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Jair sieht eines Tages eine fremde Frau, Mirjam, und ist von ihr hypnotisiert. Er schreibt ihr und die beiden beginnen, sich in Briefen gegenseitig Geschichten zu erzählen. Jair zumeist solche aus seiner Traum- und Seelenwelt, Mirjam scheinbar aus ihrem täglichen Leben. Bis sie ihm nach und nach verrät: Die Wahrheit sieht leider ganz anders aus... Ein Liebesroman in Briefen und eine Geschichte über das Verhältnis zwischen Mann und Frau und ihre unterschiedlichen Erwartungen an die Liebe.
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Seitenzahl: 593
Veröffentlichungsjahr: 2016
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Jair sieht eines Tages eine fremde Frau, Mirjam, und ist von ihr hypnotisiert. Er schreibt ihr und die beiden beginnen, sich in Briefen gegenseitig Geschichten zu erzählen. Jair zumeist solche aus seiner Traum- und Seelenwelt, Mirjam scheinbar aus ihrem täglichen Leben. Bis sie ihm nach und nach verrät: Die Wahrheit sieht leider ganz anders aus... Ein Liebesroman in Briefen und eine Geschichte über das Verhältnis zwischen Mann und Frau und ihre unterschiedlichen Erwartungen an die Liebe.
Hanser E-Book
David Grossman
Sei du mir das Messer
Aus dem Hebräischen vonVera Loos und Naomi Nir-Bleimling
Carl Hanser Verlag
Die Originalausgabe erschien 1998 unter dem Titelsheti’i li ha-sakinbei Ha-Kibuz Ha-Me’Uhad in Tel Aviv.
ISBN 978-3-446-25520-3© David Grossman and Ha-KibbutzHa-Me’Uhad Publishing House, 1998Alle Rechte der deutschen Ausgabe:© Carl Hanser Verlag München Wien 1999/2016
Schutzumschlag: Peter-Andreas Hassiepen, München
Foto: Kamil Vojnar/Photonica, Hamburg
Satz: Fotosatz Reinhard Amann, Aichstetten
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Wenn das Wort Fleisch wirdund das Fleisch den Mund öffnetund das Wort ausspricht, aus dem esgemacht ist –werde ich es umarmenund an meiner Seite nächtigen lassen.(Hezy Leskly, »shi’ur ivrit ’he’«, aus:»ha-ahbarim ve-Leah Goldberg«)
Jair
Mirjam
Regen
Mirjam,
Sie kennen mich nicht, und beim Verfassen dieses Briefes kenne ich mich nur schwerlich selbst. Ich habe mich wahrhaftig bemüht, mich von diesem Schreiben abzuhalten, zwei Tage lang, und nun gebe ich mich geschlagen.
Sie sind mir vorgestern auf dem Jahrestag des Gymnasiums aufgefallen. Sie, Ihrerseits, konnten mich nicht sehen, denn ich stand abseits, vermutlich in Ihrem blinden Fleck. Jemand nannte Ihren Namen, ein paar Schüler bezeichneten Sie als ihre Lehrerin, Sie waren in Begleitung eines hochgewachsenen Mannes, Ihres Ehemannes, nehme ich an. Das ist alles, was ich über Sie weiß, und schon diese spärlichen Informationen sind mir eine Spur zuviel. Haben Sie keine Angst – ich will Sie nicht treffen und auch nicht in Ihr gewohntes Leben eingreifen, doch ich wünschte, Sie würden mir erlauben, Ihnen zu schreiben. Das heißt – mich Ihnen in Briefen mitzuteilen (hin und wieder). Nicht daß mein Leben weiß Gott wie unterhaltsam wäre (es ist es nicht, ich trage es mit Fassung), ich möchte Ihnen einfach geben, was ich sonst niemandem geben kann. Ich meine die Art von Dingen, von denen ich nicht einmal ahnte, daß ich sie jemals mit einem anderen würde teilen können oder teilen wollen. Natürlich würde es Sie zu nichts verpflichten, Sie müßten nicht reagieren (ich bin mir nahezu sicher, daß Sie nicht antworten), aber für den Fall, daß Sie dennoch irgendwann signalisieren wollten, daß Sie meine Briefe lesen, gebe ich Ihnen die Nummer eines Postfachs, das ich heute morgen eigens für Sie eingerichtet habe.
Sollten Erklärungen notwendig sein, hat die Sache keinen Sinn, Sie müssen dann nicht antworten, denn dann habe ich mich offenbar in Ihnen geirrt. Doch wenn Sie diejenige sein sollten, die ich dort sah, die Frau, die die Arme um sich schlug und etwas gebrochen lächelte, glaube ich, daß Sie wissen, was ich meine.
Jair W.
Liebe Mirjam,
seit Ihrem Brief bin ich handlungsunfähig, arbeite nicht, lebe nicht, kreise nur um Sie und brülle innerlich Ihren Namen, und wären Sie nun hier, würde ich Sie mit meiner ganzen Kraft umarmen, würde uns in unsere Einzelteile zerlegen, das bewirken Sie in diesem Augenblick in mir (keine Angst, ich bin nicht auffallend athletisch), ich gelobe Ihnen, auf all die Fragen, die Sie stellten, einzugehen, Sie verdienen ja die freimütigsten Antworten, auf das, was Sie mir geschrieben haben, dafür, daß Sie überhaupt geantwortet haben! Dafür, daß Sie bereit sind! Daß Sie sich von meinem beherrschten selbstmörderischen Brief (zwei tiefe Zahnreihenabdrücke in den Backentaschen sind mir von ihm geblieben) nicht haben abschrecken lassen, doch vorher, vor allem anderen, muß ich Ihnen darlegen, wie wir tatsächlich zueinandergefunden haben (Sie haben mir geantwortet! Schon nach einem Tag! Sie haben nicht über den Irren gelacht, der da auf einmal vor Ihnen auftauchte), und damit meine ich nicht die Begegnung in der Schule letzte Woche, sie gehört in den Bereich der Realität, was haben wir mit der Realität zu tun, sie wird ohnehin nicht bereit sein, uns einen Platz einzuräumen.
Wo soll ich beginnen, wenn es nur von allen Seiten gleichzeitig ginge, und dieser Eindruck, daß jedes Wort prall gefüllt ist mit untauglichen Buchstaben, nicht wahr? Daß jemand an der Stiftspitze Hebräisch in Französisch verwandelt … Ich hätte nie gedacht, wie kompliziert es sein könnte, das Gefühl zu beschreiben und in Worte zu zerkrümeln. Sie haben geschrieben, daß ich Sie ein wenig an den Jungen mit den Siebenmeilenstiefeln erinnere, ich wünschte, bei meinem Leben, mit einem Mal die Stufe der Erläuterungen und der Logik überwinden zu können, auf daß Sie schon alles wüßten, augenblicklich, daß Sie mich ganz annähmen, daß ich in Ihnen enthalten wäre, daß ich die Augen aufschlüge und Sie lächelnd vor mir sähe, wie Sie sagen, es ist gut, wir können beginnen (hier breche ich ab. Ich habe den Eindruck, daß jedes weitere Wort mir mehr schadet. Jetzt ist es an Ihnen).
Jair
(Nur noch ein paar Bemerkungen.) Ich habe meinen Brief eingeworfen, bin zurückgekehrt und konnte mich nicht beruhigen, wozu auch beruhigen, he, Mirjam, schenken Sie dem Kretin keine Beachtung, der seit dem Morgen sein Lächeln nicht beherrschen kann und sich vor lauter Glückseligkeit am liebsten hier und jetzt komplett entkleidete, die Epidermis und die übrigen Schichten ablegte, um nackt bis auf den weißen Kern der Seele vor Ihnen zu stehen. Ich wünschte, ich könnte Ihnen aufmalen, iahen, wiehern, bellen, Ihnen sogar pfeifen, was mich überschäumt (es erinnert mich daran, wie ich im Alter von etwa zwanzig mit dem Gedanken liebäugelte, ein säkularer Angehöriger der sechsunddreißig Gerechten der Generation zu werden, ich dachte daran, mich wenigstens einmal die Woche im Bus hinter eine einsame Frau zu setzen, Witwenkleidung erwünscht, aber nicht obligatorisch, der ich, von ihr ungesehen, kaum hörbar eine Melodie voller Liebe ins Ohr pfeifen wollte, eine, die die innersten Muschelgänge zum Vibrieren bringen und alles berühren würde, was abgestorben, entmutigt und verkrustet war) …
Nein, mich schreckt die Fremdheit zwischen uns nicht. Im Gegenteil, ganz im Gegenteil – sagen Sie mir, was gibt es Verlockenderes und Verrückteres als die Gelegenheit, etwas überaus Kostbares zu vergeben, das Teuerste an sich, ein Geheimnis oder eine Schwachstelle, oder eine ganz und gar unerhörte Bitte auszusprechen, wie die, mit der ich mich an Sie gewandt habe, und dieses Kleinod einem vollkommen Fremden in die Hände zu legen (gerade einem Fremden!), und sich dabei vor Scham und Schande zu verzehren, daß man sich solch einer fadenscheinigen Illusion hingibt und daß es in einem dieses Betteln gibt, und so verbrachte ich drei Tage und drei Nächte, jeden einzelnen Augenblick, wie in einem Verlies oder in einer Falle, und dann, als ich, trüb und grau, schon kurz vor dem Verzicht stand, vor der Schalheit, der Schadenfreude, da auf einmal Ihre weiße Hand –
Sehen Sie, vielleicht verstehen Sie gar nicht, was mich so aus dem Häuschen bringt, doch Ihr herzlicher Brief, vor allem das Postskriptum, alles in allem nur eine Zeile, war für mich, als wären Sie persönlich gekommen, um mich an der Hand vom Schatten ins Licht zu führen, so habe ich gefühlt, als ob Sie mir eine Hand gereicht hätten, um mich über die Lichtscheide zu geleiten, und das mit vollkommener Selbstverständlichkeit, als wäre es normal, daß ein Mensch so etwas für einen Fremden tut.
(Da ist sie, die Kältewelle. Jetzt, in diesem Augenblick. Warum? Weil ich mich gut fühle? Die Kältewelle bricht im Bauch aus, ist wie eine kalte Faust, die sich unter dem Brustbein ballt, darf ich vorstellen!)
Ich wünsche mir, daß Sie es verstehen, ich spreche tatsächlich nur von Briefen, nicht von einem Treffen, nie von Physis, kein Fleisch, nicht mit Ihnen, das ist mir nach Ihrem Brief durch und durch klargeworden, nur Worte. Von Angesicht zu Angesicht würde es uns verderben, würde sogleich in die gängigen Bahnen abgleiten. Und selbstverständlich streng vertraulich, ohne einen Dritten einzuweihen, damit sich unsere Worte nicht von außen gegen uns richten. Nur meine Worte werden Ihren Worten begegnen, und wir werden spüren, wie sich ganz allmählich der Rhythmus unserer Atemzüge angleicht. Dieser Brief kostet mich unbeschreibliche Anstrengung, es ist nicht die übliche Erschöpfung, aber nach ein paar Zeilen muß ich innehalten, durchatmen und mich zur Ruhe rufen.
Es ist Abend. Ich habe eine Atempause eingelegt. Ich bin etwas gefaßt. Genau zehn Stunden, seit ich Ihren weißen Umschlag in meinem Brieffach vorfand, mit meinem Namen auf der einen und Ihrem auf der anderen Seite (vielleicht schon hinreichend – zunächst). Darin ein zur Hälfte beschriebenes Blatt (hatten Sie keine Zeit?), Ihre Antwort. Auf den ersten Blick vermochte ich das Gelesene nicht aufzunehmen. Als ob aus jedem Wort, selbst aus dem neutralsten, ein gleißender Glanz stieg, wie ihn das Wort »Ich« ausstrahlt, wann immer man sich hineinvertieft, ein Augenblick des Verstehens, und dann eine Art dunkles Zwielicht, das sich allmählich vom Mittelpunkt auszubreiten beginnt und einen ansaugt, und als ich zu dem P.S. kam, dem Dankeschön für mein unerwartetes Geschenk (Sie danken mir auch noch!) und zu Ihrem Herzen, das plötzlich Sehnsucht nach sich selbst bekam, nach sich selbst als Kind –
Stimmt es, daß es solch einem Moment nichts hinzuzufügen gibt? Daß die Hauptsache schon gesagt ist?
Doch hören Sie, ich habe einmal von der Auffassung eines »unserer Weisen selig« gelesen, wir hätten ein Knöchelchen mit Namen »Mandel« im Körper am Ende der Wirbelsäule, das unzerbrechlich sei und das nach dem Tod nicht verwese, das man auch nicht verbrennen könne und das nach der Auferstehung der Ausgangspunkt für die Neuerschaffung des Menschen sei. Ich habe mir ein Spiel daraus gemacht – ich versuchte herauszufinden, was die »Mandel« meiner Bekannten ist, was würde das letzte sein, was von ihnen bliebe, was an ihnen war unsterblich und woraus würden sie neu erschaffen. Zweifellos habe ich auch mich selbst gefragt, was die meine ist, doch keine Theorie erfüllte sämtliche Bedingungen, späterhin stellte ich das Fragen und Suchen ein, ich erklärte meine »Mandel« für vermißt, bis ich Sie auf dem Schulhof sah und jäh jene alte Vorstellung von den Toten erwachte, und mit ihr der verrückte, süße Gedanke, daß sie vielleicht nicht in mir selbst zu suchen ist, sondern in einem anderen?
Wieder ich. Kurz vor Mitternacht. Für heute der dritte, aber das ist nichts, Sie haben ja keine Ahnung, wie viele Briefe ich heute nicht an Sie abgeschickt habe, doch ist dies unser erster gemeinsamer Tag, der Tag, an dem Ihr Brief kam und an dem ich ihn beantwortete, und solange ich keinen weiteren Brief von Ihnen erhalten habe, kann ich mich der Illusion hingeben, daß Sie mich so lesen, wie ich an Sie schreibe, im Dämmerzustand, halluzinierend (heute hatte ich bei der Arbeit einen geradezu tänzelnden Gang), und dadurch kann ich Ihnen zumurmeln, maim – maim, mit dünner Stimme, meine Stimme wird dünn, wenn ich an Sie denke, maim – Wasser, spenden Sie mir Wasser! Ich weiß nicht, warum, vielleicht ist es das Wasser in Ihrem Namen (ohne das etwas harte R, das wie ein Damm wirkt) und vielleicht die Tatsache, daß es ohne Flüssigkeit keine Befruchtung gibt, und ich fühle, körperlich fühle ich es, daß wir beide eine Menge Wasser um uns herum nötig haben, Wasserfälle und Flüsse, um damit beginnen zu können, zu sein.
Habe ich übertrieben? Habe ich mich hinreißen lassen? Ich kann spüren, wie Sie zusammenzucken (wahrhaftig: Ihr Körper verzieht die Miene), womöglich habe ich auch ein überdurchschnittlich verletzendes Wort gebraucht? Sie müssen mich führen, mir sagen, wo es weh tut und wo ich behutsam sein muß. Oder habe ich Sie heute einfach überrollt und Sie sind müde?
Denn mich laugt es aus, Ihnen zu schreiben, ich erwähnte es bereits. Nie zuvor habe ich beim Schreiben solch eine Schwäche empfunden. Fünf, zehn Zeilen, und ich bin wie benommen. Es hat zugleich etwas Angenehmes, es erinnert mich daran, wie ich mich als Kind fühlte, wenn ich nach langer Krankheit zum ersten Mal wieder einen Fuß in die Welt setzte. Hören Sie, vielleicht werden wir diese Korrespondenz a priori zeitlich begrenzen? Sagen wir ein Jahr? Oder bis es vor lauter Wonne unerträglich wird? Denn wenn mein Körper mir jetzt die Wahrheit sagt, und Körper lügen bekanntlich nicht –
Nein? Er lügt nicht? Und wie oft habe ich mit seiner Hilfe gelogen? Wie oft habe ich umarmt und geküßt, die Augen seufzend geschlossen, und bin brüllend gekommen, doch ohne besondere Teilnahme?
Wie häufig haben Sie es so gemacht?
Mirjam, wenn das, was ich momentan für Sie empfinde, real ist, dann wird uns wohl auch ein Jahr überfordern. Eine längere Zeitspanne würden wir nicht durchstehen, sie würde alles um uns herum ruinieren, und wie es aussieht, haben wir beide da draußen etwas zu verlieren, und darum meine ich, eine absurde Idee, und dennoch, daß wir vielleicht gleich zu Beginn diese Entscheidung treffen sollten? Daß wir uns einen Termin setzen oder darauf warten, daß sich auf der Welt etwas Bestimmtes ereignet, etwas von außen, etwas, dem wir beide vollkommen gleich sind, das jedoch im allgemeinen Kalender unser privates Zeichen sein wird. Was meinen Sie, beruhigt es Sie ein wenig (es würde irgendeinen Rahmen setzen)? Auf diese Weise würden wir von Anfang an wissen, daß der Abschied nicht in unserer Hand liegt und daß wir bis dahin alles erledigt haben müssen. Alles zu sein oder nichts, was meinen Sie?
Wieder sind Sie zurückgewichen, auf einmal sind Sie kühl und distanziert. Gut, ich bin mir bewußt, daß ich gerade großen Mist zu Papier gebracht habe und daß ich schon gegen meinen Eimer getreten bin, bevor er sich zu füllen begann, aber warten Sie, entscheiden Sie sich nicht gegen mich! Hören Sie: Das einfachste für mich wäre es jetzt, dieses Blatt zu zerreißen, den Brief neu zu verfassen, ohne diese jämmerlichen Zeilen, und Sie auf diese Weise nicht auf einen Schlag zu verlieren.
Sie sehen, ich habe ihn so belassen. So, wie er war. Unkorrigiert. Denn als Sie mir antworteten, beschloß ich, daß alles, was Ihretwegen mit mir passieren wird, Ihnen gehören soll. Notiert-in-mir-notiert-in-Ihnen. Jeder Gedanke, jeder Wunsch, jede Leidenschaft und jede Angst, jeder Säugling und jeder Fötus und jeder Abortus, die in mir durch Sie entstehen, das ist das Wesen meines Vertrags mit Ihnen, und nur mit Ihnen, daß ich hiermit auf jedes Make-up zu Werbezwecken verzichte, und auf die innere Zensur, und überhaupt auf das Recht auf Selbstverteidigung –
(Was für eine Erleichterung, allein diese Worte zu schreiben.)
Aber sehen Sie, ich habe es wieder gelesen.
Ich wünschte, ich könnte Ihnen etwas anderes schreiben, ich wünschte, ich wäre ein Mensch, der anders schreibt. So viele feiste Worte. Im Grunde könnte es auch ganz einfach sein, nicht wahr? Wie ein »Wo tut es denn weh, mein Kind?«, und ich schließe die Augen, so fest ich kann, und schreibe hastig: Zwei vollkommen Fremde sollen die Fremdheit per se besiegen, das enorme deterministische Prinzip der Fremdheit, inklusive der gesamten übersättigten Kremelspitze tief im Innern, wir sollen zwei sein, die sich Wahrheitsinjektionen verabreichen, damit sie sie endlich aussprechen müssen, die Wahrheit, ich will mir versichern können: »Mit ihr habe ich Wahrheit geblutet«, ja, das ist es, was ich möchte, daß Sie mir das Messer sind und ich Ihnen, ich gelobe es, ein scharfes Messer, aber ein barmherziges, eines Ihrer Worte, ich wußte gar nicht mehr, daß es zulässig ist, solch ein zarter, weicher Klang, ein Wort ohne Haut (wenn man es ein paarmal laut ausspricht, fühlt man sich wie salzige, harte Erde, in deren Risse Wasser zu sickern beginnt). Sie sind müde, ich zwinge mich dazu, gute Nacht zu sagen.
Jair
Mirjam.
Ich habe es gewußt, Sie können mir nicht vorwerfen, ich hätte es nicht gewußt und mich nicht gewarnt.
War das tatsächlich Ihr Gefühl? In diesem Maße?
Nun gut, Sie können sich vorstellen, daß es auch mir nicht angenehm wäre, so etwas einzustecken. Mit einer Hand gibt man, und mit zweien nimmt man! Scheherezade und der einfältige Sultan sind aneinandergefesselt und miteinander verwoben … Heute konnte ich nicht umhin, mir Ihren ersten per Expreß zustellen zu lassen.
Doch, Sie verstehen das, nicht wahr? Es ist die Angst. Daß – nachdem es mir gelungen ist, Sie am Ärmel zu zupfen und für einen Moment an meiner Seite aufzuhalten – mein langsam, aber sicher schwindender Charme restlos vergeht und ich keine zweite Chance erhalte, und Sie müssen, müssen mir glauben, daß ich erst auf den zweiten oder dritten Blick zu erkennen bin, auf keinen Fall auf den jetzigen.
Dennoch, Mirjam (Sie haben einen warmen Namen, üppig, gleichermaßen fest und weich), bleiben Sie noch ein wenig, nur bis diese unkontrollierten Zuckungen aufhören. Sie dürfen inzwischen kleine, verzweifelte Eintragungen über mich in Ihr Klassenbuch notieren, aber lassen Sie mich dabeisein, wenn Sie Ihre phantasierenden Selbstgespräche führen, Ihre Gespräche mit Anna (Ihre Freundin?), mit Ihrer Katze und Ihren Hunden, vielleicht habe ich bei Ihnen noch nicht vollends verspielt, denn Sie haben, trotz allem, aus scheinbar echter Sorge nachgefragt, was mich so in Panik versetze und wie es sein könne, daß einer, der es gewagt habe, solch einen großen Wunsch an das Leben zu stellen, auch so viel Angst davor habe.
Erklären Sie mir das doch bitte.
Wollen Sie wissen, wie oft ich Ihre beiden Briefe gelesen habe? Wollen Sie einen Grund zum Lachen haben? Jede Stunde, bei Tag und bei Nacht, flüsternd und lauthals, in kochendem Badewasser, über dem offenen Gasherd, inmitten einer Konferenz mit nachdrücklich gerunzelter Stirn und zehn Zeugen. Meine lachhaften Versuche, Ihnen immer und überall nahe zu sein. Selbst in der Toilettenanlage des Jerusalemer Busbahnhofs, ich bin heute nachmittag eigens dorthin gefahren, damit die schweinischen Zeichnungen und die Klosprüche beim Klang Ihrer offenen Worte vor Scham von den Wänden blättern, wie Sie schreiben, wirklich, selbst wenn Sie enttäuscht sind, ohne Verstellung und ungekünstelt, ohne auch nur einen Funken Vorsicht, so kommen Sie daher und schenken mir Ihr Vertrauen, ohne mich zu kennen.
Noch mehr von mir erzählen? Was gibt es schon zu erzählen?
Etwas an der Art, wie Sie schreiben, erinnert mich daran, wie ich mit dem Gedanken spielte, meinem Sohn eine Privatsprache beizubringen. Ihn mit Absicht von der sprechenden Welt zu isolieren und von Geburt an zu täuschen, damit er nur der Sprache Glauben schenkte, die ich ihm gab. Gütig sollte sie sein. Ich zog in Betracht – ihn bei der Hand zu nehmen und ihm alles, was er sah, mit Namen zu benennen, die ihm Leid ersparten. Er sollte gar nicht erst begreifen, daß es etwas wie Krieg gibt und daß Menschen töten, und daß dieses Rot Blut ist. Ein abgedroschener Gedanke, ich weiß, doch die Vorstellung gefiel mir, wie er mit einem unschuldigen, vertrauensseligen Lächeln durch das Leben ginge, das erste erleuchtete Kind.
Ich brauche Ihnen ja nicht zu sagen, wie glücklich ich war, als er zu sprechen begann, Sie erinnern sich sicher an dieses Wunder, daran, wie es ist, wenn ein Kind beginnt, den Dingen Namen zu geben. Und dennoch, wann immer er ein neues Wort gelernt hatte, ein Wort, das auch ein wenig »allen« gehörte, das der Allgemeinheit gehörte, auch bei seinem ersten Wort, einem schönen – »Licht« –, wurde mir das Herz in den Spitzen bitter, denn ich dachte – wer weiß, was er in diesem Moment verliert und was für eine unendliche Vielfalt an Licht er fühlte und sah, schmeckte und roch, bis zu dem Moment, in dem er alles in den kleinen Terminus »Licht« verpackte, mit diesem Schalter von t am Ende. Sie verstehen das, nicht wahr?
Ja, sicher, in bitteren Herzspitzen kennen Sie sich aus. Womöglich sind Sie gewissermaßen eine bescheidene Expertin auf diesem Gebiet. Ein Blick hat mir genügt, um das zu spüren. Und wie die Dinge liegen, ist es auch mir längst gelungen, Ihnen das Herz hinreichend schwer und bitter zu machen.
Aber in diesem Maße, tatsächlich? Als ob Sie, just in dem Moment, in dem Sie danach greifen wollten, etwas Kostbares, Ersehntes verloren hätten?
Sagen Sie mir wenigstens, was dieses kostbare Etwas war (damit ich weiß, was um ein Haar in mir war).
Jair
Sie haben natürlich recht, ich habe den Rüffel durchaus verdient (ich ahnte ja nicht, wie sehr Sie »Wort« sind). Wer hätte das gedacht, daß Sie auch über einen derart spitzen, galligen, schneidenden Sarkasmus verfügen – Ihre Schultern und Ihr Rücken gaben allerdings einen Hinweis darauf, etwas Verkrampftes, sogar Gepeinigtes sah ich darin, als bereiteten Sie sich auf den nächsten Hieb vor. Oder liege ich völlig daneben?
Ist es jetzt etwa meinetwegen? Sagen Sie – bin ich es, der Sie den Kopf derart einziehen läßt? Ich kenne das zur Genüge von mir, hoffentlich tue ich Ihnen das nicht an …
Hören Sie: Heute saß an der Bushaltestelle gegenüber von meiner Firma im Industriegebiet, in der Mitte des Vormittags, das Licht hatte seinen Höhepunkt erreicht, ein Blinder. Gebeugt, einen Stock zwischen den geschlossenen Knien. Ein Bus kam, und ein zweiter Blinder stieg aus, und als dieser an dem Wartenden an der Bushaltestelle vorbeikam, richteten sich beide gleichzeitig auf, wobei sich die Köpfe in ein und demselben Rhythmus bewegten. Ich blieb stehen, rührte mich nicht. Sie tasteten, entdeckten, und für einen Moment standen beide wie engumschlungen und erstarrt da. Es dauerte eine Sekunde, nicht länger, in vollkommenem Stillschweigen, bis sie sich schlagartig losrissen und voneinander abließen, doch mir sträubten sich am ganzen Körper die Haare, Ihretwegen, und ich dachte: So!
Kommen Sie nur, kommen Sie näher, ich will Ihnen etwas Wahres und Intimes geben, laufen Sie nicht davon, machen Sie sich nicht so klein, etwas zutiefst Intimes, etwas, was einen Gegensatz zu dem »anonym« darstellt, das Sie mir vorwarfen, als Sie wie ein Standgericht auf Ihrer Veranda saßen (ein lila Blütenblatt, das sich zwischen der Seite und dem Umschlag verfangen hatte, klebte ausgerechnet auf »anonyme Intimität« und hat beide Worte verwischt). Spannen Sie die Muskeln, Mirjam, wir sagten alles oder nichts.
Als meine Frau und ich miteinander auszugehen begannen, fuhren wir an einem Wochenende ins Karmelgebirge und wanderten dort durch ein kleines Wäldchen. Es war noch früh am Morgen, kurz nach der Dämmerung, und wir unterhielten uns und lachten, und ich, der ich für gewöhnlich das, was man die Schönheit der Schöpfung nennt, verabscheue, konnte plötzlich diese Ästhetik um uns herum nicht länger ertragen, in Windeseile zog ich mich aus und begann nackt und grölend zwischen den Bäumen herumzulaufen. Und Maya (wir werden sie unter uns Maya nennen, und auch Sie lade ich dazu ein, Ihren Lieben beliebige Namen zu geben) blieb fassungslos stehen, vielleicht erschreckte sie nur meine Nacktheit, die sie zum ersten Mal an der frischen Luft sah und die auch im Dunkeln nur mäßig erfreulich ist, und ich hörte, wie sie leise nach mir rief und mich anflehte, ich solle damit aufhören, aber ich war schon im Rausch, ich stürmte aus allen Himmelsrichtungen auf sie los, in einer Art ungestümem Balztanz, der wohl recht albern gewirkt hat, und ich animierte sie, es mir gleichzutun, und es gab einen Moment, an dem ich spürte, daß sie es irgendwo wollte, verstehen Sie, ich war vor diesem Zeitpunkt nie bereit gewesen, mit ihr zu tanzen, nicht auf Partys, nicht unter Menschen, und nackt konnte ich es auf einmal, ich wurde getanzt, stellen Sie sich das vor, nackt und tanzend, berstend vor Glück, vielleicht macht das Glück attraktiv, Maya ließ sich um ein Haar hinreißen, ich fühlte, daß sie erfaßt und schier aus sich selbst herausgerissen wurde, aber im letzten Moment dann doch nicht. Warum verlangte der Polizist in Ihrem Traum, daß Sie wegen Verfassens von Drohbriefen Anzeige gegen mich erstatten sollten?
(Und wie Sie mich mit einem Mal belebten, als Sie diesem schnüffelnden Idioten sagten, meine Briefe kämen Ihnen eher wie eine Bedrohung meines eigenen Lebens vor, und daß Sie vielleicht gerade deshalb blieben.)
Im Wald tanzte ich. Ich wünschte, ich könnte heute, im Jetzt, noch einmal so tanzen. Ich tanzte, weil jener Zweifel sonderbarerweise noch nicht in mir erwacht war, weil die Kältewelle noch nicht da war, das heißt – sie war längst da, natürlich war sie längst da, bei mir funktioniert dieser Mechanismus reibungslos, und mein Giftsack entleert sich unverzüglich in den Blutkreislauf, wenn sich mir das Herz aus irgendeinem Grund weitet, aber gerade wegen dieses Giftes tanzte ich damals noch wilder, ich weiß nicht, warum, vielleicht spürte ich, daß ich endlich den Fehler machte, der für mich richtig ist; und obgleich Maya schon kehrtgemacht hatte und wieder im Auto saß, konnte ich nicht aufhören, zwischen den Bäumen zu tanzen, und der Geruch der Kiefern wurde beißend bis zu den Tränen, während ich nackt war, und die Stimmen ringsumher, Vögel und fernes Gebell und das Summen von Insekten, ich roch die Erde und die Felsspalten und die Asche der Lagerfeuer vom Sommer, und ich hatte das Gefühl, daß ein gigantischer grauer Star, der mich von Kopf bis Fuß bedeckt hatte, von mir abfiel, und erst als ich vor Erschöpfung beinahe zusammenbrach, sammelte ich meine Kleider wieder auf und stieg zu ihr in den Wagen, sie war bleich, sie sah mich nicht an, sie bat mich, mich anzuziehen, da jemand vorbeikommen könne, und wir sollten besser sofort nach Hause fahren, ihre Eltern warteten längst mit dem Frühstück auf uns. Plötzlich brach ihre Stimme, sie begann zu weinen, und auch ich fing an zu schluchzen, ich verstand, daß dies das Ende unserer jungen Liebe war, und ich dachte, ich könnte eine Trennung von ihr nicht ertragen, denn ich hatte noch nie jemanden so geliebt, freudig, schlicht und gesund, wie ich sie liebte, und wie üblich hatte ich die Sache gleich zu Beginn verdorben und mich bloßgestellt.
Wir saßen im Auto, jeder für sich, und wir weinten, sie bekleidet, ich nackt, und aus dem Weinen näherten wir uns einander, und wir schmiegten uns aneinander und begannen zu lachen, und ich zog mich ohne Eile an, sie half mir, sie zog mich an, Kleidungsstück für Kleidungsstück, sie knöpfte mir Hemd und Hose zu und krempelte mir die Ärmel hoch, und die ganze Zeit küßte und leckte ich ihre Tränen, denn ich begriff nach und nach, daß sie über mich weinte, mich aber nicht verlassen würde, daß sie mich beweinte und blieb, und mein Herz war randvoll vor Dankbarkeit, und ich wußte, daß ich ihr so etwas nie wieder antun würde, und ich faßte den Entschluß, sie von nun an bis in alle Ewigkeit vor mir zu schützen, schließlich konnte ich sie einer Welt, in der ich mich so aufführte, nicht aussetzen. Sie lachte zwischen ihren Tränen und sagte annähernd das gleiche, um sie vor mir zu schützen, würde ich in Zukunft für immer bei ihr bleiben müssen, was halbwegs ein Witz war, aber auch tiefe Wahrheit, und die schicksalhafte Logik zweier Menschen enthielt, eines Paares, und Sie wissen ja, daß dies eine Logik ist, die zwei Lebensgefährten bisweilen erst nach einem kompletten gemeinsamen Leben begreifen (ich habe den Mann gesehen, bei dem oder neben dem Sie standen), wir aber hatten schon am Anfang einen Blick hineingeworfen.
Sehen Sie, seit Jahren habe ich nicht mehr an diesen Augenblick gedacht. Ich schreckte davor zurück, mich mir bei diesem Tanz vorzustellen, und damit ist auch der Rest verschwommen. Im Grunde genommen waren wir nichts weiter als erschrockene Kinder, und dennoch gelang es uns, in Windeseile eine komplizierte Lebensvereinbarung zu treffen, höchst offiziell warnend und gewarnt, und im nachhinein wundert es mich, wie wir in Sekundenschnelle unser Augenlicht so justieren konnten, daß es künftig nur auf den Winkel fallen würde, der notwendig war, um sicherzustellen, daß unsere Liebe immer und um jeden Preis gewinnen würde, und den Preis legten wir gleich fest, und wir sprachen nie wieder darüber, niemals, wie kann man auf einmal, in der Hälfte des Lebens, darüber sprechen, sagen Sie mir das.
Sagen Sie mir das.
Ich hätte es Ihnen nicht erzählen sollen, nicht wahr? Was haben Sie mit der Ehe eines Menschen zu tun, den Sie nie gesehen haben. Ich spüre schon den Frost des Irrtums. Wieder hat der Hanswurst danebengegriffen, so muß es Ihnen vorkommen, dieser Mensch wirft alles, was er hat, in die Lüfte und läßt erwartungsgemäß alles um sich herum auf den Boden fallen. Was soll’s, die Menschen lieben den dummen August, so wenigstens hat es mir mein renommiertes Pädagogenpaar beigebracht (aber ich bitte Sie, mit einer Windung Ihres Hirns zu berücksichtigen, daß ich, sagen wir, der Mensch mit der gewaltigen Brandwunde im Gesicht bin, der den Entschluß faßte, dennoch diesen menschenvollen Raum zu betreten). Hätte ich Ihrer Meinung nach mit solch einer Geschichte vielleicht ein wenig warten sollen, warten, bis wir uns etwas näher kennen? Auch ich bin dieser Ansicht, aber bei Ihnen handele ich nicht nach meiner Ansicht, sondern nach meiner Fehlsicht, und warten möchte ich auch nicht, denn die Zeit, die Sie und ich zusammen haben, ist eine andere, es ist eine Kugelzeit, jeder Punkt hat die gleiche Nähe zum Zentrum, und ich entschuldige mich auch nicht, wenn ich Sie in Verlegenheit gebracht habe, dies hier ist kein seichtes Geplauder. Was Sie anbelangt – wäre ausradieren Mord, von all dem, was ich zu Papier bringe, ist nichts beabsichtigt, und es wird auch nichts ausgeklammert werden!
Ich kann nicht schlafen. Ich wüßte gern, was Sie fühlen, wenn Sie den Brief von heute morgen lesen, und ob Sie mir danach überhaupt weiter schreiben. Höchstwahrscheinlich nicht. Sie werden denken, daß es dreist von mir war, Ihnen so etwas aus meinem Leben zuzumuten. Und dennoch bin ich froh, daß ich ihn abgeschickt habe. Trotz allem, womit ich mich heute im Laufe des Tages herumgequält habe. Sie hatten recht, daß ich im Grunde einen Partner für eine imaginäre Reise suche, aber Sie irren in Ihrer Vermutung, daß ich gar keinen realen Partner brauche. Genau das Gegenteil ist der Fall: Ich brauche einen realen Partner für eine imaginäre Reise. Während ich diese Worte schreibe, flattert mir das Herz auf durchaus reale Weise. Überhaupt scheint es sich zu bewahrheiten, daß ich, nur wenn ich mich meinen Phantasien hingebe, meinen Herzschlag spüre. Hier wieder, ein Flattern.
Wußten Sie eigentlich, daß es einen Vogel mit Namen Alk gibt? Wenn man ihn sanft an der Brust berührt, hört sein Herz zu schlagen auf, und er stirbt. Er duldet keine falsche Bewegung, denn der geringste Fehler überträgt eine leichte Erschütterung auf sein Herz, und es hört mir nichts, dir nichts auf zu schlagen. Wenn ich nur solch einen Alk kaufen könnte. Im Grunde zwei. Nein: einen Schwarm. Ich würde sie über meine Briefe an Sie fliegen lassen, lebendige Lügendetektoren, wie die Kanarienvögel, die das Ausströmen von Gas in den Bergwerken anzuzeigen hatten. Stellen Sie sich vor: ein erlogenes Wort oder ein nachlässiges, ein rohes oder einfach ein gleichgültiges – und ein toter Vogel plumpst auf das Blatt. Sie sollten sehen, wie ich dann schriebe. Übrigens, ich habe vergessen, Ihnen zu sagen, daß Sie mich kränkten, als Sie mutmaßten, ich könnte Sie mit einer anderen Frau verwechselt haben, die ich an jenem Abend sah. Und noch mehr verletzt hat es mich, daß es Ihnen so schwer fiel zu entscheiden, was Ihnen lieber wäre: wenn ich mich geirrt hätte oder das Gegenteil.
Aber wissen Sie, wann mir das Herz wahrhaftig schwer wurde? Als Sie sich mir selbst beschrieben, um sicherzugehen, Sie haben sich irgendwie auf einen einzigen Satz reduziert, und dann auch noch in Klammern (»ziemlich groß, langes, widerspenstiges lockiges Haar, Brillenträgerin …«).
Wenn das so ist – wenn Sie sich tatsächlich zwischen Parenthesen sehen –, lassen Sie wenigstens zu, daß ich mich mit Ihnen dort hineinzwänge und daß die Welt draußen bleibt. Damit die Welt nur der Faktor außerhalb der Klammer ist, der uns in ihr multipliziert.
J.
P.S. Trotzdem, obwohl es zwischen uns nicht richtig läuft und von Anfang an etwas schräg und unstimmig ist, muß ich Ihnen etwas sagen – nämlich wie sich meine Pupillen weiten, wenn ich in einem anderen Kontext auf eines Ihrer Worte stoße, auch in der Zeitung oder in einer Anzeige … Schließlich gibt es Worte, die so eigentümlich für Sie sind, Ihre Seelenabdrücke, und die mir bei jedem anderen nach begrifflichem Beiwerk und sprachlichem Scharnier klingen, nach nichts weiter, bis zu Ihnen konnte ich mir nicht vorstellen, daß es so erregend sein kann, der Sprache eines Fremden zu begegnen und daß es vergleichbar ist mit der ersten Berührung mit dessen Körper, dessen Geruch, dessen Hautbeschaffenheit, dessen Haar und Pigmentflecken. Geht es Ihnen ebenso?
Aber wie werde ich uns zusammenbringen? Sie und mich, wie bringe ich es zu einer Begegnung zwischen uns? Es kam ein Brief von Ihnen, er liegt auf dem Tisch. Leichenblaß. Die Farbe Weiß reflektiert alle Lichtstrahlen, nicht wahr? Gleich werde ich ihn öffnen. Geben Sie mir eine Schonfrist, lassen Sie mich einen Anflug optimistischer Farbe versprühen … Habe ich Ihnen schon gesagt, daß ich uns die ganze Zeit über in Grün baden sehe? Immerfort grün, wenn ich an Sie denke. Großes, breitflächiges Grün. Vielleicht der Bauch eines Ozeans, weit und endlos, vielleicht ein dichter europäischer Wald, vielleicht auch nur eine große Wiese (ich hätte Sie warnen müssen, gemeinhin ragen meine Träume nicht über die Höhe eines Grashalms hinaus). Sie sitzen auf dem Rasen und lesen ein Buch, und ich lese, sagen wir, die Zeitung. Zwischen uns liegt eine enorme Distanz, ein riesiger Rasen. Und zwei Fremde, wie bringe ich die beiden dazu, sich binnen einer Sekunde in die Arme zu fallen, ohne die Zwischenstufen zu durchlaufen, und ohne die Sätze aufzusagen, die schon Millionen von Männern und Frauen vor ihnen schal werden ließen?
Dem Tasten und Fühlen nach zu urteilen – nicht mehr als eine Seite. Ich zog den Versuch in Erwägung, mir eigenhändig zu schreiben, was dort geschrieben steht, um mich gewissermaßen zu rüsten, aber Sie untersagten mir, an Ihrer Stelle zu entscheiden, was Sie denken und fühlen. Vielleicht werde ich einen kleinen Tagtraum niederschreiben, dem ich mich schon seit Tagen hingebe, einem über uns beide, interessant, was Sie darüber denken. Solch ein Bild, ein bißchen albern, von Ihnen und von mir, wie jeder von uns in seine Lektüre vertieft ist, aber weil nur wir beide uns dort, auf dem Rasen, befinden, wach und empfindlich für die Anwesenheit des anderen. Ich trage wie üblich Jeans, Sie ein schwarzes, lockeres Kleid, das sich über die gesamte Länge Ihres Körpers an Sie schmiegt und auf das helle Sterne und Monde gedruckt sind, und wenn ich nicht irre, ist da auch ein leichter, luftiger grüner Schal, der Ihre Schultern bedeckt. So sah ich Sie beim Jahrestag (ein Schal? Oder ein langes Seidentuch? Jede Einzelheit ist mir jetzt wichtig), denn, heißt es in den Briefen, die einzige Sache, an die er sich erinnere, sei die grüne Pelerine, die sie trug, so traf der Verführer Cordelia zum ersten Mal an. Und vielleicht stammt dieses ganze Grün von dem Schal?
Das Grün, das erlosch unter dem weiten grauen Pullover, den Ihr Gatte Ihnen über die Schultern warf, als Sie fröstelten. Erinnern Sie sich an so etwas? Denn ich erinnere mich deutlich an irgendeine hastige, aggressive Bewegung von ihm, die mich erschütterte, während ich Sie anstarrte, als mir noch nicht bewußt war, wie sehr ich Sie anstarrte. Und er, dieser »Er«, dem Sie unsere Beziehung auf keinen Fall verheimlichen wollen, gerade weil es ihm nicht einfallen würde, Sie auszufragen, was Sie tun und mit wem – warf plötzlich aus den Höhen seines titanischen Wuchses den Pullover über Sie, wie man ein Lasso über ein ausgebrochenes Fohlen wirft.
Aber was ließ Sie eigentlich so frösteln? Ziemlich groß, langes, widerspenstiges lockiges Haar, Brillenträgerin … Ohne jene nervtötenden Klammern hätte ich gelacht: So sehen Sie sich, nur so? Und warum haben Sie nichts über Ihre wunderbare Haltung geschrieben, die gleichsam aufrichtig und weich ist, und über Ihre strahlenden Wangen, so wie Sie auch nicht erwähnten, daß in Ihrem Gesicht eine Art Naivität liegt, hell und sommersprossig, etwas anachronistisch, verzeihen Sie, die an die fünfziger Jahre erinnert …
Und warum habe ich nicht sofort Worte geschrieben wie goldenes Korn, wie Tenne und Butter, daß Sie ein Gesicht haben, das auf den ersten unbeteiligten oder stumpfen Blick relativ bescheiden wirkt, im Gegensatz zu diesem fabelhaften, ausdrucksstarken Körper, ich hoffe, ich verletze Sie nicht, das Gesicht eines braven, anständigen Mädchens, das brave, verantwortungsbewußte Gesicht einer Klassensprecherin, und plötzlich verfängt sich das Auge in etwas Unerwartetem, dem dunklen Muttermal unter den Lippen oder dem Mund an sich, der breit ist, zitternd und ruhelos, etwa so, als hätte er ein Eigenleben, Sie haben einen hungrigen Mund, Mirjam, sagen Sie mir, ob Ihnen das schon einmal jemand gesagt hat, und ich werde sofort eine andere Formulierung finden, ich will es auf jeden Fall vermeiden, in den Worten anderer zu waten.
Ich verschlang an jenem Abend mit den Augen Ihr Gesicht. Ich sah Sie vielleicht fünf Minuten lang, aber fünf Minuten lang wurden Sie in mich geätzt, und jetzt werden Sie sich entscheiden müssen, ob »das sonderbare Seufzen«, das Sie ausstießen, wirklich daher rührte, daß Sie dachten, ich hätte Sie irrtümlich mit einer anderen verwechselt, oder stöhnten Sie, weil gerade Sie es waren, weil Sie diejenige waren, die mein Los gezogen hat … Sie müssen das allein entscheiden, es sind seit damals drei Wochen vergangen, und sobald mein Blick auf eine unbekannte Frau fällt, prallt er zurück, geradewegs auf Ihr Konterfei in meinem Hirn. Wie sehr Ihr Gesicht mich erregt hat. Ich, der ich hartnäckig immerzu bei der Figur ansetze. Aber auch Ihren Körper habe ich, Gott behüte, nicht vernachlässigt, ich meine, Sie unternahmen den schriftlichen Versuch, ihn zu verschleiern (»ziemlich groß …«), der Stift zuckt in meiner Hand bei dem Gedanken, daß ich in Kürze Ihren Körper beschreiben werde, die Schönheit Ihres Körpers, seine Großzügigkeit unter den Kleidern. Und auch die etwas verkrampfte Rundung der Schultern vergesse ich nicht, als ob sich in Ihnen jemand verbarrikadiere, den Sie decken.
Und wie Sie den Kopf gesenkt hatten, und wie Ihr Körper unter dem Kleid ein wenig fröstelte, und wie Sie ihn in einer langsamen Geste, wie im Traum, mit den Armen umschlangen, wie vor Trauer über ihn, es klingt absonderlich, doch so sah ich es, vor Trauer – und voller Mitleid mit ihm. Und auf einen Blick wußte ich etwas über Sie, ich erzürne Sie wohl wieder, maße mir an, Ihnen etwas über sich selbst zu erzählen, ohne die Andeutung eines Zweifels, doch ich wußte es einfach, Ihr Gesicht war in diesem Moment offen und unbefestigt, ich habe noch nie einen erwachsenen Menschen gesehen, der derartig gehäutet war. Es war offensichtlich, daß Ihnen jede Gemütsbewegung unmittelbar ins Gesicht geschrieben steht, daß Sie gar nicht in der Lage sind, irgend etwas zu verbergen, und wie gefährlich das ist, und wo waren Sie denn, als das Leben seine Lektionen erteilte?
(Genug, ich verliere die Beherrschung. Komm schon, her mit dir, du gnadenloser Kurier, her mit dir, du komprimiertes, antibiotisches Kündigungsschreiben, laß hören, was du uns zu sagen hast!)
Mirjam.
Zunächst:
Im Supermarkt – heute, am späten Nachmittag – bat mich ein unbekannter Junge, ihm drei Schokoladenriegel von einem hohen Bord zu holen. Ich streckte die Hand danach aus, und der Kleine verwandelte sich sogleich in einen elenden Jungen, in dem eine ungeklärte Erkrankung nistet und den man schon seit Monaten behandelt, um den man sich sorgt, und der plötzlich, als sich schon alles zum Guten zu wenden und die Krankheit besiegt zu sein schien, Unmengen von Schokolade zu vertilgen begann, der heißhungrig und mondsüchtig bei Nacht das Bett verläßt und sie sich gierig einverleibt und den man nicht bremsen kann; ihm dieses kleine Vergnügen zu nehmen, wo er solch eine komplizierte Behandlung durchmacht, würde einem geradezu widerstreben. Doch das Wesentliche ist, daß der Junge über ein Wissen verfügt, das er allen anderen voraushat, seinen Eltern und seinen Ärzten und sogar sich selbst, eine Art inneres, stummes Wissen, und so versorgt er sich für die lange, kalte Reise, die ihn erwartet, mit Schokolade – ich fischte ihm die Riegel vom Regal, und er ging munter davon.
Solch ein kurzer Gedankenblitz durchfuhr mich, während meine Hand nach der Schokolade griff, und ich schwor mir, diese Eingebung nicht zu vergessen und Ihnen davon zu erzählen, ich habe mir sogar auf einem Zettel Notizen gemacht. Na und? Zehn dieser Blitze durchfahren mich täglich, und zehn gehen mir für immer verloren, und das hier war wirklich kein besonders großartiger Vertreter seiner Gattung, aber wenn ich Ihnen nicht davon gesprochen hätte, wäre er mir gleichfalls entfallen, schade drum, selbst um etwas derart Nichtiges wäre es schade, wenn es verglühen würde, noch bevor es geboren ist, schließlich handelt es sich um einen lebendigen Seelenbrösel, fraglos hat jeder Mensch Hunderte davon, aber keinem anderen wäre dieser spezifische Mumpitz in den Sinn gekommen, und selbst wenn – wer brächte es fertig, ihn einem anderen zuzumuten? Haben Sie schon mal gehört, daß jemand über diese Art von Gedankenblitzen spricht?
Und woher der Mut, Ihnen solch einen inneren Nonsens zu erzählen, etwas, was zweifellos nichts weiter ist als das Knistern statischer Entladungen im Gehirn?
Vielleicht weil Sie plötzlich begriffen haben, daß Sie es sich ihr ganzes Leben lang nicht verzeihen würden, wenn Sie jetzt den Kontakt zu mir abbrechen würden, nur weil ich Sie hier und da aus der Fassung bringe.
Sehen Sie, Mirjam, ich lese Ihren kurzen Brief immer wieder. Vielleicht wage ich nicht, ihn bis in die Tiefen zu verstehen, aber ich habe den Eindruck, daß hier, in Ihrer winzigen Handschrift, geschrieben steht, daß Ihnen klar ist: Wenn Sie sich nun von mir abkehrten, bevor Sie mir wirklich begegnet sind, wäre das so, als kehrten Sie sich von Ihrem Wesentlichen ab.
Schließlich weiß ich, daß Sie nicht so sehr ins Detail hätten gehen müssen, daß dieses »Wesentliche« gar nicht mit mir im Zusammenhang steht, daß es etwas ist, was vollends mit Ihnen selbst zusammenhängt, vielleicht ist es sogar, wie Sie bemerkten, das Etwas schlechthin. Aber ich lese auch, was Sie am Ende des Blattes in leicht sonderbaren Buchstaben hinzufügten, nämlich daß die Tatsache – daß ein fremder Mensch dieses Etwas mit einem hastigen Blick identifiziert hat und es, ohne Sie zu kennen, beim Namen nannte – Sie ab und zu erschaudern läßt.
Jair
(Schon morgen)
Ich meine: Wenn ich nur ein paar von ihnen zusammenfügen könnte, ein paar von diesen Seelenbröseln, könnte ich sie vielleicht wie ein vollständiges Mosaik betrachten und endlich irgend etwas verstehen, irgendein Prinzip, das mich gänzlich zusammenfaßt. Meinen Sie nicht auch?
Ich spreche von den Dingen, für die es keine Gattungsbegriffe gibt, die sich im Lebensverlauf am Grund der Seele ansammeln, Sedimente und Erze. Wenn Sie mich bitten würden, sie Ihnen zu beschreiben – so hätte ich dafür keinerlei Worte, nur ein schweres Herz, ein vorbeihuschender Schatten, ein Stöhnen. Jemand umarmt sich selbst in einer Menschengruppe, und auf einmal füllst du dich mit Sehnsucht. Jemand schreibt: Sie haben sich als »Fremder« vorgestellt, doch ein vollkommen Fremder kann nicht so zu mir sprechen … Und sofort spürst du einen Kloß im Hals, die Einsamkeitsdrüse sondert einen Tropfen ab, mehr nicht, aber was ist gültiger und bedeutsamer als dies? In den Tiefen, erklärte mir Rilke einmal bei irgendeiner Nachtwache im Sinai, verwandelt sich alles zu einem Gesetz. Sehr hübsch, erwiderte ich ihm, und es ist durchaus ein beruhigender Gedanke, daß irgendwo alles zu einer Bedeutung zusammengefaßt wird, aber mir kann dieses Wissen schon nicht mehr genügen, Rainer Maria, meine Zeit läuft, und selbst wenn ich noch dreißig Jahre leben sollte, werde ich nur noch dreißig erste Herbstzeitlosen sehen, alles in allem ein kümmerlicher Strauß, und ich will einmal mit eigenen Augen diese Gesetzesformel sehen, verstehst du? Die Verfassung, und ich möchte an einer Pauschalreise in diese mysteriösen »Tiefen« teilnehmen, und dann werde ich darauf bestehen, die Gattungsbegriffe all jener erwähnten Ablagerungen zu erfahren, um sie wenigstens ein einziges Mal bei ihren Namen zu nennen und somit eine Antwort zu erhalten, ich werde darauf beharren, damit sie endlich ein einziges Mal die meinen sind, alles, nur nicht diese permanente Stummheit (die mir in diesem Moment, beispielsweise, ohne ersichtlichen Grund, mitten im täglichen Mob mein Herz aufplatzen läßt).
J.
Übrigens, bemühen Sie sich nicht so sehr, sich zu erinnern, welcher der Teilnehmer an jener Feier ich war, es spielt gar keine Rolle, Sie haben mich ohnehin nicht bemerkt. Wenn Sie allerdings darauf bestehen – nicht groß (womöglich sogar kleiner als Sie, ich hoffe, es macht Ihnen nichts aus, verbal stört es nicht), buchstäblich mager, man hat bei der Herstellung nur wenig Material in mich investiert, vielleicht auch nur wenig Kopfzerbrechen. Nicht eben Adonis, wenn Sie mich fragen, das heißt: nicht ansehnlich. Fällt es Ihnen jetzt ein? Ein halbwegs bedrücktes Gesicht, heller, lichter Bart? Schritt ziel und rastlos durch die Menschengruppen, ohne Anschluß zu finden? Ist Ihnen so jemand in Erinnerung geblieben? Eine Art Kreuzung zwischen einem ominösen Marabu und einem Juden? Kurzum: Schade um die Mühe – unscheinbar.
Keinerlei Nachsicht, was?
Und auch keinen Rabatt.
Aber was ist daran so schlimm, wenn ich in meinen Briefen an Sie ein wenig pubertiere? Ich bin sowohl ein Pubertierender als auch ein Säugling, sowohl ein Greis als auch eine Wiedergeburt, ich bin, wenn ich Ihnen schreibe, so viele Lebenszeiten, und ich wünschte, Sie würden mir ein Fünkchen von der Glut überlassen, der Sie sich für Momente hingegeben haben (nur für Momente? Wirklich?), als Sie in jenem gräßlichen Alter der Pubertät waren. Wie konnte man überhaupt den Tunnel jener obskuren Jahre ohne einen Hauch an »Ekstase« passieren, und warum halten Sie auch heute noch so unsäglich mit dem Feuer all Ihrer Altersstufen hinter den Berg, Jair-kauft-alles-an, die gesamten Bestände des thermischen Marktes, denn Sie müssen verstehen, der Ort, zu dem ich gelangen will, hat noch nicht genügend Lebenskraft und Lebensgeister, und wenn ich ein Stück zurücktrete und ihn von außen betrachte, kühlt er auch für mich ab, und wenn Sie ihn in Frage stellen, und sei es nur mit einer Randbemerkung, friert er auf der Stelle ein, was haben Sie denn gedacht – daß ein Schöpfungsakt ein Kinderspiel ist?
Seit gestern versuche ich zu verstehen, was zwischen dem letzten Brief und dem jetzigen mit Ihnen geschehen ist. Auf welche Stimme von außen haben Sie gehört (es war Anna, nicht wahr? Sie haben es ihr erzählt. Ich bin sicher, daß Ihnen kein Mensch nähersteht als Anna. Sie hat eine Witzfigur aus mir gemacht, nicht wahr?).
Denn wenn es nicht so war, wie erklären Sie dann das Phänomen, daß Sie auf einmal wieder einen Rückzieher machen und verlangen – mit einer Kälte, die nicht zu Ihnen paßt, nervös und mit verkniffenem Mund –, daß ich Ihnen endlich etwas über mich selbst erzähle, über mein sichtbares Selbst.
Ich habe gehofft, wir hätten das schon hinter uns, Sie hätten verstanden, daß mein Selbst für unsere Sache nicht von Belang ist, wer interessiert sich schon für mein Ich? Und was spielt es für eine Rolle, wenn Jair Wind nicht im Telefonbuch steht? In dem Buch steht er eben nicht! »Sichtbar?« Ich habe Ihnen doch gesagt, daß Sie mich an jenem bewußten Abend nicht sehen konnten, ich stand in Ihrem blinden Fleck. Schreiben Sie an Ihren blinden Fleck, schauen Sie tief hinein, und Sie werden sehen, wie ich Ihnen mit beiden Armen von dort zuwinke, aus dem Zentrum Ihres blinden Flecks, Mirjam, bitte –
Sie bemerken, daß ich nicht einmal den Versuch unternehme, mit Ihren Intuitionen zu diskutieren: Bevor ich begonnen habe, Ihnen zu schreiben, war es zutreffend, es hätte mich genau beschrieben, alle Symptome der Krankheit. Selbst der »gewandte Sprachstil«, der in Ihren Augen stets ein wenig dubios ist, aalglatt. Ich meine zu wissen, wovon Sie sprechen. Und mir sind Ihr Eindruck oder Ihr Mißtrauen nicht fremd, daß ich in der Lage bin, beinahe willkürlich meine rührenden Schwächen vollkommen Fremden auszuliefern, eine bizarre, peinliche Betörungsstrategie, behaupten Sie, als ob es hier nicht wahrhaftig um Leben und Tod ginge …
Ich lese diese schneidenden Auslegungen und denke nach – sie seziert mich, als hätte ich sie nie erregt, und sie erregt sich, als wäre sie nicht zu sezieren fähig. Wer ist sie denn?
Ich habe nicht die Absicht, Sie zu Hause anzurufen, danke, ich war recht verblüfft, daß mein argloses Angebot von letzter Woche, Ihre Lieben mit beliebigen Namen zu versehen, sie haben echte Namen (ich weiß), und Sie denken nicht daran, sie für mich neu zu erfinden (natürlich), Sie so sehr auf die Palme brachte, und warum ich nicht glauben könne, daß eine unkomplizierte, natürliche, offene Beziehung zwischen zwei Menschen möglich sei, ich rechnete schon damit, daß Sie mir am Ende dieses Schwalls den Brief vor der Nase zuknallen würden, für immer und mindestens für ewig, und da geben Sie mir Ihre Privatnummer?!
Ich werde nicht anrufen, schon allein aus dem simplen Grund einer »Sicherheitsmaßnahme« (jemand könnte zu Hause sein und mithören), aber vor allem, weil eine Stimme zu real ist für das Irreale, das ich mit Ihnen anpeile, es ist allein aus geschriebenen Worten gemacht, eine Stimme würde es durchlöchern und die gesamte Realität würde darauf einströmen, Informationen, Zahlen, putzige, verschwitzte Lebensmoleküle, »Fakten«, und ungehemmt würde in einer gewaltigen Sturmflut der gesamte Mob hineindrängen und jeden Funken zum Erlöschen bringen, warum weigern Sie sich so beharrlich, das zu verstehen?
Ohnehin sind Sie nicht in der Lage, sich auch nur fünf Zeilen lang zu verstellen: Sie verschanzen sich hinter Abgrenzungen und Argumenten, durchaus logisch – solange ich an diesen kindischen Versteckspielen festhalte oder diese wahnwitzige Idee der »Guillotine« weiterverfolge, die in ein paar Monaten völlig abrupt auf uns niedersausen würde, solange seien Sie nicht einmal dazu fähig, mit ganzem Herzen die »aufrichtigen und aufwühlenden« Dinge, die ich Ihnen erzähle, zu glauben, auf der anderen Seite könnten Sie auch die Ecke nicht ausstehen, in die Sie durch meine Täuschungen allmählich manövriert würden, die Ecke eines unzugänglichen, kritischen, kalten Menschen, und Sie fuhren fort, mich mit mindestens drei in Korsagen gezwängten Dementis, mit der Stimme einer Lehrerin mit Dutt, vor den Kopf zu stoßen, doch plötzlich zitterten Ihre Lippen, und es entschlüpfte Ihnen ein schüchternes, aus der Reihe fallendes »Nein« – »Sie konnten schon spüren, Jair, glaube ich, daß ich vor echter Glut in Beziehungen und Gefühlen keine Angst habe, nein, nein, das Gegenteil ist der Fall, das Gegenteil …«.
Sehen Sie nur, wie jedesmal, wenn ich zu diesem verschmitzten »Nein« komme, mir das Herz vor Genuß sämig wird (als ob Sie einen Seidenstrumpf für mich herunterrollten).
Nein, sagen Sie mir unverzüglich und ehrlich: Habe ich mich geirrt? Habe ich mich in Ihnen geirrt? Jetzt, zum Beispiel, schon wieder, schwillt eine graue Welle an und füllt die Bauchgrube, daß ich mich vielleicht doch getäuscht habe und daß ich Sie im Grunde quäle, weil klar ist, daß derjenige, der nicht auf die dünne Saite gestimmt ist, die ich Ihnen angeboten habe, nur die Disharmonien heraushören wird, das blecherne Ächzen meines Briefkastens oder die kleine bürokratische Unzucht, die ich mir oben herausgenommen habe, die Sicherheitsmaßnahme, die Ihnen gewiß den Magen umgedreht hat.
Natürlich habe ich gezögert, ob ich den Begriff streichen oder etwas frisieren sollte, aber ich habe es nicht getan, Sie verstehen, ich möchte, daß Sie mich kennen, daß Sie mich in meiner Blöße kennen, einschließlich meines kleinen Kalküls und der erbärmlichen Ängste, meiner Ignoranz, meinen Peinlichkeiten und meiner Schmach. Warum nicht, auch »meine Schmach« bin ich. Auch sie will Ihnen gegeben werden, ebenso wie mein Stolz, sie möchte es ebenso stark, sie braucht es so sehr.
Wissen Sie, beim Schreiben an Sie überkommt mich hin und wieder ein sonderbares Gefühl, durch und durch physischer Natur, als ob ich, bevor ich richtig mit Ihnen ins Gespräch kommen kann, zusehen müßte, wie mich all meine Worte in einer langen Prozession verließen und auf Sie zustrebten, um sich Ihnen zu stellen.
Diese Worte, »meine Schmach« – ich habe sie noch nie geschrieben, und nun stehen sie auf dem Papier und verströmen den Geruch eines alten, ausgelatschten Pantoffels (im Grunde riechen sie nach einem Zuhause).
Und genau wegen eines solchen Augenblicks.
Es bringt mich zur Verzweiflung, daß Sie sich wieder in den Schutz der reinen Vernunft begeben, die im Leben durchaus ein nutzbringendes Instrument sein mag, aber wir beide leben nicht, Mirjam! Das ist das Geheimnis, das ich Ihnen schon seit einem Monat zuwispere: Wir beide stehen nicht im Leben! Das heißt an keinem Ort, an dem die üblichen Gesetze zwischenmenschlicher Beziehungen herrschen, und gewiß nicht die gängigen Schemata der Beziehungen zwischen Mann und Frau. Wo denn dann? Was geht das »Wo« mich an, warum sollte man sich begrifflich festlegen, ohnehin wären es die Nomen der anderen, übersetzte Nomen, mit Ihnen strebe ich eine andere Konstitution an, in der wir beide unsere eigenen Gesetze festlegen, in einer eigenen Sprache kommunizieren und uns unsere Geschichten erzählen, an die wir akribisch glauben werden, denn wenn wir nicht solch einen privaten Ort haben werden, an dem all dieser Glaube sich realisiert, wenn auch nur schriftlich – dann ist unser Leben kein Leben, oder schlimmer noch – nichts als Leben … Unterschreiben Sie das?
J. W.
Endlich.
Ich war schon verzweifelt, beinahe hätte ich die Flinte ins Korn geworfen.
Es ist nur schade, daß wir mehr als einen Monat vergeudet haben, aber Sie haben recht, wir haben ihn nicht nur »vergeudet«, und wir werden nichts von dem Geschriebenen zurücknehmen und auch nichts bereuen, und nun (etwas verspätet, natürlich) erschrecke ich regelrecht vor meiner Egozentrik, daß ich mir nicht einmal die Zeit genommen habe, darüber nachzudenken, was Sie aufgeben müssen, um sich mir unter meinen Bedingungen zu nähern und an mich zu glauben; ich war so feurig, daß ich überzeugt war, ich könne alles miteinander verschmelzen, Vernunft, Lebensumstände, selbst unsere Persönlichkeiten … Und es ist wirklich ein Wunder, Mirjam, erst jetzt erfasse ich, was für ein Wunder es ist, daß Sie mit einem Mal beschlossen haben (ein entschiedener Entschluß, unterstützt von Lippen und Kinn!), all die unbedingt logischen Argumente in das tiefste Loch in den Feldern von Beit Zayit zu werfen, sich zu mir zu gesellen und Kopf und Kragen in meine Hände zu legen.
In meine Ihnen unbekannten Hände. Die ein wenig zittern über das Ausmaß der Verantwortung.
Und wie kann ich diesem mysteriösen Freund danken, der für mich mit knappen Worten Ihr Herz eroberte? Was genau hat er über mich gesagt, und wer ist er? Ein Mensch mit lidlosen Augen, weiter haben Sie nicht präzisiert, Sie haben nichts erklärt. Es geht in Ordnung, allmählich. Ich gewöhne mich an diese wachträumerische Sprechweise von Ihnen, wenn Sie sich anscheinend sicher sind, daß ich verstehe, oder wenn es Ihnen einerlei ist, ob ich es tue, und Sie sich die Freiheit des Murmelns herausnehmen, dann weiß ich, daß Ihre Seele vor mir locker ist und daß Sie phantasierende Selbstgespräche führen, im Dämmerzustand …
Dennoch, vergessen Sie nicht, diesem jungen Mann in meinem Namen zu danken. Obwohl es mich etwas verwirrt zu wissen, daß Sie solch einen engen »Freund« haben und daß Sie derart komplexe, offene Gespräche mit ihm führen. Ich beherrsche mich, um nicht zu fragen, wozu Sie mich überhaupt brauchen, wenn Sie solch einen Menschen haben, mit dem Sie in jedem Gemütszustand im Gespräch bleiben und der immerfort in Ihrer Nähe ist, wenn Sie in Ihr von der Welt verstoßenes Josefsloch fallen.
Denken Sie, daß Sie mir einmal beschreiben wollen oder können, wie es darin ist?
Und wer Sie mit solcher Leichtigkeit dort hineinwirft (wieder und wieder und wieder). Und wer nicht kommt, um Sie dort herauszuholen.
Und was mit Ihnen in den verdammten Tagen (benutzen Sie bewußt diese Formulierung?) geschieht, wenn Sie selbst das Loch sind, nachdem sogar Josef es verlassen hat.
Seltsam, nicht wahr? Schließlich habe ich keine Ahnung, was genau Sie meinen, und ich schätze, daß für uns beide »Josef« und »Loch« völlig unterschiedliche Dinge sind – und dennoch deklamiere ich bisweilen lauthals einen Ihrer Sätze, oder auch nur ein Satzfragment, und spüre, wie in mir ein innerer Riß aufklafft über die ganze Länge der Seele.
Schreiben Sie, erzählen Sie. Schade um jeden Tag.
Jair
Gestern habe ich einen abgeschickt (haben Sie ihn schon bekommen?), aber heute ging das Gespräch irgendwie weiter: Jemand hat angerufen und einen geschäftlichen Termin mit mir vereinbart. Er war nicht bereit, zu mir in die Firma zu kommen, und bestand darauf, daß wir uns vor dem ha-Mashbir treffen (ich habe öfter mit solchen Verrückten zu tun, aber gerade sie haben mitunter interessantes Material). Ich habe gefragt, wie ich ihn erkennen würde, und er sagte, er trüge schwarze Kordhosen, ein kariertes Hemd, und fügte sogar hinzu – wildlederne Schuhe … Ich wartete beinahe eine Stunde dort in der Sonne, ohne jemanden zu sehen, auf den die Beschreibung gepaßt hätte. Und dann, als ich allmählich nervös wurde und gerade aufbrechen wollte, bemerkte ich am Ende des Platzes, bei den Telefonzellen, einen Liliputaner. Es war der kleinste Liliputaner, den ich je gesehen habe. Stark verwachsen und mit einem beängstigenden Gesicht. Er stützte sich auf zwei winzige Krücken, und seine Kleidung entsprach genau der Beschreibung (ich konnte nicht zu ihm gehen).
Später dachte ich: In meiner Tasche steckte Ihr Brief mit jenem Satz, der mir beim ersten Lesen etwas unzugänglich blieb und abstrakt schien, über die Trübsal, die man mit keinem Menschen teilen kann, die genau für eine Person bemessen ist.
Ja, sicher, meine Liebe, meine Wunderbare, von Herzen gern, was haben Sie denn gedacht …
Plötzlich wird es zwischen uns breiter, nicht wahr? Ich habe regelrecht gefühlt, wie Sie begonnen haben, hinter dem Blatt zu atmen. Die Schultern lockerten sich halbwegs.
Auch wegen der Farben und Blüten und Gerüche, die wie gewaltige Kaskaden auf Ihre Seiten stürzten, bis jetzt haben Sie fast nur schwarzweiß geschrieben, und weil es dort endlich zwei gab, zwei Bögen (Sie haben recht: mit zwei Flügeln kann man schon abheben). Ich für meinen Teil finde es wunderbar, daß Sie sich dafür entschieden haben, mich nicht über die Hauptstraße, über die jedermann kommt, in Ihr Heim zu lassen, sondern von der Seite des entlegenen Damms von Ein Kerem und dann durch das Tal, und ich glaube an jeder Blume, jedem Baum und jeder Distel vorbei, inklusive Eidechsen, Heuschrecken und einer Sumpfschnepfe. Seit Jahren hat mich niemand mehr so geführt, wie ein Lamm über die Sandbank, aber wer könnte Ihrem Charme widerstehen, wenn Sie auf einmal erwachen und lachen und vor mir herlaufen und jeden Aronstab, jede Stockrose und jeden Olivenstamm liebkosen, und sehen Sie nur, Jair, wie er über und über blüht, der Salbei, und wie reich er duftet … Ganz zu schweigen von dem Zirmet und dem Zittergras – sagen Sie, Mirjam, woher haben Sie all diese Namen und die Düfte und die Berührung der Blätter, das Zerreiben, die Galläpfel und die Schachblumen?
Glücklicherweise lese ich schnell. Aber auch so konnte ich Ihnen kaum folgen, wie Sie kletterten und sich an den Steinen festhielten, warum diese Eile, ich hätte nicht gedacht, daß Ihr großer, weicher Körper so elastisch ist, Sie schreiben wie eine Löwin, muskulös, Sie überraschen mich … Und ein strenger, lebendiger Geruch entstieg Ihren Worten, der Geruch nach Schweiß, Erde und Staubgefäßen, Sie sind wunderbar, wenn Sie so jubeln, wenn Sie sich in einem Mohnfeld suhlen oder mich mit Haferähren bewerfen (ich werfe sofort zurück! Hat man auch bei Ihnen damit gespielt? Für jede hängengebliebene Ähre – kriegst du mal ein Kind?).
Eine weißgelbe Hundskamille hat sich in Ihrem Haar verfangen, und für einen Moment gab ich mich dem Schmerz hin, meine Hände wären abgehackt, weil ich die Blüte nicht aus Ihrem Haar lösen und Ihnen auch keine »Räuberleiter« machen konnte, um Ihnen auf die Mauern zu helfen, und überhaupt – die Schrammen, die ich mir nicht zugezogen habe, die Insektenstiche, von denen ich verschont blieb, Ihr Schweiß, den ich nicht leckte, ich schreibe und habe Sehnsucht.