Stichwort: Liebe - David Grossman - E-Book

Stichwort: Liebe E-Book

David Grossman

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Beschreibung

Alle haben geglaubt, Großvater Anschel sei von einer »Nazi-Bestie« umgebracht worden, doch eines Tages steht er, aus einer Irrenanstalt entlassen, vor der Tür: ein alter, frierender Mann, der unverständliches Zeug vor sich hin murmelt. Als müßte er immer wieder (wie damals im Lager) dem Obersturmbannführer neue Abenteuer der berühmten Kinderbande erzählen, Geschichten, die ihn als Schriftsteller berühmt gemacht haben. Eine schier unglaubliche Geschichte - und doch nur die Hälfte dieses mit mehreren internationalen Preisen ausgezeichneten Romans. Die andere gehört ganz dem neunjährigen Momik, der herauszufinden versucht, was der Großvater denn da murmelt, erzählt, erlebt haben könnte.

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Seitenzahl: 1073

Veröffentlichungsjahr: 2016

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Über das Buch

Alle haben geglaubt, Großvater Anschel sei von einer »Nazi-Bestie« umgebracht worden, doch eines Tages steht er, aus einer Irrenanstalt entlassen, vor der Tür: ein alter, frierender Mann, der unverständliches Zeug vor sich hin murmelt. Als müßte er immer wieder (wie damals im Lager) dem Obersturmbannführer neue Abenteuer der berühmten Kinderbande erzählen, Geschichten, die ihn als Schriftsteller berühmt gemacht haben. Eine schier unglaubliche Geschichte – und doch nur die Hälfte dieses mit mehreren internationalen Preisen ausgezeichneten Romans. Die andere gehört ganz dem neunjährigen Momik, der herauszufinden versucht, was der Großvater denn da murmelt, erzählt, erlebt haben könnte.

Hanser E-Book

David Grossman

Stichwort: Liebe

Aus dem Hebräischen von Judith Brüll

Carl Hanser Verlag

Titel der Originalausgabe: ›Ayen‹ Erekh: Ahavà1986 Hoza’at Hakibbutz Hameuchad, Jerusalem

ISBN 978-3-446-25521-0Alle Rechte vorbehalten© Carl Hanser Verlag München Wien 1991/2016Satz: Fotosatz Reinhard Amann, Leutkirch

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Inhalt

Erster TeilMOMIK

Zweiter TeilBRUNO

Dritter TeilWASSERMAN

DAS LEBEN KASIKS,nach Stichwörtern enzyklopädisch erfaßt

Glossar

Erster TeilMOMIK

Das war so: einige Monate, nachdem Großmutter Henny gestorben war und man sie in der Erde begraben hatte, bekam Momik einen neuen Großvater. Dieser Großvater trat im Monat Schwat des Jahres 5317, was nach dem anderen Kalender das Jahr 1959 ist, auf den Plan, aber nicht mit Hilfe der Radiosendung »Grüße an Neueinwanderer«, die Momik sich jeden Tag beim Mittagessen zwischen eins und halb zwei aufmerksam anhören mußte für den Fall, daß einer der Namen erwähnt wurde, die der Vater ihm auf ein Blatt Papier geschrieben hatte; nein, der Großvater kam in einem blauen Magen-David-Ambulanzwagen, der eines nachmittags mitten im Regensturm vor dem Café und Lebensmittelladen von Bella Markus hielt. Ein dicker, braungebrannter Mann stieg aus, kein »Schwarzer«, sondern einer von uns, und fragte Bella, ob sie die Familie Neuman kenne, und Bella erschrak und wischte sich rasch die Hände an ihrer Schürze ab und sagte, Ja, ja, ist Gottbehüte etwas passiert? Und der Mann sagte, Kein Grund zu Aufregung, gnädige Frau, nichts ist passiert, was soll denn passiert sein, ich Ihnen nur ein Verwandten gebracht, und er zeigte mit dem Daumen nach hinten zum Ambulanzwagen, der ganz verlassen und leer aussah, und Bella wurde plötzlich weiß wie die Wand, obwohl jeder weiß, daß sie sich vor nichts fürchtet, aber sie ging trotzdem nicht zum Ambulanzwagen, sondern rückte näher an Momik heran, der an einem der kleinen Tische seine Bibelhausaufgaben machte, und sagte, Wej is mir, wieso plötzlich einen Verwandten? Und der Mann sagte, Nu, gnädige Frau, ich nicht viel Zeit, wenn Sie also diese Leute kennen, dann Sie mir vielleicht sagen, wo sie sind, denn bei sie zu Hause ist keiner. Er machte Fehler, obwohl er wie ein Alteingesessener aussah, und Bella meinte sofort, Natürlich ist jetzt niemand zu Hause, die Neumans sind doch keine Parasiten, das sind Leute, die hart arbeiten für ihr Brot, von morgens bis abends arbeiten sie in der Lottobude zwei Straßen weiter, und der Kleine da, der ist ihr Junge, und warten Sie einen Augenblick, mein Herr, ich geh sie schon holen. Und Bella lief davon, sie legte nicht einmal ihre Schürze ab, und dann sah der Mann zu Momik hin und zwinkerte ihm zu, und als Momik ihm kein Zeichen zurückmachte, weil er genau wußte, wie man sich bei fremden Leuten, die man nicht kennt, verhalten soll, zuckte der Mann mit den Achseln und begann in der Zeitung zu lesen, die Bella liegengelassen hatte, und sagte in die Luft, daß es trotz des Regens, der jetzt falle, ein Dürrejahr geben werde, Na, das hat uns noch gefehlt. Aber Momik, der sonst ein wohlerzogener Junge war, blieb nicht sitzen, um ihm zuzuhören, sondern lief zum Ambulanzwagen und kletterte die hintere Treppe hinauf, wischte den Regen von der kleinen runden Fensterscheibe und schaute hinein, und dort sah er den ältesten Mann der Welt wie, sagen wir mal, einen Fisch im Aquarium schwimmen. Er trug einen blau gestreiften Pyjama, und er war runzlig wie Großmutter Henny, bevor sie starb. Seine Haut war ein bißchen gelb und ein bißchen braun wie die einer Schildkröte und an Hals und Armen, die sehr dünn waren, ganz schlaff, sein Kopf war ganz kahl und seine Augen blau und leer. Er schwamm energisch durch die Luft des Ambulanzwagens, und Momik mußte plötzlich an den traurigen Schweizer Bauern von Tante Itke und Onkel Schimek denken, der in einer kleinen Glaskugel mit Schneeflocken eingesperrt war, die Momik aus Versehen zerbrochen hatte, doch jetzt öffnete er ohne viel nachzudenken die Tür, erschrak aber, als er hörte, wie der Mann mit sich selbst redete: mit einer merkwürdigen Stimme, die mal hoch und mal tief war, mal voller Begeisterung, dann plötzlich fast weinerlich, als spiele er Theater oder erzähle jemandem eine ganz unglaubliche Geschichte, und plötzlich, und das war wirklich schwer zu verstehen, war sich Momik tausend Prozent sicher, daß der alte Mann Anschel war, der kleine Bruder von Großmutter Henny, das heißt Mutters Onkel, von dem alle sagten, daß Momik ihm ähnlich sehe, besonders um Kinn, Stirn und Nase, und der Kindergeschichten für Zeitungen im Ausland schrieb, aber Anschel war doch bei den Nazis gestorben, möge-ihr-Name-ausgelöscht-werden, und der da sah sehr lebendig aus, und Momik hoffte, daß die Eltern einverstanden sein würden, ihn zu Hause großzuziehen, denn nachdem Großmutter Henny gestorben war, hatte die Mutter gesagt, sie wolle nur eines, nämlich ihr Leben in Ruhe zu Ende leben, und genau in diesem Augenblick kam sie, wirklich schade, daß Momik bei dem Alten nicht an den Messias gedacht hatte, und hinter ihr humpelte auf kranken Beinen (bei Marilyn Monroe waren die Beine ein Glück) Bella und rief der Mutter auf jiddisch zu, sie solle sich beruhigen und den Jungen nicht erschrecken, und hinter der Mutter und Bella trottete schwerfällig der Vater, der Riese, schnaufend und keuchend und rot im Gesicht, und Momik dachte, daß es wirklich eine ernste Sache sein mußte, wenn beide zusammen die Lottobude verließen. Gut, jedenfalls faltete der Fahrer der Ambulanz ganz langsam die Zeitung zusammen und fragte, ob sie die Neumans seien, die Verwandten von Henny Minz, Gott hab sie selig, und die Mutter sagte mit seltsamer Stimme, Ja, sie war meine Mutter, was ist passiert, und der dicke Fahrer sah sie mit einem breiten Lächeln an und sagte, Nichts ist passiert, was soll denn passiert sein, warum immer erwarten alle, daß etwas passiert, ich Ihnen nur den Großvater gebracht, masel tov. Und dann gingen sie alle zum Ambulanzwagen, und der Fahrer öffnete die hintere Tür und stieg ein und hob den Alten mühelos auf die Arme, und die Mutter sagte Oij, das kann nicht sein, es ist Anschel, und sie begann so zu schwanken, daß Bella ins Café lief und ihr gerade noch rechtzeitig einen Stuhl brachte, und der Fahrer meinte noch einmal, daß es keinen Grund zur Aufregung gebe, Wir haben Sie doch Gottbehüte nichts Schlechtes gebracht, und nachdem er den Alten auf den Boden gesetzt hatte, gab er ihm einen freundlichen Klaps auf den dünnen Rücken, der ganz krumm war, und sagte zu ihm, Nu, Herr Wasserman, da haben Sie Ihre Mischpoche, und zu Momiks Eltern meinte er, Zehn Jahre bei uns im Irrenhaus in Bat-Jam, und wir ihn nie verstanden, immer er singt und redet zu sich selbst, wie jetzt, vielleicht er betet, wer weiß, und er hört gar nicht, was man zu ihm sagt, wie ein Tauber, nebbich, also das ist Ihre Mischpoche! schrie er dem Großvater ins Ohr, um allen zu beweisen, daß dieser wirklich taub war, Ach, wie ein Stein, wer weiß, was sie mit ihm gemacht haben dort, möge-ihr-Name-ausgelöscht-werden, nu, wir wissen nicht mal, wo er war, in welchem Lager oder was, man hat uns Menschen in noch viel schlimmerem Zustand gebracht, das sollten Sie sehen, nein, besser nicht, aber dann, vor etwa einem Monat, da macht er plötzlich Mund auf und nennt Namen von alle mögliche Leute, und auch Namen von Frau Henny Minz, und unser Direktor, er macht kleine Untersuchung wie, sagen wir, ein Detektiv, und findet heraus, daß alle Leute, deren Namen genannt sind, schon gestorben sind, Gott hab sie selig, und er findet auch, daß Frau Henny Minz hier in Beit-Masmil in Jerusalem eingetragen ist, und auch sie schon tot ist, Gott hab sie selig, also sind Sie seine einzigen Verwandten, nu, gesünder wird er wohl nicht mehr werden, der Herr Wasserman, und er kann schon fast allein essen, und, verzeihen Sie, sein Geschäft macht er ganz gut allein, und nebbich, unser Staat ist nicht so reich, und die Ärzte meinen, daß man ihn in sein Zustand auch zu Hause pflegen kann, und Familie ist Familie, richtig? Hier haben Sie also die Tasche mit all seinem Sach, die Kleidern und Attesten und Dokumenten und auch die Rezepten für die Medikamenten, die er nimmt, er ist wirklich sehr bequem und still, außer diesen Bewegungen und Geräuschen, die er tut, aber das ist nichts Schlimmes, bei uns hatten alle ihn gern, er war Melawsky-Familienchor genannt, weil er die ganze Zeit singt, das ist ein Witz, verstehen Sie, Jetzt sag deinen Kindern Guten Tag! schrie er dem Alten ins Ohr, Ach, nichts, wie ein Stein, so, Herr Neuman, unterschreiben Sie da und da und da, daß Sie ihn von mir bekommen haben, vielleicht haben Sie Personalausweis bei sich? Nein? Macht nichts, ich glaub Ihnen auch so. Nu, schoijn, masel tov, das ist ein glücklicher Tag, glaub ich, wie wenn ein Baby geboren wird, ja ja, Sie werden sich schon an ihn gewöhnen, nu, jetzt muß ich aber wieder nach Bat Jam zurück, es gibt noch viele Arbeit dort, Gott sei Dank, Aufwiedersehen, Herr Wasserman, vergessen Sie uns nicht! Er lachte dem Alten ins Gesicht, der ihn gar nicht zu bemerken schien, stieg in den Ambulanzwagen und fuhr schnell davon.

Bella lief in den Laden und holte ein Stück Zitrone, um der Mutter zu helfen, wieder zu Kräften zu kommen. Der Vater stand reglos da und starrte in den Regen, der in das leere Beet rann, in das die Stadtverwaltung wieder keine Kiefer gepflanzt hatte. Der Regen lief der Mutter, die mit geschlossenen Augen auf dem Stuhl saß, über das Gesicht. Sie war so klein, daß ihre dicken Füße den Boden nicht berührten. Momik ging zu dem alten Mann, nahm ihn an der dünnen Hand und führte ihn behutsam unter das kleine Vordach von Bellas Café. Momik und der Alte waren fast gleich groß, weil der Alte ganz krumm war und noch dazu einen kleinen Buckel hatte. Und dann sah Momik plötzlich, daß eine Nummer auf dem Arm des neuen Großvaters geschrieben stand, wie auf Vaters und Tante Itkes und Bellas Arm, aber er sah gleich, daß es eine andere Nummer war, und er begann sofort, sie auswendig zu lernen. Inzwischen war Bella mit der Zitrone zurückgekommen und begann damit Stirn und Schläfen der Mutter einzureiben, die Luft duftete, und Momik wartete unter dem Vordach, denn er wußte, daß die Mutter nicht so schnell aufwachen würde.

Und genau da kamen Max und Moritz die Straße herunter, die in Wirklichkeit Ginzburg und Seidman hießen, obwohl sich niemand mehr daran erinnerte, außer Momik, der sich an alles erinnerte. Die beiden Alten waren unzertrennlich. Sie lebten im Lagerraum von Haus 12 und füllten ihn mit Lumpen und allem möglichen Gerümpel, das sie überall zusammensammelten. Als die Männer von der Stadtverwaltung kamen, um sie aus dem Lagerraum zu werfen, schrie Bella so laut, daß sie sich sofort wieder aus dem Staub machten. Max und Moritz redeten mit niemandem außer miteinander. Ginzburg, der schmutzig war und stank, ging die ganze Zeit herum und fragte, Wer bin ich wer bin ich, er hatte bei den Nazis sein Gedächtnis verloren, möge-ihr-Name-ausgelöscht-werden, und der Kleine, Seidman, lächelte alle Leute an, und man sagte, er sei innen leer. Der eine rührte sich nicht ohne den anderen, der dunkle Ginzburg ging immer voran, gefolgt von Seidman, der eine schwarze Aktentasche in der Hand trug, die kilometerweit stank, und in die Luft lächelte. Wann immer Momiks Mutter die beiden kommen sah, flüsterte sie schnell Oif alle puste Felder, oif alle wiste Wälder, möge ein Unglück kommen über alle leeren Felder und alle wüsten Wälder, und natürlich verbot sie Momik, ihnen zu nahe zu kommen, aber er wußte, daß die beiden in Ordnung waren, weil Bella nicht zuließ, daß man sie aus dem Lagerraum warf, obwohl auch sie den beiden aus Spaß alle möglichen Namen gab: Mupim und Chupim und Pat und Patachon – Mickymäuse aus den Zeitungen von Dort, wo sie alle herkamen.

Die beiden kamen also die Straße herunter, aber diesmal schienen sie seltsamerweise vor niemandem Angst zu haben, sie kamen ganz nahe heran, stellten sich direkt vor den Großvater hin und sahen ihn sich genau an. Momik beobachtete den Großvater und sah, daß seine Nase ein wenig zuckte, als rieche er die beiden, was keine Kunst war, denn Ginzburg konnte man sogar ohne Nase riechen, aber das war etwas anderes, denn plötzlich hörte der Großvater mit seinem Singsang auf und starrte die beiden Dummköpfe an, das war noch ein Name, den die Mutter ihnen gab, und Momik sah, wie die drei Alten auf einmal ganz steif wurden, als fühlten sie etwas Gemeinsames, und dann wandte sich der neue Großvater plötzlich wütend von ihnen ab, als habe er kostbare Zeit vergeudet, die er nicht vergeuden durfte, und sang wieder seine nervtötende Melodie, schien nichts zu sehen und ruderte heftig mit den Armen, als schwimme er in der Luft oder spreche mit jemandem, der nicht da war. Max und Moritz starrten ihn an, und der Kleine, Seidman, begann die gleichen Geräusche und Bewegungen zu machen wie der Großvater, er machte den Leuten immer alles nach, und Ginzburg knurrte wütend und ging davon, und Seidman folgte ihm, und die beiden sind auch immer zusammen, wenn Momik sie für die Briefmarken des Königreichs zeichnet.

Also gut, die Mutter stand auf, sie war kreidebleich und schwankte kraftlos, und Bella umklammerte ihren Arm und sagte, Lehn dich an mich, Gisela, und die Mutter sah nicht einmal zum neuen Großvater hin und sagte zu Bella, Das wird mich umbringen, merk dir meine Worte, warum läßt uns Gott nicht in Ruhe, damit wir ein bißchen leben können, und Bella sagte, Tfu, tfu, wie redest du denn, Gisela, das ist doch keine Katze, sondern ein lebender Mensch, es ist nicht schön, so zu reden, und Mutter sagte, Nicht genug, daß ich eine Waise bin, nicht genug, daß wir in letzter Zeit so viel gelitten haben mit meiner Mutter, jetzt fängt alles wieder von vorne an, sieh nur, wie er ausschaut, er ist gekommen, um bei mir zu sterben, dazu ist er hierher gekommen, und Bella sagte, Scha, scha, und nahm ihre Hand, und die beiden gingen an dem neuen Großvater vorbei, und die Mutter sah ihn nicht einmal an, und dann hustete der Vater, Eh, nu, was stehen wir hier herum, und legte mutig seine Hand auf die Schulter des Alten und sah Momik mit leicht verlegenem Gesicht an, und dann führte er den Alten weg, und Momik, der schon beschlossen hatte, ihn Großvater zu nennen, auch wenn er nicht sein richtiger Großvater war, sagte sich, wenn der Alte nicht gestorben ist, als Papa ihn mit seinen Händen berührt hat, dann bedeutet das wohl, daß, wer von Dort kommt, unverletzbar ist.

Momik stieg noch am selben Tag in den Keller hinunter und machte sich auf die Suche. Er fürchtete sich, in den Keller zu gehen, weil es dort immer dunkel und dreckig war, aber diesmal mußte er hinunter. Zwischen den großen Eisenbetten und den Matratzen, aus denen das Stroh hervorquoll, zwischen den Kleiderbündeln und Schuhhaufen stand auch Großmutter Hennys kifat, eine große, gut verschnürte Kiste, in der alle Kleider und Sachen lagen, die sie von Dort mitgebracht hatte, dazu das Gebetbuch Teitasch Chumasch, das auch Zenna u’Renna hieß, und das große Brett, auf dem sie den Teig machte, und vor allem die drei Säcke mit Gänsefedern, die sie durch die halbe Welt geschleppt hatte, in Schiffen und Zügen und unter den größten Gefahren, nur damit sie in Erez Israel eine Daunendecke daraus machen konnte, um ihre Füße warmzuhalten. Als sie jedoch ankam, stellte sich heraus, daß Tante Itke und Onkel Schimek, die vor ihr ins Land gekommen und sofort reich geworden waren, bereits eine doppelte Daunendecke gekauft hatten, also blieben die Federn im Keller, wo sie ziemlich schnell von Schimmel und anderen choleras befallen wurden, aber bei uns wird so etwas nicht weggeworfen, doch die Hauptsache war, daß sich ganz unten in der kifat ein Heft befand mit allen möglichen Dingen, die die Großmutter auf jiddisch aufgeschrieben hatte, alle ihre Erinnerungen, als sie noch ihr Gedächtnis hatte, aber Momik erinnerte sich auch, daß ihm die Großmutter einmal, noch bevor er lesen konnte und bevor er ein alter kopp wurde, der Kopf eines klugen alten Mannes, eine Seite aus einer uralten Zeitung gezeigt hatte, auf der eine Geschichte abgedruckt war, die ihr Bruder, also Anschel, vor hundert Jahren (ungefähr) geschrieben hatte, aber die Mutter hatte sich über Großmutter Henny aufgeregt, weil sie dem Kind den Kopf verdrehe mit Dingen, die schon vergangen seien und nicht mehr erwähnt werden sollten. Das Zeitungsblatt lag tatsächlich noch im Heft, aber als Momik es in die Hand nehmen wollte, zerbröselte ein Stück, also ließ er es zwischen den Seiten des Heftes, und sein Herz klopfte, und er setzte sich auf die kifat, um sie wieder zuzuschnüren, doch er war zu leicht dafür, ließ sie offen und wollte dann schnell aus dem Keller heraus, aber da hatte er plötzlich eine Idee, die so merkwürdig war, daß er auf der Stelle stehenblieb und vergaß, was er als nächstes tun wollte, aber sein Pimmel erinnerte ihn wieder daran, er schaffte es jedoch nicht mehr bis nach oben und mußte schon auf der Treppe pinkeln, das war immer so, wenn er in den Keller hinunterstieg.

Also gut, es gelang ihm, das Heft ins Haus zu bringen, ohne daß es jemand merkte. Er lief sofort in sein Zimmer, öffnete das Heft und sah, daß das Blatt unterwegs noch mehr zerfallen war, die obere Ecke war schon abgebröckelt, und Momik wußte, daß er sofort alles, was auf dem Blatt geschrieben stand, auf ein anderes Blatt abschreiben mußte, sonst war alles verloren. Er holte sein Spionageheft unter der Matratze hervor und begann sofort aufgeregt, die Geschichte auf dem zerrissenen Zeitungsblatt Wort für Wort abzuschreiben:

»DIE KINDER DES HERZENS« RETTEN DIE ROTHÄ GESCHICHTE IN FÜNFZIG KAPITELN VON DEM POPUL SCHRIFTSTELLER ANSCHEL WASSERMAN »SCHEHERE KAPITEL XXVII

Oh treuer Leser! Beim vorigen Mal haben wir die Kinder des Herzens zurückgelassen, als sie sich auf den Schwingen der »Zeit-und-Raum-Maschine« pfeilschnell zum kleinen Licht, dem Mond, begaben. Die Beschaffenheit dieser wundervollen Maschine, ein Produkt der Geistesgaben des klugen Knaben Sergej, Meister der Technik und Elektrizität, wurde bereits im vorherigen Kapitel ausgiebig erörtert, auf das wir unseren treuen Leser verweisen möchten, sollte ihm dieses oder jenes Detail entfallen sein. Und an Bord der Maschine, zusammen mit den Kindern der Bande, weilten auch die Männer des Navajo-Stammes, die Rothäute waren, und an ihrer Spitze ihr stolzer König, der den Namen Rotstrumpf trug (der werte Leser wird sich sicherlich an die Vorliebe der Rothäute für solch phantastische Namen erinnern, die bei uns vielleicht nur ein Lächeln hervorrufen!), und alle zusammen flohen sie vor der Grausamkeit jener Übeltäter, die ihnen das Land ihrer Vorväter zu rauben gedachten und deren Anführer John Lee Stewart war, ein blutrünstiger Verbrecher und Eingeborener des Landes England. Und daher befanden sie sich nun alle auf dem Weg zum Mond, um dort in ihrer Not Zuflucht und Trost zu suchen und ein neues Blatt in dem Heft ihres unglückseligen Lebens zu schreiben. Sehet! Die wundersame Maschine zog an den Sternen vorbei, sie durchquerte die Ringe des Saturn und wurde dabei von den Strahlen der Blitze erleuchtet, und sie war so geschwinde wie das Licht! Und während sie noch dahinzogen, bemühte sich Otto Brigg, der Erste und Beste unter den Kindern des Herzens, die Gemüter der Rothäute zu beschwichtigen, die gerade erst aus des Feindes Händen errettet und in der Feuerkutsche zum Himmel emporgetragen worden waren, und er erzählte ihnen von den Kindern des Herzens und ihren wundersamen Taten, die der treue Leser bereits in allen Einzelheiten kennt und mit denen wir ihn daher nicht ermüden wollen. Und Ottos kleine Schwester, die gütige Paula mit dem goldenen Haar, bereitete den Gästen ein labendes Mahl, um ihre gemarterte Seele zu erquicken und ihre bedrückte Stimmung zu heben. Und Albert Fried, der schweigsame Knabe, saß derweil zurückgezogen im Steuerraum und kontemplierte die wichtige Frage, ob Lebewesen auf dem Boden des Mondes schreiten können, denn wie mein werter Leser sehr wohl weiß, ist Albert mit jeglicher Art von Lebewesen vertraut, von Läuse-Eiern bis zu gehörnten Büffeln, und er vermag mit jedem von ihnen in seiner eigenen Sprache zu reden, so wie König Salomon zu seiner Zeit, und er machte sich geschwind auf die Suche nach seinem kleinen Notizheft, in das er alle wissenschaftlichen Fakten eintragen wollte, die er alsbald beobachten würde, denn unser Freund liebte die Ordnung, und es würde den jungen Lesern wohl bekommen, wenn sie in allem, was sie täten, seinem Beispiel folgen würden. Und während er noch schrieb, drang ihm der süße Klang einer Flöte zu Ohren, und dies verwunderte ihn sehr, und er erhob sich und begab sich zum Passagierraum und blieb im Eingang stehen, erstaunt über den Anblick, der sich seinem Auge bot: Denn dort stand Herotion, der kleine Armenier, ein Zauberer, bewandert in allen Werken der Magie und Zauberei, und spielte der Gesellschaft auf seiner Flöte vor, und die Klänge, die er dem Instrument entlockte, linderten die Herzensangst der Rothäute und beruhigten die Furchtsamen unter ihnen. Die Flötenklänge spendeten allen Trost, und das war nicht verwunderlich: Denn Herotion selbst war vor einigen Jahren von den Kindern des Herzens gerettet worden, als die Türken aus dem Türkenland über sein Dorf in den Bergen Armeniens herfielen, und Herotion war der einzige aus dem Dorf, der am Leben blieb, wie dem treuen Leser ausführlich in der abenteuerlichen Geschichte »Die Kinder des Herzens retten das armenische Volk« geschildert wird, und daher wußte der Knabe Herotion sehr wohl um die Gefühle der just Erretteten. Und während er auf seiner Flöte spielte, verdunkelte plötzlich eine schwere Wolke des Kummers das Gesicht des Knaben Sergej, der auf Deck Wache stand mit einem Fernglas in der Hand, das alles tausendzweihundertfach vergrößerte. Und Sergej rief: »Wehe, ein Unglück kommt über uns! Sehet den Mond!« Und sie sahen auf und wurden von Grauen gepackt. Da blickte Otto, ihr Anführer, schnell durch das Fernglas, und sein Herz stand still und sein Gesicht wurde totenbleich. Paula ergriff seine Hand und rief: »In Gottes Namen, Otto, was war es, das du gesehen hast?« Doch Ottos Zunge war schwer wie Blei und er konnte nichts erwidern, nur sein Gesicht bezeugte gleich tausend Zeugen das Böse, das sie nun heimzusuchen drohte, und vielleicht, oh welch Grauen, lauerte der Tod im Fenster.

Fortsetzung in der nächsten Wochenausgabe von »Kleine Lichter«

Das war die Geschichte, die Momik in der Zeitung fand, und in dem Augenblick, als er sie in sein Spionageheft abzuschreiben begann, wußte er, daß es die spannendste Geschichte war, die je geschrieben wurde, und das Blatt hatte den Geruch von tausend Jahren und sah genau so aus wie eine Seite aus der Bibel, und auch die Wörter sahen biblisch aus, und Momik wußte, daß er nie alles verstehen würde, auch wenn er die Geschichte tausendmal las, denn um die Geschichte zu verstehen, brauchte man Kommentare, zum Beispiel von Raschi oder so, von irgend jemand, der diese Sprache verstand, denn heute redete keiner mehr so, außer Großvater Anschel vielleicht, aber auch ohne jedes einzelne Wort zu verstehen wußte Momik, daß diese Geschichte der Anfang war von allen Dingen und von allen Büchern auf der Welt, und daß alle Bücher, die danach geschrieben wurden, nur jämmerliche Nachahmungen dieser einen Seite waren, die Momik glücklicherweise entdeckt hatte wie einen verborgenen Schatz, und ihm war klar, daß er, wenn er diese Seite erst einmal verstehen gelernt hatte, alles wissen würde, und dann müßte er nicht mehr zur Schule gehen, also machte er sich sofort daran, die Geschichte auswendig zu lernen, Köpfchen hatte er ja, Gott sei Dank, innerhalb einer Woche hatte er sie auswendig gelernt, und jedesmal vor dem Schlafengehen wiederholte er laut »Herotion, der kleine Armenier, ein Zauberer, bewandert in allen Werken der Magie und Zauberei, spielte auf seiner Flöte« usw., und auch in der Schule tat er das, bis er allmählich so gefesselt war von der Geschichte, daß er nicht aufhören konnte, darüber nachzudenken, was die furchtbare Sache war, die sie durch das Fernglas auf dem Mond gesehen hatten, und manchmal versuchte er selber, ein Ende für die Geschichte auszudenken, aber er wußte, daß nur Großvater Anschel ein wahres biblisches Ende erfinden konnte, doch Großvater Anschel tat es nicht.

Die Mutter und der Vater beschlossen, daß der Großvater in dem kleinen Zimmer wohnen sollte, das früher Großmutter Henny gehört hatte, aber das war auch das einzige, worin sie übereinstimmten. Er konnte nicht eine halbe Minute stillsitzen, plapperte sogar im Schlaf und wälzte sich und fuchtelte mit den Armen. Bald stellte sich heraus, daß man ihn nicht im Haus einsperren konnte, weil er sonst zu weinen und zu schreien anfing, deshalb ließen sie ihn frei herumgehen, soviel er wollte. Wenn die Mutter und der Vater morgens das Haus verließen und Momik zur Schule ging, wanderte Großvater Anschel die Gasse auf und ab, und wenn er müde wurde, setzte er sich auf die grüne Bank gegenüber Bellas Café und redete vor sich hin. Er wohnte genau fünf Monate bei Momik und dessen Eltern, dann verschwand er. Gleich in der ersten Woche nach Großvaters Ankunft zeichnete Momik Bilder von ihm für die Briefmarken des Königreichs und schrieb unter die Zeichnung (zu Großvaters Ehren): »Anschel Wasserman. Hebräischer Schriftsteller, im Holocaust umgekommen.« Bella erinnerte ihn sanft, Me darf pischen, Herr Wasserman, und führte ihn wie ein kleines Kind auf die Toilette. Bella war ein wahrer Engel des Himmels. Ihr Mann, Cheskel Markus, war vor vielen Jahren gestorben und hatte sie allein mit Jehoschua zurückgelassen, einem schwierigen Kind, das halb meschugge war, aber mit ihren beiden Händen machte Bella ohne fremde Hilfe einen hohen Offizier und Akademiker aus ihm. Außer Jehoschua hinterließ ihr Cheskel seinen Vater, den alten Herrn Markus, der – soll er sajn gesund un stark – krank und schwach war und nicht wußte, was mit ihm geschah, und kaum mehr aus dem Bett stieg; und Bella, die Cheskel wie eine Königin behandelt hatte – er ließ nicht einmal zu, daß sie ein Glas von hier nach dort bewegte –, saß keineswegs den ganzen Tag lang mit hochgelegten Beinen im Haus, nachdem er gestorben war, sondern ging in dem kleinen Lebensmittelladen arbeiten, um wenigstens die Stammkunden nicht zu verlieren, und erweiterte den Laden sogar, stellte zusätzlich drei kleine Tische auf, kaufte einen Sodahahn und eine Kaffeemaschine und stand von morgens bis abends auf den Beinen und spuckte Blut, nur ihr Kissen wußte, wie viele Tränen sie vergoß, aber Jehoschua mußte niemals hungrig schlafen gehen, und von schwerer Arbeit ist noch keiner gestorben.

Bella servierte in ihrem Café ein leichtes und erlesenes Frühstück und »hausgemachtes Mittagessen für Feinschmecker«. Momik erinnerte sich genau an diese Worte, denn er hatte Bella drei Mal das Menü geschrieben (es gab drei Tische) und auch Leute auf die Karte gemalt, die dick waren und lächelten, weil das Essen bei Bella so gut schmeckte. Es gab natürlich auch hausgemachte Kuchen, die frischer waren als Bella, wie sie jedem sagte, der sie danach fragte; das Problem war nur, daß sehr wenige fragten, denn es kamen außer den marokkanischen Bauarbeitern, die um zehn Uhr morgens von den neuen Wohnsiedlungen in Beit-Masmil vorbeikamen, um eine Flasche Milch und etwas Brot und Joghurt zu kaufen, und einigen Stammkunden aus der Nachbarschaft und Momik natürlich, kaum Leute ins Café. Momik kam ohne Geld. Andere Leute kauften nicht mehr bei Bella ein, seit man im Einkaufszentrum einen neuen, modernen Supermarkt gebaut hatte, und wer dort für drei Pfund einkaufte, erhielt einen Korkuntersetzer als Geschenk, als tue man sein Leben lang nichts anderes, als seinen Tee auf einem Untersetzer abzustellen wie bei der Prinzessin. Und jetzt rennen alle dorthin, als würde man Gold verteilen und nicht geräucherten Fisch und Rettich verkaufen, und außerdem bekommt dort jeder so einen Wagen aus Eisen, sollen sie ruhig alle mit diesem Wagen rumfahren, sagt Bella, ohne wirklich böse zu sein, und jedesmal, wenn sie über den Supermarkt spricht, wird Momik rot und schaut in die andere Richtung, denn manchmal geht er dorthin und sieht sich die vielen Lichter an und all die Sachen, die es dort zu kaufen gibt, und wie die Kassen klingeln und wie man die Karpfen im Fischbecken tötet, aber es macht Bella nichts aus, daß alle Kunden sie im Stich gelassen haben (sagt Bella), und auch nicht, daß sie nie mehr reich sein wird; na und, ißt Rockefeller etwa zwei Mittagessen? Schläft Rothschild in zwei Betten? Nein! Aber was ihr Sorgen macht, ist das Nichtstun und die Langeweile, und wenn das noch lange so weitergeht, wird sie sogar Fußböden schrubben gehen, nur um nicht den ganzen Tag lang einfach herumsitzen zu müssen, denn was kann sie schon machen, nach Hollywood wird sie dieses Jahr wohl nicht mehr fahren, wahrscheinlich wegen ihrer Beine, also kann Marylin Monroe beruhigt weiterschlafen mit ihrem neuen jüdischen Ehemann. Bella sitzt den ganzen Tag an einem der leeren Tische, liest die Frauenillustrierte »La-Ischa« und die Tageszeitung »Jedioth Acharonot« und raucht eine Savion-Zigarette nach der anderen. Sie hat vor nichts Angst, und sie sagt immer genau das, was sie denkt. So war es auch, als die zwei Beamten von der Stadtverwaltung kamen, um Max und Moritz aus dem Lagerraum zu werfen. Bella sagte ihnen so gehörig die Meinung, daß die beiden ihr Leben lang ein schlechtes Gewissen haben würden, sogar vor Ben-Gurion fürchtete sie sich nicht und nannte ihn »den kleinen Diktator aus Plonsk«, wenn sie über ihn sprach, aber sie redete nicht immer so, denn man darf nicht vergessen, daß auch sie, wie alle Erwachsenen, die Momik kannte, aus dem Land kam, das Land Dort hieß und über das man nie zu viel reden durfte, man durfte nur heimlich daran denken und einen langen krechz ausstoßen, oijoijoij, wie sie alle immer seufzten. aber Bella war irgendwie anders, und Momik hatte von ihr ein paar sehr wichtige Dinge über jenes Land gehört, und obwohl sie natürlich nichts verraten durfte, gab sie ihm trotzdem ein paar Hinweise hinsichtlich des Hauses, das ihre Eltern im Land Dort besessen hatten, und es war Bella, von der Momik zum ersten Mal etwas über die Nazi-Bestie hörte.

Na schön, um die Wahrheit zu sagen, Momik dachte zuerst, daß Bella tatsächlich irgend so ein phantastisches Ungeheuer meinte, oder einen Riesendinosaurier, der einmal auf der Erde gelebt hatte und vor dem sich alle fürchteten. Aber er traute sich nicht, nach was und wie zu fragen. Und dann, als der neue Großvater kam und es den Eltern noch elender ging und sie nachts noch mehr litten und schrien und es schon nicht mehr zum Aushalten war, beschloß Momik, Bella doch zu fragen, und Bella antwortete ihm mürrisch, daß es Gott sei Dank noch ein paar Dinge gebe, die ein neunjähriger Junge noch nicht zu wissen brauche, und sie öffnete ihm wie immer ärgerlich den obersten Knopf am Hemd und sagte, sie ersticke, wenn sie ihn so zugeknöpft sehe, aber Momik beschloß, hartnäckig zu bleiben und fragte sie ganz direkt, was für ein Tier die Nazi-Bestie sei (denn er wußte ganz genau, daß es keine phantastischen Tiere auf der Welt gab und bestimmt keine Dinosaurier), und Bella stieß den Rauch ihrer Zigarette aus und drückte sie dann im Aschenbecher aus und seufzte und sah ihn an und kniff ihre Lippen zusammen und wollte es nicht sagen, aber ihr entschlüpfte trotzdem, daß die Nazi-Bestie im Grunde genommen aus jedem Tier herauskommen könne, wenn man es nur richtig pflegte und fütterte, und dann zündete sie sich rasch eine neue Zigarette an, und ihre Finger zitterten ein wenig, und Momik sah, daß er nichts mehr aus ihr herausholen würde, und er ging nachdenklich auf die Straße, schleifte seine Schultasche auf dem nassen Bürgersteig hinter sich her und knöpfte geistesabwesend seinen obersten Hemdknopf zu, dann blieb er stehen und betrachtete seinen Großvater Anschel, der wie immer auf der grünen Bank auf der anderen Straßenseite saß, in sich versunken war und mit den Armen fuchtelte, während er mit jenem Unsichtbaren diskutierte, der ihm keinen Augenblick Ruhe gab, aber das Interessanteste war, daß der Großvater nicht mehr allein auf der Bank saß.

Es war nämlich so, daß er in den letzten Tagen, ohne es zu merken, alle möglichen Leute anzog. Und das waren ausgerechnet alle alten Leute, die man vorher in der Nachbarschaft kaum bemerkt hatte, und wenn man sie doch bemerkt hatte, sich bemühte, nicht über sie zu reden – Ginzburg und Seidman zum Beispiel, die sich vor Großvater hinstellten und ihm ins Gesicht starrten, woraufhin Seidman sofort anfing, Bewegungen wie Großvater zu machen, denn er macht immer alles nach, und dann kam Jedidja Munin, der in der leeren Synagoge zusammen mit allen ermordeten Heiligen wohnte und dort auch schlief. Jedidja Munin war derjenige, der wegen eines Leistenbruchs immer mit gespreizten Beinen ging und der zwei Paar Brillen übereinander trug, ein Paar für die Sonne und ein Paar nicht für die Sonne, Kinder durften ihm unter keinen Umständen zu nahe kommen, weil er unanständig war, aber Momik wußte, daß Munin eigentlich ein guter Mensch war, denn alles, was er im Leben wollte, war, eine Frau aus vornehmer und angesehener Familie zu lieben und mit ihr Kinder zu machen auf eine Art, die nur er kannte, und darum schnitt ihm Momik heimlich jeden Freitag aus Bellas Zeitung die Heiratsannoncen der bekannten modernen Heiratsvermittlerin Frau Esther Levin aus, der führenden Expertin des Landes für Kontakte mit Touristen aus dem Ausland, aber das durfte Gottbehüte niemand wissen. Und dann kam Herr Aaron Markus, der Vater von Bellas Cheskel, den man seit zehn Jahren nicht mehr gesehen hatte und zu dem die Nachbarn schon kaddisch gesagt hatten, und siehe da, er lebte und war schön und elegant gekleidet (gut, Bella wird ihn nicht wie einen Bauern auf die Straße gehen lassen), nur sein Gesicht, so helf ihm Gott, verzerrte und verzog sich die ganze Zeit zu tausend seltsamen Grimassen, die man besser nicht sehen sollte. Und dann kam Frau Chana Zitrin, deren Ehemann, der Schneider, möge-sein-Name-ausgelöscht-werden, sie verlassen hatte, da war sie nun, eine leibhaftige Witwe, die immer schrie und zeterte, und ein Glück, daß die Wiedergutmachungszahlungen kamen, sonst wäre sie Gottbehüte vor Hunger gestorben, denn der Schneider, psiakrew, Hundeblut, ließ ihr nicht einmal das bißchen, das er unter dem Fingernagel hatte, alles nahm er ihr, möge die Cholera ihn holen, und Frau Zitrin ist eine sehr gute Frau, aber sie ist auch eine Hure und paart sich mit den schwarzes – a schwarz juhr ojf ir, ein schwarzes Jahr auf sie –, wie Mama immer zu sagen pflegt, wenn sie an ihr vorbeigeht, und Frau Zitrin macht das wirklich mit Sasson Sasson, dem Verteidiger der Fußballmannschaft Hapoel Jeruschalijm, und mit Viktor Arussi, dem Taxifahrer, und auch mit Asura, der eine Metzgerei im Einkaufszentrum hat und dessen Haare immer voller Federn sind, er sieht eigentlich wie ein netter Kerl aus, der sich nicht paart, aber alle wissen, daß er es doch tut. Und am Anfang hatte Momik einen schwarzen Haß auf Chana und schwor sich, nur ein Mädchen aus vornehmer und angesehener Familie wie in Esther Levins Heiratsannoncen zu heiraten, eine, die ihn wegen seines guten Aussehens und seiner Klugheit und seiner Schüchternheit lieben und sich auf keinen Fall paaren würde, aber als er Bella einmal etwas über Chana Zitrin sagte, wurde Bella sehr wütend und erzählte ihm, was für eine arme Frau Chana sei und daß man Mitleid mit ihr haben müsse wie mit allen anderen Menschen auch, und daß Momik gar nicht wisse, was ihr Dort alles geschehen sei; als sie geboren wurde, habe sie nicht im Traum daran gedacht, daß sie so enden würde; jeder hat am Anfang Hoffnungen und Träume, sagte Bella, also begann Momik Chana mit anderen Augen zu betrachten, und er stellte fest, daß sie eigentlich eine ziemlich schöne Frau war mit ihrer großen blonden Perücke, wie die Haare von Marylin Monroe, und ihrem großen roten Gesicht mit einem netten kleinen Schnurrbart und den geschwollenen Beinen, um die immer tausend Verbände gewickelt waren, sie war eigentlich ganz in Ordnung, nur daß sie ihren Körper haßte und ihn die ganze Zeit mit ihren Fingernägeln zerkratzte und ihn Mein Ofen, mein Unglück nannte, und es war Munin, der Momik erklärte, daß sie so schreie, weil sie sich die ganze Zeit paaren müsse, da sie sonst irgendetwas verliere oder so, und darum sei ja der Schneider von ihr weggerannt, denn er sei nicht aus Eisen gewesen, und er habe auch irgend so ein Problem mit Hörnern. Momik würde Bella auch darüber ausfragen müssen, diese Geschichten machten ihm ein wenig Sorgen, denn was würde geschehen, wenn alle ihre Paarer eines Tages nicht kämen und sie Momik zufällig auf der Straße sähe? Aber das ist Gott sei Dank noch nicht passiert, aber es ist auch noch nicht alles, denn außer auf ihren Körper ist Frau Zitrin auch auf Gott böse, sie schüttelt ihre Fäuste und macht Ihm alle möglichen nicht sehr schönen Zeichen und schreit und verflucht Ihn auf polnisch, was schlimm genug ist, aber dann flucht sie auch auf jiddisch, und das versteht Er bestimmt. Und was sie die ganze Zeit will, ist, daß Er es nur ein einziges Mal wagen soll, einer einfachen Frau aus Dinov sein Gesicht zu zeigen, aber bisher hat er es nicht gewagt, und jedesmal, wenn sie zu schreien beginnt und die Gasse auf und ab rennt, rast Momik sofort ans Fenster, um die Begegnung nicht zu verpassen, denn wie lange wird sich Gott noch zurückhalten können bei all diesen Beleidigungen, noch dazu, wenn alle es hören – ist Er denn aus Eisen? Und in den letzten Tagen ist nun auch Frau Zitrin zur Bank gekommen und hat sich neben den Großvater gesetzt, aber ganz lieb, wie ein Püppchen, sie kratzt sich zwar noch immer am ganzen Körper, aber leise, ohne zu schreien oder sich mit jemandem zu zanken, denn selbst sie hat sofort gemerkt, daß Großvater in seinem Herzen ein sehr sanfter Mensch ist.

Momik schämt sich ein bißchen, direkt auf die Alten zuzugehen, also nähert er sich ihnen ganz langsam, er schleift seine Schultasche über den Bürgersteig, bis er plötzlich zufällig neben der Bank steht, wo er hören kann, was sie auf jiddisch reden, es ist ein etwas anderes Jiddisch als das von Mutter und Vater, aber er versteht trotzdem jedes Wort: Unser Rabbi, flüstert der kleine Seidman, war ein so kluger Mann, daß sogar die größten Doktoren von ihm sagten, er habe zwei Gehirne! Und Jedidja Munin sagt: Et (das ist so ein Geräusch, das sie die ganze Zeit machen), unser Rebbele in Neustadt, den Januka nannte man ihn, auch er endete nebbich Dort, unser Rebbele wollte seine Kommentare nicht in ein Buch schreiben, nu was, selbst die größten Chassiden wollten das nicht immer, aber was geschah dann? Ich werd euch sagen, was geschah: drei Dinge ereigneten sich, die der kleine Rebbele, gesegnet sei sein Andenken, als Zeichen von Oben anerkennen mußte! Hören Sie, Herr Wasserman? Von Oben! Und bei uns in Dinov, sagt Frau Zitrin einfach so in die Luft, bei uns stand ein Denkmal von Jagiello, das vielleicht fünfzig Meter hoch war und ganz aus Marmor! Importiertem Marmor!

Momik ist so aufgeregt, daß er vergißt, den Mund zu schließen! Weil sie hier ganz offen über das Land Dort sprechen. Es ist fast gefährlich, wie sie sich erlauben, so offen darüber zu sprechen, aber er muß die Gelegenheit nutzen und sich alles, alles merken und dann nach Hause rennen und es in sein Heft eintragen und auch Bilder davon malen, denn es gibt Dinge, die man besser malen sollte. Er kann zum Beispiel alle möglichen Plätze im Lande Dort, von denen sie erzählen, in den geheimen Atlas zeichnen, den er vorbereitet. Er kann jetzt den Berg hineinzeichnen, von dem Herr Markus immer erzählt, den gewaltigen Berg, vielleicht der zweitgrößte auf der Welt, den die Gojim dort Judenberg genannt haben, und er war wirklich ein Zauberberg, so helf uns beiden Gott, Herr Wasserman, alles, was man dort oben fand, verschwand, noch bevor man wieder zu Hause war, ein schrecklicher Anblick! Schrecklich! Und das Holz, das man auf dem Berg sammelte, fing kein Feuer! Es brannte, wurde aber nicht verzehrt! So erzählt Herr Markus und wechselt dabei die Gesichter mit unglaublicher Geschwindigkeit, Gottbewahre, aber Herr Munin zieht an Großvater Anschels Mantel wie ein Kind, das am Arm seiner Mutter zieht, und sagt, Das ist noch gar nichts, Herr Wasserman, bei uns in Neustadt gab es einen, der Schaja Weintraub hieß. Ein junger Bursche, noch ein Kind. Aber so ein Genie! Selbst in Warschau hatte man von ihm gehört! Er erhielt ein besonderes Stipendium vom Erziehungsminister! Stellen Sie sich vor, wenn ihm schon die Polen ein Stipendium gaben! Hören Sie gut zu, sagt Herr Munin, und seine Hand gräbt sich wie immer tief in die Hosentasche (er sucht dort einen Schatz, den jeder Bettler finden kann, sagt Bella), Dieser Weintraub, wenn man ihn im Sommer, sagen wir, im Monat Tamus, fragte, Sag mir bitte, Schaja, wie viele Minuten haben wir noch so Gott will bis Pessach, Minuten, hören Sie, nicht Tage, nicht Wochen – Minuten, dann gab er auf der Stelle, mögen wir beide lange genug leben, um unsere Kinder verheiratet zu sehen, Herr Wasserman, eine präzise Antwort, wie ein richtiger Roboter! Und Frau Chana Zitrin hört einen Augenblick auf, sich zu kratzen und ihr Kleid zu heben, um ihre nackten Beine bis oben hin zu kratzen, sieht Munin an und fragt ihn spöttisch, Ist das nicht zufällig jener Weintraub, der Gottbehüte einen Kopf wie ein Maiskolben hatte? Der später nach Krakau zog? Und Herr Munin, der plötzlich etwas verärgert aussieht, sagt leise, Ja, das ist der Bursche, ein nie dagewesenes Genie … Und Chana Zitrin wirft ihren Kopf zurück und stößt ein schrilles Lachen aus, das sich wie ihr Kratzen anhört, und sagt: Und was ist aus ihm geworden? Schaja Weintraub ist ein Spekulant an der Börse geworden und tiefer und tiefer gesunken. Ein Genie! Ha, wir haben von ihm gehört!

Und so reden und reden sie, ohne aufzuhören, ohne einander zuzuhören, mit einem Singsang, den Momik schon irgendwo gehört hat, er kann sich nur nicht genau erinnern wo, und sie sagen ohne jegliche Vorsicht alle Wörter des Landes Dort, die geheimsten Parolen, sie sagen Lwow-Distrikt und Bzjozov-Provinz, der alte Viehmarkt und der große Brand im klojz, Militärzwangsarbeit, erfolgreiche Fürsprachen, Abtrünniger aus Trotz und Faige Lea die Rote und Faige Lea die Schwarze und das Golden Bergl, der goldene Hügel vor Seidmans Stadt, auf dem der König von Schweden kleine Fässer voller Gold vergrub, als er vor der russischen Armee floh, ach, und Momik schluckt seine Spucke herunter und merkt sich alles, er hat ein ausgezeichnetes Gedächtnis für solche Dinge, er ist ein richtiger alter kopp, na schön, ein Roboter wie Schaja Weintraub ist er noch nicht, aber auch Momik kann einem auf der Stelle sagen, wie viele Turnstunden es noch bis zu den Sommerferien sind und wie viele Unterrichtsstunden (und -minuten) insgesamt, ganz zu schweigen von allen anderen Dingen, die er weiß, oder den Prophezeiungen, denn Momik ist fast ein Prophet, eine Art Merlin der Zauberer, er kann zum Beispiel voraussagen, wann der nächste Überraschungstest in Rechnen sein wird, und tatsächlich kam die Lehrerin Alisa in die Klasse und sagte: Bitte legt eure Hefte weg und holt Papier und Bleistift heraus. Und die Kinder sahen Momik ganz erstaunt an, aber das war ja noch eine einfache Prophezeiung, denn drei Monate vorher, als der Vater zu seiner regelmäßigen Herzuntersuchung ins Krankenhaus Bikkur Cholim mußte, hatte es ebenfalls einen Test gegeben, und Momik ist immer ein bißchen nervös, wenn sein Vater zu dieser Untersuchung geht, und darum hat er es sich gemerkt, und als der Vater das nächste Mal dorthin ging, gab es wieder einen Überraschungstest, und dann konnte Momik schon erraten, daß es am Montag in vier Wochen wieder so einen Test geben würde, aber die anderen Kinder verstehen das nicht, für sie sind vier Wochen eine viel zu lange Zeit, um solche Rechnungen aufzumachen, darum denken sie wirklich, daß Momik ein Zauberer ist, aber wer ein Spionageheft hat und sich alles aufschreibt, der weiß auch, daß alles, was einmal geschieht, noch einmal geschehen wird, und so macht Momik die Kinder verrückt mit seiner präzisen, tatsächlich spionagehaften Prophezeiung über die Panzerkolonne, die alle einundzwanzig Tage um zehn Uhr morgens in der Malcha-Straße an der Schule vorbeifährt, und er kann auch sagen (und das macht ihm selbst ein bißchen Angst), wann die seltsamen häßlichen Pickel auf dem Gesicht der Lehrerin Netta wieder auftauchen werden, aber das sind nur dumme kleine Prophezeiungen, eine Art Hokuspokus, damit die Kinder ihn ein wenig respektieren und aufhören, ihn zu beleidigen, denn die wahren, schicksalhaften Prophezeiungen, die sind nur für Momik, er kann niemandem davon erzählen, zum Beispiel, wie er heimlich seinen Eltern nachspioniert, und auch von der ganzen Spionagearbeit kann er nichts erzählen, die er macht, um das Land Dort, das verschwunden ist, wie ein Puzzle wieder zusammenzusetzen, er hat eine Menge Arbeit damit, und er ist der einzige auf der ganzen Welt, der es machen kann, nur er kann seine Eltern vor ihrer Angst retten, vor ihrem Schweigen und ihrem krechzen und vor dem Fluch, der noch schlimmer geworden ist, seit Großvater Anschel zu ihnen kam und sie automatisch an alles erinnerte, was sie so sehr zu vergessen und zu verschweigen versuchten.

Momik hat natürlich vor, auch Großvater Anschel zu retten, nur weiß er noch nicht genau wie. Er hat bereits mehrere Methoden ausprobiert, aber bisher hat nichts geklappt. Am Anfang, als er mit dem Großvater zusammen zu Mittag aß, klopfte er manchmal wie zufällig ein paar Mal auf den Tisch, so wie es die Häftlinge Rafael Blitz und Nachman Farkasch taten, als sie ihre Flucht aus dem Gefängnis planten. Momik wußte nicht, ob das Klopfen überhaupt etwas bedeutete, aber er hatte das Gefühl, oder richtiger die Hoffnung, daß sich irgend jemand in Großvater befand, der das Klopfen erwidern würde. Nichts geschah. Danach versuchte Momik, den geheimen Code zu entschlüsseln, der auf Großvaters Arm geschrieben stand. Er hatte das schon einmal mit den Codenummern vom Vater und von Bella und Tante Itke versucht, aber es war nichts dabei herausgekommen. Diese Nummern machten ihn wahnsinnig, denn sie waren nicht mit Tinte geschrieben und gingen weder mit Wasser noch mit Spucke ab. Momik versuchte alles, als er Großvater die Hände wusch, aber die Nummer blieb, deshalb kam Momik auf die Idee, daß die Nummer nicht von außen geschrieben war, sondern von innen, und das überzeugte ihn noch mehr, daß sich irgend jemand in Großvater befand, und vielleicht in den anderen auch, und daß der Großvater auf diese Weise um Hilfe rief, und Momik zerbrach sich den Kopf, was das sein konnte, und er schrieb Großvaters Nummer in sein Spionageheft neben die Nummern des Vaters und Bellas und Itkes und stellte alle möglichen Versuche und Rechnungen damit an, und dann lernten sie zum Glück über Gematrie in der Klasse, Momik war natürlich der erste, der es begriff, und als er nach Hause kam, versuchte er gleich, die Zahlen auf verschiedenen Wegen in Buchstaben umzusetzen, aber es kam dabei nichts heraus als ein Haufen seltsamer Wörter, die er nicht verstand. Aber er gab nicht auf, wieso denn auch, und dann hatte er einmal mitten in der Nacht eine beinah Einsteinsche Idee, er erinnerte sich nämlich, daß es Apparate gab, die Safes hießen und in denen reiche Leute ihr Geld und ihre Diamanten versteckten, und diese Safes öffneten sich nur, wenn man sieben Schlösser in einer besonderen und geheimen Reihenfolge drehte, und ihr könnt sicher sein, daß Momik die halbe Nacht mit Kombinationen und Experimenten verbrachte, und als er am nächsten Tag aus der Schule kam, holte er Großvater Anschel gleich von der Bank ab und gab ihm sein Mittagessen und setzte sich ihm gegenüber an den Tisch und begann, ihm mit ernster und wichtiger Stimme verschiedene Kombinationen der Ziffern zu sagen, die auf Großvaters Arm geschrieben standen. Er hörte sich ein bißchen an wie der Sprecher, der im Radio die Lottozahlen bekanntgab, die dreißigtausend Pfund gewonnen hatten, und er hatte das ganz starke Gefühl, daß der Großvater sich jeden Augenblick wie eine gelbe Bohne genau in der Mitte spalten und ein kleiner Kükengroßvater. ein lachender und gutherziger und kinderlieber Großvater herausspringen würde, aber das geschah nicht, und plötzlich spürte Momik eine seltsame Trauer im Herzen, und er stand auf und ging zu seinem Großvater und umarmte ihn fest und fühlte, wie warm er war, wie ein Ofen. Da hörte der Großvater auf, zu sich selbst zu reden und schwieg vielleicht eine halbe Minute lang und hielt Gesicht und Hände still, und es schien, als horche er, was in seinem Inneren vorging, aber er konnte ja bekanntlich nie allzu lange Zeit schweigen.

Dann benutzte Momik professionelle und systematische Detektivmethoden, darin war er ein richtiger Experte. Wann immer er mit dem Großvater allein im Haus war, folgte er ihm mit Heft und Kugelschreiber und schrieb sein Geschnatter mit eiserner Geduld in hebräischen Buchstaben auf. Gut, er notierte natürlich nicht jedes Wort, wieso denn auch, er ist ja nicht blöd, sondern nur das, was ihm am wichtigsten schien, alle möglichen Laute, die Großvater die ganze Zeit über von sich gab, und schon nach wenigen Tagen stellte Momik etwas Seltsames fest, und zwar, daß der Großvater nicht etwa Unsinn redete, sondern tatsächlich jemandem eine Geschichte erzählte, so wie Momik es sich eigentlich von Anfang an gedacht hatte. Er versuchte, sich zu erinnern, was ihm Großmutter Henny über Anschel erzählt hatte (aber das war vor langer Zeit gewesen, als Momik vieles noch nicht richtig verstand und noch kein alter kopp war und man ihm noch vom Land Dort erzählen konnte), aber er erinnerte sich nur, daß sie gesagt hatte, daß Großvater auch Gedichte für Erwachsene schreibe und Frau und eine Tochter habe, die beide Dort umgekommen seien, Momik suchte nach allen möglichen Hinweisen in der Geschichte aus der alten Zeitung, aber es kam nichts dabei heraus. Also ging er in die Schulbibliothek und fragte die Bibliothekarin, Frau Guvrin, ob sie irgendein Buch von dem Schriftsteller Anschel Wasserman habe, und sie sah ihn über den Rand ihrer Brille an und meinte, sie habe von diesem Schriftsteller noch nie gehört, und sie kenne sie alle. Gut, Momik sagte nichts, doch er lächelte im Herzen.

Er ging zu Bella und erzählte ihr von seiner Entdeckung (daß Großvater Anschel eine Geschichte erzählte), aber sie sah ihn mit einer mitleidigen Miene an, die er nicht mochte, und schüttelte den Kopf und knöpfte ihm den obersten Knopf des Hemdes auf und sagte, Sport, jingale, man muß sich auch ein bißchen um seinen Körper kümmern, sieh mal, wie blaß und schwach und dünn du bist, ein Viertel Huhn, wie sollen sie dich je beim Militär einziehen, sag mir das, aber Momik blieb hartnäckig und erklärte, daß Großvater Anschel eine Geschichte erzähle. Auch Großmutter Henny hatte alle möglichen Geschichten erzählt, als sie noch ihren Verstand hatte, und Momik erinnerte sich noch sehr gut an ihre besondere Stimme, wenn sie die Geschichten erzählte, wie sie die Wörter endlos dehnte, wie ihr Bauch sich mit den Wörtern füllte und wie in seinen Handflächen und Kniehöhlen ein seltsamer Schweiß ausbrach, und genau so fühlte er sich jetzt, wenn der Großvater redete. Als er Bella das erklärte, begriff er auf einmal, daß der arme Großvater jetzt in seiner Geschichte gefangen war wie der Bauer mit dem schönen, traurigen Gesicht und dem zum Schreien geöffneten Mund, den Tante Itke und Onkel Schimek aus der Schweiz mitgebracht hatten, dieser Bauer lebte sein Leben lang in einer kleinen Glaskugel, in der Schnee fiel, wenn man sie schüttelte, die Mutter und der Vater hatten die Kugel auf das Büfett im Wohnzimmer gestellt, und Momik konnte diesen offenen Mund nicht aushalten, bis er eines Tages wie zufällig die Kugel zerbrach und den Bauern befreite, aber nun trägt er weiter Großvaters wirre Worte in sein Spionageheft ein, auf das er listig »Heimatkunde« geschrieben hat, und er beginnt langsam, deutliche Worte auszumachen, Herneigel zum Beispiel, und Scheherezade zum Beispiel, aber in der Hebräischen Enzyklopädie steht nichts darüber geschrieben, also fragt Momik Bella, scheinbar ohne Grund, was Scheherezade bedeute, und Bella, die froh ist, daß er sich auch für andere Dinge als das Land Dort interessiert, verspricht, ihren Jehoschua, den Major, zu fragen, und zwei Tage später erklärt sie Momik, daß Scheherezade eine arabische Prinzessin sei, die in Bagdad lebe, aber das hört sich ziemlich merkwürdig an, denn jeder, der Zeitung liest, weiß genau, daß es in Bagdad gar keine Prinzessin gibt, sondern nur den Prinz Kassem, psiakrew, der uns genauso haßt wie alle Gojim, möge-ihr-Name-ausgelöscht-werden, aber Momik weiß nicht, was es heißt, aufzugeben, er hat die Geduld eines Elefanten, und er weiß, daß sich alles, was einem heute Angst macht und unklar ist, morgen aufklären wird, denn alles ist eine Sache der Logik, und es gibt für alles eine Erklärung, so ist das im Rechnen, und so ist es mit allen anderen Dingen, aber bis sich die Wahrheit herausstellt, muß man ganz normal weitermachen, als wäre nichts geschehen; man muß jeden Morgen zur Schule gehen und dort alle Stunden absitzen, man darf sich nicht von den Kindern beleidigen lassen, die sagen, daß man wie ein Kamel geht, mit so komischen Sprüngen, was wissen die schon, und man darf nicht gekränkt sein, wenn sie einen Helen Keller nennen wegen der Brille und der Zahnspange, deretwegen er sich ein bißchen bemüht, nicht zu reden, und man darf ihnen nicht zu sehr glauben, wenn sie versuchen, sich bei einem einzuschmeicheln, damit man ihnen verrät, wann der nächste Überraschungstest in Rechnen ist, und Momik muß auch die Abmachung mit dem Verbrecher Laiser einhalten, der jeden Morgen ein Butterbrot von ihm erpreßt, und dann ist da noch der Weg von der Schule nach Hause, den er zu besiegen hat, und das kann man bekanntlich nur mit Rechnen machen; genau siebenhundertsiebenundsiebzig Schritte, nicht mehr und nicht weniger, sind es vom Schultor bis zur Lottobude, wo seine Eltern den ganzen Tag lang dicht beieinander sitzen, ohne ein Wort zu sagen, sie sehen ihn schon von weitem, in dem Augenblick, wenn er am Ende der Straße um die Ecke biegt, sie haben einen tierischen Instinkt für so etwas, und dann kommt die Mutter gleich mit den Hausschlüsseln heraus. Sie ist sehr klein und dick und sieht ein bißchen aus wie eine Tüte mit einem Kilo Mehl, sie befeuchtet ihre Finger mit Spucke, um das Haar von Motl Ben Peissi zu kämmen, dem Kantorssohn, damit er nicht so zerzaust aussieht, und sie wischt auch einen kleinen Schmutzfleck von seiner Wange und seinem Ärmel weg, obwohl Momik genau weiß, daß dort gar kein Schmutz ist, sie möchte ihn einfach nur anfassen, und er, das Waisenkind, steht still und geduldig da und läßt ihre Finger und Fingernägel über sich ergehen und sieht ihr dabei besorgt in die Augen, denn wenn sich herausstellt, daß ihre Augen krank sind, wird man ihnen vielleicht kein Zertifikat geben, um nach Amerika einzureisen, und die Mutter, die gar nicht weiß, daß sie jetzt auch die Mutter von Motl ist, flüstert schnell, daß es nicht mehr so weitergehen kann mit seinem Vater, sie kann sein krechzen nicht mehr aushalten, wie ein alter Mann von neunzig hört er sich an, und sie sieht sich schnell nach dem Vater um, der sich nicht rührt und in die Luft starrt, als sei nichts los, und sagt zu Momik, daß der Vater sich schon seit einer Woche nicht gewaschen habe, der Geruch halte die Kunden fern, schon seit zwei Tagen sei keiner gekommen außer den drei Stammkunden, warum solle die Lotteriegesellschaft eine Bude unterhalten, wenn keine Kunden kämen, Und woher sollen wir Geld zum Essen nehmen, frage ich dich, der einzige Grund, warum sie den ganzen Tag mit dem Vater hier sitze wie eine Sardine, sei, daß man sich in Sachen Geld nicht auf ihn verlassen könne, er bringe es noch fertig, die Lottoscheine mit Rabatt zu verkaufen, oder er könne Gottbehüte einen Herzinfarkt bekommen, bei all den schrecklichen Kerlen, Warum straft mich Gott so, warum tötet er mich nicht gleich anstatt in Raten, Stück für Stück, fragt sie, und ihr Gesicht fällt kraftlos zusammen, aber dann sieht sie einen Augenblick zu Momik auf, und plötzlich sind ihre Augen jung und schön, es ist weder Angst noch Wut in ihnen, im Gegenteil, sie macht ihm sogar chejndalech, damit er sie anlächelt, damit er etwas besonderes für sie ist, und ihre Augen leuchten, aber das hält nur eine halbe Minute an, und schon ist sie wieder so, wie sie war, und Momik sieht, wie sich ihre Augen verändern, und Motl flüstert ihr innerlich mit der Stimme von Bruder Elijahu zu, Genug, Mama, genug, nu, bitte weine nicht, der Doktor hat gesagt, daß das für deine Augen nicht gut ist, bitte, Mama, uns zuliebe, und Momik schwört sich im Herzen, tfu, tfu, tfu, daß er im schwarzen Grab von Hitler sterben will, wenn er nicht den grünen Stein findet, der kranke Augen und vielleicht auch andere choleras heilt, und Momik denkt diese Gedanken so sehr, daß es ihm fast gelingt, die Kerle aus der 7. Klasse nicht zu hören, die in sicherer Entfernung von seinem dicken Vater stehen und ihm zurufen: »Lotto groß, Lotto klein, Lotto macht aus dem Armen ein Schwein«, es ist ein Lied, das sie sich ausgedacht haben, aber Momik und seine Mutter hören nichts, und Momik sieht, daß sein Vater, der riesige, traurige Kaiser, auf seine gewaltigen Hände starrt, nein, alle drei sind taub für diese Kerle, denn sie hören nur die Worte ihrer eigenen geheimen Sprache, und die ist Jiddisch, und bald wird auch die wunderschöne Marylin Monroe mit ihnen reden können, weil sie den jüdischen Herrn Miller geheiratet hat und jeden Tag drei Wörter auf jiddisch lernt, sollen sie alle platzen, Amen, und die Mutter faßt Momik hier und da an, während er innerlich sieben Mal das Zauberwort »Chaimova« sagt, das man den Unbeschnittenen in der Schenke an der Grenze sagen muß, so steht es in Motl Ben Peissis Buch, denn wenn sie das Wort »Chaimova« hören, lassen sie auf der Stelle alles stehen und liegen und gehorchen, besonders wenn man sie darum bittet, einem über die Grenze nach Amerika zu helfen, ganz zu schweigen von einfacheren Dingen wie zum Beispiel, mit den Kerlen aus der 7. Klasse fertig zu werden, auf die Momik die Unbeschnittenen nur aus Herzensgüte nicht losläßt.

»Im Kühlschrank liegt eine pulke