume – eine Küche und ein Schlafzimmer. (Sie hatten sehr wenig Geld und konnten sich nichts Größeres leisten.) Die Küche war zugleich das Wohnzimmer und sie alle teilten sich das Schlafzimmer. Es gab drei Betten und ein Sofa und auf ihnen schlief die Familie. Alle sechs. Dazu gehörten Mama und Papa, die Tini und Gustav hießen. Kurt, der Jüngste, schlief in Mamas Bett und Fritz und Papa teilten sich das zweite Bett. Und dann waren da noch ihre beiden Schwestern: Die achtzehnjährige Edith hatte ein eigenes kleines Bett, und Herta, die fünfzehn Jahre alt war, schlief auf dem Sofa. Das Bad und die Toilette teilten sie sich mit den Familien aus den anderen Wohnungen des Stockwerks. Es war sehr beengt, aber zum Glück hatten sie ein gutes Verhältnis zu ihren Nachbarn.

Mama holte Fritz ein und sie stellten die vollen Taschen auf dem alten, abgenutzten Küchentisch ab.

»Lauf zu Papa runter und sag ihm, in einer Stunde ist das Abendessen fertig.«

Fritz rannte zur Tür.

»Und erinnere ihn daran, dass heute Sabbat ist!«

»Mach ich!«

Der Sabbat[*] ist ein heiliger Wochentag für die Juden, wie der Sonntag für die Christen. Er beginnt am Freitagabend bei Sonnenuntergang und dauert bis zum Sonnenuntergang am Samstag. Für viele Juden ist der Sabbat eine Zeit des Gebets, in der spezielle Kerzen angezündet werden. Diejenigen, die ihren Traditionen streng folgen, gehen am Sabbat keiner Arbeit nach. Zur Arbeit gehört auch alles, was ihr irgendwie ähnelt, wie zum Beispiel Autofahren. Die Familie von Fritz war überhaupt nicht streng. Für sie war es einfach eine Zeit, in der sie zusammen waren, und am Abend gab es ein traditionelles Sabbatessen.

Die Werkstatt von Fritz’ Papa war im Erdgeschoss des Wohnhauses. Auf dem Türschild stand:

GUSTAVKLEINMANN,POLSTEREI

MEISTERBETRIEB

Moderne Möbel – Reparaturen aller Art

Als Fritz eintrat, arbeitete Papa gerade konzentriert an den Bezügen eines Polstersessels.

Der rohe Sessel stand auf dem Boden – das nackte Holz, die Sprungfedern und die Polsterung aus Pferdehaar. Papa bereitete ihn vor, während seine Mitarbeiterin Mitzi Steindl den Bezug nähte. Die Nähmaschine surrte und stichelte durch den dicken Stoff mit Federmuster. Papa konnte sich eigentlich keine Mitarbeiterin leisten, aber Mitzis Mann war arbeitslos. Papa beschäftigte sie, weil er ihr damit helfen konnte, ihre Miete zu bezahlen. So war Gustav Kleinmann – immer bereit, einen Freund oder Nachbarn zu unterstützen.

»Grüß dich, Fritz«, sagte Mitzi lächelnd. »Hattest du einen schönen Tag in der Schule?«

»Grüß Gott, Frau Steindl. Ja, danke.«

»Nicht mehr lange, und dann wirst du das Geschäft übernehmen!« Mitzi drückte auf das Pedal und die Maschine surrte weiter.

»Mama lässt ausrichten, dass das Essen in einer Stunde fertig ist, Papa«, sagte Fritz. »Und ich soll dir sagen …«

»Ja, ja, ich weiß. Heute ist Sabbat«, entgegnete Papa. »Fritz, mein Bub, hilf mir bitte mal. Zeig mir, was sie dir in der Schule beibringen.«

Mitzi war mit dem Nähen fertig. Gemeinsam zogen Fritz und Papa den Bezug über den Sessel. Fritz beobachtete seinen Vater aufmerksam bei der Arbeit, er bewunderte seine handwerklichen Fähigkeiten.

Papa war ein ruhiger Mann. Nie brüllte er die Kinder an, er hatte immer ein Lächeln für jedermann und schien sich nicht viele Sorgen zu machen. Im Krieg hatte er gegen Russland gekämpft, viele Jahre bevor Fritz geboren worden war. Er wirkte überhaupt nicht wie ein Soldat, aber er war mit Orden ausgezeichnet worden, die es bewiesen. Alle jungen Männer sahen zu ihm auf, und Fritz war stolz darauf, sein Sohn zu sein.

Fritz hielt den Stoff in Position und Papa schlug die Polsternägel ein. Er arbeitete schnell, der kleine Hammer flog und klackerte, tock-tock-tock.

Als sie den Sessel bezogen hatten und, nachdem sie Mitzi eine Gute Nacht gewünscht hatten, nach oben in die Wohnung kamen, waren die Vorbereitungen für das Abendessen in vollem Gange. Kurt stand auf einem Stuhl am Tisch und half Mama beim Kochen. Edith las und Herta – die gutherzige Herta, nach Fritz’ und Kurts Meinung die Schönheit der Familie – flickte den Saum eines Kleides. Im Radio spielte leise Musik.

Kurt liebte den Sabbatabend. Er genoss es, Mama beim Kochen zu helfen. Manchmal gab es Wiener Schnitzel. Dann klopfte Mama das Fleisch, bis es zart wie Samt war, und Kurt legte es erst in Mehl, dann in verquirltes Ei und schließlich in Semmelbrösel. Zuletzt briet Mama die Schnitzel in der Pfanne. Heute aber gab es Hühnersuppe mit Nudeln. Kurts Aufgabe war es, den Nudelteig so dünn wie Pfannkuchen auszurollen, dann schnitt Mama ihn in Streifen und legte diese in den Topf.

Papa zog die Schuhe aus, setzte sich in seinen Lehnstuhl, schlug die Tageszeitung auf und verschwand dahinter. Er murmelte vor sich hin, dass keine »g’scheiten« Nachrichten drinstünden. Er hatte Gerüchte über Kämpfe an der Grenze zu Deutschland und über Naziaufmärsche in einigen österreichischen Städten gehört. Manche glaubten, dass sich die Wiener Polizei auf die Seite der Nationalsozialisten schlagen würde, sollten sie in der Stadt an Macht gewinnen. Nichts davon stand in der Zeitung.

Als das Abendessen fertig war, setzte sich die ganze Familie an den Tisch. Das war ein schöner Moment und Kurt würde sich sein Leben lang an diese Abendessen erinnern. Doch er aß hastig, denn der zweite Grund, warum er den Sabbat liebte, folgte nach dem Abendessen: dann würde er im Chor des Stadttempels, der Wiener Hauptsynagoge[**], singen.

»Schling die Suppe nicht so hinunter«, mahnte Mama. »Du kriegst Bauchweh.«

»Tut mir leid«, sagte er und versuchte, langsamer zu essen.

»Keine Sorge, Kurtl, wir kommen schon nicht zu spät«, sagte Fritz. Ihm fiel es zu, den Bruder an den Chorabenden zu begleiten und ihn sicher wieder nach Hause zu bringen.

Gleich darauf löffelte Kurt seine Suppe wieder so schnell wie vorher.

Papa schmunzelte. »Einen Spitzbub kannst du nicht ändern«, sagte er und zwinkerte Kurt zu. »Stimmt’s?«

So nannten sie ihn immer: Spitzbub, also Schlawiner oder Schlitzohr.

Kurt aß die letzten Reste seiner Suppe auf und ließ seinen Löffel scheppernd in die Schale fallen. Seine Mama murmelte missbilligend, aber Papa lächelte nur.

Bis Fritz mit dem Essen fertig war, stand Kurt bereits ungeduldig in Mantel und Schuhen an der Tür. »Ich gehe zu Herrn und Frau Neuberger«, sagte er. »Ich hab ihre Lampen vergessen. Bin gleich wieder da!«

Er lief durch das Treppenhaus und klopfte an der Tür mit der Nummer 15. Ein älterer Herr mit langem grauen Bart und einer Brille öffnete.

»Du bist spät dran, junger Mann«, sagte er und sah Kurt an.

»Tut mir leid, Herr Neuberger. Bin auf dem Weg zum Chor.«

In der Wohnung war es dunkel. Herr und Frau Neuberger waren orthodoxe Juden und hielten die Sabbatregeln sehr strikt ein. Die erlaubten es ihnen nicht einmal, solche alltäglichen Dinge zu tun wie das Licht einzuschalten. Es war Kurts Aufgabe, bei ihnen zu klingeln und das für sie zu erledigen.

»Danke dir, mein Junge«, sagte Frau Neuberger lächelnd. Sie hielt Kurt ganz und gar nicht für einen Spitzbub.

»Gerne!«

Als die Wohnung der Neubergers hell erleuchtet war, ging Kurt zurück in den Hausflur. Fritz trat gerade aus der Wohnungstür und zog sich, mit einem Brotkanten im Mund, seine Jacke an.

Mit vollem Mund murmelte er: »Dann komm pfschommm.« Er schlug die Tür hinter sich zu und gemeinsam eilten die beiden die Treppe hinunter.

Draußen war es schon dunkel, trotzdem waren viele Menschen unterwegs. Wien war auch abends eine lebendige Stadt, mit hell erleuchteten Cafés, Bars und Restaurants. Als sie die Donaukanalbrücke überquerten und sich dem Stadtzentrum näherten, wurden die Straßen noch heller und voller.

Sie wollten zum Stadttempel, einer der wichtigsten Synagogen in Wien.

Kurt war stolz darauf, zu ihrem Chor zu gehören. Er liebte die Lieder und den Lobgesang, und er freute sich über das Taschengeld und die Schokoriegel, die die Chorjungen als Belohnung bekamen. Im Sommer fuhren sie zu Chorferien aufs Land. (Nicht ans Meer, weil Österreich keine Küste hat. Kurt hatte das Meer bisher nur auf Bildern gesehen.)

»Hallo! Wo bleibt ihr so lange?«, fragte Leo, der an der Ecke bei der Brücke auf Fritz wartete.

Fritz gab Kurt einen freundlichen Knuff. »Von hier aus kennst du den Weg eh, oder?«

»Sowieso«, antwortete Kurt. »Nur um die Ecke.«

»Leo und ich sind dann weg, wir spielen Billard. Bis später.«

In der Nähe des Stadttempels gab es ein Lokal, das Fritz meist besuchte, wenn Kurt beim Gottesdienst war. Er war eigentlich nicht alt genug, aber sein Bruder verpetzte ihn nie bei den Eltern. Kurt lief allein durch die mit Kopfstein gepflasterte Gasse, die zur Synagoge führte.

An diesem Abend war es voll. Der Stadttempel war wunderschön: Ein runder Raum mit Balkonen, die von weißen Säulen mit goldenen Verzierungen getragen wurden. Kurt schaute vom obersten Balkon, auf dem der Chor sang, auf die dicht besetzten Bänke hinunter. Es war so voll, dass die Leute Schulter an Schulter in den Gängen standen. Die Wiener Juden hatten Angst vor Hitlers Drohungen, und viele waren gekommen, um zu beten und Trost zu finden. Die erhebende Musik beruhigte Kurt und die vertrauten Gesänge des Gottesdienstes hüllten ihn ein wie eine warme Decke.

Am Ende des Gebets hielt Dr. Lehmann, der Schriftgelehrte[***] der Synagoge, eine mitreißende Rede.

Er lobte den österreichischen Bundeskanzler Kurt Schuschnigg für seinen Widerstand gegen Hitler und schloss mit dem vertrauten kämpferischen Aufruf: »Wir sagen Ja! Ja zu Österreich!«

Alles würde gut werden, dachte Kurt. Die Österreicher würden mit JA stimmen und sie würden alle frei bleiben. Hitler würde nicht die Macht übernehmen.

Er war überrascht, als Fritz und Leo nach dem Gottesdienst in der Gasse vor der Synagoge auf ihn warteten. Meist war es umgekehrt, und Kurt musste auf Fritz warten, der so vertieft ins Billardspiel war, dass er die Zeit vergaß. Fritz und Leo wirkten besorgt, und Kurt spürte, wie sein Herz sofort schneller schlug.

»Komm schon, mach schnell!«, sagte Fritz. Er nahm Kurt bei der Hand und eilte die Gasse hinunter.

Kurt musste laufen, um mithalten zu können.

»Was ist los?«, fragte er. »Du tust mir weh!«

»Wir müssen schnell nach Hause«, sagte Leo.

»Warum? Was ist denn los?«

»Mach dir keine Gedanken«, sagte Fritz. »Lauf einfach.«

Schlimm genug, wenn seine Eltern so etwas sagten und nichts weiter erklärten. Aber noch schlimmer war es, wenn sein großer Bruder das tat.

»Ich versteh’s nicht! Fritz, sag mir was los ist.«

Jetzt, da sie die breite Hauptstraße erreicht hatten, konnten sie aus der Ferne den Lärm von singenden und jubelnden Menschen hören – sie klangen wie die Zuschauer bei einem Fußballspiel. Die Schlachtrufe kamen näher und wurden lauter.

»Das sind die Nazis«, sagte Fritz.

Es dauerte einen Moment, bis Kurt seine Stimme fand: »Ist Hitler da?«

»Nein«, sagte Fritz. »Es sind österreichische Nazis. Hunderte!«

»Tausende!«, sagte Leo.

»Sie haben es im Radio gebracht«, sagte Fritz. »Schuschnigg hat aufgegeben. Hitler hat ihm gedroht und er hat einfach aufgegeben! Die Abstimmung wurde abgesagt.«

Die Jungen blieben stehen und drehten sich um. Der gelbliche Schein brennender Fackeln flackerte in der Dunkelheit und kam näher.

»Nieder mit den Juden!«, brüllte die marschierende Menge und schrie:

»Heil Hitler!«

»Sieg Heil!«

Diese deutschen Ausrufe würde noch die ganze Welt fürchten: Heil Hitler! Sieg Heil!

»Ein Volk, ein Reich, ein Führer!«, brüllten sie.

»Heute gehört uns Österreich, morgen die ganze Welt!«

»Tod den Juden!«

Und genau so, wie die Gerüchte es vorausgesagt hatten, marschierten Männer der Wiener Polizei mit den Nationalsozialisten und ihren Unterstützern!

Fritz griff wieder nach Kurts Hand und begann zu laufen.

Die drei Jungen rannten zur Brücke und der Jubel des Mobs hallte hinter ihnen durch die Gassen. Sie erreichten den Karmelitermarkt und Leo bog zu sich nach Hause ab. Fritz und Kurt überquerten eilig die Straße und stürzten die Treppen hinauf, die Schuhe auf den Steinstufen klappernd. Die Wohnungstür stand offen, ihre Eltern warteten schon auf sie.

Mama zog Kurt an sich und nahm ihn fest in die Arme. »Gott sei Dank, ihr seid in Sicherheit«, sagte sie.

»Es sind Nazis, Papa«, keuchte Fritz. »Sie haben sich am Stephansdom zusammengerottet. Sie marschieren in unsere Richtung!«

Papa scheuchte sie in die Wohnung und schloss die Tür. Edith und Herta saßen am Küchentisch und sahen verängstigt aus. Das Radio spielte getragene Musik. Papa schaltete es ab.

Fritz beschrieb noch einmal, was sich im Stadtzentrum ereignet hatte. »Habt ihr die Nachrichten im Radio gehört?«

Papa nickte. »Ja, haben wir.«

»Und was heißt das?«, fragte Kurt.

»Das heißt, dass die Deutschen kommen. Hitler wird in Österreich einmarschieren«, antwortete Mama.

Papa bedeutete ihr zu schweigen und sagte zu Kurt: »Ich weiß es nicht. Vielleicht kommen sie auch nicht.«

»Natürlich kommen sie«, sagte Mama ärgerlich zu Papa. »Wir müssen darauf vorbereitet sein, Gustav. So hör doch!«

Jetzt war ganz in der Nähe eine Menschenmenge zu vernehmen, nebenan auf dem Marktplatz.

Viele Tausend Juden lebten in diesem Teil der Stadt und der Mob hatte sich auf die Suche nach ihnen gemacht. Ihre Schlachtrufe waren voller Wut und Hass.

Papa ging zu Herta und Edith und legte seine Arme um sie, als ob er sie so vor dem Unheil schützen wollte. Mama hielt Kurt fest in ihren Armen. Kurt konnte ihren Atem hören, und wenn er aus ihrer Umarmung hervorlugte, sah er, dass sie ihre Augen geschlossen hatte.

Fritz stand an der Tür und lauschte. Er hatte Angst, aber sollte irgendein Nazi versuchen, hereinzukommen, war er bereit. Er würde kämpfen, selbst wenn er doppelt so groß wäre wie er selbst.

Nach einer Weile wurde der Gesang der Meute leiser. Als Fritz und Papa aus dem Fenster spähten, sahen sie, dass die Menschenmenge mit den brennenden Fackeln nun wieder in die Richtung zurückwogte, aus der sie gekommen war. Es sah aus, als hätten sich die Wiener Nazis müde gebrüllt und auf den Heimweg gemacht.

Fritz fragte sich, was passieren würde, wenn die echten Nazis kamen – Hitlers Nazis. Würden sie auch nur krakeelen und Lärm schlagen und schließlich wieder nach Hause gehen?

»Was, wenn sie zurückkommen?«, fragte Herta.

»Das werden sie nicht«, antwortete Papa. »Heut Nacht nicht mehr.«

Kurt sah Mama an, aber sie sagte nichts.

Sie war blass und schien besorgter, als er sie je zuvor gesehen hatte. Doch sie atmete tief durch und lächelte.

»Hab keine Angst«, sagte sie. »Ich werde dich immer beschützen, mein kleiner Kurt. Ich werde alle meine Kinder beschützen.«

Papa lächelte und sagte: »Wir werden es schaffen. Wir sind eine Familie, wir sind stark. Was auch immer passieren wird, wir werden es durchstehen.«

Das Ungeheuer

In dieser Nacht träumte Fritz von Flugzeugen. Ihre Motoren dröhnten, und ihre Propeller schraubten sich durch Wolken, die aus Millionen Papierfetzen bestanden. In den Straßen darunter prasselten Feuer. Wütende Menschen schüttelten ihre Fäuste und brüllten. Sie hassten Fritz und wollten ihm wehtun. Der Lärm der Flugzeuge wurde lauter und lauter und begann, die Stimmen des Mobs zu übertönen.

Fritz schreckte aus dem Schlaf, sein Herz raste. Er lag in seinem Bett, er war in Sicherheit. Seine Familie war bei ihm, alles war friedlich. Er konnte ihren Atem hören und das leise Schnarchen von Papa, der neben ihm im großen Bett lag. Die vertrauten Umrisse ihrer Körper unter den Decken und Laken trösteten ihn. Nur Mama war nicht da. Er lauschte, wie sie im anderen Zimmer das Frühstück vorbereitete.

Aber immer noch konnte Fritz das Dröhnen der Flugzeuge aus seinem Traum hören. Schlief er etwa noch?

Papa wachte auf. Er bemerkte den Lärm ebenfalls und ging zum Fenster, aber dort war nichts zu sehen. Also zog er seine Hose und die Schuhe an und verließ die Wohnung.

Fritz schlüpfte schnell in seine Kleider und folgte ihm. Der Motorenlärm wurde lauter.

Auf dem Markt bauten die Händler ihre Stände für den samstäglichen Verkauf auf. Als der Lärm anschwoll, unterbrachen sie ihre Tätigkeiten und blickten zum Himmel hinauf.

Der war schwarz vor Flugzeugen – Dutzende von Flugzeugen, deutsche Bomber, die so tief flogen, dass man das schwarz-weiße Kreuz auf ihren Flügeln erkennen konnte. Sie rumpelten und dröhnten so laut, dass die Fensterscheiben klirrten und Fritz das Vibrieren in seinen Beinen spürte.

Die Bombenklappen öffneten sich und die Menschen auf den Straßen blieben stehen, starr vor Schreck … Aber es fielen keine Bomben, sondern Flugblätter. Genau wie am Tag zuvor, nur dass es noch viel mehr waren – ein Schneesturm aus Papier flatterte und trudelte über die ganze Stadt.

Als die Flugblätter um ihn herum auf dem Kopfsteinpflaster landeten, konnte Fritz den Text lesen. Ihm wurde ganz kalt. Unter dem nationalsozialistischen Reichsadler stand:

Das nationalsozialistische Deutschland grüsst sein nationalsozialistisches Österreich und die neue nationalsozialistische Regierung.

In treuer, unlösbarer Verbundenheit!

Heil Hitler!

Die Zettel fielen auf die Gehsteige, legten sich über die gepinselten »Sagt Ja!«-Schriftzüge und mischten sich mit den Flugblättern, die noch vom Vortag dort lagen, weggeworfen und zertreten. Österreichs Freiheit war Vergangenheit. Die Deutschen waren schon da.

Dass ein Teil der Flugzeuge zum Wiener Flughafen weiterflog und Soldaten an Bord hatte, wussten Fritz und sein Vater in diesem Moment noch nicht. Im Laufe des Vormittags kursierten Nachrichten und Gerüchte in der Stadt. Deutschland marschiert ein, sagten die Leute. Tausende von Soldaten marschieren auf den Straßen oder sie kommen in Lastwagen. Kanonen und Panzer und Truppen, alles auf dem Weg nach Wien. Es waren Nachrichten, die den Juden in der Stadt große Angst machten. Noch schlimmer aber war die Nachricht, dass viele Menschen in den Städten nahe der Grenze zu Deutschland die Deutschen willkommen hießen. Sie jubelten und warfen den durchmarschierenden Soldaten Blumen zu. Die österreichische Armee unternahm nichts, um sie aufzuhalten. In einer Stadt empfingen österreichische Soldaten die Deutschen sogar mit einer Willkommensparade.

Aber ein Gerücht war beängstigender für die Juden als alle anderen. Die Nachricht verbreitete sich in panischem Flüstern: Hitler persönlich kommt nach Wien.

Es war nur ein Tag vergangen, seit alle so viel Hoffnung in die Abstimmung gesetzt hatten. Nun war Samstag und immer noch Sabbat. Kurt sollte eigentlich in den Stadttempel gehen, um beim Gottesdienst im Chor zu singen. Aber mittlerweile war es viel zu gefährlich für die jüdische Bevölkerung, ihre Wohnungen zu verlassen. Diejenigen, die es wagten, wünschten sich schon bald, sie hätten es nicht getan.

In der ganzen Stadt waren die Anhänger des Nationalsozialismus völlig aus dem Häuschen – vor allem als sie hörten, dass Hitler in Wien erwartet wurde. Und wenn Nationalsozialisten aus dem Häuschen gerieten, wurden meist Menschen verletzt. Sie mussten nicht mehr verbergen, dass sie Mitglieder der österreichischen Nazipartei waren, und sie begannen, rote Armbinden mit dem Hakenkreuz zu tragen, das auch Swastika genannt wird. Die meisten der Männer trugen Uniformen mit Stiefeln, Schirmmütze und Lederkoppel. Von der Bevölkerung wurden sie »Braunhemden« genannt, nach der Farbe der Uniformen, aber die offizielle Bezeichnung ihrer Organisation lautete »Sturmabteilung«. Die Männer verehrten Hitler als ihren Führer und Helden.