Der Kindheitserfinder - David Grossman - E-Book

Der Kindheitserfinder E-Book

David Grossman

0,0

Beschreibung

Aaron Kleinfeld, immer ein bißchen langsamer und kleiner als seine Freunde, verfügt über eine bewundernswerte Beobachtungsgabe und eine blühende Phantasie. Und weil er mit Gideon und Zachi, die sich James-Bond-Filme ansehen und den Mädchen nachpfeifen, irgendwie nicht ganz mitkommt, zieht er sich immer mehr zurück. Seine Kinderwelt will Aaron um keinen Preis gegen die der Erwachsenen eintauschen, denn Erwachsenwerden ist eine Falle!

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 844

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Über das Buch

Aaron Kleinfeld, immer ein bisschen langsamer und kleiner als seine Freunde, verfügt über eine bewundernswerte Beobachtungsgabe und eine blühende Phantasie. Und weil er mit Gideon und Zachi, die sich James-Bond-Filme ansehen und den Mädchen nachpfeifen, irgendwie nicht ganz mitkommt, zieht er sich immer mehr zurück. Seine Kinderwelt will Aaron um keinen Preis gegen die der Erwachsenen eintauschen, denn Erwachsenwerden ist eine Falle!

Hanser E-Book

David Grossman

Der Kindheitserfinder

Aus dem Hebräischen von Judith Brüll

Carl Hanser Verlag

Carl Hanser Verlag

Die Originalausgabe erschien 1991 unter dem Titel

Sefer hadikduk hapnimi

bei Haleibbuz Hameuchad in Tel Aviv.

ISBN 978-3-446-25517-3

© 1991 David Grossman

Alle Rechte der deutschen Ausgabe

© 1994, 2016 Carl Hanser Verlag München

Satz: Fotosatz Reinhard Amann, Aichstetten

Umschlag: Peter-Andreas Hassiepen, München

Foto: © Quint Buchholz

Unser gesamtes lieferbares Programm und viele andere Informationen finden Sie unter www.hanser-literaturverlage.de.

Erfahren Sie mehr über uns und unsere Autoren auf www.facebook.com/HanserLiteraturverlage oder folgen Sie uns auf Twitter: www.twitter.com/hanserliteratur

Datenkonvertierung E-Book: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

»Und die das Geheimnis schlecht leben (und es sind sehr viele), verlieren es nur für sich selbst und geben es doch weiter wie einen verschlossenen Brief, ohne es zu wissen.«

Rainer Maria Rilke,

Briefe an einen jungen Dichter

1

Aaron stellte sich auf die Zehenspitzen, um besser sehen zu können, was unten geschah – wie sein Vater und seine Mutter hinausgingen, um am Ende des schwülen Hamsin-Tages ein wenig frische Luft zu schnappen. Sie sind so klein von hier aus. Er spürte den Geschmack von Staub auf den Lippen und in der Nase. Seine Augen glänzten. Es ist nicht schön, ihnen so zuzusehen. Wie – so. So von oben. Sie sind richtig winzig. Wie zwei Puppen. Die eine groß und dick und langsam, die andere klein und ganz spitz. Das ist nicht schön. Aber es ist auch komisch. Und was komisch ist, macht auch ein bißchen angst. Und es ist vor allem ärgerlich, daß auch Zachi und Gideon, die neben ihm stehen, seine Eltern so sehen. Aber sich von dem Anblick trennen, das kann er nicht. Los, kommt endlich, murrte Zachi, der seine dicke Nase an die Jalousie gedrückt hatte, sie wird gleich zurückkommen, und das wird unser Ende sein. Seht mal, flüsterte Aaron, da kommt auch Anderthalb Groschen. Er stirbt bald, sagte Gideon, schaut, wie gelb er ist, der Kammer, man sieht sogar von hier, daß er sterben wird.

Die Mutter und der Vater blieben stehen, um mit Esther und Avigdor Kaminer von Eingang A zu sprechen. Fragt nicht, was das für Qualen sind, stöhnte Esther Kaminer. Der riesige Feigenbaum auf dem Bürgersteig zeigte und verdeckte sie abwechselnd, und das Gespräch gelangte nur in Fetzen zum Fenster im dritten Stock. Ein Wunder, daß er lebt, meinte sie und schüttelte den Kopf, der ihrem großen Mann bis zur Brust reichte, und die Mutter schnalzte mit der Zunge und sagte, man darf ihnen bloß nicht in die Hände fallen, sie brauchen uns nur, um für ihr Diplom zu lernen, und dabei zerschneiden sie uns in kleine Stücke; und der hochgewachsene Avigdor Kaminer, dessen Haupt stets gebeugt war, stand schweigend abseits und schaute mit verschlossener Miene auf seine plappernde Gattin, auf Vaters stämmige Beine, auf denen die kurzen Hosen spannten, auf die Reihe von Ameisen, die einen umgedrehten Käfer schleppten – und wie teuer das alles ist, klagte Esther Kaminer, all die Medikamente und Diäten, und daß man nach der Dialyse mit dem Taxi nach Hause fahren muß; mir scheint, die Kaminer kann kaum noch abwarten, daß ihr Mann stirbt, sagte die Mutter zum Vater, als sie weitergingen. Aaron sah, wie sich ihre Lippen bewegten, und wußte, daß es das war, was sie gesagt hatte. Er kostet sie schon zuviel, aber es sieht ganz so aus, daß sie nach ihm an der Reihe ist, denn außer all den Päckchen, die sie immer mit sich herumträgt und überall fallen läßt, fällt ihr jetzt auch noch das ganze Haar aus, und wieviel sie auch zusammenleiht und spart, man kann schon da und dort ihren Schädel sehen unter der Frisur. Der Vater nickt immer, wenn sie redet, auch wenn sie verstummt ist, und jetzt bückt er sich, um irgend etwas vom Bürgersteig aufzuheben, eine alte Zeitung oder eine Obstschale, das kann man schlecht von hier aus sehen, und die Mutter steht aufrecht da und schaut ihm zu. Faß mich ja nicht an, nachdem du diesen Dreck angerührt hast, hat sie bestimmt zu ihm gesagt, denn sie entzieht ihren Rücken seiner Hand, und schau mal, wer da kommt. Aaron sah das säuerliche Lächeln auf ihren Lippen, mal sehen, ob er uns überhaupt guten Tag sagen wird, dieser Snob, guten Tag, Herr Strasznow, wie geht es Ihrer Gattin?

Da kommt dein Vater, sagte Aaron ohne jeden Ton in seiner Stimme. Los, wir gehen, meinte Gideon und rührte sich nicht von der Jalousie weg. Sein Vater: wie immer elegant gekleidet. Terylenhosen und eine Krawatte, auch an diesem schwülen Tag. Er ging mit seinen leicht tänzelnden Schritten an dem Vater und der Mutter vorbei, nickte, sein kleiner, fleischiger, stets zusammengekniffener Mund verzog sich einen Augenblick zu einer Miene des Widerwillens, das ist sein »Guten Tag«, es ist unter seiner Würde, aber den Vater drängte es plötzlich, ihn ein wenig aufzuhalten, »Kommen Sie von der … na, von der Universität?«, und Gideons Vater verzog wieder die Lippen; ich gehe, ich gehe, flüsterte Gideon lautlos; diese Miene ging jedem Wort seines Vaters voran wie das Räuspern einer verbitterten Seele, er brummte dem Vater und der Mutter irgend etwas zu, wandte sich ab und ging weiter; nicht mal zum Lüften – hu! ah! – öffnet er den Mund, der Herr Doktor, der Intelligenzler, der keinen Groschen nach Hause bringt, und seine Frau muß sich die Finger mit Tipparbeiten ruinieren, murrte die Mutter innerlich, verabschiedete sich jedoch höflich und mit freundlicher Miene von Herrn Strasznow und wich ein wenig zurück wie vor einer Kälte, die ihn begleitete.

»Arik, merk dir – ich hab dir gesagt, daß wir verschwinden müssen«, sagte Gideon zu Aaron und entfernte sich von der Jalousie. »Aber wir haben doch noch gar nichts gesehen«, flüsterte Aaron, »was habt ihr euch denn so erschrocken?« Zachi und Gideon sahen einander an. »Hör mal, Arik«, fing Gideon wütend an und schaute auf seine Sandalenspitzen, »um die Wahrheit zu sagen … ich wollte es dir schon vorhin sagen, bevor wir reingingen …« – »Nicht jetzt!« brauste Aaron auf, und sein kleines Gesicht mit den scharfen Zügen lief rot an, »jetzt machen wir es genau so, wie wir es uns vorgenommen haben!« Er ging wieder ins Zimmer zurück, das jetzt noch wundersamer schien, Zachi und Gideon folgten ihm widerwillig, aber auch sie wurden augenblicklich wieder von dem leisen Atmen der geheimnisvollen Wohnung in Bann gezogen, und sie schritten schweigend über die weichen Teppiche und Brücken, die den Fußboden sprenkelten, schlüpften seitlich an dem schwarzen Wal vorbei, dem düsteren Flügel, der mit seiner aufgerissenen Kinnlade das ganze Wohnzimmer beherrschte; wer hätte ahnen können, daß mitten in ihrer Wohnsiedlung zwischen den dichtgedrängten, wie eine Linsensuppe dampfenden Wohnungen still und leise so ein bläulicher Eiswürfel schwebte. Aaron zeigte mit vorsichtigem Finger auf die drei schlanken Elfenbein-Neger, die auf einem der Bücherregale standen, blieb dann vor einer Gruppe kleiner Holzfiguren stehen, die wie eine Art Gemeinde auf der Kommode in der Ecke des Zimmers versammelt waren: nackte Männer und Frauen, die sich tanzend an den Händen hielten, ein kauender Junge mit in die Hand gestütztem Kinn, und ein Torso, der nur aus weiblichen Rundungen bestand – und dachte über seine Gitarre nach, die schon seit einem halben Jahr mit Sprüngen und gerissenen Saiten in ihrem Futteral lag; er hatte sich selber beigebracht, auf ihr zu spielen, er spielte sehr schön, seine Schwester Jochi meinte, wenn er spiele, habe er ein goldenes Leuchten in den Augen. Doch sie wollten ihm keine neue kaufen, und bis zu seiner Bar-Mizwa waren es noch anderthalb Jahre, und auch dann hatten sie andere Pläne für ihn. Ärgerlich ging er an den Wänden entlang, blieb mit in die Hüften gestützten Händen vor einem großen Bild stehen, einer Burg, die auf einen Felsblock gegossen war und mit ihm zusammen ins Meer fiel; Bilder hat die, nichts versteht man auf diesen Bildern, murrte er und ereiferte sich, seht euch das an, als hätte das irgendein Verrückter gemalt. Gideon bemerkte widerwillig, daß sein Vater das moderne Kunst nenne, und Aaron kam es vor, als hörte er dieses Wortpaar aus dem Mund von Gideons Vater, als breche es zwischen dessen Lippen hervor, ich würde einen Hammer nehmen und die Bilder mitsamt den Wänden zerschlagen, brauste er plötzlich auf, und seine beiden Freunde sahen ihn an, die betrügen einen damit, einfach so! Man sagt, daß das Kunst ist, aber es ist Betrug! Und als er einen hohlen, unreinen Klang im Inneren spürte, trat er zur Bekräftigung seiner Worte gegen die Fußbodenleiste und wich erschrocken zurück: es kam ihm vor, als brumme der Flügel und wolle ihn warnen.

Jetzt laßt uns verschwinden, jammerte Zachi wimmernd, wir haben genug gesehen. Wir haben nichts gefunden, und wir haben immer noch keine Beweise. Alles Unsinn, was du da sagst, daß sie keinen Schatten hat, setzte Zachi mit quengelnder Stimme fort. Natürlich hat sie keinen Schatten, sagte Aaron geistesabwesend, während er die Bücher auf den Regalen betrachtete, dicke, große Bände, in englischer Sprache geschrieben. Tatsache ist, daß wir sie nie ohne einen Sonnenschirm im Sommer und einen Regenschirm im Winter gesehen haben, Tatsache ist, daß sie, wenn wir sie beobachtet haben, nur im Schatten von Häusern oder Zäunen oder Bäumen gegangen ist, sie täuscht so alle. Zachi schnaubte ärgerlich, trat von einem Bein aufs andere und drückte sie in seiner Not aneinander. In seinem großen Gesicht, das aussah wie eine geschälte Kartoffel, in die ein Paar schwarze Perlaugen gesteckt worden waren, waren Wut und Feindseligkeit. Er ging zur Jalousie, schaute zwischen den Lamellen durch und wich erschrocken zurück.

Aaron, der die Bewegung gespürt hatte, eilte zum Fenster. Unten, zwischen den Blättern des Feigenbaums, tauchte ein dicklicher, schlaffer Mann auf und sah sich prüfend um. Gideon trat ebenfalls an die Jalousie. Der Mann ging zu einem winzigen grünen Fiat und stöberte in seinen Taschen. Obwohl Aaron ihn zum ersten Mal sah, wußte er sofort, wer er war, und spürte, wie sein Herz klopfte. Als er zehn Jahre alt war, hatte er zum ersten Mal gehört, daß sich Zachis Mutter, Malka Smitanka, einen Hausfreund hielt. Er verfolgte sie damals heimlich und beobachtete sie jedesmal aufmerksam, wenn sie das Haus verließ, sah von dem Hausfreund jedoch nichts. Der Mann zog seinen Hosengürtel zurecht, strich sich über das spärliche Haar und stieg ins Auto. Zachis Lippen murmelten die ganze Zeit über, vielleicht fluchte er, vielleicht rief er innerlich bis nach Afrika, bis zu seinem Vater, er solle sofort den Bulldozer stehenlassen, auf dem er für die Wasserwerkgesellschaft ›Mekorot‹ arbeitete, und im Eiltempo nach Hause zurückkommen. Die drei rührten sich auch jetzt nicht vom Fenster, als das Auto wegfuhr, und Aaron war ein bißchen traurig darüber, daß auch Gideon den Mann, den sich Zachis Mutter hielt, gesehen hatte, denn er wußte, wie schamhaft und vornehm Gideon in diesen Angelegenheiten war, sie sprachen nie über unanständige Dinge, und wenn Zachi fluchte oder seine Witze erzählte, lachten Gideon und Aaron höflich mit und sahen einander nicht an. Es verging eine Minute und vielleicht noch eine, und sie standen noch immer dort, aus Angst, eine falsche Bewegung zu machen oder ein falsches Wort zu sagen, bis Zachis Mutter auf den Balkon trat, ihren Morgenmantel zurechtzog und Zachi zum Essen hineinrief. Ihre Stimme klang etwas heiser und bitter. Sie gibt dem Jungen um fünf Uhr abends sein Mittagessen, sagte die Mutter, als der grüne Fiat an ihr vorbeifuhr, zur Bar-Mizwa werde ich sie nicht einladen, es fehlt gerade noch, daß sie mir direkt nach dem da die Hand drückt. Sie ruft dich, sagte Aaron leise. Das ist meine Sache, brummte Zachi, ich bin nicht hungrig, kommt, laßt uns weitersuchen.

Sie wanderten noch einige Augenblicke berührend-nichtberührend in Edna Blums halbdunklem Wohnzimmer herum und begannen dann, scheinbar unabsichtlich, wie drei Fischchen in einer Flußströmung, dem Sog des schmalen Korridors nachzugehen, der sie bis ins Schlafzimmer zog, wo sie sich schweigend zerstreuten und hastig das sorgfältig bezogene Bett, den runden Spiegel, den verzierten Toilettentisch und das winzige Waschbecken berührten, das im Zimmer installiert war … ein langer Nylonstrumpf lag schlaff auf einem rundlichen Stuhl. Zachi sah Gideon an, und Gideon sah Zachi an, und ein rötlicher Fleck lief über die Gesichter der beiden, doch Aaron sah nichts von alledem und faßte auch nichts an, weil er sofort völlig eingenommen wurde von dem riesigen Bild, das sich wie ein kompliziertes Märchen über die halbe Wand erstreckte. Zachi machte Gideon ein Zeichen, schau dir den an, und Gideon warf einen Blick auf das Bild und auf Aaron, lief zu ihm hin und zog ihn an der Hand, komm, Arik, das gibt nur Ärger, wenn du hierbleibst, doch Aaron schüttelte wie nebenbei Gideons Hand ab, stand da und starrte auf das sich aufbäumende Pferd in der Mitte des Bildes. Er spürte, wie die eigenen Lippen gegen seinen Willen in der Anstrengung des aussetzenden Atems die Zähne entblößten; das ist nichts, das ist bloß moderne Kunst; aber seine Augen traten wie die des würgenden Pferdes fast aus ihren Höhlen, und er nahm das riesige Bild in sich auf wie ein Ertrinkender, der vielleicht begreift, daß sich das ganze Meer in ihn ergißt. Schau dir den Arik an, er steht da wie angewurzelt. Arik, Arik. Aber dessen Blick weitete sich langsam und angestrengt, und nun sah er auch den toten Mann zu Füßen des Pferdes, seine Hand umklammerte ein Schwert, und sein Mund war zu einem Schrei aufgerissen; er sah die Gestalt des Ochsen, dessen Augen sich nicht an der richtigen Stelle befanden und trotzdem viel eher stimmten als die Augen der Natur; dann sah er die Gefolterten, die Geschundenen, und schließlich entdeckte er auch die Frau, er spürte, daß sie da war, noch bevor er sie sah, und strahlend eine Fackel hielt. Er versuchte sich noch einen Augenblick zu schützen, wovor, vor einem bloßen Bild, vor der Kunst, könnte man meinen, er trat schwerfällig zurück, verließ mit steifen Schritten den Raum, wo steckten die beiden, warum waren sie weggelaufen und hatten ihn allein gelassen, und fand sich wieder vor dem Bild und versank von neuem darin, hier ist nichts so, wie es auf einem Bild sein sollte. Selbst ich kann bessere Gesichter und Menschen und Pferde malen, aber ein neues Bild flackerte für einen Augenblick in ihm auf – ein hochgewachsener Mann mit hängenden Armen, der mit gebeugtem Kopf abseits stand, als sei er am Rand geknickt wie das Blatt vom Vortag in einem Kalender. Selbst einen Ochsen kann ich besser zeichnen nach all den Kühen, die ich von den Käseverpakkungen der ›grünen Kuh‹ abgemalt habe. Aber ihm traten Tränen in die Augen, langsame Tränen, die vielleicht in einem speziellen verborgenen Tränensack gereift waren. Was ist los mit dir, du Dummkopf, was weinst du wie ein kleines Mädchen? Ich weine nicht. Wenn der Vater dich jetzt sähe. Ja, ja, ich weiß. Er hätte wieder dieses Schnauben von sich gegeben. Soll er ruhig. Er hätte zur Mutter gesagt, soll er ruhig, aus dem Aaron wird uns noch ein Künstler! Ein Intelligenzler!

Gideon stand in der Tür und rief ungeduldig nach ihm. Er konnte diese Wohnung nicht länger ertragen. Aaron antwortete ihm nicht. Hilflos irrte Gideons Blick durch das düstere Wohnzimmer, blieb einen Augenblick auf einer großen, dicklippigen rosa Muschel haften, die auf der Kommode lag, wo hat sie dieses ganze scheußliche Zeug bloß gekauft, murrte er in Richtung Aaron, er soll endlich kommen, man wird uns noch erwischen, er lief fast weg, blieb stehen, wandte seinen Blick erstaunt zu der Muschel zurück, die ihm plötzlich wie ein lebendiges Wesen vorkam, das seine Lippen gerade um irgend etwas schloß, das in der Dunkelheit seines Gehäuses lag, ›ich bin weg‹, schrie er innerlich, ging schnell hinaus und nahm jeweils drei Treppen auf einmal, Zachi lief ihm hinterher und schüttelte die Beklemmung ab, die die Wohnung dieser Schrulle in ihm geweckt hatte mit all ihren Bildern und Möbeln, die aussahen, als hätte eine Fliege sie gemacht, und beide wußten sie, daß sie von Aaron gleich etwas zu hören bekommen würden: Verstoß gegen die Anordnungen.

Doch Aaron blieb. Vorsichtig schüttelte er eine der Glaskugeln, Schnee fiel leise auf einen einsamen und traurigen Bergsteiger, und Aaron blieb bei ihm, bis der Sturm sich gelegt hatte. Auf einem langen Regal neben der Wohnungstür standen prachtvolle Puppen, die in Nationaltrachten gekleidet waren, er hatte solche Puppen auch bei Schimek und Itka gesehen, die viel ins Ausland fuhren, aber hier war eine ganze Ausstellung, schmucke Soldaten aus Griechenland und Schottland, Leibgardisten der Königin von England, Polizisten aus der Türkei und aus Frankreich, eine internationale Armee; und jedesmal kehrte er wie zufällig zu dem Bild zurück, stand mit ausgestreckten Armen, mit offenen Augen, mit geschlossenen Augen, mit dem Gesicht, mit dem Rücken davor und setzte sich ihm aus, und als er spürte, daß es ihm schon bis in die Augen stieg, zog er sich mit sonderbaren Bewegungen zurück, als tanze er und verlasse für einen Augenblick eine große, beleuchtete Bühne; er ging in die anderen Zimmer, irrte dort verloren herum, ein Gepard, ein Spion, stieß im Spiegel auf sich selbst, kratzte sich, die ganze Haut juckte ihn von dem Bild, er warf einen Blick über die Schulter, er hatte plötzlich das Gefühl, daß es von der Wand gestiegen war und hinter ihm herkam, und wenn man unten auf den Bildrand hinschaute, sah man eine Blume, die aus einem zerbrochenen Schwert in der Hand eines Toten herauswuchs, und daß das Bild eigentlich voller Augen war; er entfernte sich rasch, und wieder juckte der ganze Körper.

Die Wohnung von Edna Blum kam ihm sauber und rein vor. Sieh dir ihre Fußbodenleisten an, spie die Mutter in ihm, sieh nur, wieviel Staub überall herumliegt, sogar im Elendsviertel Mussrara würde man sich für so etwas schämen. Aber dieser Staub hier war für ihn wie feiner Sternenstaub auf einem verzauberten Haus, das in tiefen Schlaf gesunken war, bis ein Ritter kommen und die Stille zerstören würde, und dann – Aaron schauderte und schlang seine Arme um sich.

Vor dem Kühlschrank blieb er einen Augenblick stehen. Er zögerte. Ein Kühlschrank ist doch nicht irgendein Schrank, den man hundertmal am Tag öffnet und schließt. Wenn du irgend etwas von dort brauchst – dann bitte mich darum. Er packte den Griff, öffnete die Tür und war verblüfft. Ein hungriger Kühlschrank, sagte die strenge Stimme der Mutter zu ihm: der Kühlschrank einer Vegetarierin. Die Küche einer Junggesellin. Wie kann man bloß. Wie kann man bloß so, spürte er mit allen Fasern seiner Seele, wie – so, so leer, so weiß, und wo ist das Fleisch, und wo sind die Hühner und die Eier und die Milchflaschen, wo sind die Würste und das Gemüse und das Obst, und sogar die Medikamente und die Stuhlproben, und hier – nichts. Ein paar magere Gurken und kleine Tomaten. Ein Becher Joghurt und eine Flasche Milch. Ein Apfel, in einer Serviette verpackt. Magerkäse. Und trotzdem – schön. Rein. Er stand da, starrte in den Kühlschrank und wollte mehr wisssen, wollte diese Sprache lernen, die nonnenhafte Sprache, die sich mit einer Andeutung begnügte. Du vergißt dich. Sie wird zurückkommen und dich hier erwischen; sie wird mir nichts tun. Mein Ritter, endlich bist du gekommen. Irgend etwas in ihm jubelte. Er lief sogar rasch zur Toilette und pinkelte in aller Ruhe, und plötzlich wußte er, daß er sich an diesem Ort vielleicht auch gestatten würde, ohne Angst zu scheißen, wer weiß, und um dieses Gefühl auszuprobieren, ließ er die Hose herunter und setzte sich einen Augenblick, machte sich süß und zart, bewegte voller Wonne seine Füße, die in die kurze Hose verheddert waren, und da war noch ein kleines Bild, das dort an der Tür klebte, ein Stier, der in der Arena lag, und eine Frau aus dem Publikum, die ihn streichelte, ja, hier würde es mit Leichtigkeit gehen, hier würde es fließen und fließen. Danach zog er gebieterisch die Spülung und genoß den Strudel im Klosettbecken und hatte keine Angst, daß irgendwelches ekliges Zeug wieder hochkommen würde.

Bevor er ging, trat er ans Fenster und schaute wieder durch die Lamellen der Jalousien, sah den Vater und die Mutter von ihrem Abendspaziergang zurückkehren, gleich würden sie unter ihm verschwinden. Und siehe da, als sie schon am Feigenbaum standen, kam ihnen Edna Blum entgegen, lauf weg, lauf weg, er sah sie durch die Blätter des Baumes, zart, mädchenhaft, mit blondem, weichem Haar, das ist dein Ende, noch einen Augenblick, mal sehen, ob ich Nerven habe, guten Abend, Frau Blum, guten Abend, Frau Kleinfeld, Herr Kleinfeld, Sie sehen müde aus, Frau Blum, Sie arbeiten zu schwer; so ist das nun mal, man muß sich seinen Lebensunterhalt verdienen, Frau Kleinfeld; aber sehen Sie doch nur, wie blaß Sie sind – hast du gesehen, wie sie rot wurde, als sie dich angeschaut hat; das ist alles nur in deinem Kopf, Hindale – Sie müssen sich das Leben leichter machen, Frau Blum, Sie sind ja noch jung und haben das ganze Leben noch vor sich – gleich ist der Zug für sie abgefahren; sie ist noch ein junges Ding, Hindale; darüber laß du mich mal entscheiden, Mosche, du hältst sie vielleicht für ein junges Ding, aber ich schaue mir ihre Zähne an, und Zähne lügen nicht, sie ist mindestens achtunddreißig; vielleicht will sie gar nicht heiraten und keine Männer; sie will nicht? Sie will nicht? Hast du gesehen, wie sie dich angeschaut hat, wie sie dich schamlos mit den Augen verschlungen hat, und stellt sich noch blöd, sieht aus, als würde sie jeden Moment in Ohnmacht fallen, psch psch – also einen schönen Abend noch, Frau Blum, und wirklich, geben Sie ein bißchen acht auf sich, es ist doch ein Jammer so; ja, Sie haben recht, es stimmt, und Ihnen beiden auch noch einen schönen Abend; sie verabschiedete sich von ihnen, er sah sie von oben, fern, zart, jetzt hatte er noch genau eine Viertelminute, um hinauszugehen und mit seinem Dietrich abzuschließen, aber er wollte noch bleiben, um sie bis zum letzten Augenblick zu beobachten und sogar noch länger, da, jetzt betritt sie das Treppenhaus, jetzt steigt sie zum ersten Stock hinauf, lauf weg.

Warte.

Denn nachdem sie sich von der Mutter und vom Vater verabschiedet hatte, überlistete sie die beiden, sie überlistete sie vorsätzlich und ging nicht sofort in ihre Wohnung hinauf, sondern wartete anscheinend im Eingang des Treppenhauses, bis sie an ihr vorbeigegangen waren und sich bis zum zweiten Eingang entfernt hatten, dann kehrte sie mit vorsichtigen, leichtfertigen, vogelhaften Schritten zurück, Aarons Herz hüpfte vor Freude, auch sie spielt, auch sie hat Geheimnisse, und stand einen Augenblick mit ausgebreiteten Armen vor dem großen, verzweigten Baum, gab sich ihm hin, war sein Brautkind, atmete seinen süßlichen Duft ein, öffnete die Augen und schloß die Augen und legte eine zarte Hand auf den dicken Stamm. Doch plötzlich erschrak sie. Der Vater stand neben ihr. Er war zurückgekommen. Wie hatte er es gemerkt? Er kam vorsichtig näher und stellte sich neben sie. Doppelt so groß und breit wie sie. Ein Bulle und ein Reiher. Und wo war die Mutter? Die breiten Feigenblätter regten sich, verdeckten und entblößten ein wenig. Mosche? erklang ein Ruf aus der Ferne. Vaters Schultern spannten sich, sein Hals zog sich zwischen sie zurück. Dann hob er seine Hand und berührte behutsam einen der Äste. Eine Wolke kleiner Insekten flog auf und schwang sich in die Luft. Edna trat erschrocken zurück. Der Vater sah sie nicht an. Und Aaron drängte sich der sonderbare Gedanke auf, daß diese Wohnung, wenn der Vater sie beträte, um ihn herum einstürzen würde. Mosche, schrie die Mutter, die schon mit dem Schlüssel in der Hand im Treppenhaus stand, wo bist du? »Sehen Sie hier, Frau Blum«, sagte der Vater staunend, und die Blätter raschelten seine Worte bis zum Fenster im dritten Stock hinauf, »ich hatte schon vorher so ein Gefühl.« »Was für ein Gefühl, Herr Kleinfeld?« Sie neigte den Kopf ein wenig, sah ihn jedoch nicht an. Ein feiner Schleier rötete sich schlagartig auf ihrem schneeweißen Nacken, und nur Aaron sah ihn. »Der Baum ist krank«, sagte der Vater einfach. Sie sahen einander noch immer nicht an, sondern sprachen durch den Baum hindurch. »Mein Feigenbaum ist krank?« flüsterte Edna Blum erstaunt und traurig. Und dabei gehörte der Baum doch allen, der ganzen Siedlung.

Als die Mutter wenige Augenblicke später zurückkehrte, sah sie die drei Jungen und Edna Blum neben dem Feigenbaum stehen. Ihr genügte ein Blick. Etwas Trübes kreiste auf dem Grund ihrer Augen. Sie wandte sich hierhin und dorthin, konnte den Vater jedoch nicht sehen. Dann hob sie das Gesicht und entdeckte seine dicken, rötlichen Fersen, die in den schwarzen Plastiklatschen zwischen den Zweigen hervorschauten. Mit verhaltenem Zorn rief sie in den Feigenbaum hinein. Zweige und Blätter regten sich und raschelten, dann tauchte der große, sonnige Schädel des Vaters auf: »Frag nicht, was hier los ist«, sagte er zu ihr, »der ganze Baum ist voller Wunden. Sie müssen saubergemacht werden.« Sie kniff die Lippen zusammen. Zog den Kragen ihrer Bluse enger um den Hals. Mit einer abrupten Bewegung drehte sie sich auf dem Absatz um und ging in die Wohnung hinauf.

2

Am nächsten Tag, nachdem der Vater von der Arbeit zurückgekehrt war und sich danach noch ein wenig bei dem rumänischen Apotheker aufgehalten hatte, duschte er, zog sich ein sauberes Unterhemd an und setzte sich ans Krippale, an das verkrüppelte Tischchen in der Speisekammer, um die Arznei für den Feigenbaum zu mischen. Er mixte verschiedene Pulver, löste sie in Wasser auf und zerdrückte dann ein dünnes Röhrchen und schnupperte daran; seine große Nase sog den bitteren Geruch ein, und das breite, rote Gesicht verzog sich in angespannter Konzentration. Die Mutter schaute ihm dabei über die Schulter und schnaubte verächtlich, wenn ein Baum krank ist, nimmt man ein Messer und schneidet die kranken Zweige ab, zack, zack und ohne Erbarmen, sagte sie, dann kommen die neuen Triebe von selbst. Wer auch nur ein Fünkchen Verstand und Instinkt hat, begreift das von ganz allein. Der Vater nickte langsam, klemmte die Zunge vor Anstrengung zwischen die Vorderzähne und goß ein paar Tropfen aus einem kleinen Fläschchen in die Schale in seiner Hand.

Dann stieg er auf den hohen, wackligen Franzuski und stöberte im Speicher. Eine regelrechte Staubwolke kam unter seinem Arm in die Küche. Die Mutter schaute ihm zu und lief plötzlich, als hätte sie der Schlag getroffen, hinaus und fand Großmutter Lili über das Geländer gebeugt, mit dem halben Körper schon im Jenseits, aber sicher bringt sie mich noch um, und sie zog sie am Arm in ihre Kammer neben dem Wohnzimmer zurück; leg dich jetzt hierhin, Mamtschu, es ist noch nicht Zeit zum Abendessen, warum schaust du mich so an, ich bin es doch, Hinda, was hast du bloß solche Angst, als würde man dich gleich schlachten, leg die Beine hoch, leg dich gerade hin, und weine nicht, du mußt liegen, da, schau her, wie schön es an deiner Wand ist, was für hübsche Farben, Papageien und Affen und Bäume, das hast alles du gemacht, Mamtschu, das ist dein Gobelin, jetzt schau ihn dir gut an und ruh dich aus, und die Mutter deckte Großmutter Lili bis zum Kinn mit der rotschwarz karierten Schottendecke zu und stopfte die Ränder fest unter die Matratze. Zornig kehrte sie in die Küche zurück. »Gott behüte, wenn dich ein neuer Tschort reitet, Mosche«, schäumte sie vor Wut und klebte nasse Plastiktüten und Pergamentpapier auf die Kacheln, mit dem sie vorher Margarine eingewickelt hatte, »deine Mutter wäre beinahe vom Balkon gesprungen, und du gibst dich hier mit diesem Unsinn ab, du bist ein solcher Dickkopf, wenn man dich in tausend Stücke schneiden würde, würde jedes für sich noch weiter springen und schreien.« »Da ist es ja«, brummte der Vater aus der Tiefe des Speichers und tauchte aus ihm hervor, sein gelockter Kopf war ganz mehlig, und in seiner Hand hatte er ein nierenförmiges Holzbrett. »Ich habe doch gewußt, daß wir es dorthin getan haben.«

Vorsichtig stieg er von dem wackligen Franzuski herunter und säuberte Jochis alte Palette vom Staub. »Frag lieber zuerst Jochi, ob sie es nicht mehr braucht«, flüsterte die Mutter, »damit es nicht hinterher wieder einen Skandal gibt.« »Nehmt es, nehmt alles«, rief Jochi aus ihrem Zimmer, »eine Malerin werde ich sowieso nicht mehr, und eine Tänzerin auch nicht«, und drückte wütend ihre Schenkel zusammen, »schade eigentlich, daß ich aufgehört habe, malen kann man auch mit dicken Beinen.«

Der Vater ging aus dem Haus und trug vorsichtig die Palette mit der Salbe vor sich her. Draußen spielten Aaron und Zachi ›Verkehrschaos‹. Flink und geschickt und mit Verrenkungen wie ein Stierkämpfer wich Aaron auf seinem Fahrrad Zachis großem Rad aus; er war so auf seine eigenen Bewegungen konzentriert, daß er Zachis rot angelaufenes Gesicht gar nicht wahrnahm, und plötzlich wurde er mit voller Wucht auf die Straße geworfen, das Vorderrad des großen Fahrrads rammte ihn genau zwischen Vorder- und Hinterrad.

Sofort legte der Vater die Palette auf dem Zaun ab und lief zu ihm. Aaron schrie vor Demütigung, das ist dein Ende, du Dreckskerl, du Aas, kreischte er, Tränen schnürten ihm die Kehle zu, ich mach dich zu Hackfleisch, die kleinen Fäuste fuchtelten wild in den Armen seines Vaters, und seine Beine traten in die Luft, laß mich los, ich mach ihn fertig; Zachi stand da, auch er hob ein wenig halbherzig seine Fäuste, erschrocken über das, was passiert war, und verfluchte Aaron, der ihn verarscht hatte, anstatt fair zu spielen. »Willst du mich verarschen? Eh? Ja? Willst du mich verarschen?« wiederholte er wieder und wieder, hielt ein wenig inne, als suche er in seinem Innern nach anderen Worten, und als er sie nicht fand, drohte er wieder mit den Fäusten. Plötzlich bückte sich der Vater, packte ihn und hob ihn mit dem linken Arm hoch, und so fanden sich die beiden Jungen einander gegenüber, gefangen in seinen kräftigen Armen. Er ließ sie aufeinander losgehen und mußte lauthals lachen, gab jedoch acht, daß ihre Fäuste sich nicht trafen. Aaron zappelte mit allen Gliedern seines kleinen, muskulösen Körpers und überhäufte Zachi, seine Eltern und sein Fahrrad mit Schimpfworten, während Zachi gebetsmühlenartig sein »Willst du mich verarschen, eh? Willst du mich verarschen?« dagegenhielt, sein merkwürdiges Gesicht, das immer so aussah, als klebe es an einer unsichtbaren Fensterscheibe, um besser sehen zu können, war feuerrot vor Schmach. Plötzlich drückte der Vater die Körper der beiden kleinen Jungen fest an sich, und die unerwartete Enge ließ sie schlagartig verstummen. Er lachte Tränen und ließ sie auf den Boden rutschen, gab jedoch acht, sie voneinander fernzuhalten, doch das Quetschen ihrer Knochen hatte die Kampfesstimmung vertrieben, die beiden standen nun taumelnd und geschlagen da. Zachi kam als erster wieder zu sich und beschwerte sich von neuem über Aaron, der ihn andauernd verrückt mache und verarsche, und Aaron protestierte sofort, das Spiel sei nun mal so: du näherst dich, forderst den anderen heraus und weichst ihm wieder aus, ob es vielleicht seine Schuld sei, daß Zachi so tolpatschig und langsam und eine Schildkröte und eine Schnecke und ein Depp und ein Blödmann sei; einen Augenblick stand auch der Vater verwirrt und wie ausgeschimpft diesem Wortschwall gegenüber. »Also, genug jetzt! Sch!« knurrte er. »Wir haben dich sehr wohl verstanden mit deiner großen Klappe!« Und selber überrascht über den Zorn in seiner Stimme, strich er Aaron rasch über den blonden, weichen Schopf. Als er die betrübten Augen Zachi Smitankas sah, zog er ihn ebenfalls an sich und kraulte ihm genüßlich den kurzgeschorenen Borstenkopf. So standen sie ein paar Sekunden da, und die Kinder sogen auf, was seine großen Hände hergaben. Zachi schob sogar heimlich einen Fuß vor, so daß er sein dickes Bein leicht berührte und den Kitzel der Männerhaare darauf spürte.

»Jetzt geht und spielt, und wehe, wenn ich so was noch mal höre.« Aaron löste sich als erster vom Vater, und der klopfte Zachi freundlich auf die Schulter: »A-schokl, Jitzchuk, gib dir einen Ruck, heb das Fahrrad auf und fahr weiter. Ich schau von oben, daß nichts passiert.«

Dann kletterte er auf den Feigenbaum und setzte sich auf der untersten Verästelung zurecht. Aaron klemmte sein Vorderrad zwischen die Knie und versuchte, die Lenkstange geradezubiegen. Aus dem Dickicht der Blätter rief der Vater Zachi zu sich und bat ihn, ihm die Palette zu reichen. Aaron drückte wütend gegen die Lenkstange, bis ihm das metallene Schutzblech ins Bein schnitt.

Sobald der Vater zwischen die Blätter gekrochen war, spürte er, wie sein Herz sich weitete. Er lehnte sich an einen dicken Ast und atmete tief ein. Die handgroßen Blätter streichelten sein Gesicht, drängten sich an ihn wie die Köpfe von Pferden, die Nähe suchen. Er spürte den Geruch des Feigenbaums in der Nase und ließ die Finger über den prallen Stamm gleiten. Ohne es zu merken, fielen ihm die Plastiklatschen von den Füßen. Zachi, der bis unter den Baum herangekommen war, schreckte zurück wie eine junge Katze.

Bedächtig und ernst wie ein Handwerker, der sein Werkzeug vor sich ausbreitet, ließ der Vater Knöchel um Knöchel seiner Finger knacken. Schließlich schüttelte er sich, richtete sich auf und schaute sich um. Auf dem gegenüberliegenden Zweig sah er die ersten Wunden: Risse, in denen es von weißlichen Würmern wimmelte. Die Wunden zogen sich bis hinauf in die Baumkrone, und der Vater folgte ihnen mit den Augen und hob den Blick bis zu Edna Blums Fenster im dritten Stock. Es kam ihm vor, als habe dort eine Gardine gezittert. Er verschränkte die Arme auf der Brust und dachte nach. Es würde keine leichte Arbeit werden.

Aus der Tasche seiner kurzen Hose nahm er eine Rolle Flanellstoff, die er vom Reservedienst mitgebracht hatte, und riß geschickt mit zwei Fingern ein Stück davon ab. Dann berührte er vorsichtig eine Wunde am Körper des Feigenbaums und spürte, wie tief der Abszeß in das Holz eingedrungen war. Er stocherte mit dem mit Stoff umwickelten Finger in dem Loch, die gelbliche, trübe Flüssigkeit blieb am Flanell kleben. Der Vater schnupperte daran und schüttelte verwundert den Kopf, zuckte mit den Schultern und warf das Stückchen Stoff hinunter. Zachi Smitanka kam vorsichtig näher, sah ängstlich auf die Füße des Vaters, die aus dem Baum hervorschauten, und hob den Stoffetzen auf. Als er daran roch, verzog er vor Abscheu das Gesicht. Dann aber hielt er sich den Stoffetzen noch einmal unter die Nase und atmete den Geruch tief und konzentriert und mit einer seltsamen Ehrfurcht ein.

Der Vater wickelte ein neues Stück Stoff um den Finger. Ein zartes Pfeifen kam aus seinem Mund, er suchte nach einer Melodie, die früher einmal tänzerisch und zigeunerhaft gewesen sein mochte, bei ihm jedoch langsam und ein wenig zerstreut klang; sofort schaute die Mutter aus dem Fenster und spionierte, was er zwischen den Blättern eigentlich machte. Sie wußte nur zu gut, wohin ihn seine Gedanken trugen, wenn er so pfiff. Er bohrte seinen Finger in ein Wundloch des Feigenbaums. Ein weißer, aufgeblähter Wurm zappelte blind auf seiner Hand, und er studierte ihn eingehend und pfiff dabei aus dem Mundwinkel. Als er noch jung war und ein barfüßiger Flegel, hatte ihn ein Kommunist aus dem Untergrund, ein gewisser Sioma Swatschniker, dazu verleitet, nach Rußland zu fliehen und dort in die Armee einzutreten, oij, Sioma, Sioma, verflucht sei dein Name, wie schön du gesprochen hast. Die Mutter schlug wütend das Fenster zu. Die ganze Sache mit dem Feigenbaum konnte sie gerade jetzt besonders gut gebrauchen. Mit vor Zorn klammen Fingern stand sie da und polierte die Fleischgabeln und -messer. Nur ein einziges Mal hatte ihr der Vater von seiner Kindheit in Polen, seiner Flucht nach Rußland, den drei Jahren beim Militär und von der Lagerhaft in Komi erzählt. Und nachdem sie die grauenvolle Geschichte seiner Flucht aus der Taiga und die Sache mit der Bäuerin, die in der kleinen Hütte eingesperrt war, aus seinem Mund gehört hatte, stand sie auf, legte ihre kleine, kräftige Hand auf seine Lippen und sagte, bis hierhin und nicht weiter, mehr will ich nicht hören, Mosche, wenn ich tot bin, kannst du es erzählen, wem immer du willst, dann kannst du durch die Straßen laufen und es ausrufen oder meinetwegen in den Zeitungen schreiben, aber hier im Haus will ich diese Dinge nicht mehr hören; und als die Kinder geboren wurden, mußte er ihr schwören, diese Zeit niemals zu erwähnen, sie brauchten nicht wissen, was für ein Tier ihr Vater gewesen war, und er versprach es ihr mit seinem langsamen, geduldigen Lächeln und der versöhnlichen Miene, die er stets für sie bereithielt. Aber jetzt hörte sie sein Pfeifen. Sie öffnete erneut das Fenster und klopfte einen Lappen auf dem Fensterbrett aus. Eine kleine graue Staubwolke stieg auf und verflog. Das Pfeifen hörte für einen Augenblick auf. Die Mutter verschwand wieder im Haus. Der Vater blies kräftig auf seine Hand. Der weiße Wurm fiel hinunter auf den Baumstamm. Er zertrat ihn mit der nackten Ferse, dann war ganz leise das Pfeifen wieder da und kräuselte sich in der Luft.

So arbeitete er, ernst und gründlich, volle zwei Stunden. Hin und wieder hielt er inne, um dem einen oder anderen Nachbarn sein Vorhaben auf dem Baum zu erklären oder Hindas Rufe vom Balkon zu beantworten. Als um halb sieben aus den umliegenden Wohnungen das Signal der Abendschau zu hören war, unterbrach der Vater seine Arbeit und hörte besorgt zu, aber es wurde keine Kursabwertung gemeldet. Aaron fuhr mit seinem Fahrrad auf der Straße und ignorierte ihn und ebenso Zachi. Ab und zu wandte er seinen hellen Kopf nach hinten und rief gedehnt nach ›Gummi‹, der dem Fahrrad unsichtbar hinterherlief. Zachi rührte sich nicht vom Baum weg und sammelte fleißig die schmutzigen Stoffetzen auf, die von oben herunterfielen. Es ist nicht gut, einen kleinen Jungen zurückzulassen und für Geld nach Afrika zu fahren, überlegte der Vater. Dann dachte er an Malka Smitanka, die ihren Jungen auf die Straße schickte, um sich ihrerseits mit diesem Kerl abzugeben. Was fand eine Frau wie sie überhaupt an so einem Phlegmatiker? Er war mit Sicherheit Beamter, oder vielleicht Rechtsanwalt. Hauptsache, er hat ein Auto, dachte er und seufzte über diese Verschwendung. Er rief Zachi und schickte ihn zu Hinda, um eine alte Klistierspritze aus Gummi zu holen, und nachdem der Junge gegangen war, dachte er an den Leberfleck in Malka Smitankas Dekolleté und an die kecken lockigen Haare in ihrer Achselhöhle. »Hier ist sie!« rief Zachi bald, schaute ihn mit seinem dunklen Gesicht an und hielt die Klistierspritze hoch, und Aarons Vater erschrak und schickte ihn gereizt noch einmal zu Hinda, um ihr auszurichten, daß er gleich nach Hause komme.

Während er auf Zachis Rückkehr wartete, lehnte er sich an den breiten Ast, zündete sich eine Zigarette an und zog genüßlich den Rauch ein. Von dort, wo er stand, war die graue Wohnsiedlung nicht zu sehen. Auch die schmale, holprige Straße nicht. Man konnte sich vorstellen, daß der Baum ganz woanders stand; und wäre der Vater ein wenig zur Seite gerückt, so hätte er ein anderes Fenster sehen können und eine Gardine, die manchmal zu zittern schien. Aber er bewegte sich nicht. Es war Juni, und auf den Zweigen begannen harte Gallenblüten auszutreiben. Ein süßer Duft umgab ihn. Er atmete tief ein.

Zachi kletterte flink auf den untersten Ast, um ihm die rote Klistierspritze zu reichen. Der Vater zwinkerte ihm zu, wollte den bissigen Ton wiedergutmachen und kraulte ihm genußvoll durchs Borstenhaar. »Setz dich her und schau mir gut zu«, sagte er.

Er blies mit der Klistierspritze in die erste Wunde, die er gesäubert hatte, bis die ganze Feuchtigkeit aus ihr entfernt war. Dann holte er den Pinsel, mit dem er zu Hause die Türangeln ölte, aus der Hosentasche und tauchte ihn in die Salbe. Sorgfältig begann er die Lippen der Wunde einzuschmieren. Der Junge betrachtete die große Hand, die sich sanft hin und her bewegte, und langsam öffnete sich selbstvergessen sein Mund. Unten fuhr Aaron freihändig auf seinem Fahrrad und rief ›Gummi‹ zu, er solle versuchen, ihn im Laufen einzuholen. Der Vater war mit dem Einschmieren der Wunde fertig. Er und Zachi sahen sich einen Augenblick an. Der Vater reichte ihm die Klistierspritze, »jetzt machst du pfuh, und ich tue die Salbe drauf«. Zachi nahm die Spritze voller Eifer in die Hand und begann mit ernster Miene zu pumpen, die Zunge vor Anstrengung zwischen den Zähnen. So arbeiteten die beiden schweigend, bis plötzlich Aarons goldener Schopf zwischen ihnen auftauchte und erbittert fragte: »Warum nur er? Ich will auch.«

Der Vater und Zachi schreckten ein wenig voreinander zurück, dann begann der Vater Aaron mit lauter Stimme zu erklären, was er hier genau tue und wie der ganze Heilungsprozeß verlaufen würde. Zachi zog sich in sich selbst zurück, schwieg und ließ nervös einen Finger nach dem anderen knacken. Aaron beobachtete es zerstreut. Ein leichtes unsichtbares Zucken lief über sein Gesicht, als er das trockene Knacken hörte. Und plötzlich hatte er eine Idee. Es war ihm anzusehen, daß er eine Idee hatte. Er hielt sich nicht einmal damit auf, sie ihnen zu erklären. Er glitt vom Baum, riß die Luftpumpe von seinem Fahrrad und kletterte mit strahlendem Gesicht wieder hinauf. Die Pumpe war tatsächlich eine gute Idee, eine ausgezeichnete Idee, sie trocknete schnell und wirksam eine Wunde nach der anderen; davor habt ihr echt langsam gearbeitet, erklärte Aaron und zog und blies, aber davor war es ruhiger, bemerkte Zachi flüsternd.

Sie arbeiteten fleißig, jeder säuberte eine Wunde für sich. Aaron redete, um das eingetretene Schweigen zu brechen, und es gelang ihm sogar, sie zum Lachen zu bringen: Er konnte Tiere und Menschen nachahmen, er hatte ein Talent dafür, und obwohl seine Stimme noch die eines Kindes war, er war ja erst elfeinhalb Jahre alt, konnte er Levy Eschkol und den Finanzminister Sapir ausgezeichnet nachmachen, und sogar Schmuel Rodensky mit seinem Sketch von Stejt-das-Gebäude-oder-stejt-es-nicht. Wenn er einmal angefangen hatte zu reden und die Leute lachten, war er nur schwer zu bremsen, aber allmählich verstummte er, beruhigte sich und versank wie die anderen im Zauber der Heilung.

Die Mutter trat auf den Balkon und rief Aarons Namen. Der Vater machte den Kindern ein Zeichen, still zu sein, und die drei versteckten sich hinter den Blättern. Wieder rief die Mutter; sie wisse doch, daß Aaron auf dem Baum sei, warte nur, warte, was du zu Hause von mir erleben wirst. Der Vater rundete seine Hände zum Trichter und stieß den Ruf eines Kuckucks aus. Die Kinder platzten vor unterdrücktem Lachen, und die Mutter, deren Kopf wachsam hin und her schnellte, drehte sich abrupt auf dem Absatz um und verschwand wieder im Haus. Der Vater lachte leise mit den Kindern, das ist nicht nett von uns, das ist gar nicht nett. Er sah zum Himmel auf und umklammerte mit beiden Schenkeln den warmen Baum.

3

Sieben Tage lang behandelte der Vater den Feigenbaum: er bohrte in seinen Wunden, wischte den Eiter fort und schmierte sie mit Salbe ein. Die Mutter trat immer wieder auf den Balkon und warf ihm vor – mit extra lauter Stimme, denn vor wem hatte sie sich hier schon zu schämen –, er sei ein Idiot, daß er nicht das Hauskomitee um volle Bezahlung für diese Fronarbeit bitte, und zwar mit gutem Geld, der Baum gehört doch allen, oder? Und er versöhnte sie jedesmal mit sanften Worten – und blieb auf dem Baum. Zachi, der immer zu spät kam, sah Aarons kleines Fahrrad an den Stamm des Feigenbaums gelehnt wie die Leiter eines Fremden am Fenster der Geliebten, drehte endlose Runden zu Füßen des Baumes und stieg nicht hinauf. Langsam und bedächtig kletterten der Vater und Aaron auf die höchsten Zweige, hielten sich bei jeder Wunde auf, steckten die Köpfe zusammen und berieten sich. Manchmal, wenn der Vater die Arme nach einem hohen Zweig ausstreckte, rutschte sein Unterhemd ein wenig hoch und entblößte unterhalb seines roten, behaarten Bauches eine glatte, blasse Wunde, eine Art Atempause in seiner kräftigen Körperlichkeit. Aaron konnte sich nicht satt sehen an ihr. Die ist bestimmt nicht vom Lager, von Komi, stieß er aus, als wüßte er es nicht, in Komi wärst du bestimmt an so was gestorben. So, mit List, pflegte er dem Vater in kleinen Portionen die verbotenen Erinnerungen zu entlocken, und der Vater lachte, wieso Komi, dort hätten sie mich wie einen Hund krepieren lassen, das ist noch aus Polen, als ich etwas älter war als du, vielleicht vierzehn oder fünfzehn, von der Blinddarmoperation, und schon vergaß er sich und sein Versprechen, das er der Mutter gegeben hatte, und erzählte Aaron von jenem fürchterlichen Winter in der Taiga, nicht mal die Toten konnten wir begraben, wie Marmor war die Erde, und er erzählte von den Dummköpfen, die versucht hatten, ohne Hilfe von außen aus dem Lager zu fliehen, und wie man sie am nächsten Tag von Wolfszähnen zerfleischt gefunden hatte, und wie die Menschen wahnsinnig wurden vor Hunger und Angst, sie verloren einfach den Verstand, so wie man ein Taschentuch verliert, und die Intelligenzler, pflegte der Vater mit einer Spur von Schadenfreude zu sagen, die Intelligenzler, die uns Stalin in die Taiga schickte, die wurden am schnellsten wahnsinnig, nicht nur wegen dem, was sie dort durchmachten, alle machten doch das gleiche durch, ein Körper ist immer nur ein Körper, sondern wegen … laß mich nachdenken … der Vater zuckte mit den Schultern, ach, was weiß ich, warum die Intelligenzler in der Taiga wahnsinnig werden … vielleicht haben sie nicht gedacht, daß es so schlimm werden wird, vielleicht ist das, was geworden ist, nicht das, was sie gedacht haben, vielleicht haben sie geglaubt, daß sich die Welt so einrenkt, wie sie meinen, daß sie sich mit Intelligenz einrenkt, nicht mit Stalin … Der Vater lachte, und Aaron lachte mit ihm und ahmte gespannt seine Gesichtszüge nach.

Manchmal kam Edna Blum auf einen abendlichen Spaziergang herunter, hatte einen leichten Sonnenschirm in der Hand, der ihren Kopf beschattete, und kam zufällig bis zum Fuß des Baumes. Durch die großen Blätter hindurch bemerkte der Vater ihre Bewegung, die ihm entgegenglitt, schob die Zweige beiseite und begrüßte sie. Das tat er jeden Tag, und sie war jedesmal ganz überrascht und riß die Augen auf, als hätte sich ihr zwischen den Blättern ein furchterregender Riese gezeigt, aber sie wußte gleich, daß er gut war, daß es ein guter Riese war. Oh, Herr Kleinfeld, Sie haben mich aber erschreckt, und während eines langen Augenblicks des Schweigens, des Nichts, stand Edna mit der Hand auf dem Herzen da und staunte ihn an, als würde sie plötzlich von innen genommen, und sie warteten stumm, bis sie langsam, mit einem matten Lächeln und schluckend, aus diesem Nichts zurückkehrte und sich nach dem Befinden ihres Feigenbaums erkundigte. In Aarons Augen war Edna wunderschön, mit Ausnahme ihrer Haut, die merkwürdig rosa aussah und fast durchsichtig, wie die Haut eines Kükens, dessen pochendes Herz man überall in seinen Fingern fühlt, ganz gleich, wo man es anfaßt. Eines Tages verriet sie ihnen, daß sie vielleicht nur wegen des Feigenbaums hier in dieser Siedlung wohnen bleibe; Aaron spürte sofort, daß sie einen Fehler gemacht hatte, wußte aber nicht, welchen. Und am nächsten Tag vertraute sie ihnen an, ihre Seele sei mit der Seele des Feigenbaums verbunden, genauso sagte sie es, sie fühle, daß sie dem Baum vor ihrem Fenster beinah ihr Herz ausschütten könne, und wieder schreckte Aaron zurück, als hätte jemand mit zerbrochener Kreide an die Tafel gekratzt, und er dachte wütend, sie sagt Dinge, die man fremden Leuten einfach nicht sagt, vielleicht, weil sie in Gesprächen mit den Nachbarn nicht geübt ist, dreizehn Jahre wohnt sie nun hier, aber sie zieht sich immer zurück und sondert sich ab, auch bei mir hat sie versucht, auf Abstand zu halten, diese Snobin, sagte die Mutter, aber ich habe sie gleich richtig angepackt und sie dazu gebracht, nett zu sein und wenigstens guten Tag zu sagen. Aaron senkte den Kopf, damit sie sein Gesicht nicht sehen konnte, und der Vater brummte irgend etwas, seine Wangen wurden röter und röter, und er trat mit seinem dicken Fuß gegen Aarons Knie: beherrsch dich. Edna Blum schien selber zu spüren, daß sie einen Fehler gemacht hatte, aber da sie an jenem Tag gut gelaunt war, verzieh sie sich sofort und verabschiedete sich herzlich mit dem Versprechen, morgen wiederzukommen. Als sie gegangen war, versuchte Aaron, Vaters Blick aufzufangen, um mit ihm zusammen zu lachen, aber zu seiner Verwunderung wich der Vater seinem Blick aus und machte auch keinerlei Bemerkung, sondern trieb ihn statt dessen an, Luft auf die Wunden zu blasen.

Edna Blum ging in ihre Wohnung hinauf und eilte atemlos zu ihrer Gardine. Eine leichte Brise wehte, die Blätter rauschten, und ihre Schatten raschelten auf Vaters Rücken und Schultern. Edna sah seinen dicken Hals, seinen sturen Nacken. Wie auf einem Bilderrätsel entdeckte sie einen Teil seines Bizeps, seines Schenkels; als er einmal seine Hand umdrehte, sah sie die Brandwunde wie das gesprenkelte Muster einer exotischen Schlange zwischen den Blättern durchgleiten. Neben seinen kräftigen Beinen waren die von Aaron, dünn und glatt, und Edna überlegte, wie dieser Junge wohl zum Mann heranwachsen würde. Mit einem seltenen übermütigen Funkeln in den Augen lief sie in die Küche, um einen Krug Limonade zuzubereiten. Mit einem Kichern und Rotwerden und Edna-was-ist-los-mit-dir goß sie kaltes Wasser, Zitronenkonzentrat und Zucker zusammen und rührte energisch um. Aber als sie ans Fenster trat, schwand bereits ihr Mut, wie sollte sie ihn denn rufen, wie sollte sie ihren Körper vorbeugen und ihm den vollen Krug reichen … augenblicklich verlor die Idee ihren Sinn. Sie ging mit dem vollen Krug im Zimmer auf und ab und war enttäuscht und verärgert über sich selbst.

Da breitete sich eine seltsame Stille in der Wohnsiedlung aus. Die Frauen in den dampfenden Küchen standen mit roten Gesichtern da, hoben erstaunt ihre Köpfe und hielten für einen Augenblick in der Arbeit inne. Die Männer, die in Unterhemden draußen auf den Balkons in ihren Liegestühlen dösten, setzten sich auf, nahmen die Zeitung vom Gesicht und lauschten. Wie aus weiter Ferne erhoben sich die Klänge einer Mazurka von Chopin, kamen näher und sanken von oben auf die graue Wohnsiedlung, auf all die verrosteten Geländer, den rauhen Verputz und die verbogenen Briefkästen herab, sanken und rieselten über den gelblichen, kränklichen Rasen. Fast zwanzig Jahre lang hatte Edna nicht mehr auf ihrem Flügel gespielt, und nun war die Musik zu ihr zurückgekehrt.

Auf dem Baum sahen sich Aaron und sein Vater einen Moment lang an und wandten sofort verlegen ihre Augen ab. Der Vater säuberte eine große Wunde, seine Hand bohrte langsam in ihr herum. Vielleicht sollte Aaron seine Eltern zur Bar-Mizwa doch um eine neue Gitarre bitten. Die Mutter hatte ihn einmal beobachtet, während er spielte, er erinnert sich immer wieder daran, vielleicht war das sein Fehler, er hatte nicht gemerkt, daß sie ins Zimmer gekommen war, anscheinend hatte sie lange dagestanden, ihn aufmerksam angeschaut und irgend etwas in seinen Augen gesehen, doch dann war sie über ihn hergefallen und hatte gesagt, er mache ihr ein Loch in den Kopf, er solle lieber hinausgehen und draußen spielen, statt gebeugt wie ein Buckliger über seiner Gitarre zu sitzen, dafür hätten sie ihm doch schließlich ein Fahrrad gekauft, ein halbes Gehalt des Vaters habe es gekostet, und es stimmte, das Fahrrad war toll, aber Aaron wollte irgend etwas anderes. Mehr. Was mehr, das kann er nicht erklären. Mehr als das. Noch mehr. Aber als Bar-Mizwa-Geschenk haben sie ihm schon versprochen, ein Sparbuch für ihn zu eröffnen, damit er sich und seiner Ehefrau in zwanzig Jahren eine Wohnung davon kaufen kann. Was interessiert ihn seine Ehefrau. Vielleicht werden sie trotzdem mit einer Gitarre einverstanden sein.

Seine Finger zupften wie von selbst an dem Baumstamm, zusammen mit Edna Blum. Dann berührten sie zerstreut das Kinn, die Windpockennarbe, die ihm geblieben war, weil er sich nicht zurückgehalten und sich gekratzt hatte; und der Vater wollte ihm etwas ganz Persönliches zur Bar-Mizwa schenken: das Rasierzeug mit dem Pinsel, dem Messer und der Blechschüssel, das ihm seit der Zeit gehört, als er im Sinai-Feldzug kämpfte, aber die Hauptsache ist die Gitarre; wieder zupfte er am Feigenbaum, wieder faßte er sich leicht verärgert an sein glattes Kinn, zupfte am Feigenbaum, und für einen Augenblick sah er wie ein kleiner Schriftsteller aus, der die Feder in seine besondere Tinte taucht und ein paar Worte schreibt, bis die Tinte ausgegangen ist, und so fängt vielleicht schon ein neues Chejndale bei ihm an.

Obwohl es noch anderthalb Jahre waren bis zu seiner Bar-Mizwa, waren die Eltern bis über beide Ohren ins Rechnen und Sparen vertieft, sie planten etwas Grandioses, teilte ihm die Mutter stolz mit, sie hätten vor, den königlichen Thronsaal zu mieten, einen professionellen Fotografen vom teuren ›Foto-Gvirtz‹ zu bestellen und sich diesmal nicht mit Onkel Schimek zu begnügen, dessen Hände zittrig geworden seien und der die Mutter auf den letzten Familienfesten so fotografiert habe, daß ein häßliches Gesicht wie von Moische Grunim herausgekommen sei. Jochi, deren Bat-Mizwa sehr bescheiden gewesen war, man hatte sie an einem Samstag zu Hause, im Kreise der Familie, abgehalten, platzte vor Neid, und bei mir habt ihr gespart, und die Mutter sagte ihr mit einer Spur von Schadenfreude, eine Bat-Mizwa sei eben nicht dasselbe wie eine Bar-Mizwa, dafür werde sie auf ihrer Hochzeit für alles entschädigt, aber erst mal wollen wir sehen, wo all deine Verehrer geblieben sind.

Manchmal, wenn Aaron nachts aufstand, um ein Glas Wasser zu trinken, sah er seine Eltern über das dicke Heft gebeugt dasitzen, das sie eigens zu diesem Zweck gekauft hatten, und rechnen. Auf der einen Seite des Tisches lagen, geschlossen und verschämt, die roten Mitgliedshefte der Krankenkasse von Vater, Mutter und Großmutter. Niemand hatte jetzt Geduld für sie, und die gelbroten Marken wurden achtlos eingeklebt, nicht mit dieser Sorgfalt und Hingabe wie früher. Das Bar-Mizwa-Heft war in grünliches Schrankpapier eingeschlagen und hatte einen kleinen, einfachen Aufkleber: Aaron – Bar-Mizwa, und die Eltern schrieben darin die Menüs sämtlicher Bar-Mizwa-Feiern auf, zu denen sie eingeladen wurden, schätzten die Preise, notierten Bemerkungen über Qualität und Größe der Portionen und stellten komplizierte Vergleiche an. In genau anderthalb Jahren würde ihre Hypothek auf die Wohnung abgezahlt sein, so daß sie mit Leichtigkeit eine schöne Anleihe würden aufnehmen können, und zusammen mit dem, was ihnen gelungen war, auf die Seite zu legen, und in der Hoffnung, daß Finanzminister Sapir ihnen mit einer allgemeinen Abwertung keinen Tritt in den Hintern gab, würden sie ihm so eine Bar-Mizwa feiern können – die Mutter klatschte in die Hände und drückte Aaron ans Herz, und eine feine, ungewöhnliche Glückseligkeit rieselte über ihr Gesicht, sollen ihnen allen die Augen ausfallen.

Jetzt trat sie auf den Balkon. Ihre Augen spionierten und gingen wachsam hierhin und dorthin. Sogar ihre Nasenlöcher weiteten sich. Als der Vater sie entdeckte, zog er Aaron mit der fast unmerklichen Bewegung eines Untergrundkämpfers zurück und stellte sich selbst so, daß ihn die Blätter vor ihr verbargen. Von dort, wo er saß, sah Aaron, daß ihre Fingerknöchel auf dem Geländer weiß wurden.

»Mosche!« brach es plötzlich aus ihr heraus, »wie lange willst du denn noch die Rotze vom Baum lecken?« Stille. Auch die Klavierklänge erstarben.

Der Vater zog seinen Hals zwischen die Schultern. Aber einen Augenblick später begann er sich wieder groß und breit aufzurichten, und eine blaue Ader schwoll in ihm an und pochte. Aaron schrumpfte förmlich zusammen und beobachtete ihn ängstlich, so hatte er ihn noch nie gesehen, aber er, der Vater, hielt sich zurück, preßte seine großen Kinnladen zusammen und schmierte wieder schwerfällig und sehr behutsam die Wunden des Feigenbaums ein. Die Mutter wartete noch einen Augenblick. Plötzlich schlugen ihre Hände auf das Balkongeländer: »A-aron!«, und die eisernen Wellenschläge des Geländers schlossen sich und legten sich um ihn wie Ringe um einen Pfahl, »du kommst sofort nach Hause und probierst die Stiefel!«

»Aber es ist doch noch Sommer!« flüsterte Aaron seinem Vater zu.

Der Vater nickte langsam. Seine Augen waren noch voller Unruhe und Gefahr, aber mit dem Kinn begann er bereits seinen üblichen Schleier zur Beruhigung der Ehe hervorzuziehen: »Mutter hat es gern, wenn alles rechtzeitig fertig ist«, flüsterte er, »und vielleicht müssen wir dir dieses Jahr schon neue kaufen.«

Natürlich müssen sie. Seine Stiefel sind alt und abgewetzt. Zwei Jahre trägt er sie nun schon, und es sind Löcher darin, er braucht unbedingt neue: dieses Jahr hat er vor, mit Gideon und Zachi eine Zuchtfarm für Kaulquappen zu gründen und sie an ›Bonaparte‹ zu verkaufen, das erste französische Restaurant, das in Jerusalem aufgemacht hat.

»Was ist los, Aarontschik«, fragte der Vater in tröstendem Flüsterton, »wieso plötzlich diese Miene?«

Aaron wandte sein Gesicht ab, damit der Vater es nicht sehen konnte. »Und wie sie mit mir redet«, erbitterte er sich.

»Nimm’s nicht so schwer, Aarontschik, sie hat dich lieb, und das ist alles aus Sorge, daß sie so redet.«

»Ich bin genauso groß wie Gideon, so groß wie die Hälfte der Kinder in meiner Klasse.«

»Sie möchte, daß du in allem der erste und beste bist. Eine Mutter ist eben eine Mutter.«

»Aber sie beleidigt mich.«

Der Vater strich ihm über den Kopf. Aaron sehnte sich nach dieser Berührung. Von oben schwebte wieder die Melodie herunter, vorsichtig, tastend, provozierend, wie das erste Keimen nach einem Waldbrand. Der Vater rührte sich nicht. Nur seine Hand streichelte weiter. Es war noch hell genug, um die Adern der Blätter zu sehen. Die Melodie schwebte langsam dahin und zog feine Fäden. Aaron schob einen großen Ast beiseite, und der Himmel zeigte sich ihm. Der tiefblaue Abendhimmel. Der Vater schaute ihn an, bis er ihm ein Lächeln abgerungen hatte.

»Und außerdem«, meinte der Vater, »war auch jener, wie heißt er noch, Napoleon, war auch Napoleon klein, und auch Sioma Swatschinker war ein Fertel, Tatsache!«

4

In der Küche sah Aaron die kleinen Füße seiner Mutter hoch oben auf dem Franzuski zappeln. Ihr Kopf steckte im Speicher. Als sie ihn hereinkommen hörte, schoß sie herunter, sie hatte sich eine rosa Gummibadehaube gegen den Staub über den Schädel gezogen, glaub ja nicht, daß ich dich nicht auf dem Baum gesehen habe, wir rechnen nachher ab, geh jetzt und hol ein Paar Wollstrümpfe aus der Schublade mit den Strümpfen im großen Schrank. Winterstrümpfe? murrte Aaron, jetzt? Mitten im Sommer? Und wie willst du die Stiefel anprobieren, barfuß? Aber in dieser Hitze Wollstrümpfe? Hör auf mich, ich weiß ganz genau, was ich tue.

Ärgerlich öffnete er die Tür des großen Schrankes im Schlafzimmer der Eltern. Hinter der Schublade mit den Strümpfen fiel ein brauner Umschlag auf den Schrankboden. Wie die Umschläge von Vaters Einberufungsbefehlen zum Reservistendienst, aber auf diesem befanden sich weder Name noch Adresse. In nachlässiger, unbekannter Handschrift stand darauf: Alfons’ Miezenzirkus.