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Ora erzählt: von ihrer Liebe zu zwei Männern, von Wut und Zärtlichkeit, Verzweiflung und Leidenschaft und von ihrem Sohn Ofer, der sich freiwillig für einen Militäreinsatz im Westjordanland meldet. Seine Mutter hofft, das drohende Unglück zu bannen, indem sie ihrem Jugendfreund Avram, der im Jom-Kippur-Krieg selbst Soldat war, von Ofers Vorhaben berichtet. Und unerreichbar zu sein, falls das Schreckliche geschieht ... Autor und Friedensaktivist David Grossman spiegelt die großen Fragen in den kleinen Erlebnissen des Alltags. Er zeigt, wie in Israel das Schicksal der Menschen unauflöslich mit Politik verbunden ist. Ein mitreißendes, unvergessliches Buch und ein Protest gegen den Krieg.
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Seitenzahl: 1277
Veröffentlichungsjahr: 2009
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David Grossman
Eine Frau flieht vor
einer Nachricht
Roman
Aus dem Hebräischen
von Anne Birkenhauer
Carl Hanser Verlag
Die hebräische Originalausgabe erschien 2008 unter dem Titel Ischa borachat me-bessora bei Ha-Kibbuz ha-me’uhad in Tel Aviv.
Die Arbeit der Übersetzerin wurde vom Deutschen Übersetzerfonds gefördert.
Pu der Bär von A.A. Milne auf Seite 405 wird zitiert in der Übersetzung von Harry Rowohlt, © Atrium Verlag 1987.
Moby-Dick von Herman Melville auf Seite 534 wird zitiert in der Übersetzung von Matthias Jendis, © Carl Hanser Verlag 2001.
Wittgensteins Neffe von Thomas Bernhard auf Seite 543 wird zitiert © Suhrkamp Verlag 1982.
eBook ISBN 978-3-446-23458-1
© David Grossman 2008
Alle Rechte der deutschen Ausgabe
© Carl Hanser Verlag München 2009
Satz: Satz für Satz. Barbara Reischmann, Leutkirch
www.hanser-literaturverlage.de
Datenkonvertierung eBook:
Kreutzfeldt digital, Hamburg
für Michal
für Jonathan und Ruthi
für Uri, 1985-2006
Hey, du da, Ruhe!
Wer ist das?
Sei endlich still! Du hast schon alle aufgeweckt!
Aber ich hab sie gehalten
Wen?
Auf dem Stein, da haben wir zusammengesessen
Auf was für einem Stein? Jetzt lass uns schlafen
Plötzlich ist sie mir runtergefallen
Du schreist, du singst
Aber ich hab geschlafen
Geschrien hast du!
Sie hat meine Hand losgelassen und ist gefallen
Hör auf, jetzt schlaf schon
Mach mal Licht
Bist du verrückt?
Ach so, hab ich vergessen
Die bringen uns um, wenn wir Licht machen
Wart mal
Was?
Ich hab gesungen?
Gesungen und geschrien, alles zusammen, sei jetzt still
Was hab ich gesungen?
Was du gesungen hast?!
Als ich geschlafen hab, was hab ich da gesungen?
Woher soll ich das wissen? Geschrien hast du! Und da fragst du noch, was du gesungen hast?
Aber du hast doch gesagt, ich hätte gesungen
Es war ein Lied ohne … keine Ahnung, Mensch
Und du weißt nicht, welches Lied?
Sag mal, bist du durchgeknallt? Ich leb kaum noch
Und wer bist du?
Zimmer drei
Auch auf Isolation?
Ja, ich muss zurück
Geh nicht … Bist du schon weg? Warte, hallo … Er ist gegangen … Aber was hab ich da gesungen?
In der nächsten Nacht weckte er sie wieder, schimpfte wieder, dass sie lauthals sang und das ganze Krankenhaus aufweckte, und sie flehte ihn an, er solle ihr doch sagen, ob es dasselbe Lied gewesen war wie letzte Nacht. Das müsse sie unbedingt wissen. Wegen des Traums, den sie geträumt hatte und den sie damals fast jede Nacht träumte. Alles darin war weiß, die Straßen, die Häuser und die Bäume, die Katzen und die Hunde und der über den Abgrund ragende Fels. Auch Ada, ihre rothaarige Freundin, war ganz weiß, ohne einen Tropfen Blut im Gesicht und im Körper. Doch auch diesmal konnte er nicht sagen, was sie gesungen hatte. Er zitterte am ganzen Leib, und ihm gegenüber zitterte sie in ihrem Bett. Wie zwei Kastagnetten sind wir, sagte er, und sie brach, selbst ganz überrascht, in ein frisches Gelächter aus. Das kitzelte ihn. Seine ganze Kraft hatte er auf der Reise von seinem Zimmer zu ihrem Zimmer verbraucht, fünfunddreißig Schritte, ein Schritt, Pause, noch einer, Pause, hatte sich an der Wand, an Türrahmen, an leeren Essenswagen festgehalten. Jetzt sackte er in der Tür zu ihrem Zimmer auf den klebrigen Linoleumboden zusammen. Eine ganze Weile mussten sie beide verschnaufen. Er wollte sie noch einmal zum Lachen bringen, konnte aber nicht mehr reden. Danach war er wohl eingeschlafen.
Sag mal
Was? Wer ist das?
Ich bin’s
Ach, du
Sag mal, bin ich allein im Zimmer?
Wie soll ich das wissen?
Man sieht echt nichts. Hallo, ist hier noch jemand?
Das hier, das bin ich
Nein, ist sonst noch jemand hier?
Hier, ich steh jetzt
Was war das?
Ich bin hingefallen
Zitterst du so?
Ja, ich zitter
Wie viel hast du?
Abends hab ich vierzig gehabt
Ich vierzig drei
Ich muss zurück ins Zimmer
Sag mal
Was?
Wann stirbt man?
Bei zweiundvierzig
Das ist nah
Nein, nein, du hast noch Zeit
Das ist wahnsinnig nah
Morgen früh fühlst du dich besser
Geh nicht, ich hab Angst
Hörst du das?
Was?
Diese Stille plötzlich
Hat es vorher nicht gekracht?
Kanonen
Ich schlaf die ganze Zeit, und dann ist es plötzlich schon wieder Nacht
Sogar wenn ich lieg, fühlt es sich an, als ob ich fall
Immer wenn ich die Augen aufmach, ist es Nacht
Wegen der Verdunklung
Ich glaub, die werden siegen
Wer?
Die Araber
Quatsch
Sie haben schon Tel Aviv erobert
Woher hast du … Wer hat dir das gesagt?
Weiß nicht. Vielleicht hab ich’s gehört
Das hast du geträumt
Nein, das hat hier jemand gesagt, vorhin. Ich hab hier Stimmen gehört
Das kommt vom Fieber, Albträume, hab ich auch
Der Traum, den ich geträumt hab
Ich muss jetzt zurück
Da war ich mit meiner Freundin
Erstmal vom Boden aufstehn
So ein Abgrund, und dort oben so ein Fels
Weißt du vielleicht
Was?
Aus welcher Richtung ich gekommen bin
Ich kenn mich hier nicht aus
Wie lang bist du schon hier?
Keine Ahnung
Ich vier Tage, vielleicht auch schon eine Woche
Warte, und wo ist die Schwester?
Nachts ist sie auf der Inneren Station A
Die ganze Nacht?
Manchmal kommt sie hier vorbei. Eine Araberin
Woher weißt du das?
Man hört’s beim Sprechen
Du zitterst
Der Mund, das ganze Gesicht
Sag mal, wo sind denn alle?
Uns nehmen sie nicht mit in den Schutzraum
Warum nicht?
Damit wir keinen anstecken
Dann sind bloß noch wir
Und die Schwester
Ich dachte
Was?
Könntest du mir das vielleicht vorsingen
Fängst du schon wieder damit an?
Nur summen
Dass ich ihr vorsing, dass ich ihr vorsumm, die denkt wohl, ich bin ein
Wäre es umgekehrt, würd ich’s dir vorsingen
Ich geh
Geh nicht
Ich muss zurück
Wohin?
Wohin? Wohin? Mich zu meinen Vätern versammeln und in tiefer Trauer in die Unterwelt hinabfahren, dahin muss ich
Wie bitte? Was hast du da gesagt? Warte, vielleicht kenn ich dich ja? Hey, komm zurück
Auch in der folgenden Nacht kam er schon vor Mitternacht zu ihr, an die Tür ihres Zimmers; wieder schimpfte er und beschwerte sich, dass sie im Schlaf sang und ihn und die ganze Welt aufweckte. Auch diesmal fragte sie, ob er sagen könne, welches Lied sie gesungen habe, und er murrte, er habe die Nase voll, jede Nacht ihretwegen aufzuwachen und diesen verfluchten Flur langzukriechen, und sie lächelte und fragte, ob sein Zimmer wirklich so weit weg sei, und erst da merkte er, dass ihre Stimme nicht von derselben Stelle kam wie am Tag zuvor oder an dem davor.
Denn jetzt sitze ich, erklärte sie, und er fragte vorsichtig nach, warum sitzt du denn? und sie, weil ich nicht geschlafen hab, und er, was hast du dann gemacht? und sie, ich hab dagesessen und auf dich gewartet, und er, warum hast du dann gesungen? und sie, ich hab überhaupt nicht gesungen, und er, ach, und sie, echt nicht.
Beide hatten den Eindruck, als sei das Dunkel noch dunkler geworden. Eine neue Hitzewelle, die vielleicht gar nicht mit der Krankheit zusammenhing, breitete sich in Ora aus, fing bei den Zehen an, stieg auf und trieb ihr rote Flecken auf Hals und Gesicht. Ein Glück, dass es dunkel ist, dachte sie und drückte den Kragen ihres weiten Pyjamas an den Hals. Schließlich räusperte sich der Typ in der Tür schwach und sagte, also, ich muss zurück, und sie, warum eigentlich? Und er sagte, er müsse sich dringend teeren und federn, und sie verstand nicht, aber dann verstand sie doch und lachte aus vollem Hals, komm, du Spinner, hör auf mit dem Theater, ich hab hier neben mir einen Stuhl für dich hingestellt.
Er tastete sich am Türrahmen, an metallenen Nachttischchen und Betten entlang, bis er irgendwo stehen blieb, sich auf ein leeres Bett stützte und laut schnaufte. Hier bin ich, ächzte er, und sie, komm bis zu mir, und er, warte, lass mich erstmal atmen. Das Dunkel machte ihr Mut, und sie sagte mit lauter Stimme, mit der Stimme ihrer Gesundheit, einer Stimme von Meer, Strandball und Wettschwimmen bis zum Stillen Strand, wovor hast du Angst, ich beiße nicht, und er, in Ordnung, in Ordnung, wir haben’s vernommen, ich leb ja kaum noch. Die unterschwellige Beschwerde in seiner Stimme berührte sie, und auch, wie mühsam er angeschlurft kam. Wir sind ein bisschen wie ein altes Paar, dachte sie.
Wo bist du überhaupt?
Ans Ende des Zimmers haben sie mich gelegt
Autsch!
Was ist passiert?
So ein Bett hat plötzlich beschlossen … autsch!
Noch eins?
Fuck. Sag mal, vom Gesetz der Gemeinheit …
Was hast du gesagt?
Vom Gesetz der Gemeinheit der Gegenstände hast du schon gehört?
Wann kommt du endlich?
Ihrer beider Zittern hörte nicht auf, wurde manchmal zu einem langen Schüttelfrost, und wenn sie sprachen, war ihre Rede abgehackt und hastig, nicht selten mussten sie abwarten, bis die Muskeln des Gesichts und des Mundes sich ein bisschen erholten, und dann stießen sie die Wörter schnell und mit verkrampften, hohen Stimmen aus, und das Stottern zerbrach die Sätze in ihrem Mund. Wie-alt-bist-du? Sech-zehn, und-du? Sech-zehn und-ein-vier-tel. Ich-hab-Gelb-sucht, sagte sie, und-was-hast-du? Er sagte, ich-glaub-ei-ne-Ei-er-stock-ent-zün-dung.
Stille. Er atmete schwer: Üb-ri-gens, das-war-ein-Witz. Sehr witzig, sagte sie. Er seufzte: Ich hab versucht, sie zum Lachen zu bringen, aber ihr Humor ist wohl zu – sie war gespannt und fragte, mit wem er da rede. Er sagte, mit dem, der mir meine Witze schreibt, ich muss ihn wohl feuern. Wenn du dich nicht sofort hier hinsetzt, drohte sie, fang ich an zu singen. Er mimte einen Schüttelfrost und lachte. Sein Lachen knarzte. Wie ein schreiender Esel, so ein Lachen, das sich selbst ernährt, und sie schluckte sein Lachen heimlich wie eine Medizin, wie eine Belohnung.
Er lachte sehr über ihren kleinen dummen Witz, und fast hätte sie ihm erzählt, dass es ihr in letzter Zeit nicht mehr gelang, die Leute dazu zu bringen, sich vor Lachen zu kringeln, wie früher – »Mit ihrem Humor ist es nicht sehr weit her« – hatte man an der Purimfeier dieses Jahr über sie gesagt, und das war nicht bloß ein Schönheitsfehler, bei ihr war das schon ein schwerwiegender Defekt, eine Behinderung, die sich in Zukunft noch entwickeln und zu Komplikationen führen konnte, und sie spürte auch, dass diese Behinderung mit weiteren Eigenschaften zusammenhing, die bei ihr in den letzten Jahren ebenfalls abgestumpft waren. Die Intuition zum Beispiel. Wie konnte es überhaupt passieren, dass so etwas verschwand, und dann noch so schnell? Oder die Fähigkeit, im richtigen Moment das Richtige zu sagen. Früher hat sie die gehabt, und nun war sie weg. Oder einfach der Scharfsinn. Früher hatte sie Pfeffer, dass es nur so knallte. Oder der Liebessinn, dachte sie plötzlich, vielleicht hatte der auch mit ihrer Verschlechterung zu tun; jemanden wirklich zu lieben, vor Liebe zu brennen, wie die andern Mädchen es nannten, wie im Film. Und sofort spürte sie einen Stich wegen Avner, Avner Feinblatt, das war ihr Freund aus dem Militärinternat, der schon Soldat war. Auf der Treppe zwischen Pawsner- und Josefstraße hatte er ihr gesagt, sie sei seine Seelenfreundin, aber auch da hatte er sie nicht angefasst, nicht ein einziges Mal hatte er sie mit der Hand oder auch nur mit einem Finger berührt, und vielleicht hing auch dieses Nichtberühren damit zusammen. Verborgen im Herzen spürte sie, dass alles irgendwie zusammenhing, aber ihr würden sich die Dinge erst nach und nach offenbaren, jedes Mal würde ihr noch ein kleiner Ausschnitt von dem klar werden, was sie erwartete, und möglicherweise sahen es Leute, die sie von außen beobachteten, bereits eher als sie, und im Grunde könnte sie es selbst längst wissen, nach all den Anzeichen, die so zusammenkamen.
Für einen Augenblick sah sie sich im Alter von fünfzig, hochgewachsen, schlank und welk, eine Blume ohne Duft, läuft mit großen, schnellen Schritten, auf dem gesenkten Kopf ein Sonnenhut, der das Gesicht verdeckt, und der Junge mit dem netten Lachen tastete sich seinen Weg zu ihr, kam näher, entfernte sich wieder – als mache er das mit Absicht, dachte sie staunend, als sei das so ein Spiel von ihm –, und er kicherte, lachte über seine eigene Unbeholfenheit und trieb in kreisenden Bewegungen durchs Zimmer, ab und zu bat er sie, etwas zu sagen, um ihm die Richtung zu geben: Wie ein Leuchtturm, bloß mit Stimme, erklärte er. So ein Oberschlauer, dachte sie, bestimmt ist er auch ein Außenseiter. Bis er endlich ihr Bett erreichte, tastend den Stuhl fand, den sie ihm hingestellt hatte, darauf niedersank und wie ein alter Mann schnaufte. Sie roch den Schweiß seiner Krankheit, pellte sich eine ihrer Decken ab und gab sie ihm, und er hüllte sich darin ein und schwieg. Beide waren erschöpft, kauerten sich zusammen, zitterten und seufzten, ganz auf sich selbst konzentriert.
Trotzdem, sagte sie später, in ihre Decke gewickelt, deine Stimme kenn ich, woher kommst du? Aus Jerusalem, sagte er. Ich aus Haifa, sagte sie mit einem gewissen Nachdruck, mich haben sie im Krankenwagen hergebracht, aus dem Rambam-Krankenhaus, wegen Komplikationen. Hab ich auch, lachte er, seit ich lebe, hab ich Komplikationen. Sie schwiegen, er kratzte sich heftig, den Bauch und die Brust, und fluchte, und sie fluchte ihm hinterher, zum Verrücktwerden, was? Auch sie kratzte sich mit allen zehn Fingern: Manchmal könnt ich mir die Haut abziehen, damit das aufhört. Jedes Mal, wenn sie zu reden anfing, hörte er, wie ihre Lippen sich mit dem Geräusch von weichem Gummi voneinander lösten, und spürte ein Pulsieren in Fingern und Zehen.
Ora sagte: Der Fahrer des Krankenwagens hat gesagt, in so einer Zeit benötigte man die Krankenwagen für Wichtigeres. Sag mal, fragte er, hast du auch gemerkt, dass hier alle sauer auf uns sind, so als täten wir das mit Absicht? Sie sagte, weil wir als Letzte von der Epidemie übriggeblieben sind. Er sagte, wem es bloß ein bisschen besserging, den haben sie gleich entlassen, vor allem die Soldaten, die haben sie postwendend wieder zur Armee geschickt, dass sie rechtzeitig zum Krieg zurück sind. Sie fragte, dann ist wirklich Krieg? Und er: Wo lebst du denn, schon seit mindestens zwei Tagen. Sie fragte überrascht, wann hat er angefangen? Vorgestern, glaub ich, ich hab dir das schon gestern oder vorgestern gesagt, ich weiß nicht genau, mir kommen die Tage durcheinander. Sie dachte nach, überrascht, stimmt, du hast so was gesagt … Spuren merkwürdiger Albträume stiegen in ihr auf. Er murmelte, wie kann es sein, dass du das nicht gehört hast? Die ganze Zeit hört man Sirenen und Kanonen, ich hab auch Hubschrauber landen hören, es gibt bestimmt schon eine Million Verletzte und Tote. Aber was passiert da, im Krieg? fragte sie, und er sagte, keine Ahnung, hier kann man mit keinem reden, sie haben keine Zeit für uns, und sie fragte, und Schwester Vicki, wo ist die? Er zögerte, vielleicht ist sie gegangen, als der Krieg anfing, die will sich bestimmt um echte Verwundete kümmern, und sie fragte, wer kümmert sich dann um uns? Und er, jetzt ist nur noch diese eine da, die kleine dünne Araberin, die dauernd weint, hast du sie gehört? Sie fragte erstaunt, ein Mensch weint da? Ich dachte, da schreit ein Tier, bist du sicher? Er sagte, das ist ein Mensch, der weint, hundertprozentig, und sie sagte, aber wie kommt es, dass ich sie noch nicht gesehen habe? Und er, die ist so eine, die kommt und geht, sie nimmt die Proben und stellt die Medikamente und das Essen aufs Tablett, und jetzt ist nur noch sie hier, Tag und Nacht.
Er sog seine Wangen ein und dachte nach. Witzig, dass sie uns hier bloß eine Araberin hingesetzt haben, findest du nicht? An die Verwundeten lassen sie bestimmt keine Araberin ran. Doch Ora konnte sich nicht beruhigen, warum weint sie? Was hat sie? Und er, woher soll ich das wissen? Und sie, du hast sie nicht gefragt? Und er, sie kommt immer, wenn ich schlafe; seit Krieg ist, hab ich sie nicht gesehn. Ora richtete sich auf, ihr Körper machte sich steif, und in eisiger Ruhe rutschte es ihr heraus: Die haben Tel Aviv erobert, ich sag’s dir, Nasser und Hussein waren schon auf der Dizengoff Kaffee trinken. Er erschrak, woher hatte sie denn das? Und sie, das hab ich gestern Nacht gehört, oder heute, ich bin mir fast sicher, vielleicht kam es im Radio, ich hab gehört, dass sie Beer Schewa, Aschkelon und Tel Aviv erobert haben. Und er, nein nein, das kann nicht sein, vielleicht ist das vom Fieber, das kommt bestimmt vom Fieber, wie soll das denn gehn? Du bist durchgeknallt, es kann nicht sein, dass die siegen. Doch doch, und ob das sein kann, sagte sie leise und dachte, was weißt du schon, was sein kann und was nicht.
Sie erwachte aus einem unruhigen Schlaf, und ihr Blick suchte den Jungen, bist du noch da? Wie bitte, ja. Und sie beklagte sich, neun Mädchen waren mit mir im Zimmer, und jetzt bin ich allein, das nervt doch, oder? Dem Jungen gefiel es, dass er auch nach drei gemeinsamen Nächten ihren Namen nicht kannte und sie nicht seinen, er mochte solche kleinen Geheimnisse. In den Hörspielen, die er schrieb und mit einem kleinen Tonbandgerät zu Hause aufnahm, wobei er selbst alle Rollen spielte, Kinder und Erwachsene, Männer und Frauen, Geister und Engel, auch Wildgänse, sprechende Teekessel und wer weiß, was sonst noch alles, die Liste war endlos, in seinen Hörspielen hatte er schon solche oberschlauen Spielchen getrieben, allerlei Geschöpfe, die auftauchten und wieder abtauchten, Gestalten, die aus der Phantasie anderer Gestalten geboren wurden, und in der Zwischenzeit amüsierte er sich beim Raten: Rina? Jael? Vielleicht Liora? Liora würde zu ihr passen, dachte er, so wie ihr Lächeln im Dunkel leuchtet.
Bei ihm in Zimmer drei sei es genauso, erzählte er, alle seien entlassen worden, auch die Soldaten, einige hätten kaum laufen können, aber man hätte sie trotzdem zu ihren Einheiten zurückgeschickt; jetzt sei außer ihm bloß noch einer übrig, kein Soldat, sondern ausgerechnet einer aus seiner Klasse, den man am Tag zuvor mit einundvierzig zwei eingeliefert habe. Bei dem bekomme man das Fieber nicht runter, er träume den ganzen Tag und erzähle sich selber Geschichten aus Tausendundeiner Nacht … Warte, unterbrach Ora, warst du nicht mal auf einem Training vom Wingate Institut? Bist du nicht zufällig beim Volleyball? Avram stieß einen kurzen angewiderten Schrei aus. Ora fragte, was das war. Ein kurzer angewiderter Schrei, sagte Avram. Ora unterdrückte ihr Lächeln und machte ein ernstes Gesicht: Gibt es im Sport denn nichts, wo du gut drin bist? Avram grübelte einen Moment, vielleicht als Boxsack, schlug er vor. In welcher Jugendbewegung bist du dann? Ora war wirklich sauer, warte, lass mich raten, du klingst mir zu verwöhnt, nicht wie einer von den Sozis, sagte sie kichernd, du bist bestimmt bei den freien Pfadfindern. Ich bin in gar keinem Verein, sagte er lächelnd. In gar keinem? Ora schreckte zurück, was bist du dann? Jetzt sag bitte nicht, dass du in so einem Verein drin bist, sagte Avram und lächelte weiter. Warum nicht, fragte Ora beleidigt. Das würde uns alles kaputtmachen, seufzte er übertrieben, ich hatte schon gedacht, du wärst das perfekte Mädchen. Ich bin bei den echten Idealisten, bei den Machanot Olim, provozierte sie, und er reckte den Hals, wölbte die Lippen und stieß zu ihrem Schrecken ein herzzerreißendes Hundejaulen gen Zimmerdecke aus: Das ist ja entsetzlich, was du da sagst, ich kann nur hoffen, dass die Forschung rasch ein Heilmittel gegen dein Leiden findet. Ihr Fuß klopfte schnell. Es war ihr, als tanze er ungeheuer schnell um sie herum, als komme er jeden Moment aus einer anderen unerwarteten Richtung und piesackte sie.
Mein Liebes Tagebuch, seufzte Avram mit betont russischem Akzent: Einst, um eine Mittnacht graulich, da ich trübe sann und traulich, traf ich mit gebrochnem Herzen endlich ein Mädchen, das tatsächlich überzeugt war, mich von irgendwoher zu kennen – Ora schnaubte verächtlich, doch Avram machte einfach weiter –, da erforschten wir alle Möglichkeiten, und nachdem wir alle fürchterlichen Ideen verworfen hatten, kam ich zu dem Schluss, dass wir uns vielleicht überhaupt erst in der Zukunft kennengelernt haben.
Ora stieß einen spitzen Schrei aus, als hätte sie sich gestochen. Was ist passiert, fragte Avram sanft, rührte an ihren Schmerz. Nichts, sagte sie, nur so. Sie starrte ihn heimlich an, versuchte, das Dunkel zu durchdringen und endlich zu sehen, wer er war. Sie schwiegen. Dieses Gespräch ging schon über ihre Kräfte. Seit sie krank geworden waren, hatten sie nicht so lange geredet, und jetzt sanken sie in einen unruhigen Dämmer, zuckten im Schlaf, einer neben dem andern. Avrams Gliedmaßen streckten sich und wurden immer länger, dünn wie Zahnstocher, sein Bauch blähte sich auf und wurde rund und schwer. Er wusste, dass er das Mädchen warnen und ihr sagen musste, wie sich seine Form veränderte und immer vogelähnlicher wurde, damit sie nicht erschrak, doch aus seinem Schnabel kam nur noch ein schwaches Zwitschern. Er war das Junge eines riesigen Vogels und lag hilflos auf dem Rücken. Irgendwie, unter übervogeligen Anstrengungen, flatterte er zurück nach Zimmer drei und landete am Bettrand seines Klassenkameraden, der schlief und zitterte, stöhnte und sich im Schlaf kratzte. Es ist so still hier, murmelte Avram, hast du gemerkt, wie still die Nacht ist? Langes Schweigen. Dann sagte der andere mit heiserer, brüchiger Stimme: Wie im Grab ist es hier, vielleicht sind wir schon tot. Avram dachte eine Weile nach. Hör mal, begann er, als wir noch lebten, haben wir, glaub ich, in derselben Klasse gelernt. Der Junge schwieg, versuchte, ein bisschen den Kopf zu heben, um Avram anzuschauen, schaffte es aber nicht. Kurz darauf brummte er, als ich noch lebte, hab ich grundsätzlich in keiner Klasse irgendwas gelernt. Stimmt, sagte Avram mit einem feinen, anerkennenden Lächeln, als ich noch gelebt hab, war da wirklich einer in meiner Klasse, der grundsätzlich nichts gelernt hat, ein Ilan, ein atomarer Snob, der hat mit keinem geredet.
Was hätte der mit euch auch zu reden gehabt? Hosenscheißer, alles Weicheier, ihr habt ja keine Ahnung vom Leben.
Warum? fragte Avram konzentriert. Was weißt du, was wir nicht wissen?
Ilan stieß einen schnarchenden Seufzer aus, kurz und bitter, und Avram bekam es irgendwie mit der Angst zu tun.
Sie schwiegen, sanken in einen albtraumreichen Schlaf. Irgendwo dort, in Zimmer sieben, lag Ora in ihrem Bett und versuchte zu verstehen, ob ihr diese Dinge wirklich widerfuhren. Sie erinnerte sich, dass sie vor kurzem, es war erst ein paar Tage her, auf dem Rückweg vom Training auf dem Platz des Technions ohnmächtig geworden war. Der Arzt im Rambam-Krankenhaus hatte sie gleich gefragt, ob sie zusammen mit dem Rest der Klasse eines der während des Wartens auf den Krieg errichteten Militärcamps besucht und dort zufällig etwas gegessen oder eine der Feldtoiletten benutzt habe. Mit einem Schlag hatte man sie aus ihrem Zuhause gerissen, sie dann in eine fremde Stadt gebracht, und hier hielt man sie in völliger Isolation, die die Ärzte ihr aufzwangen, und mehr noch Schwester Vicki, eine kurze, breite, halslose Frau. Ungezügelt regierte sie über die Isolierstation und berichtete den von ihr kommandierten halb bewusstlosen Kranken lauthals von den neuesten Entwicklungen, von den arroganten Erklärungen Nassers, möge sein Name ausgelöscht werden, von den bösen Plänen des Zwergs Hussi und von Wellen der Hilfsbereitschaft und Einigkeit, die, wie sie betonte, das ganze Volk ergriffen, das ganze Volk vom Fluss Dan bis nach Eilat! Bei Tagesanbruch stürmte sie auf die Station und sang die neuen Lieder, die jetzt jeden Tag geboren wurden, summte sie energisch vor sich hin, während sie Infusionsschläuche umsteckte und aus den Armen von Patienten mit glasigem Blick das Blut herauspresste. Ora wusste schon nicht mehr, ob diese Dinge wirklich passierten, ob sie wirklich Tag und Nacht auf dem dritten Stock eines heruntergekommenen kleinen Krankenhauses eingeschlossen war, in einer Stadt, die sie so gut wie gar nicht kannte; ob man ihren Eltern und Freunden wirklich verboten hatte, sie in ihrem Zimmer zu besuchen, vielleicht waren sie ja doch da gewesen, während sie schlief, hatten ratlos um ihr Bett gestanden und versucht, sie zum Leben zu erwecken, hatten zu ihr gesprochen, ihren Namen gerufen und sich dann entfernt, vielleicht noch einen Blick zurückgeworfen, schade, ein liebes Mädchen, aber was kann man machen, das Leben geht weiter, man muss nach vorne schauen, und außerdem ist Krieg, da braucht man alle Kräfte.
Ich sterbe bald, murmelte Ilan überrascht.
So ein Stuss, sagte Avram, als er erwachte, in ein, zwei Tagen bist du wieder …
Ich wusste, dass mir das passieren würde, sagte Ilan leise, das war von Anfang an klar.
Nein, nein, sagte Avram erschrocken, was redest du da, so darfst du nicht denken.
Und ich hab noch nie ein Mädchen geküsst.
Das wirst du noch, sagte Avram, keine Angst, das kommt noch.
Als ich noch gelebt hab, sagte Ilan danach, vielleicht eine ganze Stunde später, war mit mir einer in der Klasse, der ging mir grad mal bis an die Eier.
Das war ich, sagte Avram grinsend.
Der konnte nicht einen Moment die Klappe halten.
Das bin ich.
Was der für einen Wind gemacht hat.
Das bin ich, ich, lachte Avram.
Den hab ich mir angeschaut und gedacht, als der klein war, hat sein Vater ihn bestimmt halb totgeschlagen.
Wer hat dir das gesagt? Avram erschrak.
Ich schau mir die Leute an, sagte Ilan und schlief ein.
Völlig außer sich breitete Avram seine Flügel aus und flog die Biegung des Flurs entlang, stieß gegen die Wände, bis er schließlich auf seinem Platz landete, auf seinem Stuhl neben Oras Bett, er schloss die Augen und fiel in einen unruhigen Schlaf. Ora träumte von Ada. In ihrem Traum war sie mit Ada auf der unendlichen weißen Ebene, wo sie fast jede Nacht spazieren gingen, und sie hielten sich an den Händen und schwiegen. In den Träumen der ersten Zeit hatten sie ununterbrochen geredet. Beide sahen schon von weitem den über den Abgrund ragenden Felsen. Ora wollte Ada in die andere Richtung ziehen, doch Ada war, obwohl kleiner, sehr viel stärker, sie entwickelte plötzlich erschreckende Kräfte, und Ora ließ sich schlaff von ihr ziehen. Ab und zu zeigte Ada auf einen kahlen Strauch oder einen farblosen Baum und erklärte Ora fieberhaft, wann er blühte und welche Früchte er trug, so als sei sie an diesem Ort Oras Touristenführerin. Wenn Ora es wagte, sie von der Seite anzuschauen, sah sie, dass Ada schon keinen Körper mehr besaß. Nur ihre Stimme war noch übrig, schnell, spitz und wach, wie sie es immer gewesen war, und das Gefühl, wie sie sich an der Hand gehalten hatten, das war auch geblieben, und das verzweifelte Klammern der Finger. In Oras Kopf pochte das Blut gewaltig, nicht loslassen, Ada nicht loslassen, bloß nicht lockerlassen, auch nicht für einen Moment …
Nein, flüsterte Ora und schreckte in kalten Schweiß gebadet hoch, wie blöd ich bin.
Sie schaute auf den Platz, auf dem Avram im Dunkel kauerte. Ihre Halsschlagader begann zu pochen.
Was hast du gesagt, fragte er beim Aufwachen, versuchte, sich richtig hinzusetzen. Immer wieder rutschte er vom Stuhl, eine tyrannische Kraft zog ihn hinunter, zwang ihn, sich flach zu legen, den unerträglich schweren Kopf abzustützen.
Ich habe eine Freundin gehabt, die hat ein bisschen gesprochen wie du, murmelte sie. Bist du noch da? Ich bin hier. Ich glaub, ich war eingeschlafen. Wir waren Freundinnen von der ersten Klasse an. Und jetzt nicht mehr? Ora versuchte vergeblich, ihre Hände unter Kontrolle zu bringen, die zitterten wild. Über zwei Jahre hatte sie mit keinem Menschen über Ada geredet. Auch ihren Namen hatte sie nicht mehr ausgesprochen, Avram beugte sich ein bisschen vor, was ist mit dir, fragte er, warum bist du so?
Sag mal …
Was?
Willst du was hören?
Er lachte. Was für eine Frage.
Sie schwieg. Wusste nicht, wie sie anfangen und was sie ihm sagen sollte.
Erzähl einfach.
Aber er kennt sie doch gar nicht, dachte sie.
Wenn du erzählst, dann schon, sagte er.
Sie schluckte und sagte schnell: In der ersten Klasse, am ersten Tag, als ich ins Klassenzimmer kam, war sie das erste Mädchen, das ich sah.
Warum?
Na gut, kicherte Ora, sie war auch rothaarig.
Ah, du auch?
Sie lachte laut. Ihr Lachen war wieder gesund und schallend: Sie staunte, dass man so lange mit ihr zusammensein und mit ihr reden konnte, drei Nächte lang, ohne zu merken, dass sie rothaarig war: Aber ich habe keine Sommersprossen, erklärte sie sofort, Ada hatte welche, auf dem ganzen Gesicht, und auch auf Armen und Beinen. Interessiert dich das überhaupt?
Auch auf den Beinen?
Überall.
Warum redest du nicht weiter?
Ich weiß nicht, es gibt nicht viel zu erzählen.
Erzähl, was es gibt.
Das ist ein bisschen … Sie zögerte einen Augenblick, wusste nicht, ob sie ihm die Geheimnisse des Ordens bereits anvertrauen konnte. Du musst wissen, ein rothaariges Kind schaut immer zuerst, ob noch Rothaarige in der Nähe sind.
Um sich mit ihnen anzufreunden? Nein, wohl eher das Gegenteil, nicht wahr?
Sie lächelte anerkennend im Dunkel. Er war klüger, als sie gedacht hatte. Genau, sagte sie, und auch, um sich nicht neben sie zu stellen und auch sonst nichts.
Avram sagte: Das ist so, wie wenn ich …
Was?
Immer gleich die Zwerge suche.
Wieso?
So ist das eben.
Ah … Du bist klein?
Lass uns wetten, dass ich dir nicht bis zum Knöchel reiche.
Ha!
Im Ernst. Du weiß ja nicht, was für Angebote ich vom Zirkus kriege.
Von wem? Ach komm, es reicht.
Ich seh schon, noch eine Welle von Entlassungen bei meinen Witzeschreibern.
Sag mal.
Was?
Aber sag die Wahrheit.
Also?
Bist du auch gestern einfach so zu mir gekommen?
Was heißt einfach so?
Und vorgestern, als du mich geweckt hast. Hab ich da wirklich gesungen?
Ja. Ich schwöre, vorgestern war das wirklich so.
Du bist schon komisch.
Danke, lachte Avram, ich geb mir Mühe.
Und, sag …
Was?
Warum bist du gestern und heute gekommen?
Weiß ich nicht. Ich bin einfach gekommen.
Das ist keine Antwort.
Er räusperte sich: »Ich wollte dich aufwecken, bevor du anfängst, im Schlaf zu singen, log Avram.«
Was hast du da gesagt?
»Ich wollte dich aufwecken, bevor du im Schlaf nochmal anfängst zu singen, log der heimtückische Avram.«
Ah, du …
Ja.
Du sagst mir auch, was du …
Genau.
Schweigen. Ein heimliches Lächeln. Schnell drehende Räder, hier wie dort.
Und du heißt Avram?
Was soll ich machen. Das war der preiswerteste Name, mehr konnten meine Eltern sich nicht leisten.
Das ist so, wie wenn ich zum Beispiel sagen würde: »Er redet mit mir, als wär er ein Schauspieler im Theater, dachte Ora«?
»Du hast das Prinzip kapiert, lobte er, und zu sich sagte er, oh, du meine Seele, ich glaube, jetzt haben wir sie endlich gefunden …«
»Dann halt mal kurz den Mund, sagte ihm das Genie Ora und versank in Gedanken, die tiefer waren als das Meer.«
»Interessant, worüber sie sich wohl Gedanken macht, die tiefer sind als das Meer, sann Avram im Stillen nach.«
»Sie denkt, dass sie ihn jetzt endlich sehen will, nur für einen Augenblick. Und worüber sinnt er nach?«
»Dass sie besser dran täte, ihn nicht zu sehen, sagte Avram und stieß einen Angstschrei aus.«
»Aber Ora, listig wie ein Fuchs, verriet ihm dann, dass sie außer dem Stuhl heute noch etwas vorbereitet hatte.«
Ritsch, nochmal Ritsch, und ein Tropfen Licht geht im Zimmer auf. Ein dünner, langer weißer Arm, nach vorne ausgestreckt, hält eine Streichholzfackel. Das Licht schwappt über die Wände wie Wasser in einem Krug. Das Zimmer ist groß, viele leere, nackte Betten, zitternde Schatten, eine Wand, ein Türrahmen, und in der Mitte des Lichtkreises: Avram, ein bisschen geschrumpft angesichts der blendenden Flamme.
Sie streicht noch ein Hölzchen an und hält es, ohne es zu merken, etwas tiefer, als achte sie darauf, ihn nicht zu beschämen. Die Flamme offenbart dicke, kräftige Jungenbeine in einem blauen Schlafanzug, auf den Hosenbeinen liegen erstaunlich kleine Hände, die sich nervös umklammern. Die Flamme klettert einen kurzen, stämmigen Körper hoch und entrollt aus dem Dunkel ein großes rundes Gesicht, das trotz der Krankheit einen beinahe peinlichen Lebenshunger, Neugierde und Mut zeigt, mit einer Knollennase, geschwollenen Lidern, darüber ein schwarz zerzauster, wilder Haarschopf.
Am meisten staunt sie darüber, wie er ihr sein Gesicht zur Betrachtung und Beurteilung hinhält, indem er die geschlossenen Augen fest zusammenkneift und angestrengt alle seine Züge in Falten legt. Für einen Moment kommt er ihr vor wie einer, der einen besonders zerbrechlichen Gegenstand in die Luft geworfen hat und ängstlich wartet, dass er zerschellt.
Ora stößt einen schmerzhaften Atemzug aus und leckt sich die angesengten Finger. Nach kurzem Zögern zündet sie noch ein Streichholz an und hält es sich mit einer Art ernster Aufrichtigkeit vor die Stirn, schließt die Augen und führt es vor ihrem Gesicht schnell auf und ab. Ihre Wimpern flattern, ihre Lippen wölben sich ein bisschen vor, wie von selbst. Schatten brechen sich auf ihren hohen, langen Wangenknochen, ihrem etwas vorstehenden provokativen Mund und ihrem Kinn. Etwas Unklares, gleichsam Schlaftrunkenes liegt auf diesem schönen, hellen Gesicht, etwas Ratloses, noch nicht Entwöhntes, und vielleicht ist das auch nur die Krankheit. Aber ihr kurzes Haar steht in Flammen, glänzende Bronze; auch nachdem das Streichholz verloschen ist und das Dunkel sie wieder umgibt, glüht sein Glanz noch in Avrams Augen.
Avram?
Was?
Schläfst du?
Ich? Ich dachte, du.
Glaubst du wirklich, wir werden wieder gesund?
Bestimmt.
Manchmal hab ich nämlich solche Gedanken.
Zum Beispiel?
Weiß nicht.
Nein, nein, das wird wieder, du wirst wieder okay.
Als ich ankam, waren vielleicht hundert Leute auf der Isolierstation. Vielleicht haben wir etwas, was die nicht heilen können.
Du meinst – wir beide?
Wer eben hier noch übrig ist.
Nur wir beide und der da aus meiner Klasse.
Aber warum ausgerechnet wir?
Wir haben die Komplikationen.
Genau. Und warum ausgerechnet wir?
Weiß ich nicht.
Das macht mir Angst.
Wir werden schon wieder gesund, du wirst sehn.
Ich habe null Kraft.
Du wirst wieder stark, bestimmt, ich bin hier, ich lass dich nicht.
Ich schlaf gleich wieder ein …
Ich bleib hier.
Warum schlaf ich die ganze Zeit ein?
Der Körper ist schwach.
Schlaf du nicht ein, pass auf mich auf.
Dann red mit mir.
Worüber?
Über dich.
Was gibt es von mir zu erzählen?
Wie zwei Schwestern waren sie gewesen. »Die siamesischen Zwillinge« hatte man sie genannt, obwohl sie sich überhaupt nicht ähnlich sahen. Acht Jahre lang, im Alter von sechs bis vierzehn Jahren, von der ersten Klasse bis zum Ende des ersten Trimesters der achten, hatten sie in derselben Bank gesessen und sich auch nach der Schule nicht getrennt, waren immer zusammen, zu Hause bei der einen oder bei der andern, in den Machanot Olim, auf Ausflügen und bei Workcamps – hörst du überhaupt zu?
Was? … Ja, ich hör zu.
Was hab ich gesagt?
Der Kopf … Die ganze Zeit dreht sich mir der Kopf.
Genug, dann schlaf jetzt.
Nein, sag mal …
Was?
Etwas hab ich nicht verstanden. Warum seid ihr nicht mehr Freunde?
Warum?
Ja.
Weil sie nicht mehr …
Nicht mehr was?
Lebt.
Ada?!
Sie hörte, wie er zusammenzuckte, als hätte man ihn geschlagen. Sofort zog sie die Beine an, umschlang die Knie und begann, sich vor und zurück zu wiegen. Ada ist tot. Ada ist schon zwei Jahre tot, sagte sie schnell zu sich, das ist in Ordnung, das ist in Ordnung, alle wissen, dass sie tot ist. Wir haben uns schon daran gewöhnt, sie ist tot. Das Leben geht weiter. Aber sie spürte, dass sie Avram soeben etwas sehr Geheimes und Intimes offenbart hatte, etwas, was nur sie und Ada wirklich wussten.
Danach beruhigte sie sich aus irgendeinem Grund. Hörte auf, sich zu wiegen. Wartete auf etwas und wusste nicht, worauf. Eine dunkle, zähe Stille umgab sie. Langsam atmete sie wieder, vorsichtig, sie hatte ein Gefühl von Dornen in der Lunge und den merkwürdigen Gedanken, dass er sie ihr rausziehen könnte. Vorsichtig, einen nach dem andern.
Hör mal.
Ja.
Manchmal denk ich im Laufe des Tages über das nach, was wir in der Nacht gesprochen haben.
Aber warte, sag mir …
Manchmal erinner ich mich nicht, ob ich dir Sachen gesagt hab oder ob ich nur geträumt hab, ich hätte sie gesagt.
Aber woran ist sie gestorben?
Autounfall. Du musst wissen …
Ein Unfall?
Ihr habt genau denselben Humor.
Wer?
Du und sie. Wirklich genau denselben.
Ach, deshalb …
Was?
Deshalb lachst du nicht über meine Witze?
Avram …
Ja.
Gib mir die Hand.
Was?
Gib mir deine Hand, schnell.
Aber dürfen wir das?
Sei kein Idiot, jetzt mach schon.
Nein, du verstehst nicht, wegen der Isolation.
Wir haben uns doch sowieso schon angesteckt.
Aber vielleicht …
Jetzt gib mir schon deine Hand!
Das war in den Chanukkaferien, sagte sie und hielt seine Hand zwischen ihren beiden Händen und wiegte sie hin und her, als wolle sie ihn gleichzeitig von sich stoßen und festhalten. Ihr Kopf tat weh, wie von einer Zange zusammengedrückt. Was ist mit ihr los, was soll das alles, warum erzählt sie ihm ihre privatesten Dinge, und wie kommt es, dass es ihr so leichtfällt, mit ihm zu reden, dabei kennt sie ihn doch überhaupt nicht, und dieses merkwürdige Gesicht, fast erwachsen, nicht wie von einem Jungen in ihrem Alter, und diese Übertreibungen, wie er »Ada« geschrien hat, als hätte er sie wirklich gekannt, als ginge es ihm wirklich um sie. Übrigens, denkt sie jetzt, vielleicht gilt sie überhaupt noch als die Freundin von Avner Feinblatt. Oder zumindest als seine Seelenfreundin – vor allem jetzt, wie kann sie ihn jetzt betrügen, wo doch Krieg ist, und die Hand eines völlig Fremden halten, von dem sie nichts, aber auch gar nichts weiß.
Aber warte, Avram, davor …
Wovor?
Bevor sie gestorben ist …
Was?
Da hat sie gelebt …
Ada und sie. Alles kommt zurück, sie ist aufgeregt, wie passiert das, so plötzlich, und nach so langer Zeit. Auch diese überraschende Klarheit der Erinnerung: Endlose Diskussionen über Jungen, ob sie eine künstlerische Ader hatten oder nicht, tiefschürfende Gespräche über ihre Eltern – denn fast von Anfang an übersteigt ihre Treue zueinander die gegenüber Familiengeheimnissen. Wie sie zusammen angefangen hatten, Esperanto zu lernen (und nicht weitermachten), um die legendären Briefe von Sohara und Schmulik aus dem Unabhängigkeitskrieg zu übersetzen, denn Ora wollte, dass alle Menschen auf der Welt diese Liebesgeschichte lesen konnten. Und der Almanach der geschützten Wörter, den sie hegten und pflegten, als handelte es sich um eine Sammlung seltener Schmetterlinge, mit Wörtern, die man nur »in ausgewählten Augenblicken und unter Bedingungen vollständigen Vertrauens aussprechen darf«, so stand es auf dem Umschlag des Heftes, in dem sie die Wörter sammelten. Und der Jahresausflug an den See Genezareth, im Bus hatte Ada Bauchschmerzen gehabt und Ora erklärt, sie werde jetzt sterben, und Ora hatte neben ihr gesessen und bitterlich geweint. Und ausgerechnet, als sie wirklich gestorben ist, da hab ich nicht geweint, da konnt ich nicht, alles war mir ausgetrocknet, keine Ahnung, seit sie tot ist, hab ich kein einziges Mal mehr geweint.
Eine kleine Straße und noch eine Gasse hatten zwischen ihren Häusern im Neve-Schaanan-Viertel gelegen. Sie waren zusammen zur Schule und zusammen nach Hause gegangen, und wenn sie bei Oras Haus ankamen, machten sie kehrt, und Ora begleitete Ada nach Hause, immer hin und her, und die Straße haben sie nur Hand in Hand überquert, das hatten sie sich mit sechs Jahren angewöhnt, und so taten sie es auch noch mit vierzehn, Ora erinnerte sich an dieses eine Mal, sie waren neun gewesen und hatten an dem Tag gestritten, sie hatte Adas Hand am Zebrastreifen nicht gehalten, und plötzlich tauchte ein Lastwagen von der Stadtverwaltung auf, fuhr sie an und schleuderte sie in die Luft …
Und wieder sah sie es: Der rote Mantel öffnete sich wie ein Fallschirm. Ora war nur zwei Schritte hinter ihr gewesen, hatte sich sofort umgedreht und war hinter einen Heckenzaun geflohen, hatte sich auf die Erde gehockt, sich beide Ohren zugehalten, fest die Augen zuammengepresst und laut in ihrem Kopf gesummt, um nichts zu hören und zu sehen.
Und ich wusste nicht, dass das bloß die Generalprobe war, sagte sie zu ihm.
Ich bin nicht gut im Retten, sagte sie danach noch, vielleicht zu sich selbst, vielleicht warnte sie ihn auch.
Fast jeden Tag hatten sie zusammen zu Mittag gegessen, bei Ada, dort schmeckte es besser, und man durfte beim Essen reden und auch lachen. Es war eine lachende Familie, drei lachende rundliche Leute, und allein das brachte sie alle vier noch mehr zum Lachen. Nach den Hausaufgaben hielten sie beide Mittagsschlaf, Hand in Hand schliefen sie in dem kleinen Bett ein und wachten von leckeren Düften auf: Adas Vater hatte ihnen zum Aufwachen Bratäpfel gemacht. Und im Sommer, an den Freitagabenden, schlichen sie im Schlafanzug auf Abkürzungswegen, die absichtlich viel länger waren, durch die Höfe und Gärten der Mietshäuser, kühlten ihre glühenden Gesichter an Laken und Hemden, die zum Trocknen an den öffentlichen Leinen hingen, hüllten sich darin ein, tanzten lautlos, zwei kleine Gespenster, schwindlig von der Blüte der Heckenkirschen und Winden. Hand in Hand von Adas Haus zu Oras Haus und wieder zurück, zwischen kahlen Wiesen, Gasflaschen und von Mehltau befallenen Rosensträuchern, Teppichen von Kapuzinerkresse. Sie schauten durch die Blätter des Ficus ängstlich auf erleuchtete Balkone, auf denen Erwachsene, Männer und Frauen, deren markante Gesichter ihnen wie die von Statuen, wie von Kaisern im Exil erschienen, in Unterhemden und mit tiefen Ausschnitten und faltiger Haut vor großen Ventilatoren saßen, Karten spielten, lauthals lachten oder kaum hörbar seufzten. Und dann meinten sie plötzlich, alle beide, sie würden verfolgt, und flohen vor etwas, was über ihnen schwebte und sich wie ein Lasso um sie zu legen drohte, und rannten weg, ohne sich umzuschauen.
Als Ada zehn war, stachen sie sich mit einer Nadel in die Finger und vermischten ihr Blut. Ada sagte, das sei nicht genug, und schob Ora mit einer heftigen Bewegung ihren Finger in den Mund und nahm Oras Finger zwischen ihre Lippen. Von einem merkwürdigen Impuls getrieben, saugte Ora und war überrascht: Wie süß war Adas Blut! Sie sah Adas Pupillen, die sich verengten und dunkler wurden. Beide zogen im selben Moment ihre Finger zurück, und Ada sagte staunend, jetzt haben wir für immer dasselbe Blut in unserem Kreislauf, und sie lächelte merkwürdig fern, beinahe drohend, als sagte sie Ora ohne Worte: Jetzt hast du keine Chance mehr.
Zettelchen, die in den Stunden hin und her wanderten, schwebten vor Oras Augen, als hätten sie sie eben erst geschrieben. »Ach, dieser Geiz der Natur«, hatte Ora gekritzelt, »warum ist Avinoam S. bloß schön, aber nicht klug?« Und Ada hatte geantwortet: »Welch eine Enttäuschung, meine Liebe, er ist schön wie ein himmlischer Engel, aber dumm wie der letzte Bengel. Oje, wo finden wir einen Engel, der beides ist?« »So einen gibt’s nicht auf der ganzen Welt«, stellte Ora fest. »Muss es aber geben«, beharrte Ada, »sonst müssen wir notgedrungen die anrüchige Bigamie wieder einführen.« »Das müssen wir wohl oder übel«, wagte Ora zu schreiben. Für einen Moment ruhten die Zettelchen. Beide stellten sich vor, was das wohl bedeuten würde, fühlten den Kitzel im Bauch und kicherten.
Sie ließen einander an allen Details ihres Lebens teilnehmen, und »an jedem Gedanken, wie erhaben oder schmählich er auch sein mag«. Ada hatte diese Gesetze verabschiedet, Ora hätte noch nicht einmal gewagt, sich so etwas zu wünschen. Und jetzt, gegenüber dem schwer atmenden, schon beinah schnarchenden, in tiefen Schlaf gehüllten Avram – im Dunkel war sein Körper etwas Dunkles, Rundlich-Festes –, schaute Ora ihn lieb an und sagte sich, nach dem, was man im Dunkeln sieht, ist er doch ein ganz süßer Kerl, so ein Teddybär, lustig und ungefährlich – jetzt denkt sie, wäre Ada nicht gewesen, sie hätte gar nicht gewusst, dass so was möglich ist, dass es überhaupt erlaubt ist, dass sich zwei Menschen so nahe sind.
Sie seufzte. Avram seufzte ihr nach, und für einen Augenblick war sie nicht sicher, ob er wirklich schlief.
Sag mal Avram …
Was? Was hast du gesagt?
Stört es dich nicht, dass ich so bin?
Wie, so?
Dass ich nicht rede
Aber du redest doch …
Dann kamen die Chanukkaferien, sagte sie, und ihre Stimme verkrampfte sich. Ich war mit meinen Eltern und meinem Bruder in Naharia, da sind wir jedes Jahr hingefahren, in eine Pension, für die ganze Woche. Und am Morgen nach den Ferien bin ich in die Schule gegangen und hab am Kiosk auf sie gewartet, wo wir uns jeden Morgen getroffen haben, aber sie kam nicht, und es wurde schon spät, da bin ich allein gegangen und hab gesehen, sie ist nicht in der Klasse, und ich hab sie im Schulhof gesucht und auf dem Baum, an allen unseren Orten, aber sie war nicht da, und dann hat es geklingelt, und sie kam nicht, vielleicht ist sie krank, dachte ich, vielleicht kommt sie auch nur zu spät und macht im nächsten Augenblick die Tür auf. Aber dann kam unser Klassenlehrer, und wir sahen, er war ganz durcheinander, und er hat sich so mit der Seite zu uns hingestellt und gesagt, unsere Ada … und dann ist er in Tränen ausgebrochen, und wir haben nicht verstanden, das Weinen kam ihm so aus der Nase …
Sie sprach flüsternd und schnell, Avram drückte ihre Hand fest in seinen Händen, er tat ihr weh, und sie zog ihre Hand nicht zurück.
Und dann hat er gesagt, sie sei bei einem Unfall ums Leben gekommen, am Abend zuvor, in Ramat-Gan. Sie hatte dort eine Cousine, sie war auf der Straße gelaufen, dann kam ein Bus, und das war’s.
Schnell und heiß trafen ihre Atemstöße auf seine Hand.
Und was hast du gemacht?
Nichts.
Nichts?
Hab dagesessen. Ich weiß nicht mehr.
Avram atmete schwer.
Ich hatte zwei Bücher von ihr im Ranzen, zwei Bände der Jugend-Enzyklopädie, die ich ihr nach den Ferien zurückgeben wollte, und die ganze Zeit hab ich mir überlegt, was mach ich jetzt damit.
So hast du es zum ersten Mal gehört, in der Klasse?
Ja.
Das kann nicht sein.
Doch.
Und danach?
Weiß ich nicht mehr.
Und ihre Eltern?
Was?
Was ist mit denen?
Keine Ahnung, was mit denen ist.
Ich denk nur, wenn mir so was passieren würde, so ein Unfall, meine Mutter würde bestimmt verrückt, sie würde daran sterben.
Ora richtete sich auf, zog ihre Hand weg, lehnte sich an die Wand.
Aber, was haben sie dir erzählt?
Wer?
Ihre Eltern.
Über den Unfall?
Ja, und über Ada, sie haben dir doch sicher alle möglichen …
Nein, sie haben nichts gesagt.
Wie kann das sein?
Ich hab nicht …
Ich hör dich nicht, komm ein bisschen näher.
Ich hab nicht mit ihnen geredet.
Überhaupt nicht?
Seitdem nicht.
Warte, sind die auch umgekommen?
Die Eltern? Wieso … Die wohnen bis heut im selben Haus.
Aber du hast doch … gesagt, du und sie, ihr wärt wie Schwestern gewesen …
Ich bin da nicht hingegangen …
Ihr Körper begann sich zu versteifen, nein-nein, sie stieß ein scharfkantiges Lachen aus, kalt und fremd: Ich geh da nicht hin, nein-nein … Auch meine Mutter hat gesagt, es ist besser, wenn ich da nicht hingeh, um sie nicht noch trauriger zu machen. Ihr Blick wurde immer glasiger: Und so ist es auch ganz gut, glaub mir, so ist es das Beste, man muss nicht über alles reden.
Avram schwieg. Zog die Nase hoch.
Aber in der Schule haben wir einen Aufsatz über sie geschrieben, jedes Kind hat was geschrieben, ich auch, und die Lehrerin hat alles eingesammelt und ein Heft daraus gemacht und gesagt, sie würde es Adas Eltern schicken, ja, und ein Schlafanzug von mir ist sogar noch bei ihr zu Hause, ich weiß noch nicht, was ich da machen soll.
Plötzlich drückte sie sich die Faust fest gegen den Mund: Warum erzähl ich dir das alles überhaupt?
Sag mal, hatte sie wenigstens Geschwister?
Nein.
Sie war ganz allein?
Ja.
Nur sie und du …
Und?
Schon gut.
Nein, sag ruhig, was du denkst.
Schon gut.
Du verstehst nicht, das ist nicht richtig, was du jetzt … sie haben recht gehabt!
Wer? Von wem redest du?
Meine Eltern. Nicht mein Vater, aber meine Mutter, die kennt sich mit solchen Sachen am besten aus. Die ist von der Schoah. Und auch Adas Eltern wollten bestimmt nicht, dass ich komm, sie haben mich ja auch nie gebeten zu kommen. Sie hätten mich doch fragen können, meinst du nicht?
Aber du kannst ja jetzt zu ihnen gehn.
Nein, nein.
Nach so langer Zeit wollen sie sicher wissen …
Ich hab seitdem mit niemandem über sie gesprochen, und von ihr …
Ora schüttelte den Kopf, zitterte am ganzen Körper und sagte: In der Klasse spricht schon keiner mehr von ihr, nie, zwei Jahre … Plötzlich fing sie an, den Kopf nach hinten an die Wand zu schlagen, ein Schlag, eine Silbe, ein Schlag, eine Silbe: als-hät-te-es-sie-nie-ge-ge-ben.
Genug, sagte Avram, und sie hörte sofort auf. Starrte vor sich ins Dunkel. Jetzt hörten sie es beide: Irgendwo in einem der entfernten Zimmer weinte die Schwester. Es war ein leises, langgezogenes Klagen.
Sag mal, fragte er nach einer Weile, und was haben sie mit ihrem Stuhl in der Klasse gemacht?
Mit ihrem Stuhl?
Ja.
Was meinst du? Der steht da noch.
Leer?
Ja, natürlich leer. Wer würde sich da draufsetzen.
Avram, halt mich fest!
Er schreckte vor ihr zurück und fühlte sich von ihrer Angst angezogen, tastete sich vor, stieß auf Knie, einen dünnen, spitzen Ellbogen, eine winzige Rundung, glühende, trockene Haut. Mundfeuchtigkeit. Als er ihre Schulter berührte, umschlang sie ihn, zitterte, und er drückte sie an sich und lief in diesem einen Augenblick randvoll mit ihrem Leid.
So saßen sie da, ineinander verschlungen. Ora heulte mit offenem Mund, laufender Nase, verloren wie ein kleines Mädchen. Avram bemerkte ihren Mundgeruch, den Geruch von Krankheit. Ist schon gut, ist schon gut, sagte er und streichelte immer wieder ihren schweißnassen Kopf, ihr Haar, ihr feuchtes Gesicht.
Später, viel später putzte sie sich mit dem Ärmel des Schlafanzugs die Nase: Du bist wahnsinnig gut, weißt du das? Du bist nicht wie die normalen Jungs.
Fangen wir jetzt mit den Beleidigungen an?
Bleib so. Das ist gut so.
Und so?
So auch.
Was meinst du?
Über dich?
Nein, du Depp, über hier.
Ich weiß nicht, nur so.
Nun sag schon …
Trotzdem komisch, dass sie bloß diese Schwester für die Isolierstation haben.
Die Araberin? Wieso, was …
Die könnten ja, was weiß ich.
Was?
Alles Mögliche.
Nein, die würde es nicht wagen.
Es ist, als wären wir ihre Kriegsgefangenen.
Die haben uns alle vergessen.
Nein, sag das nicht, das ist bloß jetzt so, wegen der allgemeinen Lage.
Ich sag’s dir, die wollen gar nicht an uns denken.
Wie kommst du darauf, Ora, so ein Stuss.
Stuss? Stuss? Jetzt hör mir mal gut zu, am Tag nachdem ich hier ankam, sind meine Eltern und mein Bruder aus Haifa gekommen, und man hat sie nicht reingelassen, verstehst du? Die haben sie nicht gelassen!
Und was haben sie dann gemacht?
Ich glaub, sie haben mir von weitem zugewinkt, von hinter dem runden Fenster haben sie so Zeichen gemacht, ich hab nichts verstanden, ich war halb tot, und dann sind sie gegangen!
Meine Mutter war gestern da, glaub ich. Genau dasselbe, Luftküsse durchs Fenster …
Noch nichtmal Briefe von meinen Kumpels hab ich gekriegt, nichts! Als hätten die mich schon vergessen.
Eng beieinander saßen sie auf Oras Bett. Avram streichelte vorsichtig ihren Kopf und dachte, von ihm aus wär es ganz in Ordnung, dass sich keiner an sie erinnert, dass alle sie vergessen haben. Ihn würde es nicht stören, wenn es noch ein paar Tage so weiterginge. Manchmal schlich sich seine Hand von alleine weg und berührte ihren heißen Nacken oder glitt versehentlich über ihre langen, dünnen Oberarme mit den nussförmigen jungenhaften Wölbungen. Mit aller Kraft kämpfte er, weiterhin nur gut zu sein und ihr Gutes zu tun, doch gleichzeitig drängte es ihn gegen seinen Willen, auch ein bisschen Proviant für seine schwierigen Onaniereisen zu sammeln. Oras Kopf neigte sich ein bisschen nach hinten, als wolle sie sich anlehnen. Ein solcher Moment, rechnete Avram sich in seinem Nebel aus, würde ihm bestimmt für ein paar Wochen reichen. Aber nein, mit der nicht, mahnte er sich, mit der machst du das nicht.
Sag mal …
Was ist? Was hab ich gemacht?
Was erschrickst du denn so … Ist es dir nicht komisch, dass wir beide so …
Wie, so?
Du musst wissen, ich war noch nie, noch mit niemandem, ich bin nicht … Nicht so, jedenfalls.
Ich auch nicht.
Wirklich? Nie?
Avram grübelte einen Moment, blähte ein bisschen die Schultern und die Brust, ging im Flug die verschiedenen Möglichkeiten durch. Dann senkte er den Blick und sagte: Noch nie.
In der nächsten Nacht – sie war mit ihrer Zählung der Tage und Nächte schon ganz durcheinander – kam Avram und schob einen Rollstuhl in ihr Zimmer. Sie wachte in kalten Schweiß gebadet auf. Wieder hatte sie diesen merkwürdigen Albtraum gehabt, als krieche eine metallene Stimme um sie herum und erzähle ihr entsetzliche Dinge, in manchen Momenten war ihr klar gewesen, dass diese Stimme aus einem Transistorradio irgendwo auf der Station kam, vom Flur oder aus einem der leerstehenden Zimmer, und sie erkannte sogar, dass es die Propaganda auf Hebräisch von Donnerstimme Kairo war, mit diesem ägyptischen Sprecher und seiner blumigen Rhetorik – ihre Klassenkameraden konnten ihn schon gut nachahmen, mitsamt seinen urigen Hebräischfehlern –, doch dann meinte sie wieder, die Stimme komme aus ihr selbst und erzähle nur ihr, dass die siegreichen arabischen Armeen das zionistische Gebilde, das sie von allen Fronten bestürmten, bereits fast vollständig erobert hatten. Wellen mutiger arabischer Kämpfer überrennen in diesen Stunden Beer Schewa, Aschkelon und Tel Aviv, verkündete die Stimme, und Ora konnte sie nicht zum Schweigen bringen. Die Flugzeuge des zionistischen Feindes fallen wie Fliegen vom Himmel, nachdem ägyptische Himmelsadler sie soeben präzise abgeschossen haben. Ora lag in ihrem Bett, gefangen in der Angst, die ihr diese Worte einflößten, ihre Kehle war trocken, und sie konnte nicht mal um Hilfe rufen. Danach verstummten die Stimmen, auch die Militärmusik entfernte sich und verklang. Da lag sie mit heftig schlagendem Herzen in ihrem Schweiß. Und sie dachte daran, dass Ada das alles schon nicht mehr mitbekam, alles, was Ora hier passierte, das war schon nicht mehr in Adas Zeit. Was heißt, nicht mehr in Adas Zeit? Wie soll man das verstehen, dass sie früher dieselbe Zeit hatten und dass Ada die Zeit ausgegangen war und sie schon lange nicht mehr in der Zeit war, wie konnte das sein?
Dann sah sie einen großen, sich im Dunkel verdichtenden Klumpen, hörte quietschende Räder und einen abgehackt schnarchenden Atem. Avram? flüsterte sie, ein Glück, dass du kommst, hör zu, was mir passiert ist … Dann spürte sie, dass da zwei atmeten, und sie setzte sich im Bett auf, in dünne Decken gehüllt, und starrte ins Dunkel.
Schau mal, was ich dir mitgebracht hab, flüsterte er.
Den ganzen Tag hatte sie auf ihn gewartet, dass er wiederkäme und wieder bei ihr sitze, dass er mit ihr rede und ihr so zuhöre, als sei ihm jedes Wort unsäglich wichtig, sie hatte sich danach gesehnt, dass er mit seinen hypnotisierenden Fingern ihren Kopf und ihren Nacken streichelte. Zart wie die Finger von einem Mädchen, dachte sie, oder von einem Baby. In den wenigen klaren Momenten zwischen Anfällen von Schüttelfrost und Albträumen versuchte sie, die Nächte mit ihm zu rekonstruieren, und merkte, fast alles hatte sie vergessen, aber ihn nicht. Doch auch an ihn erinnerte sie sich nicht richtig, nicht wie an jemanden, den sie wirklich gesehen und kennengelernt hatte, sogar sein Gesicht fügte sich nicht zu einem Bild zusammen, sondern bewegte und veränderte sich dauernd, manchmal spaltete es sich sogar in verschiedene Gesichtszüge, und was ihr schließlich von ihm übrig blieb, war diese Hitze, wie die eines Flammenwerfers, die er aussandte. Ohne ihn war ihr kalt, ohne ihn war sie richtiggehend dabei, zu erfrieren.
Stundenlang hatte sie dagelegen, schlafend oder wach, und hatte sich seine Hand vorgestellt, die weiter und weiter ihr Gesicht streichelte und an ihrem Nacken spielte. Noch nie hatte jemand sie so berührt, überhaupt hatte man sie nur wenig berührt. Woher kannte er sich so gut aus, wenn er noch nie so mit einem Mädchen war? Und ausgerechnet in dem Moment, als ein Strom der Güte von ihr zu ihm zu fließen begann, und nachdem sie den ganzen Tag auf ihn gewartet hatte, dass sie sich ein bisschen umarmen und reden würden, so wie sie miteinander redeten, kam er und machte einen so plumpen Fehler, wie ihn nur Jungs machen können, wie unter der Achsel zu furzen, wenn sich auf der Leinwand zwei küssen, oder diesen Typ da anzuschleppen …
Der da im Rollstuhl schlief und leicht schnarchte und anscheinend gar nicht wusste, wo er war. Avram hatte ihn ins Zimmer rangiert, war an einen Schrank und an ein Bett gestoßen und quoll über vor Entschuldigungen und Erklärungen: Er wolle ihn nicht die ganze Nacht allein im Zimmer lassen, Ilan habe Albträume, er habe vierzig Fieber, vielleicht sogar mehr, er phantasiere die ganze Zeit, er habe Angst zu sterben, und wenn Avram das Zimmer verlasse und zu Ora gehe, höre Ilan die ganze Zeit Stimmen, dass die Araber siegen, so ganz furchtbare Sachen.
Während er das alles erzählte, parkte er Ilan im Rollstuhl mit dem Gesicht zur Wand und tastete sich den Weg zu ihr. Schon aus der Entfernung spürte er, wie sie ihre Stacheln gegen ihn aufstellte, und mit einem feinen Verstehen, das sie überraschte, kam er nicht auf ihr Bett, sondern setzte sich vorsichtig und ergeben auf den Stuhl daneben und wartete ab.
Sie zog die Beine an, verschränkte die Arme vor der Brust, schwieg zornig und schwor sich im Stillen, bis ans Ende der Tage zu schweigen, doch sofort brach es aus ihr heraus: Ich will nach Hause. Mir reicht’s.
Aber das geht nicht, du bist noch krank.
Scheißegal.
Weißt du was, verriet Avram ihr ein Geheimnis, der ist überhaupt in Tel Aviv geboren.
Wer?
Der da, der Ilan.
Schön für ihn.
Und erst vor einem Jahr ist er nach Jerusalem gezogen.
Wie aufregend!
Sein Vater ist der leitende Kommandant eines Camps hier geworden, Oberst oder so. Und willst du was Witziges hören …
Nein.
Avram warf einen vorsichtigen Blick ans Ende des Zimmers, beugte sich vor und flüsterte: Er redet, ohne es zu merken.
Was heißt das?
Im Schlaf mit dem Fieber, da quatscht er einfach drauflos.
Auch sie beugte sich vor und flüsterte: Aber ist das nicht … doch ein bisschen peinlich?
Willst du noch was hören?
Was?
Wir haben uns gestritten.
Wer?
Ich und er.
Wieso?
Nicht nur ich, die ganze Klasse redet nicht mit ihm.
Habt ihr einen Boykott gegen ihn ausgerufen?
Nein, im Gegenteil, er boykottiert uns.
Ein Junge macht echt einen Boykott gegen alle?
Schon ein ganzes Jahr.
Und?
Er redet nicht mit uns.
Wie geht denn das?
So eben, er streikt.
Und hier redet ihr jetzt?
Nicht, wenn er wach ist.
Und wenn er schläft?
Ich hab dir doch gesagt, bei dem Fieber hält er kaum mal einen Moment die Klappe.
Ich weiß nicht. Ist das nicht etwas …
Wenn mir langweilig ist, dann fang ich an, ich zieh es ihm ein bisschen aus der … Und dann antwortet er auch schon.
Im Schlaf?
Na ja, es ist so, als ob er es halb versteht, aber nicht wirklich.
Aber …
Was?
Ich weiß nicht, das ist doch wie Briefe lesen, die nicht für einen bestimmt sind, findest du nicht?
Was soll ich machen? Mir die Ohren zuhalten? Und ehrlich gesagt …
Ja?
Wenn er wach ist, dann hasse ich ihn echt, so wie in der Schule. Aber wenn er schläft …
Was dann?
Weiß nicht.
Also?
Irgendwie ist er dann ein andrer Mensch …
Wie anders? fragte Ora und spürte einen leicht stechenden Neid.
Ich hab noch nie so jemanden getroffen.
Aber das ist nicht fair, was du mit ihm machst, ereiferte sie sich wieder gegen ihn.
Das ist doch fair, denn ich red ja auch mit ihm, wenn er so ist.
Kapier ich nicht.
Wir reden halt.
Aber du hast gesagt, dass er nicht wirklich …
Er redet so ins Blaue, und ich dann eben auch.
Ach so.
Ja.
Und, erzählt er dir Geheimnisse?
Bei ihm ist alles ein Geheimnis.
Wieso?
Ich hab dir doch gesagt, in der Klasse weiß man nichts über ihn.
Er schweigt wirklich die ganze Zeit?
Im Unterricht muss er was sagen, da schweigt er nicht. Wenn er gefragt wird, antwortet er. Er spricht zur Lehrerin wie ein Roboter, damit die Lehrerin sieht, was er von ihr hält. Aber sonst nichts – gar nichts. Verschlossen wie ein Bunker.
Sonderbar, staunte Ora, so was hab ich im Leben noch nicht gehört.
So ist der.
Und er hat keinen, dem er …
Keinen.
Sie versuchte mit dem Blick das Dunkel zu spalten. Es war ihr, als würde die Luft im Zimmer immer dicker. Es zog sie nach dort. Zu ihm.