Der Krieg in mir - Das Buch zum Film - Sebastian Heinzel - E-Book

Der Krieg in mir - Das Buch zum Film E-Book

Sebastian Heinzel

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Beschreibung

Der Autor untersucht die Auswirkungen des Zweiten Weltkriegs auf seine Familie, indem er dem Weg seines Großvaters nach Weißrussland folgt und dabei Verbindungen zu seiner eigenen Vergangenheit und den Kriegsträumen entdeckt, die ihn seit seiner Kindheit verfolgen. Das Buch zum gleichnamigen Kinofilm zeigt, wie sich Knoten in der eigenen Familiengeschichte lösen lassen, um Versöhnung und Heilung zwischen den Generationen zu ermöglichen und es gibt Impulse und Anregungen für eine andere Betrachtung der eigenen Biografie.

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Seitenzahl: 263

Veröffentlichungsjahr: 2020

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DER KRIEG IN MIR

Sebastian HeinzelDer Krieg in mir

Projektmanagement:

Marianne Nentwig

Lektorat:

Ursula Kollritsch

Umschlaggestaltung:

Kerstin Fiebig

Coverfoto:

© Heinzelfilm GmbH

Autorenfoto:

© Charlotte Fischer

Innenteil, Layout/Satz:

Wilfried Klei

Druck & Verarbeitung:

Westermann Druck Zwickau

© Kamphausen Media GmbH, Bielefeld [email protected] | www.kamphausen.media

ISBN Printausgabe: 978-3-95883-280-0ISBN E-Book: 978-3-95883-281-7

1. Auflage 2020

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diesePublikation in der Deutschen Nationalbibliografie;detaillierte bibliografische Daten sind im Internet überhttp://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Funk, Fernsehen und sonstige Kommunikationsmittel, fotomechanische oder vertonte Wiedergabe sowie des auszugsweisen Nachdrucks vorbehalten.

DAS BUCH ZUM FILM

Sebastian Heinzel

DER KRIEG IN MIR

Welche Spuren habendie Erfahrungen der Kriegsgenerationin uns hinterlassen?

Für meine Liebste

Andacht

Was Menschen wollen,

Das führt zu Blut und Schuld und Schlachtenrollen.

Wer dich, Natur, erst fand,

Dem wird zur heiligen Heimat jedes Land

Und jeder Mensch verwandt.

Wind weht und Wasser fällt

In aller Welt,

Und blaue Luft und Meerkristall

Ist überall.

Goldwolke zart am Horizont

Und sanfter Mond,

Tierschrei im Wald, gedehntes Seegestade,

Vogelgezirp, Berg, Birken, Felsenpfade –

Das ist mein Schatz, ist meines Herzens Gut,

Mein Seelentrost, in dem sich’s sicher ruht.

Miß keine Schuld an andrer Schuld!

Miß dich und deinen Schritt

An der Natur unendlicher Geduld;

Sie trägt dich mit.

Bei ihr sei du zu Haus,

Und Abend trifft und Morgen

Dich fährdelos geborgen

Im Vaterhaus.

Hermann Hesse

Hesse, Hermann, Das Lied des Lebens. Die schönsten Gedichte.© Suhrkamp Verlag Frankfurt a.M. 1986. Alle Rechte vorbehaltendurch Suhrkamp Verlag Berlin.

EINLEITUNG

1. TEIL: DER UNSICHTBARE FADEN

Kapitel 1:  Im Garten meiner Kindheit

Kapitel 2:  Was hat das mit mir zu tun?

Kapitel 3:  Der unsichtbare Faden

Kapitel 4:  Von Mäusen und Menschen

Kapitel 5:  Meine innere Reise mit Peter Levine

Kapitel 6:  Stürmische Zeiten

Kapitel 7:  Ein Geschenk des Himmels

2. TEIL: SPURENSUCHE

Kapitel 8:  Soldat in Nadelstreifen

Kapitel 9:  „Dein Opa war kein Nazi“

Kapitel 10:  Tief im Archiv

Kapitel 11:  „Papa, gehst du in den Krieg?“

Kapitel 12:  Reise nach Weißrussland

Kapitel 13:  „Dein Opa ist ein hübscher Mann“

Kapitel 14:  Liebe in Zeiten des Krieges

Kapitel 15:  Die Stalin-Line

3. TEIL: VERSÖHNUNG MIT DEM VATER

Kapitel 16:  Die Schneeschuhwanderung

Kapitel 17:  In der Uniform von Opa Hans

Kapitel 18:  Die Friedenstraße

Kapitel 19:  Spurensuche im Niemandsland

Kapitel 20:  Das Ritual am See

Kapitel 21:  Die Schlacht um Berlin

4. TEIL: DER FRIEDEN IN MIR

Kapitel 22:  Der Frieden in mir

Kapitel 23:  Warum ich hier bin

Kapitel 24:  Sebastian 2.0

Kapitel 25:  Träume und Trauma

EPILOG: RAUS AUS DEM WALD

Film- und Literaturempfehlungen, Bildverzeichnis

Danksagung

Über den Autor

Einleitung

Liebe Leserin, lieber Leser,

eine kleine Vorbemerkung, bevor es losgeht: Auch wenn wir uns vielleicht gar nicht persönlich kennen, spreche ich dich in diesem Buch mit du an, weil ich dich gerne ganz direkt mit dem erreichen möchte, was ich zu erzählen habe. Die Du-Form scheint mir dafür natürlicher und geeigneter zu sein.

Wenn du diese Zeilen liest, dann wird ein Traum für mich wahr. Schon als kleiner Junge wollte ich Schriftsteller werden. Ich liebte es, mir Geschichten auszudenken und sie mit kleinen Details auszuschmücken. Später wurde ich Journalist, und als ich erkannte, dass das Leben die besten Geschichten schreibt, habe ich angefangen, Dokumentarfilme zu drehen.

Ich bin kürzlich vierzig geworden. Es hat also eine Weile gedauert. Aber wenn du dieses Buch in den Händen hältst, ist das der Beweis dafür, dass Träume und tiefe Herzenswünsche in Erfüllung gehen können. Von diesen Fragen handelt das Buch: Wie kann ich mein volles Potenzial entfalten? Auf welche Weise begegne ich den Herausforderungen und Hindernissen, die sich mir dabei in den Weg stellen? Und wie finde ich Frieden mit mir und meiner Geschichte?

Ich lebe seit zehn Jahren auf einem Biobauernhof in einem kleinen Schwarzwalddorf, das so idyllisch ist, dass es schon einmal zum zweitschönsten Dorf Deutschlands gewählt wurde. Hier sind meine beiden Kinder auf die Welt gekommen. Von außen betrachtet scheint mein Leben in Ordnung zu sein. Doch in mir gibt es etwas, das mich nicht zur Ruhe kommen lässt. Der Auslöser für die Arbeit an diesem Projekt sind meine Träume vom Krieg. Ich habe wiederkehrende Alpträume, in denen ich als Soldat im Einsatz bin. Oft in Russland. Es sind Szenen, die im Zweiten Weltkrieg spielen. In diesen Träumen sitze ich auf einem Panzer und schieße um mich. Oder ich versuche verzweifelt, einen Zug Richtung Heimat zu erwischen. Oder ich bin als Häftling in einem Kriegsgefangenenlager in Sibirien eingesperrt. Und das, obwohl ich natürlich nie selbst im Krieg gewesen bin.

Woher kommen diese inneren Bilder?

Ich habe mich auf die Suche nach dem Ursprung meiner Kriegsträume gemacht und bin zu einer Spurensuche aufgebrochen, die mich bis nach Weißrussland geführt hat. Dort bin ich Menschen begegnet, die den Krieg noch selbst erlebt haben. Sie haben mir ihre Geschichten erzählt. Vieles von dem, was sie mir berichtet haben, lässt sich heute nicht mehr im Einzelfall überprüfen. Doch mir ist es wichtig, diesen letzten Zeitzeugen ihre eigene Stimme zu geben. Ich habe auch mit jüngeren Weißrussen gesprochen, Menschen meiner Generation. Auch sie fühlen sich – wenn auch ganz anders als ich – von den Folgen des Krieges auf besondere Weise berührt. In Zeiten eines neuen Kalten Krieges, der von mächtigen politischen Interessen herbeigerufen wird, ist mir der Brückenschlag zwischen uns Menschen im Westen und im Osten ein echtes Herzensanliegen. Wir sind uns näher, als es vielen manchmal scheint.

In den sechs Jahren, die ich an diesem Projekt arbeite, wird mein Leben ziemlich durcheinandergewirbelt. Ein innerer und äußerer Prozess, der mich an meine Grenzen bringt. In dieser Zeit bin ich mir selbst und meiner Familie nähergekommen.

Mein großer Wunsch ist es, dich mit meiner Geschichte dazu zu inspirieren, dich selbst und deine Geschichte besser kennenzulernen. Licht in die verborgenen Winkel der eigenen Biografie zu bringen, kann ungeheure Kräfte freisetzen und viel Positives in deinen zwischenmenschlichen Beziehungen bewirken. Genau das habe ich selbst erlebt in den vergangenen Jahren.

Ich wünsche dir eine inspirierende Lektüre und freue mich, wenn du dich mit deinen Eindrücken bei mir meldest.

Im Internet haben wir ein Portal zu diesem Projekt ins Leben gerufen.

Unter www.derkrieginmir.de und auf einer eigenen Facebook-Seite gibt es die Möglichkeit, mehr zum Buch und zum Film zu erfahren, Kontakt aufzunehmen und deine Erfahrungen mit mir und mit anderen zu teilen. Ich freue mich, von dir zu lesen.

Mit herzlichen Grüßen

Sebastian Heinzel, Oktober 2019

1. TEIL:DER UNSICHTBAREFADEN

Kapitel 1: Im Garten meiner Kindheit

Ich bin ein Kind der Siebzigerjahre. Im Februar 1979 wäre ich fast im Krankenwagen auf die Welt gekommen. Es war bereits zwei Wochen über dem errechneten Geburtstermin, und die Ärzte hatten meiner Mutter an einem Freitag gesagt, dass sie die Geburt einleiten, wenn bis Montag nichts passiert. Doch das wollte ich mir nicht bieten lassen. Pünktlich am Montagmorgen bekam meine Mutter heftige Wehen. Die Straßen waren so sehr verschneit, dass mein Vater sich nicht traute, meine Mutter mit dem Auto ins Krankenhaus zu fahren. Also rief er einen Krankenwagen und fuhr ihm hinterher.

Geboren wurde ich im Kreissaal in einem Krankenhaus in Kassel. Ich bin das zweite Kind meiner Mutter und das einzige Kind meines Vaters. Dorothea, meine Mutter, war früh schwanger. Meine Schwester Tamara kam 1971 auf die Welt. Doch die Ehe meiner Mutter mit ihrem ersten Mann hielt nur zwei Jahre. Ein paar Jahre später lernte sie meinen Vater Klaus kennen, in einer Disko. Die beiden tanzten zu Stevie Wonder und Hot Chocolate und verliebten sich ineinander. Meine Mutter hat mir erzählt, dass es die ruhige und gelassene Stimme meines Vaters war, die ihr das Vertrauen gab, dass er der Richtige für sie ist. Mein Vater zog zu meiner Mutter in das Haus ihrer Eltern nach Bad Emstal, ein kleiner Ort, zwanzig Kilometer vor Kassel. Sie heirateten 1977, zwei Jahre vor meiner Geburt. Meine Mutter hatte eine Lehre als Erzieherin gemacht und arbeitete im Kindergarten in der Mitte des Dorfes. Mein Vater machte seine ersten beruflichen Schritte im Vertrieb eines Autohauses. Deshalb hatte er ständig andere Autos.

Meine Eltern bauten das Haus meiner Großeltern großzügig aus. Um die Kredite bei der Bank abzubezahlen, gingen sie beide arbeiten. Es gab eine Absprache zwischen meiner Mutter und meiner Großmutter Lisa. Wenn meine Mutter noch ein Kind bekommen würde, wollte sich Oma Lisa um das Kind kümmern, so dass meine Mutter weiterarbeiten konnte. Als ich auf die Welt kam, hatte meine Großmutter allerdings selbst eine Stelle in einem Altenheim in Kassel angenommen, so dass sie nicht in der Lage war, mich vormittags zu betreuen. Deshalb erklärte sich mein Großvater dazu bereit, sich um mich zu kümmern. Acht Wochen nach meiner Geburt stillte mich meine Mutter ab und ging wieder halbtags arbeiten. Während sie im Kindergarten andere Kinder betreute, passte Opa Fritz auf mich auf.

Ich habe keine konkreten Erinnerungen an diese ganz frühe Zeit. Es gibt kleine quadratische, warmstichige Farbfotos von mir und meinem Großvater: Wir sitzen in der Küche, neben uns ein Kofferradio, in dem immer HR 4 lief. Meine Großeltern liebten Schlager, und auch Opa Fritz war ein leidenschaftlicher Sänger. Ich erinnere mich an den Duft von Pflaumenmus. Im August ernteten wir die Zwetschgen im Garten, schälten die Früchte gemeinsam in der Küche und kochten sie in einem großen Topf ein.

In meiner Erinnerung ist der Garten meiner Kindheit ein wunderbarer Ort. Wie rau sich die Äste anfühlten, wenn ich als kleiner Junge auf den Pflaumenbaum und die große Kirsche geklettert bin. Die langgezogene Johannisbeerenhecke war ein kleines Paradies. Es gab Himbeeren, Erdbeeren und auch große gelbe Pflaumen, die viel süßer schmeckten als die dunkelblauen Zwetschgen.

Ich erinnere mich an meinen Opa, wie er mit nacktem Oberkörper, den rheumageplagten Rücken schwer gekrümmt, mit einer Hacke Unkraut aus den Beeten jätet. Sein Hemd hat er sich oft um den Kopf gebunden. Und ich erinnere mich an sein Lachen, das manchmal etwas gequält aussah, so als ob sich dahinter ein Schmerz verbarg, den er selbst kaum spüren konnte.

Im Winter, wenn es schneite, saß mein Großvater in seinem Lehnsessel im Wohnzimmer und blickte starr nach draußen. Er mochte den Schnee nicht. Später erfuhr ich, dass ihn der Schnee an seine Zeit als Soldat in Russland erinnerte. Als ich etwas größer war, erzählte er mir davon. Ich hörte gebannt zu, wenn mein Großvater vom Krieg sprach. Das war spannend für mich und klang nach einem großen Abenteuer. Opa Fritz war Maschinengewehr-Schütze an vorderster Front. Allein die Vorstellung, dass er so ein großes Maschinengewehr hatte, faszinierte mich als kleiner Junge. Deshalb wollte ich die Geschichten wieder und wieder hören, ich bat ihn: „Opa, erzähl mir vom Krieg!“

Opa Fritz mit seinen Eltern in Pommern im Jahr 1942, kurz vor seinem Aufbruch an die Ostfront. Er wird seinen Vater nie wiedersehen.

Und dann erzählte mir Opa Fritz, wie er als junger Mann nach Russland kam:

Er wächst als ältester von drei Söhnen in einem kleinen Dorf in Pommern auf. Als kleiner Junge spielt er auf den weiten Wiesen und Feldern. Sein Vater ist Landwirt. Den Hof sollte Fritz einmal übernehmen. Doch der Krieg kommt ihm dazwischen. Mit 17 Jahren wird er einberufen. Er verlässt sein Heimatdorf und wird nie wieder dort leben. Im Frühjahr 1943 kommt er an die Ostfront, als die Wehrmacht bereits auf dem Rückzug ist. Als MG-Schütze landet er direkt an vorderster Front. Auf den russischen Winter sind die Soldaten schlecht vorbereitet.

Opa Fritz erzählte mir, wie kalt es dort war und wie sie als Soldaten, nur mit Reisig bedeckt, im Schnee schliefen. Besonders aufregend fand ich es, wenn er davon sprach, wie seine Einheit eingekesselt wurde von den russischen Truppen. Ich stellte mir dann einen großen Kreis aus Panzern und Soldaten vor und in der Mitte meinen Opa mit erhobenen Händen. Bei einer dieser Schlachten wird mein Großvater schwer verwundet, weil eine Granate in seiner Nähe explodiert. Er liegt allein auf dem Schlachtfeld, seine Kameraden sind bereits geflüchtet, und die anrückende Rote Armee rollt mit schweren Panzern auf ihn zu. In letzter Sekunde kehrt sein Offizier zu ihm zurück und trägt ihn auf dem Rücken durch die Schützengräben davon.

Seine Verwundung rettet Opa Fritz nicht nur das Leben, sie bewahrt ihn auch davor, in russische Kriegsgefangenschaft zu geraten. Er wird zurück nach Deutschland transportiert. Später hat mein Großvater nach dem Offizier gesucht, der ihn damals gerettet hat, um ihm zu danken. Er startet einen Suchauftrag beim Roten Kreuz. Doch finden kann er ihn nie.

Nach Kriegsende kommt Fritz in ein Lazarett im Nachbarort des Dorfes, in dem ich aufgewachsen bin. Nach seiner Genesung lernt er dort meine Großmutter Lisa kennen. Sie hat zwar einen Freund, doch der war noch in russischer Kriegsgefangenschaft. Zum großen Unmut ihrer Eltern verliebt sich Lisa in Fritz, der mittlerweile als Knecht auf einem Bauernhof arbeitet. Die Arbeit ist ihm vertraut. Den Hof in Pommern hat seine Familie durch den Krieg und die Flucht verloren. In Nordhessen ist Fritz für die Einheimischen ein Fremder, „einer von drüben“. Dieses Stigma behält er für lange Zeit, und seine Schwiegereltern akzeptieren ihn nur notgedrungen. Mein Großvater passt sich so gut es geht an und versucht, sich Status und Anerkennung durch harte Arbeit zu erkämpfen. Erst hilft er im kleinbäuerlichen Betrieb der Familie mit und baut das Bauernhaus mit aus. Später bekommt er eine Stelle beim nahegelegenen VW-Werk in Baunatal. Er wird Fließbandarbeiter. Trotz seiner Verwundung und des Rheumas, das er sich in den kalten Wintern an der Ostfront zugezogen hat, arbeitet er unermüdlich.

War die harte, disziplinierte Arbeit für ihn auch eine Kompensation, um das Grauen, das er im Krieg erlebt und mitgebracht hatte, nicht zu spüren?

Ich wurde der Liebling meines Großvaters. Vielleicht lag es daran, dass wir schon in meinen ersten Jahren so viel Zeit miteinander verbracht haben. Später, als ich älter war, begleitete mich Opa Fritz zu jedem meiner Fußballspiele. Er stand am Spielfeldrand und feuerte mich an. Bei meinem allerersten Spiel in der F-Jugend schoss ich gleich fünf Tore. Mein Großvater schwenkte begeistert seinen Spazierstock und war riesig stolz auf mich. Ich spielte eine wichtige Rolle in seinem Leben. Er sagte oft: „Wenn ich sterbe, das ist nicht schlimm. Die Hauptsache ist, dem Basti geht es gut.“

Opa Fritz starb früh. Ich war zehn Jahre alt, als abends ein Anruf aus dem Krankenhaus kam. Nach einer routinemäßigen Darmspiegelung waren Komplikationen aufgetreten und mein Großvater lag auf der Intensivstation. Uns wurde empfohlen, zu ihm zu fahren, wenn wir ihn noch einmal lebend sehen wollten. Meine Eltern nahmen mich mit. Am Krankenhausbett erkannte ich meinen Großvater kaum wieder, er sah blass und abgemagert aus. Sein Gesicht war hinter den vielen Schläuchen schwer zu erkennen. Er war kaum bei Bewusstsein. Als ich nähertrat und seine Hand nahm, drückte er sie, und ein Lächeln huschte über sein Gesicht. So, als ob er mich erkannt hätte.

Am nächsten Morgen war er gestorben. Ich war noch nie so traurig. Es ist meine erste Erfahrung mit dem Tod. Wie gerne hätte ich meinem Opa noch das Fußballtor gezeigt, das ich mit meinem Vater im Garten gebaut hatte.

Kapitel 2: Was hat das mit mir zu tun?

Mit dem Tod meines Großvaters verschwindet zunächst auch der Krieg aus meinem Leben. Auf dem Fußballfeld vermisse ich Opa Fritz. Ich erinnere mich daran, wie er seinen Stock schwenkte und mir zurief: „Basti vor, noch ein Tor!“ Manchmal komme ich mitten im Spiel ins Träumen und vergesse alles um mich herum. Dann stehe ich völlig gedankenverloren auf dem Rasen, bis mich ein Mitspieler oder der Trainer in die Wirklichkeit zurückruft.

Mein Vater ist zwar längst nicht so fußballbegeistert, wie mein Opa es war, doch gemeinsam liefern wir uns spannende Spiele, unten auf dem Rasen im Garten und oben in meinem Zimmer am Tischkicker. Als Geschäftsmann ist er viel unterwegs. Deshalb genieße ich es, Zeit mit meinem Vater zu verbringen. Mit ihm kann ich gut lachen.

Hans Heinzel als Soldat der Luftwaffe, undatiert

Am Wochenende fahren wir manchmal gemeinsam nach Dörnhagen zu den Eltern meines Vaters, in der Nähe von Kassel. Opa Hans und Oma Gretl wohnen mit der Familie meiner Tante Gudrun in der Friedenstraße. Das Haus hat mein Großvater selbst gebaut. Ich besuche ihn gerne in seiner Werkstatt. Bevor er in Rente ging, war Opa Hans Schreinermeister. Mich beeindruckt besonders, dass er an einer Hand nur noch vier Finger hat.

Opa Hans war auch im Krieg. Doch von ihm erfahre ich gar nichts über seine Zeit als Soldat. In der Familie meines Vaters wird über diese Zeit geschwiegen. Das wird mir allerdings erst später klar.

Als Jugendlicher will ich vom Dritten Reich und dieser Zeit nichts mehr hören, weil wir im Geschichtsunterricht und im Fernsehen mit der Schuld der Deutschen, mit unserer Schuld regelrecht bombardiert werden. Was hat das mit mir zu tun? – frage ich mich. Warum soll ich mich schuldig fühlen für etwas, das ich gar nicht selbst getan habe?

Ich beginne, mich für andere Dinge zu interessieren. Das Fußballspielen hänge ich bald an den Nagel. Ich entdecke die Mädchen und die Musik. Ab jetzt höre ich amerikanischen Hip-Hop und laufe in schlabbrigen Baggy Jeans durch unser Dorf. Nichts ist cooler, als mit meinen älteren Freunden im Auto durch „unseren Hood“ zu cruisen und einen Joint nach dem anderen zu rauchen. Wir rappen auf Englisch und gründen eine Band mit den langhaarigen Musikern aus dem Ort. Wir proben in einem Kellerraum, der genau unter dem Kindergarten in der Mitte des Dorfes neben einer öffentlichen Toilette untergebracht ist. Es ist absurd. Dort, wo ich meine ersten Jahre als Kind verbracht habe, sitze ich nun mit den anderen in einem dunklen, völlig versifften „Ü-Raum“ im Kreis. Wir sind ein bunt zusammengewürfelter Haufen und für eine Weile scheint es sogar, als ob wir erfolgreich werden. Bei einem Nachwuchswettbewerb gewinnen wir den ersten Platz und treten auf einem Festival vor über tausend Zuschauern auf. Doch schon wenige Zeit später zerfällt die Band. Der Schlagzeuger entwickelt schizophrene Züge, der Trompeter kommt unter ungeklärten Umständen in seinem Badezimmer ums Leben und unser Bassist landet im Gefängnis, weil er beim Handeln mit Hasch erwischt wird. Ohne es zu merken, habe ich mich in eine andere Welt geflüchtet. Doch irgendwie gelingt es mir, die Kurve zu kriegen. Als ich siebzehn bin, entscheide ich mich selbst für einen anderen Weg.

Meine Eltern bekommen von alldem nur wenig mit. Meine Mutter macht eine Ausbildung zur Gesundheitsberaterin und eröffnet den ersten Bioladen in unserem Dorf. Mein Vater macht Karriere in der Elektrowerkzeugindustrie und steigt zum Verkaufsleiter auf. Er verbringt viel Zeit in der Firma und auf der Autobahn. Der innige Kontakt, den ich als Kind zu ihm hatte, wird – wie das oft ist – brüchiger. Die Tore, die wir gemeinsam im Garten gebaut haben, verwittern zwischen den Brennnesseln.

Unsere Band, 1993: Ich bin der Jüngste in der Mitte.

Nach dem Abitur muss ich zur Musterung. Soldat zu sein, ist für mich unvorstellbar. Ich verweigere den Wehrdienst und gebe an, dass ich aufgrund der Geschichte meines Großvaters nicht in der Lage bin, jemals eine Waffe in die Hand zu nehmen.

Über einen Freund erfahre ich von der Möglichkeit, meinen Zivildienst im Ausland zu leisten. Die Idee begeistert mich und ich bewerbe mich auf unterschiedliche Stellen in Neuseeland und in den Vereinigten Staaten. Bald bekomme ich die Zusage einer anthroposophischen Gemeinschaft in Pennsylvania. Auch wenn es mir schwerfällt mein vertrautes Umfeld zu verlassen, zieht es mich in die Ferne. Als mich meine Eltern und meine Schwester zum Flughafen bringen, ist mir nicht klar, dass auch ich nicht mehr in mein Elternhaus zurückkehren werde.

Mitten in den Wäldern von Pennsylvania lebe ich für über ein Jahr mit geistig behinderten Kindern und Jugendlichen in Hausgemeinschaften zusammen. Es ist eine extreme Herausforderung für mich, rund um die Uhr Verantwortung für andere, äußerst hilfsbedürftige Menschen zu tragen. Was mir hilft, ist die Freundschaft mit den anderen Freiwilligen, die aus der ganzen Welt hierher kommen und die Begegnung mit den „special children“, wie die jungen Menschen mit Behinderung hier genannt werden. Ihre Eigenartigkeit berührt mich. In ihren Gesichtern finde ich die ersten Motive für meine neu entdeckte Leidenschaft – das Fotografieren. Ich übernehme die Aufgabe, einmal im Monat das Community-Magazin herauszubringen. Hier kann ich meine ersten Bilder und Geschichten veröffentlichen.

Am Telefon erfahre ich von meinen Eltern, dass sie umziehen wollen. Mein Vater hat ein Stellenangebot in der Nähe von Stuttgart bekommen. Für meine Mutter ist es die Gelegenheit, ihr Elternhaus nach über 40 Jahren zu verlassen. Als ich nach fünfzehn Monaten nach Deutschland zurückkehre, wohnen meine Eltern bereits im Schwabenland. Sie haben mir ein Zimmer in ihrer neuen Mietwohnung eingerichtet, doch hier hält es mich nicht lange. Ich ziehe nach Köln. Über Chris, einen Freund aus unserer ehemaligen Band, bekomme ich die Chance, ein Praktikum beim Musikfernsehen zu machen. Weil ich durch meine Zeit in den USA mittlerweile gut Englisch spreche, darf ich Interviews mit den deutschen und amerikanischen Hip-Hop-Stars führen, die ich schon als Jugendlicher verehrt habe. Es ist eine aufregende Zeit. Ich drehe mit den Black Eyed Peas, Dr. Dre und den Absoluten Beginnern. Nach meiner Zeit bei VIVA studiere ich Theater-, Film- und Fernsehwissenschaften. Doch das Theoretische ist mir zu trocken. Mit Freunden fange ich an, eigene Filme zu drehen. Auf Video und auf Super-8. In meinem ersten Kurzfilm gibt es eine Szene mit einem Banküberfall. Völlig naiv drehen wir an einem Sonntag ohne Genehmigung im Außenbereich einer Bank in der Kölner Südstadt. Chris stürmt mit Strumpfmaske und Spielwaffe aus dem EC-Bereich, ich filme ihn dabei. Kurze Zeit später tippt mir ein Zivilbeamter auf die Schulter und teilt mir eindringlich mit, dass der gesamte Chlodwigplatz von Polizisten umstellt ist. Es gab besorgte Anrufe von Anwohnern. Ich habe Riesenglück, dass ich den Einsatz nicht bezahlen muss.

Kurz nach der Jahrtausendwende breche ich mein Studium ab und gehe nach Berlin. Im „creative village“, einer Praktikumsinitiative mehrerer Unternehmen, mache ich Bekanntschaft mit Maxim, einem jungen Weißrussen. Wir sind eine Gruppe junger Kreativer und keiner von uns weiß irgendetwas über dieses Land. Maxim überzeugt uns, für eine Woche mit ihm nach Weißrussland zu reisen, in die Republik Belarus, wie das Land in der amtlichen Landesprache heißt. Ich bin 23 Jahre alt, und es ist meine erste Reise in den Osten. Für mich geht ein Fenster auf, das bislang verschlossen war. Meine Eltern sind oft mit uns verreist. Wir haben Urlaube in der Provence oder in der Toskana verbracht. Nun in diese Richtung zu reisen, ist für mich ein Abenteuer: Polen, Belarus, die Ukraine und das unendlich weite Russland sind für mich unentdeckte Gebiete: Neuland für einen anstrebenden Regisseur auf der Suche nach Geschichten für seine Filme. So kommt es, dass es nicht bei einer Reise nach Belarus bleibt. Die Filmaufnahmen, die ich von dort mitbringe, wecken das Interesse eines Berliner Produzenten, und er fragt mich, ob ich einen längeren Dokumentarfilm über die junge weißrussische Generation drehen will. Meine Arbeit ist unbezahlt, aber ich ergreife die Chance und werde zum Dauergast in der Weißrussischen Botschaft in Berlin, um Visa für meine zahlreichen Aufenthalte im Ausland zu beantragen. Ich verbringe Wochen und Monate damit, junge Leute meines Alters in ihrem Alltag dort zu begleiten und sie zu fragen, wie frei sie sich wirklich fühlen in einem Land, das bei uns im Westen oft die „letzte Diktatur Europas“ genannt wird.

Bei einem dieser Drehs lerne ich Igor kennen, einen jungen Mann, der gar nichts davon hält, dass man sein Land als Diktatur bezeichnet. Auch von den Widerstandskämpfern, mit denen ich drehe und die die Mauern in Minsk mit Graffiti bemalen und beschreiben, ist er nicht begeistert. Er nimmt mich mit aufs Land, um mir zu zeigen, wie das wirkliche weißrussische Leben aussieht. Er geht mit mir Enten jagen und Wodka trinken. Bei einem dieser Ausflüge stellt er mir seine Großmutter vor. Babuschka Vera lebt in einem kleinen Dorf, in dem es fast keine Männer mehr gibt, sondern nur noch alte Frauen. Die Ironie daran ist, dass die Frauen indirekt für das Verschwinden ihrer Ehemänner mitverantwortlich sind. Sie brauen einen Selbstgebrannten, dem die Männer hoffnungslos verfallen sind.

Schon als Kind wusste Vera, wie man Schnaps brennt, und sie erzählt mir eine Anekdote aus Kriegszeiten: Als kleines Mädchen rettete sie ihr Dorf vor den deutschen Soldaten. Alle Bewohner waren in den Wald geflüchtet, aus Angst davor, erschossen zu werden. Nur die kleine Vera war noch zu Hause und brannte den berüchtigten „Samagon“ (Selbstgebrannter). Sie bot den Eindringlingen von ihrem Schnaps an, und im Gegenzug verschonten die Deutschen ihr Dorf. Ihre Geschichte berührt mich so, dass ich einen kurzen Film über Babuschka Vera mache, der rund um die Welt geht und einige Preise gewinnt. So wie ich selbst, sind auch viele Zuschauer berührt von der Einfachheit des Lebens in der weißrussischen Provinz und von der charismatischen Ausstrahlung der Menschen dort.

Ich bekomme weitere Anfragen, Projekte in Belarus zu drehen. An der Volkshochschule in Berlin belege ich einen Russischkurs und lerne, Kyrillisch zu lesen. Und doch ist es keine einfache Beziehung, die ich zu dem Leben im Osten habe. Belarus ist ein Land voller Kontraste. In den Geschäften und auf der Straße sind die Menschen oft unfreundlich und abweisend. Die Weißrussen, die ich persönlich kennenlerne, sind meist herzlich und aufgeschlossen. Sie laden mich nach Hause ein, bieten mir Tee an und nehmen mich gleich in ihre Familie auf. Das Leben in der Hauptstadt Minsk ist wild und unberechenbar. Termine, die man heute macht, sind morgen schon vergessen. Viele verdienen ihr Geld mit schlecht bezahlten Jobs oder gehen auf den Markt, um Glühbirnen zu verkaufen. Auf dem Land ist es anders, bodenständiger und beschaulicher. In manchen Orten kommt das Wasser noch aus dem Brunnen, und die Menschen versorgen sich selbst. In den kleinen Dörfern mit den sandigen Straßen fühle mich in eine andere Zeit versetzt. Mir gefällt dieses einfache Leben und die Zeiten, die ich mit den Bewohnern in ihren kleinen bunten Holzhäusern verbringe, gehören jetzt schon zu den unvergesslichen Momenten meines Lebens.

Es gibt auch eine Schattenseite. Das verbreitete Klischee, dass im Osten viel Wodka getrunken wird, ist nicht aus der Luft gegriffen. Überall, wo ich hinkomme, wird gerne und viel getrunken. Und als Gast fühle ich mich oft verpflichtet, mitzuhalten. Das ist mehr als gewöhnungsbedürftig. Der maßlose Alkoholkonsum, auf den ich hier bei vielen Menschen treffe, stößt mich ab. Auf meinen Reisen gibt es immer häufiger Situationen, in denen ich mich frage, was ich eigentlich in diesem fremden Land suche.

Im Sommer 2013 begleite ich eine Gruppe deutscher Jugendlicher mit der Kamera in die weißrussische Provinz. Im Rahmen eines Hilfsprojekts verbringen sie ihre Ferien damit, die Häuser älterer Menschen auf dem Land zu renovieren. Es sind alte Frauen und Männer, die den Zweiten und manchmal sogar noch den Ersten Weltkrieg selbst erlebt haben. Nun stehen wieder Deutsche vor ihrer Tür, diesmal mit guten Absichten. Es sind besondere Begegnungen, die viel in mir aufwühlen. Da ist ein alter, kränkelnder Mann, der uns unter Tränen erzählt, dass ihn der Dienst in der Roten Armee seine ganze Jugend gekostet hat. Und da ist die resolute Katja, eine 90-jährige Frau, die allein in einem verlassenen Dorf lebt, sich noch selbst versorgt und uns lachend erzählt, wie sie mit den deutschen Offizieren im Krieg getanzt habe. Was damals noch so alles passiert ist, lässt sie aus. Nachdem die Jugendlichen unter ihren genauen Anweisungen ihr Haus gestrichen haben, bekommen sie Rühreier mit Speck und dürfen an ihrem Wodka nippen. Nirgends in der Provinz bekommen wir Vorwürfe zu hören. Mich wundert das.

Während der Dreharbeiten taucht ein starkes inneres Bild in mir auf. Eines Morgens, als ich meine Kamera für den Dreh richte, sehe ich mich vor meinem inneren Auge selbst als Soldat, der sein Gewehr zusammensetzt und sich bereit macht, in den Kampf zu ziehen. Als ich an diesem Tag mein Objektiv auf die Menschen richte, die wir teilweise ganz spontan in ihren Häusern besuchen, komme ich mir wie ein Eindringling vor. Wie wir mit unserer großen Reisegruppe und dem Filmteam bei den Menschen eintreffen, wirkt auf mich wie eine erneute Invasion. Und das, obwohl wir mit guten Absichten hier sind.

Auf dieser Reise denke ich oft an meine Großväter, und plötzlich taucht die Frage in mir auf, ob sie wohl auch hier waren, in diesem Land. Ist das der Grund, warum es mich immer wieder hier hinzieht?

Kapitel 3: Der unsichtbare Faden

Mit meinen Filmen, die ich in Belarus drehe, habe ich meine ersten Erfolge als Regisseur. Mein Traum, an einer Filmhochschule zu studieren, geht nach vielen Absagen endlich in Erfüllung. Ich bewerbe mich erneut um einen der begehrten Studienplätze und bekomme eine Zusage von der Filmakademie Baden-Württemberg in Ludwigsburg.

Auch während meiner Studienzeit lässt mich der Osten nicht los. In meinem dritten Studienjahr drehe ich einen Film in der Ukraine über die Folgen von Tschernobyl. Bei einer gemeinsamen Veranstaltung zum Jahrestag der Katastrophe lerne ich die Autorin Merle Hilbk kennen. Wir sind beide – unabhängig voneinander – in der verstrahlten Zone unterwegs. Wie ich reist auch sie schon seit Jahren nach Osteuropa und findet dort die Stoffe für ihre Reportagen und Bücher. Sie schreibt über den Krieg in Tschetschenien, den Völkermord in Bosnien und die Auswirkungen von Tschernobyl. „Trümmerthemen“ nennt sie ihre Arbeiten und kann sich zunächst auch nicht erklären, warum sie immer wieder Richtung Osten fährt: „Warum ist es ausgerechnet diese russische Geschichte, die mich Westkind wie an einem unsichtbaren Faden durchs Leben zieht?“, fragt sie sich.

Neben unserer Arbeit in Osteuropa stellt sich noch eine weitere Gemeinsamkeit zwischen uns heraus. Auch Merle träumt vom Krieg. Sie erzählt mir von einem wiederkehrenden Traum: „Ein Junge quetscht sich mit seinen Eltern in einen überfüllten Zug. Er rennt über einen Acker und wird verfolgt von einem Tiefflieger. Mit letzter Kraft erreicht er eine Siedlung und trommelt gegen eine Tür. Er schreit, als niemand öffnet, und fühlt, wie sich Angst und Einsamkeit in ihm ausbreiten, als um ihn herum die Bomben einschlagen.“ Dann wird sie wach.

Als Merle ihrem Vater von ihrem Traum erzählt, bricht dieser in Tränen aus – bis dahin hat sie ihn noch nie weinen sehen. Ihr Vater gesteht ihr, dass es sich bei diesem Traum um ein reales Erlebnis aus seiner Kindheit handelt. Wie Merle es geträumt hat, hat sich ihr Vater als kleiner Junge auf der Flucht vor Tieffliegern über ein Feld in einen Hauseingang gerettet. Zum ersten Mal erfährt Merle, was ihr Vater ihr bislang verschwiegen hat, dass er als Kind Flucht und Vertreibung erlebt hat.

„Mein Vater hat mit mir nie über den Krieg geredet. Mir genügte das, was meine Mutter mir gesagt hat: dass ihnen nichts wirklich Schlimmes passiert sei im Krieg.“ Dass ihr Vater aber als kleiner Junge aus Westpreußen fliehen musste und dabei zum Teil auf sich allein gestellt war, ist Merle neu.