Der Kronzeuge - Ava Patell - E-Book

Der Kronzeuge E-Book

Ava Patell

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  • Herausgeber: epubli
  • Kategorie: Erotik
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2018
Beschreibung

Aiden Millers Leben wird auf den Kopf gestellt, als er den gefährlichsten Mann der Stadt, Enrico Cortez, bei einem Mord beobachtet. Sein altes Leben wird er nur dann zurückbekommen, wenn er gegen Cortez aussagt. Doch bis dahin muss er überleben. Dazu braucht er Schutz. Und diesen Schutz scheint nur ein einziger Mann versprechen zu können, Cortez' größter Feind und ein nicht minder gefährlicher Krimineller: Gabriel Barone. Von einem Moment auf den anderen befindet sich Aiden nicht nur inmitten von kriminellen Menschen, die auch noch so ganz anders sind, als er sie sich immer vorgestellt hat. Aiden entwickelt zudem Gefühle. Ausgerechnet für Gabriel Barone, der sein Leben nur schützt, weil er einen Deal mit der Polizei eingegangen ist.

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Seitenzahl: 488

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Der Kronzeuge

Titel SeiteKapitel 1Kapitel 2Kapitel 3Kapitel 4Kapitel 5Kapitel 6Kapitel 7Kapitel 8Kapitel 9Kapitel 10Kapitel 11Kapitel 12Kapitel 13Kapitel 14Epilog

Der Kronzeuge

Im Schutz der Gefahr

Ava Patell & Kim Pearse

Gay Romance

Ava Patell & Kim Pearse

c/oPapyrus Autoren-Club,R.O.M. Logicware GmbHPettenkoferstr. 16-1810247 Berlin

Texte: © Copyright by Ava Patell & Kim Pearse

Umschlaggestaltung: © Copyright by Carina Neppe

Titelfoto (unten): © Copyright by Alex Yakimovski

Besucht uns unter:

https://www.facebook.com/avpatell/

https://www.facebook.com/kipearse/

Alle in diesem Buch geschilderten Handlungen

und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten

mit lebenden oder verstorbenen Personen wären

zufällig und nicht beabsichtigt.

Kapitel 1

Aiden Miller liebte seine Arbeit, doch in dieser Nacht wünschte er sich, er hätte einen Bürojob wie so viele Menschen in Amerika auch. Die frühlingsfrische Nachtluft, die ihn an der Bushaltestelle umgab und ihm durch die Kleider kroch, ließ ihn schaudern und er war froh, dass er nur 20 Minuten mit dem Bus von dem Seniorenwohnheim ›Mapleleaf Residence‹ entfernt wohnte. Innerlich seufzte er auf, als er in den warmen Bus trat. Der Bus war leer - kein Wunder, immerhin war es weit nach Mitternacht an einem Dienstagmorgen. Einem sehr frühen Morgen.

Tribent City schlief zu keiner Tages- oder Nachtzeit. Wenn überhaupt, dann wurde die Stadt ruhiger, aber selbst daran zweifelte Aiden. Dass auf den Straßen so wenig los war, lag schlicht und ergreifend daran, dass auf seiner Buslinie nie mehr Menschen unterwegs waren als der Bus tragen konnte. Nur mit Mühe unterdrückte Aiden ein Gähnen. Auf der hellen Spitze seines rechten Turnschuhs entdeckte er einen undefinierbaren Fleck. Er hielt sich an einer der Haltestangen fest, während er den Fleck an seinem Hosenbein abzureiben versuchte. In Gedanken ging er schon das Gespräch durch, das er in ein paar Minuten führen würde und das so ablaufen würde wie die letzten Gespräche auch.

Die Nachtschwester hatte aufgeregt geklungen am Telefon, aber das überraschte Aiden nicht. Sie war noch neu und wusste den Wahrheitsgehalt von Mrs. Abernathys Worten noch nicht einzuschätzen. Als er etwa eine Viertelstunde später am Tor klingelte und vom Wächter auf seine Erklärung hin eingelassen wurde, fiel Aidens Blick auf den kleinen Ahorn, der ihm noch nicht einmal bis zu den Schultern reichte und dem die Altersresidenz ihren Namen verdankte. Kopfschüttelnd trat Aiden durch die automatische Schiebetür und seufzte auf. Wärme! Der Müdigkeit war es geschuldet, dass ihm kälter war als es natürlich gewesen wäre. Im Foyer roch es nach Desinfektions- und Reinigungsmitteln. Vermutlich war die Reinigungsfirma gerade fertig geworden mit Wischen.

»Aiden! Oh Gott sei Dank! Da bist du ja!«, begrüßte ihn die aufgeregte Stimme, die er vor einer halben Stunde auch am Telefon gehört hatte.

»Hm«, machte er nur müde. Er hatte gerade vier Stunden geschlafen und war alles andere als ausgeruht.

»Sie hat gesagt, sie stirbt!«, rief Veronica Timberland, die neue Nachtschwester in mittlerem Alter. Ihr schwarzes Haar trug sie heute zu einem strengen Pferdeschwanz gebunden, die pflaumenfarbene Kleidung wies sie als Pflegekraft aus.

»Hast du schon am Telefon gesagt«, murrte Aiden. »Und sie wollte sich partout nicht beruhigen lassen?«, hakte er nach, doch Veronica schüttelte schnell den Kopf.

»Sie hat sich nicht einmal anfassen lassen. Ich konnte nichts tun, entschuldige.«

Aiden winkte ab, versuchte ein Lächeln. »Ich geh mal hin.«

Veronica nickte. »Ich muss leider weiter, es hat noch woanders geklingelt.«

Aiden nickte nur, er war schon halb auf dem Weg zu Mrs. Abernathys kleiner Wohnung. An einer Wand im Flur hing ein Schild in verschnörkelter Schrift: ›Mapleleaf Residence - grow old and die with dignity‹. In Würde altern und sterben, das wünschte Aiden wirklich jedem, nicht nur seinen gut betuchten Klienten. Leise schnaubte er, öffnete im Gehen seine Jacke. Selbst Mrs. Abernathy wünschte er das, obwohl es ihm die alte Dame wirklich nicht leicht machte. Er klopfte leise an die Tür, an der ihr Name stand.

»Mrs. Abernathy?«

Eine klägliche Stimme drang an sein Ohr. »Mr. Miller!«

Er nahm das als Zeichen und trat ein, schloss die Tür hinter sich. Der typische schwere Geruch ihres blumigen Parfüms hing in der Luft. »Ich sterbe«, verkündete die alte Dame und innerlich stöhnte Aiden auf.

»Ich habe schon gehört, Mrs. Abernathy.« Es war zwar körperlich nicht möglich, noch ein siebzehntes Mal zu sterben, aber er nahm seine Klienten immer ernst. Er fand Mrs. Abernathy im Schlafzimmer, ordentlich in Nachtwäsche gehüllt und im Bett drapiert. Er sah sofort, dass es falscher Alarm war. »Woran liegt es denn diesmal?«, fragte er dennoch einfühlsam, setzte sich auf die Bettkante und griff nach der Hand der Dame, die ihm aus einem runzeligen kleinen Gesicht ansah.

»Ich habe es mir fest vorgenommen«, nickte sie. Ihre blauen Augen sahen klar zu ihm auf, ihr Puls lag kräftig unter Aidens Fingerspitzen. Er ging regelmäßig, also lächelte er nur.

»Wir haben das doch schon besprochen, Mrs. Abernathy. Ich bin ein Mann mit einem eigenen Leben wie Ihre Söhne auch und...«

»Meine Söhne sind nichtsnutzige, einfältige Dummschwätzer und sonst nichts! Sie dagegen sind ganz anders.«

»Nun, danke. Sie haben der Nachtschwester einen ziemlichen Schrecken eingejagt als Sie ihr sagten, Sie würden sterben.«

»Ich sterbe ja auch! Ich zeige es Ihnen.« Sie legte sich zurecht, schloss die Augen und sah dann einen Moment ganz angestrengt aus. Aiden wartete ab, denn er wusste, es würde nichts passieren. Nach einer Weile hob sich ein Augenlid und ein helles blaues Auge sah zu ihm auf. Er lächelte nur und begann dann das Gespräch, das er sich auf dem Weg hierher zurecht gelegt hatte.

Als Aiden die Zimmertür wieder hinter sich zuzog, seufzte er tonlos und schloss einen Moment die brennenden Augen. Mrs. Abernathy war eingeschlafen. Nicht für immer und beinahe war Aiden versucht, ein ›leider‹ hinzuzufügen. Die Frau wollte sterben. Sie hatte ihr Leben gelebt, hatte drei Söhne großgezogen, die ihrem eigenen Leben nachgingen und tolle Menschen waren, obgleich sie ihre Mutter selten besuchten.

»Und?«, fragte eine Stimme neben ihm und er schreckte zusammen, öffnete die Augen. Neben ihm stand Veronica.

»Wie ich dir schon am Telefon erklärt habe. Sie stirbt natürlich nicht.« Veronica gab ein erleichtertes »Puh!« von sich, das Aiden zum Lächeln brachte. Er ging langsam zurück ins Foyer. »Ich glaube nicht, dass sie noch einmal aufwacht und Zicken macht, aber wenn doch, dann erinnere sie bitte an die Abmachung, die sie mit mir hat. Ich bin sicher, dass sie in den nächsten Wochen nicht stirbt. Und auch nicht in den nächsten Monaten. Wahrscheinlich überlebt sie uns sogar alle«, murmelte Aiden und Veronica nickte.

»Solange sie noch das Personal herumscheuchen kann...«, deutete sie an und Aiden lachte leise.

»Na siehst du, du gewöhnst dich ein. Ist sonst alles in Ordnung?«

»Ja. Danke, dass du gekommen bist.«

»Na ja, das ist nun einmal das Konzept.« Er zitierte aus einer der vielen Broschüren, die überall verteilt lagen: »Unser Pflegepersonal ist Tag und Nacht für unsere Klienten da.«

Veronica lachte und es schien ihr schon besser zu gehen. An Mrs. Abernathy hatte sich Aiden auch erst gewöhnen müssen. Die Alte war eine Nummer für sich. Er wusste, es würde in seinem Job immer verschrobene und... besondere Klienten geben, aber Mrs. Abernathy hatte die Latte wieder ein Stück höher gelegt. »Ich geh dann. Bis in ein paar Stunden.«

»Ja. Bis dann.«

Vor der Schiebetür zog Aiden den Reißverschluss seiner Jacke nach oben, um sich gegen die morgendliche Kälte zu schützen. Inzwischen zeigte seine Armbanduhr 5:37 Uhr an. Auch jetzt fiel sein Blick wieder auf den Mini-Ahorn und er fragte sich, warum die Hausleitung sich darauf eingelassen hatte, so einen Winzling zu kaufen. Der machte wirklich so gar nichts her und das, obwohl doch definitiv genügend finanzielle Mittel da waren. Hinter dem Tor warf er einen Blick zurück, schüttelte den Kopf und zog dann sein Handy aus der Hosentasche, um seinen besten Freunden zu schreiben. Sie hatten eine Gruppe in einem dieser Handy-Nachrichtendienste und tauschten sich nur zu gern über ihre Leben aus.

›Mrs. A. ist mal wieder nicht gestorben‹, schrieb er und fügte einen Tränen lachenden Smiley hinzu. Die anderen würden seine Nachricht sicher erst am späteren Morgen lesen, aber das Schreiben hielt ihn wach. Der Weg zur Bushaltestelle war nicht weit und wie immer nahm Aiden die Abkürzung, die er inzwischen gut kannte - zu jeder Tages- und Nachtzeit. Heute aber sollte sich ihm dieser Weg noch eindringlicher einprägen, als er es je getan hatte.

Er war beinahe am Ende der Gasse angelangt, hatte gerade den Chatverlauf mit seiner Schwester aufgerufen, um ihr etwas zu schreiben, als ihn ein Geräusch aufblicken ließ. Ein Rascheln von Kleidung, gefolgt von einem Röcheln. Sehen konnte Aiden jedoch nichts. Mit zusammengezogenen Augenbrauen lief er weiter, langsamer und vorsichtiger. Die Geräusche veranlassten ihn zum Zehenspitzengang, ohne dass er genau sagen konnte, warum. Je näher er den Häuserecken kam, desto schneller schlug sein Herz. Die Härchen auf seinen Unterarmen stellten sich auf, ohne dass er die Ursache dafür erkannte. Die Kälte war es in diesem Moment nicht.

Und dann, immer noch verborgen in der engen Gasse im Schatten der Häuser, sah er auch, was der Grund für das erstickte Röcheln war. Es ließ ihn schlagartig wach werden, als hätte man ihm einen Eimer mit eiskalten Wasser über den Kopf geschüttet. Nur ein paar Meter von ihm entfernt, am Ende der Gasse standen zwei Männer. Der größere, breitere hielt den Anderen im Schwitzkasten, hatte ihn vom Boden hochgehoben. Von ihm stammte das Röcheln. Ein paar gemurmelte, eindringliche Worte, ohne dass Aiden hätte sagen können, was der Inhalt des Gesagten war. Dann sah er Metall aufblitzen und er hielt augenblicklich die Luft an, erstarrte. Unsicher und verängstigt.

Was konnte er tun? Sein Gehirn schien nicht mehr richtig zu funktionieren, schien keine Befehle entgegenzunehmen. Er wollte rennen, konnte sich nicht bewegen. Er wollte schreien, bekam jedoch die Lippen nicht auf. Ein sich näherndes Auto riss ihn aus seiner Bewegungslosigkeit. Wie in Trance hob er das Handy hoch, beinahe fremdgesteuert, öffnete so leise wie möglich die Kamera-App, duckte sich hinter einen Müllcontainer und jeder Knopfdruck dröhnte unnatürlich laut in seinen Ohren. Er musste leise handeln! Ein Foto zu schießen fiel also aus seinen Optionen aus und so drückte er auf die Videokamera. Genau in diesem Moment fiel ein heller kleiner Beutel aus der Jackentasche des großen Mannes. Plastik. Wie zum Einfrieren, erinnerte ihn sein im Moment komplett überfordertes Gehirn. Selbst im Schatten sah Aiden den größeren Mann grinsen und beinahe war es, als könnte er die Augen leuchten sehen. Glimmen. Als gehörten sie zu etwas Dämonischem, Teuflischem.

Mit einer schnellen Bewegung zog der Fremde das große Messer mit der glatten Klinge schnell an der Kehle des kleineren Mannes vorbei und der sank zu Boden, riss die Hände hoch und versuchte, das Blut in seinem Körper zu halten, welches nun stetig aus ihm heraus floss und sein Leben mitnahm. Immer noch war das Röcheln zu hören, diesmal jedoch feuchter, verzweifelter und dann beleuchteten Scheinwerfer die Szene. Aiden war sich sicher, dieses Geräusch, das der Sterbende machte, niemals in seinem Leben vergessen zu können. Es hatte nichts mit dem Röcheln gemein, was man im Fernsehen hörte, wenn jemandem die Kehle aufgeschlitzt wurde. Es war obszöner, fast pervers und es ließ ihm die Galle in die Kehle steigen. Seine Finger zitterten, während er die Kamera noch immer auf die Szene richtete, die sich vor ihm abspielte.

Das Auto gehörte offensichtlich zu dem Mann, der gerade einen anderen umgebracht hatte. Umgebracht! Vor seinen Augen! Nur Aidens bisheriger Erfahrung mit dem Tod, mit sterbenden Menschen und deren Anblick war es zu verdanken, dass er nicht nach Luft japste und ohnmächtig zusammenbrach oder eine andere Dummheit machte, die ihn verraten könnte. Stattdessen wich er noch weiter in den Schatten zurück, denn die Scheinwerfer des Autos vertrieben die tiefen Schatten zwischen den Häusern. Der Mörder sprang in das Auto und Aiden riss das Handy nach unten, um sich nicht zu verraten, war sich aber nicht sicher, nicht doch gesehen worden zu sein. Mit beinahe quietschenden Reifen fuhr der Wagen an. Er war nachtschwarz, groß und ohne Kennzeichen, das speicherte Aiden noch ab, dann rannte er los. Wenn ihn die beiden Männer - oder waren es noch mehr?! - gesehen hatten, dann musste er schnell sein! War sein Gehirn eben noch im Schockzustand gefangen gewesen, startete es jetzt mit erschreckender Klarheit neu. Er musste hier weg. Dringend! Irgendwohin, wo er sicher war. Er rannte zurück, rannte so schnell er konnte. Vor Schreck machte er einen kleinen Sprung, als nicht weit entfernt Reifen quietschten.

Panisch hechtete er durch die Straßen, versuchte sich zu erinnern, wo das nächste Polizeirevier war. Er wusste es! Sie hatten die Adresse im Altersheim gespeichert, denn es kam nicht selten vor, dass sich die älteren Herrschaften in die Haare bekamen und sich gegenseitig des Diebstahls bezichtigten. Das Alter machte nun einmal wunderlich. Dann fiel ihm die Adresse ein und er schlug einen Haken, wagte nun doch einen Blick über seine Schulter. Atem und Herz rasten im gleichen Rhythmus, als er endlich, mit feuchtem Haar und verschwitztem Shirt unter der Jacke, in der richtigen Straße ankam. Licht, Straßenlaternen und ein paar vorbeifahrende Autos. Der beginnende morgendliche Berufsverkehr. Da kam das Revier in Sicht und er rannte auf die rettenden Türen zu. Noch zwei Stufen nach oben! Mit der freien Hand drückte er die Schwingtür auf, stolperte hinein, die Augen weit aufgerissen und hinter ihm knarrte die Tür als sie zurück schwang.

»Hilfe!«, schrie er. Das Handy wog schwer in seiner rechten Hand, schwer von all der Last, die es beherbergte. »Ich brauche Hilfe!«

***

Das Leben eines Polizisten war auch nicht mehr das, was es mal war, dachte Detective Leutnant Sam Wilkins bei sich. Früher war das Aroma von Zigaretten und alten Möbeln durch die Räumlichkeiten gezogen. Alles was er heute noch wahrnehmen konnte, war der entfernte Duft von entkoffeiniertem Kaffee. Plörre, die in seinen Augen nicht einmal zum Blumengießen geeignet war, geschweige denn zum Trinken. Die Detectives nuckelten heutzutage nicht mehr an filterlosen Zigaretten, um ihren Stress abzubauen, sondern an Paprikastreifen mit Hummus-Dip und ihre Schreibtische waren nach dem Feng-Shui-Prinzip aufgeräumt und dekoriert. Dekoration auf einem Polizistenschreibtisch! Noch vor 10 Jahren wäre das ein Anlass gewesen, den Kollegen, der so etwas hatte, mit Sekundenkleber an seinen Stuhl zu heften. Heute ernteten diese Leute Beifall und mussten beinahe schon Kurse geben, damit es die weniger Informierten ihnen nachmachen konnten. Auch das Tippen der Schreibmaschinen war schon lange abgelöst worden und jetzt zu der sehr frühen Stunde hörte man im Revier nur noch das entfernte und gedämpfte Klappern einer geräuschgedämpften Computertastatur. Es war zum Kotzen. Wo war der Flair geblieben?

Er hob seine Tasse an die Lippen und nippte an seinem viel zu heißen, nach türkischer Art aufgebrühten Kaffee. Stark. Und mit einer Menge ungesundem Koffein. Er sehnte sich nach einer Zigarette, aber seiner Frau zuliebe hatte er das Rauchen vor drei Jahren aufgegeben. Er bereute es jeden Tag aufs Neue, aber er liebte Rebecca und musste sich oft eingestehen, dass sie das Beste war, was ihm je in seinem Leben passiert war. Ohne sie hätte er auch kein Kind. Diesen aufgeweckten kleinen Jungen Namens Julien mit den witzigen kleinen Löckchen, der auf seinen noch unsicheren Füßen Sams Haus am Rande der Stadt unsicher machte. Erneut nahm er einen Schluck von dem Kaffee und sah auf die Eingangstür des Reviers. Es war Dienstagmorgen. Ruhig. Kein Wochenende. Und er fragte sich, warum er zum Geier überhaupt noch hier war.

Die Tür öffnete sich, ein Officer trat herein und entdeckte ihn, hob grüßend die Hand, lief aber weiter ohne ihn anzusprechen. Wirklich ungewöhnlich ruhig. Sam Wilkins kratzte sich am lichter werdenden Haar und zuckte leicht zusammen. Es setzte ihm zu. Das Alter ging auch an ihm nicht vorbei. Besonders, wenn er sich neben Rebecca sah, die 13 Jahre jünger war als er selbst, wurde ihm bewusst, wie alt er war. Er verstand bis heute nicht, warum sie sich für ihn entschieden hatte, warum sie bei ihm war. Wieso sie ihn liebte und es jeden Tag aufs Neue mit ihm aushielt. Der nächste Schluck von dem braunen Gebräu brannte ihm in der Kehle und er setzte den Weg zurück in sein Büro fort.

Anna Jones saß am Empfang des Reviers und bearbeitete ein paar Papiere. Vermutlich, um sich wach zu halten. Er schloss die Tür zu seinem kleinen Büro hinter sich und setzte sich an den alten Schreibtisch, der ihm gute Dienste leistete. Er war noch immer nicht unter der Last der Berichte zusammengebrochen, die er tragen musste. Und auch nicht unter der Last der vielen Todesopfer, die in diesen Berichten Erwähnung fanden. Ein Stuhl, der für Besucher gedacht gewesen war, trug ebenfalls eine Menge von verschiedenfarbigen Ordnern. Aktuelle Ermittlungen, ungeklärte Mordfälle, Beweisauflistungen.

Er gähnte, hörte seinen Kiefer dabei knacken und fragte sich, ob das ein weiteres Zeichen seines fortschreitenden Alters war. Er musste endlich die Summe auf seine Lebensversicherung erhöhen. Jetzt, wo der kleine Julien da war, wurde es Zeit. Doch das musste warten. Er griff nach einer Akte und schlug sie auf.

Darum war er auch nach der Spätschicht noch hier geblieben. Der Mord an einer jungen Frau. Grausam und bestialisch. Der Psychologe hatte endlich ein Täterprofil erstellt und er wollte sich noch einmal alle Einzelheiten des Tatorts und der Umstände ins Gedächtnis rufen, bevor er diesen Bericht las. In der Nacht und den frühen Morgenstunden arbeitete sein Verstand am Schnellsten. Am Analytischsten. Darum hatte er Rebecca gestern Abend angerufen und ihr erklärt, dass er heute eine Nachtschicht einlegen würde. Und sie hatte Verständnis dafür. Wenn auch zähneknirschend. Sie hatte ihn so kennengelernt. Bemüht, das Verbrechen zu bekämpfen und der Gute zu sein. Dafür liebte sie ihn. Und er liebte sie dafür, dass sie nicht versuchte ihn zu ändern. Den morgigen Tag würde er mit seinem Sohn verbringen. Vielleicht an den See fahren und ihm die Enten zeigen. ›Ante‹, wie er sie nannte. Er besah sich die Tatortfotos und bekam von dem Getöse, das plötzlich im Eingangsbereich losbrach nichts mit.

Dafür jedoch Officer Anna Jones und die sah tatsächlich überrascht auf. Denn mit einem solchen Zwischenfall hatte sie in den frühen Morgenstunden nicht mehr gerechnet.

»Worum geht es denn, Sir?«, fragte sie und behielt den Stift in der Hand, mit dem sie eben noch einen Bericht ausgefüllt hatte. Sie rechnete nicht mit einem länger dauernden Intermezzo.

»Ich...« Aiden stützte sich einen Moment auf seinen Knien auf, sog keuchend Sauerstoff in seine Lungen und stolperte dann näher auf den Empfangstresen zu, hinter der ihm eine dunkelblonde Polizeibeamte entgegen sah. »Ich habe einen Mord beobachtet. Ich muss... Ich war auf dem Heimweg und...« Sein Mund war staubtrocken und der Schweiß drohte ihm in die Augen zu laufen.

Officer Anna Jones hob eine Augenbraue. »Einen Mord, Sir?« Ihre Skepsis war begründet, hatte sie doch schon einige solcher Aussagen gehört, die sich im Nachhinein als etwas vollkommen Anderes herausgestellt hatten. Sie unterdrückte mit Mühe ein Gähnen.

»Ja!« Aiden strich sich mit dem Jackenärmel über die Stirn. Das Seitenstechen erschwerte ihm das Atmen. »Das habe ich doch gesagt! Mit dem Messer!« Viel zu spät erinnerte er sich an das Handy in seiner Hand. »Ich habe es gefilmt.«

Die laute Stimme rief einen weiteren Polizisten auf den Plan. Jung. Überengagiert. Noch relativ grün hinter den Ohren. Louis Larkin war 28 Jahre alt, sah aber aus wie keinen Tag älter als 20. Wenn überhaupt.

»Gibt es ein Problem, Anna?« Er war ein großer Verfechter des Schreibtisch-Feng-Shuis.

Aiden sah zwischen den beiden Polizisten hin und her. Dann schlug er derart kräftig mit der flachen Hand auf den Tresen, dass ein paar Broschüren verrutschten und ihm vor die Füße flatterten.

»Hören Sie!« Aiden hielt sein Handy nach oben. »Hier drauf ist ein Mord und einer von ihnen wird mich jetzt sofort zu einem Officer bringen, dem ich das zeigen kann!«, rief er außer sich. Wollte ihm denn hier niemand helfen?! Das Blut rauschte ihm so laut in den Ohren, dass er kaum etwas anderes hören konnte.

»Wir sind beide Officer, Sir«, meinte Louis Larkin und besah sich den jungen Mann. Braunes, kurzes Haar, blasse, kaltschweißige Haut. Er hob eine Augenbraue. »Was genau haben Sie denn gefilmt, Sir?«

Aiden starrte den jungen Mann vor sich an und spürte die Wut in sich hochkochen, als er dessen Worte gehört und verarbeitet hatte.

»Einen Mord, verdammt!« Kein Wunder, dass niemand mehr der Polizei vertraute, wenn die sich so unfähig anstellte! Durfte der Mann ihm gegenüber überhaupt schon eine Uniform tragen? »Ich war auf dem Heimweg und habe einen Mord gesehen und hiermit gefilmt. Ich bin Altenpfleger, ich weiß wie der Tod aussieht. Ich bin weder betrunken noch habe ich Drogen genommen, ich bin lediglich hierher gerannt, weil ich Hilfe brauche und Sie...« Aiden holte Luft, ballte eine Hand zur Faust, die andere umklammerte das Handy fester. »Bitte!«

Officer Larkin ließ sich einen Augenblick Zeit mit seiner Antwort. »Na, dann kommen Sie mal mit«, sagte er und schlug den Weg nach rechts ein. Er öffnete die Tür zu einem Verhörzimmer und wartete, bis Aiden an ihm vorbei getreten war.

»Also«, begann er und griff sich ein Verhörprotokoll von dem einzigen Schrank im Raum, »was genau haben Sie beobachtet?« Er setzte sich an den Tisch und bedeutete dem Mann sich zu setzen, der sofort Folge leistete.

»Ich war auf dem Rückweg vom Altersheim zur Bushaltestelle und da bin ich die übliche Abkürzung gegangen. Am Ende der Gasse habe ich ein Rascheln und Röcheln gehört und dann bin ich langsam näher. Da stand ein Mann, groß, breite Schultern, schwarzes Haar und mit einer Narbe auf der Wange. Ich glaube, er hatte auch ein Tattoo, aber deswegen habe ich es ja gefilmt.«

Aiden schob das Handy jetzt auf den Tisch. »Jedenfalls hielt der einen kleineren Mann fest. Im Schwitzkasten und mit einem Messer in der Hand. Dann ist ein schwarzer Geländewagen gekommen, ohne Kennzeichen. Da saß mindestens ein anderer drin und...« Aidens Gedanken überschlugen sich so wie seine Worte. »Dann hat dieser Typ mit der Narbe dem anderen die Kehle durchgeschnitten und ist in den Wagen gesprungen und dann sind sie weg. Oh und da war ein kleines Päckchen! Das ist dem mit der Narbe aus der Tasche gefallen.«

Aiden strich sich übers Gesicht. »Hören Sie, ich weiß, das klingt verrückt, aber hier...« Er löste die Bildschirmsperre seines Handys und da war noch das Video, das er gefilmt hatte.

***

Während Louis die Befragung begann, klopfte Anna an die Tür von Detective Sam Wilkins, der innerlich mit den Augen rollte. Fünf Minuten Ruhe. Mehr verlangte er ja gar nicht.

»Ja?«, fragte er und die Tür öffnete sich. Anna schob den Kopf hindurch.

»Entschuldigen Sie, Sir. Aber ich dachte, es könnte Sie interessieren. Es kam gerade ein junger Mann herein, der behauptete, er hätte einen Mord beobachtet.«

Sam senkte die Akte. »Ein Mord an wem?«

»Louis Larkin befragt ihn gerade.«

»Louis?«

Sie nickte. Das konnte ja nur schief gehen. Louis war so engagiert wie er unerfahren war. Sam kämpfte mit sich. Er sollte hier sitzen bleiben, sich in die Akte vertiefen und an diesem Fall weiterarbeiten. Und dennoch brachte ihn etwas dazu, sich zu erheben und sein Hemd zu richten, den Krawattenknoten gerade zu ziehen.

»Na schön. Ich schau mir das mal an.«

»Sehr gut.«

Das Linoleum quietschte leicht unter seinen Füßen als er über den Flur lief. Durch die Scheibe konnte er in den Verhörraum blicken. Louis Larkin saß mit dem Rücken zu ihm. Anders als er selbst trug der junge Polizist eine Uniform. In der Rechten hielt er einen Kugelschreiber und nickte leicht, während sein Gegenüber erzählte und er sich Notizen machte.

Das war schon der erste Fehler. Beobachte dein Gegenüber. Achte auf Gestik und Mimik. Sieh dir an, was der Aussagende berichtet. Ohne die Worte zu hören, war sich Sam sicher, dass der junge Mann dort die Wahrheit sagte. Er war nervös, verängstigt. Die Bewegungen waren fahrig und abgehackt. Die Augen zuckten von einem Punkt zum nächsten, kaum fähig etwas länger zu fixieren. Er hatte etwas gesehen, das ihn aufgewühlt, wenn nicht sogar schockiert hatte. Oder dieser junge Mann war ein absolut perfekter Schauspieler.

Jetzt schob er ein Handy auf den Tisch und erst da sah Louis Larkin wieder auf. Und diesen Moment nutzte Sam, um in den Raum zu treten. Louis drehte sich sofort um und auch der Blick des jungen Mannes richtete sich auf ihn.

»Lassen Sie sich nicht stören, Officer«, meinte er zu Louis. »Entschuldigen Sie die Unterbrechung. Ich bin Detective Wilkins. Machen Sie einfach weiter.« Er nickte dem jungen Mann knapp zu. Fahle Gesichtshaut, Schweiß auf der Oberlippe und auf der Stirn. Das Haar wirr.

Aiden wusste nicht recht, zu wem er nun sehen sollte, während er weitersprach.

Der junge Officer vor ihm, dessen Namen er in der Aufregung vergessen hatte, sah auf seine Notizen. »Und Sie standen da und haben es gefilmt?«, nahm Larkin den Gesprächsfaden wieder auf.

Aiden nickte, warf dem Detective noch einen Blick zu, begegnete klaren Augen. Aufmerksam. Hellhörig. Er hatte sich bisher nicht gut aufgehoben gefühlt in dieser Polizeiwache, aber das schien sich gerade zu ändern.

»Ja, das habe ich. Es ist alles hier auf dem Handy. Sie müssten nur auf Play drücken.«

»Was war das für ein Päckchen? Sie sagten, dem größeren Mann sei etwas aus der Tasche gefallen.«

»Ja, kurz bevor er das Messer benutzt hat. Ich weiß nicht, es war in einer Plastiktüte und hell.«

Der Officer nickte, machte sich Notizen wie die ganze Zeit schon und Aiden sah nun endgültig in die Augen des Detectives. »Die Narbe, wie hat die ausgesehen?«, fragte der junge Officer derweil ohne den Blick zu heben.

»Ich... Sie war... Sie war unschön, ausgefranst, nicht genäht oder nicht gut, wenn Sie verstehen, was ich meine. Sie lief von der Schläfe bis fast zum Mundwinkel auf der linken Gesichtshälfte.« Er schloss die Augen und schauderte ob der Erinnerung.

Sam Wilkins allerdings hatte die Augen weit geöffnet. Es fehlte nicht viel und Sam hätte den Kopf gegen die Wand geschlagen. Wie konnte man sich noch umständlicher anstellen? Und die ganze Zeit sah der Idiot von Jungpolizist auf diesen dämlichen Bogen! Den konnte er gut und gerne hinterher noch ausfüllen. Doch als die Narbe Erwähnung fand, runzelte Sam die Stirn. Aufmerksam betrachtete er den jungen Mann.

»Sie sind sicher, dass es nicht auf der rechten Seite war?«, fragte Sam und trat jetzt neben Larkin an den Metalltisch, auf dem das Handy lag.

Aiden runzelte die Stirn, rief sich das Bild erneut vor Augen, obwohl er es nur ungern tat. War er sich sicher? »Die Frage verunsichert mich. Weshalb fragen Sie?« Er sah zu dem Detective auf. Seine Gedanken rasten wild. Links oder rechts? Wie hatten sie gleich gestanden? Welche Seite hatten die Scheinwerfer beleuchtet?

Sam antwortete nicht, griff stattdessen über Louis hinweg nach dem Handy. Mit einem Finger startete er die leicht verwackelte Aufnahme. Es war nicht viel zu sehen. Es war zu dunkel und nur eine Handykamera. Doch dann fuhr ein Auto vorbei und nur mehrere Jahrzehnte Polizeidienst bewahrten Sam Wilkins davor, jetzt überrascht einzuatmen. Oder zu fluchen. Stattdessen sah er auf die Person auf dem winzigen Display. Sicherlich konnte ein Techniker noch etwas an der Helligkeit herumdrehen und an der Schärfe schrauben, aber er war sich absolut sicher,werdas hier auf dem Telefon war. Und das war Bedeutender als ein Sechser im Lotto.

»Wann ist das passiert?«, fragte er, noch während die letzten Sekunden des Videos liefen.

Aiden strich sich seine feuchten Handinnenflächen an seinen Oberschenkeln ab. Selbst durch die Jeans, die er trug, spürte er seine erhitzte Haut. Passierte das hier wirklich? Vielleicht träumte er ja nur? Aber dafür war das zu real gewesen, das Röcheln, das Grinsen des Mörders. Erneut schauderte er, vielleicht auch, weil das Langarmshirt, das ihm am Oberkörper klebte, langsam trocknete.

»Vor... Ich weiß nicht... Vor einer Viertelstunde? 20 Minuten? Ich bin sofort hierher gerannt. Das müsste aber dabei stehen, Sie können doch die Infos zur Videodatei aufrufen.«

Behutsam legte Detective Sam Wilkins das Handy zurück auf den Tisch. Vor 20 Minuten. Wertvolle Minuten! Der Drang, jetztLouisKopf gegen die Wand zu schlagen, wurde mit jeder Sekunde größer. »Welche Straße ist das?«

»Lincoln Road. In etwa der Höhe der Bushaltestelle, an der die Linie 9 hält. Gegenüber ist so ein kleines Café.« Aiden sah zwischen dem Officer und Detective Wilkins hin und her. »Ist das... Wieso fragen Sie denn?«

»Moment«, meinte Sam und sah zu Louis. »Sie schnappen sich sofort drei Leute und fahren zu der Adresse. Ich will, dass sie dort alles großräumig absperren. Sehen Sie nach, ob der Mann noch lebt. Wenn nicht, dann fassen Sie nichts weiter an. Weder Sie noch sonst jemand. Haben Sie mich verstanden?«

Louis sah ihn mit großen Kuhaugen an. »Ja, Sir.«

»Ich schicke Ihnen Detective Collins. Sie wird sich das Ganze ansehen. Undnursie. Sie lassen keinen anderen Polizisten an die Leiche oder über die Absperrungen.«

Wieder nickte der junge Polizist.

»Gut. Dann los.«

Die Stuhlbeine kratzten über den Boden, als Louis Larkin sich erhob, um den Raum zu verlassen.

»Und Sie.« Sam wandte sich an den jungen Mann vor ihm. »Sie warten hier. Ich bin gleich zurück. Ich muss telefonieren.« Er machte einen Schritt und drehte sich dann noch einmal um. Griff nach dem Handy. »Das bekommen Sie sofort wieder.« Damit verließ er den Raum.

Plötzlich war Aiden allein. Er blinzelte auf die Stelle, an der eben noch sein Handy gelegen hatte. Irgendetwas war passiert, irgendetwas ging nun vor sich. Ihm wurde heiß und kalt. Er schob seine Hände auf den Tisch, knetete seine Finger, während er wartete. Eine Minute später erhob er sich. Er konnte nicht mehr still sitzen! Das ertrug er nicht! Der Gedanke, dass er gerade tatsächlich einen Mord beobachtet hatte - und er war sich ziemlich sicher, dass das Opfer nicht mehr lebte - sickerte langsam in sein Bewusstsein durch, setzte sich dort fest und versponn sich selbst wie in einen kleinen festen Kokon, den er so schnell nicht mehr loswerden würde. Ihm wurde schlecht. Suchend sah er sich um, aber in dem Raum war nichts anderes zu finden als der Papierkorb. Doch sein Würgen war trocken. Er hatte seit 19 Uhr nichts mehr gegessen. Ja, er kannte sich mit dem Tod aus, aber mit dem von älteren Leuten! Ein Mord, bei dem Blut floss, bei dem das Opfer noch leben wollte und röchelte - das war etwas ganz anderes! So viel Blut… Schwarz im Dunkel der Dämmerung und doch hatte er es glänzend über die Finger des Mannes laufen sehen. Wie er versucht hatte, das Leben in sich zu halten… Erneut würgte Aiden, doch bis auf etwas Galle schmeckte er nichts. Kalter Schweiß stand ihm auf der Stirn, als er den Kopf hob und sich auf den Stuhl fallen ließ. Seine Knie zitterten.

***

Detective Wilkins lief währenddessen die paar Meter zur Anmeldung. »Anna, ich brauche Sie.« Sie hob den Blick, sah ihn fragend an. »Sie stellen sich vor das Verhörzimmer und lassen den jungen Mann da drin keine Sekunde aus den Augen. Ich will nicht, dass er abhaut.«

»Und wenn er es versuchen sollte, Sir?«

»Dann lassen Sie sich etwas einfallen. Aber er geht nicht aus dieser Tür da.« Sam deutete auf die Schwingtür, durch die Aiden vor einigen Minuten gestolpert war.

»Okay, Sir.« Er sah ihr noch kurz nach und ging dann in sein Büro, um mit Sarasota Collins zu telefonieren. Sie klang verschlafen, müde und sauer, war aber nach seinen ersten Worten hellwach und am Rascheln hörte er, dass sie bereits dabei war, in eine Hose zu springen.

Fünf Minuten später betrat er den kleinen Raum erneut, in dem der junge Mann noch immer saß. In einer Hand hielt der Detective einen Becher mit kühlem Wasser. Er stellte ihn vor dem jungen Mann ab, der immer noch reichlich blass war. Dann riss er den Zettel von dem Befragungsbogen zusammen mit dem Durchschlag, kontrollierte, dass nichts auf weitere Seiten durchgedrückt war und nahm auch die Pappseite heraus, die als Sicherheit diente, dass nichts weiter durchdrückte. Den Block legte er zurück, die Seiten faltete er und legte sie auf den Tisch.

»So. Wir fangen noch einmal vom Anfang an. Ich bin Detective Leutnant Sam Wilkins. Wie heißen Sie?«

Aiden hatte gerade die Hände um den Pappbecher gelegt, in dem eine klare Flüssigkeit abgefüllt war, er vermutete Wasser. Doch jetzt ruckte sein Kopf hoch und er starrte den Mann vor ihm an, den er auf Mitte 40 schätzte.

»Was? Wieso von vorne? Ich hab doch schon alles dem Officer erzählt!« Aiden deutete auf die Tür.

»Ja. Aber ich möchte, dass Sie es mir noch einmal erzählen. Langsam. In allen Einzelheiten.«

»In allen...« Aidens Magen zog sich krampfhaft zusammen und er seufzte tief. Alles von vorn...

»Gut, also...« Immerhin hatte Aiden so Zeit, all seine Gedanken noch einmal neu zu ordnen und vielleicht bekam er die Geschichte jetzt in der chronologisch richtigen Reihenfolge zusammen. Die Geschichte, die keine Geschichte war, sondern Realität. Schwer schluckte er, nahm einen Schluck von dem Wasser. Es schmeckte schal.

»Ich arbeite in einem Altersheim. Heute Nacht gab es einen Zwischenfall und ich wurde ins Heim gerufen. Es ist die ›Mapleleaf Residence‹. Ich habe dort alles geklärt und wollte zur Bushaltestelle, der Bushaltestelle in der Lincoln Road. Das Heim habe ich kurz nach halb sechs verlassen, ich habe auf die Uhr gesehen, das weiß ich also noch genau. Jedenfalls kenne ich eine Abkürzung und die führt durch diese kleine Gasse, durch die keine Autos passen. Ich wollte meiner Schwester schreiben, deshalb hatte ich das Handy in der Hand. Kurz vor dem Ende der Gasse habe ich ein Rascheln wie von Kleidung gehört, dann ein Röcheln. Ich bin näher und dann habe ich die beiden Männer gesehen.« Aiden tippte auf die Stelle, an dem sein Handy gelegen hatte. »Dann habe ich alles gesehen, was auch auf meinem Handy drauf ist.«

»Beschreiben Sie es mir. Nicht das, was auf dem Handy zu sehen ist. Sondern das, was Sie gesehen haben.« Sam sprach ruhig und einfühlsam.

»Ich...« Aiden kam sich vor wie in einem schlechten Film oder einem noch mieseren Theaterstück. Er hatte doch alles bereits gesagt! Aber dieser Detective vor ihm war weitaus interessierter an seiner Geschichte und, das rief sich Aiden jetzt ins Gedächtnis, er war vorhin nicht dabei gewesen. Also nickte er leicht, bevor er weitersprach.

»Der Größere, der Typ mit der Narbe im Gesicht, sah gepflegt aus, sein Haar war kurz geschoren, er trug dunkle Kleidung, beinahe ausschließlich schwarz, denke ich. Vielleicht war der Pulli dunkelblau, ich weiß nicht genau. Er hielt diesen kleineren Mann im Schwitzkasten, dessen Füße kaum noch den Boden berührt haben. Er hat... Er hatte Angst, er hatte die Augen weit geöffnet. Ich glaube, sie haben die Lippen bewegt, aber ich habe nichts gehört, wenn sie etwas gesagt haben.« Aidens Finger schlossen sich fester um den Pappbecher.

»Ich habe... Ich habe das Messer in der Hand des großen Mannes gesehen. Er hat ihn einfach getötet.« Aiden nickte leicht. »Dann hat sich ein Auto genähert und ich hab... Ich hab überlegt, was ich machen kann und dann habe ich versucht, mich so leise wie möglich zu verhalten und ich habe das Video angemacht. Dem Mann mit der Narbe ist das kleine Päckchen aus der Tasche gefallen. Ich habe es nicht genau gesehen, es war, wie ich schon sagte, hell und aus Plastik, mehr weiß ich nicht. Vielleicht Drogen? Ich hab keine Ahnung...« Aiden strich sich durchs Haar. »Und dann hat der Große gegrinst und das Auto hat ihn angeleuchtet und er ist eingestiegen. Ich hab nicht geahnt, dass das Auto zu ihm gehört. Es war ein schwarzer Geländewagen. Die Marke... Es war... Ich weiß es nicht. Etwas Großes.« Aiden seufzte.

»Sie sind ein sehr guter Beobachter, Mr. ...« Sam lächelte. »Sie haben mir noch immer nicht Ihren Namen verraten.«

Aiden blinzelte. Das hatte er tatsächlich nicht. »Aiden. Aiden Miller.« Es tat unheimlich gut, angelächelt zu werden, ernst genommen zu werden. Aiden fiel ein zentnerschwerer Stein vom Herzen.

»Danke«, sagte er leise und etwas zu spät, aber auch das Kompliment hatte ihm sehr gut getan. Prompt fühlte er sich etwas besser. »Können Sie damit etwas anfangen?«

»Mr. Miller, das, was Sie da beobachtet haben, war ein schweres Verbrechen. Ich kann mir kaum vorstellen, wie Ihnen jetzt zumute sein muss. Und trotzdem haben Sie so besonnen reagiert. Nur wenige hätten in dieser Situation so gehandelt wie Sie.« Er betrachtete sein Gegenüber einen Augenblick. »Vermutlich ist das auch der Grund warum Sie noch leben. Brauchen Sie einen Arzt?«

Leicht straffte Aiden die Schultern. Besonnen. Er hatte besonnen gehandelt. Das hatte er wirklich, oder? Er war sich nicht sicher. Überhaupt war er sich über nichts mehr sicher. War das alles wirklich passiert? Und wie fühlte er sich eigentlich?

»Ich... Ich weiß nicht. Ja.« Ein Arzt konnte nicht schaden. Vielleicht hatte der ein Beruhigungsmittel, denn das war etwas, das Aiden wirklich gebrauchen konnte. Oder? Oh Gott, er war verwirrt. Ihm war immer noch etwas übel. Sein Magen fühlte sich wund an und den bitteren Geschmack der Galle in seinem Mund konnte selbst das Wasser nicht wegspülen. Erst jetzt bemerkte Aiden, dass seine Hände zitterten. Genau wie seine Knie. Ihm war kalt und im Grunde wollte er nichts weiter als nach Hause, sich in seinem Bett verkriechen und nie wieder diesen sicheren Ort verlassen! Er senkte den Blick.

»Ich will nur nach Hause«, murmelte er.

Selbst nach so vielen Jahren berührte es Sam noch, wenn er so etwas sah. Die Angst im Gesicht eines Menschen, der das wahre Gesicht der Welt gesehen hatte. Der auf der Sonnenseite lebte und sich auf einmal im Schatten wiederfand. Und dafür hielt sich der junge Mann ihm gegenüber erstaunlich gut.

»Ich werde Ihnen einen Arzt kommen lassen. Und dann reden wir weiter. Ich brauche noch ein paar persönliche Angaben von Ihnen. Kann ich Sie für ein paar Minuten alleine lassen? Oder soll ich jemanden schicken, der Ihnen Gesellschaft leistet?«

»Nein. Nein, das geht schon.« Aiden brachte in diesem Moment kein Lächeln zustande. Diesmal wagte er es nicht, aufzustehen. Er hatte Angst, dass ihn seine Knie nicht tragen würden, also wartete er einfach ab. Persönliche Angaben. Dann würde er mit dem Arzt sprechen, würde vielleicht ein Beruhigungsmittel bekommen und dann konnte er nach Hause. Der Detektive erhob sich und verließ das Zimmer. Aiden folgte ihm mit den Augen.

Sam war dankbar für die kurze Pause. Er konnte kaum glauben, was er da gerade in der Hand hielt. Das war einfach unglaublich! Nun musste er das Ganze nur noch dem jungen Mann erklären und er hoffte, dass dieser stark genug war, das zu verkraften. Vom einen Schlag auf den anderen würde sich dessen Leben verändern. Während Sam den diensthabenden Arzt anrief und auf die Wache bestellte, rasten seine Gedanken.

Er brauchte eine Lösung. Und zwar dringend. Er konnte Aiden auf keinen Fall nach Hause gehen lassen. Das Ganze würde durchsickern. Und er wusste genau, der normale Zeugenschutz würde nicht ausreichen. Er trat in seinem Büro an den Schreibtisch, zog eine Schublade auf und nahm ein Foto heraus. Einen Moment lief er auf und ab. Wozu er genau zwei Schritte Platz hatte. Er musste den jungen Mann in Sicherheit bringen. Nicht nur, damit dieser aussagen konnte. Sondern schon alleine, um ihn zu schützen. Er sah auf das Bild in seiner Hand und schnaubte. Diese hässliche Visage wollte er nur an einem Ort sehen.

Und das war hinter Gittern.

***

Die junge Blondine, die Aiden auf der Wache begrüßt hatte, führte wenig später einen Arzt zu ihm. Der Arzt stellte sich als Dr. William Townsend vor. Er nahm Aidens Puls, fragte ihn ruhig nach seinem Befinden und Aiden berichtete von der Übelkeit, dem Herzrasen, der Fahrigkeit.

Nichts Ungewöhnliches, konstatierte der Doktor und Aiden hätte das auch gut allein gewusst. Er fragte sich, wo sein Handy war, denn das hatte er noch immer nicht zurück, dabei hatte der Detective davon gesprochen, dass er es wiederbekommen würde.

»Ich rate Ihnen dringend, mit einem Psychologen zu sprechen, Mr. Miller.«

»Danke, aber gerade möchte ich nur meine Ruhe«, antwortete Aiden. »Kann ich... Können Sie mir ein Beruhigungsmittel verschreiben? Nur für die Nacht? Damit ich schlafen kann?«

Der Arzt lächelte, reichte ihm einen Blisterpackungsstreifen aus der braunen Tasche, die er bei sich trug. »Es ist nur ein Leichtes, aber es sollte Ihnen helfen.«

Aiden nickte, verabschiedete sich schließlich und bat die junge Blondine um ein weiteres Wasser, das sie ihm prompt brachte. Seine Hände zitterten noch immer. Aiden war sich sicher, dass das noch einige Zeit lang so bleiben würde. Zumindest traute er inzwischen wieder seinen Knien, daher erhob er sich und ging ein paar Schritte im Raum auf und ab.

Als Sam Wilkins zurück in den Raum kam, war eine gute halbe Stunde vergangen. Das Foto hielt er noch immer in der Hand als er die Tür hinter sich schloss. Beinahe schien es so als hätte der junge Mann wieder etwas Farbe im Gesicht.

»Nun, Mr. Miller. Wir müssen noch ein paar Dinge besprechen.« Er setzte sich wieder an den Tisch und überließ es seinem Gegenüber, es ihm gleich zu tun oder stehenzubleiben.

»Sie wollten noch meine persönlichen Daten.« Die Blisterpackung lag neben dem Pappbecher auf dem Tisch. Jedes Geräusch erschien Aiden unnatürlich laut, sowohl die Stimme des Detectives als auch seine eigene oder das Scharren der Stuhlbeine.

Sam nickte und griff nach dem Protokoll der Befragung und einem Stift, drehte die Rückseite der Zettel zu sich.

»Haben Sie Familie?«

»Nun, keine Kinder, falls Sie das meinen.« Jetzt erst setzte sich Aiden wieder an den Tisch, dem Detective gegenüber.

»Nein. Ich meine Familie in jedem Sinne. Eltern, Geschwister, weitere Verwandte.«

»Oh. Ja.« Aiden runzelte die Stirn. »Eltern, eine Schwester.«

»Onkel und Tanten?«

Aiden nickte. »Ein Onkel. Er hat geheiratet, ich habe einen Cousin. Entschuldigen Sie, aber was hat das mit dieser Sache hier zu tun?«

Der Detective notierte sich das alles auf dem Blatt Papier. »Leider eine ganze Menge, Mr. Miller. Was ist mit einer Freundin? Irgendwelche Liebschaften?«

»Nicht... Nein, nicht im Moment.« Aiden war verwirrt. »Meine Großeltern mütterlicherseits leben noch und mein Großvater väterlicherseits«, fügte er dennoch hinzu. »Mr. Wilkins... Können Sie mir erklären, was hier vorgeht?«

»Geben Sie mir noch eine Minute«, meinte der, während er schrieb. »Wo wohnen sie?« Er tippte auf die Liste. »Ich brauche die Adressen. Und auch Ihre. Leben Sie alleine?«

»Ja, alleine.« Aiden sah auf das Papier. »Alle Adressen?«

»Ja. Bitte.«

Aiden nickte, sah auf die Liste und nach und nach sagte er die Adressen an. Es war ein Glück, dass er alle im Kopf hatte, was wahrscheinlich daran lag, dass es noch nicht lange her war, dass er Weihnachtskarten an alle geschrieben hatte.

Sam schrieb alles mit. »Was ist mit Freunden?«

»Davon gibt’s einige.« Mit großen Augen sah Aiden den Detective an. »Sagen Sie nicht, das brauchen Sie auch alles...«

»Für den Anfang nur von den engsten Freunden. Aber das können wir auch später machen.« Er legte den Stift nieder und drehte jetzt das Foto um, das er vorher auf den Tisch gelegt hatte, schob er es Aiden zu. »Der Mann, den Sie gesehen haben, heißt Enrico Cortez.« Er tippte auf das Foto, das das Gesicht des Mannes zeigte. Inklusive der Narbe.

Aiden sah auf das Bild und erstarrte. Da war er! Das war der Mann! Der Mörder! Schnell nickte er, griff mit beiden Händen nach dem Foto und hob es vom Tisch, um es sich genauer anzusehen.

»Ja! Ja, das ist er!«

Sam nickte. »Das Problem dabei ist, dass es sich um einen der gefährlichsten und einflussreichsten Männer dieser Stadt handelt. Wenn nicht sogar dieses Staates.«

Und da war sie wieder, die Gänsehaut, die Aiden schon den ganzen Abend begleitet hatte. Erst der Kälte wegen, jetzt von einem Gefühl ausgelöst, das mit eisigen Fingern nach ihm zu greifen schien. Er prägte sich das Gesicht ein, die dunklen, beinahe schwarz wirkenden Augen, die deutlich hervorstehende Augenbrauenpartie, die fliehende Stirn, das verhältnismäßig kleine Kinn und die kräftige Kieferpartie. Die Narbe war auch auf dem Foto deutlich zu erkennen. Nur langsam drangen die Worte seines Gegenübers zu Aiden durch.

»Wieso Problem?«, fragte er, löste mit Mühe den Blick von dem Foto und legte es wieder auf den Tisch. Die Gänsehaut jedoch blieb.

»Sie haben ihn gesehen. Wie er einen anderen Menschen tötet. Und Sie haben es auch noch gefilmt.« Sam Wilkins zog das Handy aus seiner Hosentasche. »Das ist ein Glücksgriff. Bitte entschuldigen Sie, Ihnen muss das alles andere als glücklich vorkommen und alles, was ich Ihnen jetzt sage, wird Sie vermutlich dazu bringen, mich zu hassen. Aber Sie sind seit Jahren der erste Zeuge, der lebend bei der Polizei angekommen und in der Lage ist, gegen Cortez auszusagen. Und nehmen Sie es mir nicht übel: Eine andere Wahl bleibt Ihnen nicht. Selbst wenn Sie sagen, Sie wollen damit nichts zu tun haben, Cortez wird von Ihnen erfahren. Und er wird versuchen, Sie auszuschalten. Sie sind ein unkalkulierbares Risiko für ihn.«

Es dauerte einen Moment, bis Aiden antwortete. Als er es tat, klang seine Stimme wie durch Watte an seine eigenen Ohren. Schwammig, als hätte er zu viel Schmerzmittel genommen, das ihm nun den Kopf vernebelte. »Ausschalten...«

»Ja. Aber wenn Sie mir vertrauen und das tun, was ich sage, dann werde ich dafür sorgen, dass das nicht passieren kann.«

»Mo... Moment.« Aiden tippte mit allen Fingern einer Hand auf das Foto zwischen ihnen. »Dieser Mann möchte mich umbringen? Ich... Ich weiß nicht mal, ob mich der Fahrer des Autos gesehen hat oder nicht.«

»Das spielt keine Rolle. Cortez hat seine Leute überall. Ich bin nicht einmal sicher, ob diese Wache hier frei von seinen Leuten ist. Niemand bekommt ihn zu fassen. Er ist wie ein glitschiger Fisch. Darum führe ich Ihre Befragung auch alleine durch. Und nicht mit Officer Larkin zusammen. Er weiß eh schon zu viel. Ich weiß nicht wie, aber Cortezwirddavon erfahren, dass es Sie gibt. Und das vermutlich eher früher als später. Doch dass Sie direkt hierher gekommen sind, verschafft uns ein schmales Zeitfenster.« Der Detektive merkte deutlich, dass das für den jungen Mann vor ihm alles keinen Sinn ergab. Aber er kannte Cortez. Der Mann war ein Monster. Skrupellos ging er über Leichen, räumte jeden aus dem Weg, der ihm in die Quere kam. Verteilte Drogen in der Stadt für geringes Geld. Drogen von so geringer Qualität, dass die Menschen an den Folgen des Konsums starben wie die Fliegen. Wie oft hatte er schon geglaubt, endlich einen Beweis gegen Cortez in der Hand zu halten? Nur damit sich dann kurz darauf herausstellte, dass ein Asservatentütchen verschwunden war. Dass ein Zeuge spurlos verschwunden war.

Verschwunden schien auch Aidens Fähigkeit, genau zuzuhören. Die Worte preschten nur so durch seine Gedanken. Glücksgriff, erster Zeuge, lebend, aussagen, keine andere Wahl, Zeitfenster, ausschalten. Immer wieder dieses Ausschalten. Cortez würde ihn umbringen. Das war es, was ihm dieser Polizist gerade versuchte klarzumachen. Aiden hatte sich nie sonderlich mit der Justiz beschäftigt, daher fragte er sicherheitshalber nach.

»Heißt das, ich bin so etwas wie Ihr Kronzeuge?«

»Wenn Sie sich tatsächlich dazu bereit erklären, gegen ihn auszusagen, dann ja. Dann sind Sie genau das. Aber ob Sie aussagen oder nicht, ich muss Sie fürs Erste in Sicherheit bringen.«

Aiden wusste nicht, ob er lachen oder weinen sollte. Sein Leben da draußen schien mit einem Schlag so weit entfernt. Er war hier und zumindest gerade in Sicherheit. Oder arbeitete am Ende Sam Wilkins auch für Cortez? Was, wenn es so war?

»Wieso sollte ich Ihnen dann vertrauen? Wohin wollen Sie mich bringen? Kann ich nicht hier bleiben?« Es gab so viele Fragen in ihm, so viele Fragen, die er kaum greifen konnte und so kämpften sich einfach die dringendsten vor und die betrafen ihn selbst.

Sam lächelte. »Es gibt absolut keinen Grund, warum Sie mir vertrauen sollten.« Er fand die Art seines Gegenübers zu denken sehr erfrischend. Der junge Mann war auf Zack.

»Normalerweise würde ich den Weg des Zeugenschutzprogramms gehen. Sie in ein sicheres Haus bringen und abwarten bis die Gefahrenbewertung durch ist und dieses ganze Trara. Viel Bürokratie. Aber die Sache ist, ich kann hier niemandem trauen, wenn es um Cortez geht. Er hat Zugriff auf polizeiliche Ermittlungen. Darum wird das hier auch niemand zu Gesicht bekommen.« Sam tippte auf die Zettel, die Louis Larkin vorhin begonnen hatte auszufüllen. »Ich habe eine Idee, wohin ich Sie bringen kann. Wo Sie sicher sind. So sicher, wieiches nicht gewährleisten kann. Und schon gar nicht hier.«

Graue Augen lagen auf Aiden. Zum ersten Mal nahm er die Augenfarbe seines Gegenübers wahr. Überdeutlich. So überdeutlich wie das Telefonklingeln, das weiter entfernt, außerhalb des Raums, zu hören war oder wie seinen eigenen Herzschlag. Am liebsten hätte Aiden sich gekniffen und wäre aus diesem Albtraum erwacht. Er verstand nicht, was gerade vor sich ging, konnte all das nicht wirklich begreifen. Es rauschte an ihm vorbei, hatte keine Chance, bei ihm anzukommen.

»Was ist mit meiner Familie? Meinen Freunden?«, hörte sich Aiden fragen. Eine weitere dringende Frage. Immerhin hatte Detective Wilkins nach all diesen Menschen gefragt.

»Sie werden keinen Kontakt zu ihnen haben. Zu ihrem Schutz.«

Diese Worte drangen dann doch zu Aidens Bewusstsein durch und sie pressten ihm die Luft aus den Lungen.

»Nein. Nein! Das...«

»Jedes Wort von Ihnen kann Ihre Familie und Ihre Freunde in Gefahr bringen. Der beste Schutz für all diese Menschen ist, wenn Sie absolut gar nichts wissen. Ich weiß, das ist hart und klingt unverständlich für Sie. Aber anders ist es nicht zu machen. Nur, wenn Cortez sicher sein kann, dass sie alle nichts wissen, können sie sicher sein.«

Aiden nickte langsam, obwohl alles in ihm schrie, dass er das nicht wollte, dass er nach Hause wollte, nur in sein Bett. Dass er seiner Schwester Amy schreiben wollte und seiner Mum, seinem Dad und all seinen Freunden. Dennoch nickte er, immer wieder, bis ein leises Geräusch ihn aufschreckte und zusammenzucken ließ. Detective Wilkins hatte nach dem Foto gegriffen.

»Ich weiß nicht, was ich sagen soll.«

»Sie müssen im Moment gar nichts sagen. Ich weiß, dass das alles unheimlich viel ist.« Sam sah auf das Bild vor sich. »Aber ich kann Ihnen versprechen, ich werde alles in meiner Macht Stehende tun, um dafür zu sorgen, dass Cortez ins Gefängnis kommt. Für Mord bekommen wir ihn endlich dran.« Er tippte auf das Handy. »Mit Ihrer Aussage und dem Video haben wir endlich etwas in der Hand.« Jetzt ging es nur daran, diese Informationen den richtigen Leuten zukommen zu lassen. Und er brauchte einen Richter, der nicht korrupt war.

»Wie lange kann das denn dauern?«

»Das ist schwer zu sagen. Ein paar Tage oder ein paar Wochen. Leider.«

Kurz presste Aiden die Lippen aufeinander, um irgendein Gefühl zurückzubekommen. Doch es brachte nichts, er fühlte sich taub. Sein gesamter Körper fühlte sich taub an. »Dann bringen Sie mich in Sicherheit.«

Sam sah auf seine Uhr und erhob sich dann. »Gut.«

Aiden erhob sich ebenfalls und dachte für einen Moment, er hätte zugenommen. Sein Körper fühlte sich schwer an. »Und wo bringen Sie mich nun hin?«, fragte er den Detective.

Der zögerte einen Moment. »Sagen wir für den Augenblick einfach, zu einem Bekannten.« Denn anders wusste er diesen Mann nicht zu bezeichnen. Er wusste nicht einmal, ob sein Plan aufgehen würde. Doch sicherer als dort würde der junge Mann nirgends sein.

Aiden wusste nicht, ob er sich mit dieser Beschreibung sicherer fühlte oder nicht. Der Detective klang nicht gerade so, als verbinde ihn mit dem ›Bekannten‹ eine enge und vertrauensvolle Beziehung. Sie verließen den Verhörraum und traten zurück in den Flur, in dem sich Aiden sofort weniger aufgehoben fühlte.

»Werden Sie meiner Familie Bescheid geben? Dann möchte ich nämlich, dass Sie...«

»Nein, Mr. Miller. Kein Kontakt. Bis die Sache geklärt ist.«

Aiden blinzelte den Mann neben ihn an. »Nicht einmal... Sie sagen Ihnen nicht einmal Bescheid?«, fragte er erschrocken.

»Ich kann verstehen, dass Sie das schockiert, aber glauben Sie mir. Je weniger sie alle wissen, desto sicherer ist es. Jede Information kann Ihre Familie in Gefahr bringen.«

»Sicherer vielleicht, aber sie werden sich Sorgen machen! Sie werden denken, mir sei etwas zugestoßen und...« Aiden biss sich fest auf die Unterlippe.

»Ja. Das werden sie. Das kann ich auch nicht schönreden.« Sie hielten vor Sams Bürotür an. »Ich hole nur kurz meine Autoschlüssel.« Er trat in den kleinen Raum, griff nach seinem Sakko und den Schlüsseln zu seinem Privatwagen. Leise zog er die Tür hinter sich zu, als er wieder zu dem jungen Aiden Miller trat. Der war immer noch blass.

Aiden sah zu dem Detective auf. Er war einen halben Kopf größer als er selbst und jetzt sah er ihn aus grauen Augen offen an.

»Ich hätte gern mein Handy zurück«, sagte Aiden. Er war hin- und hergerissen zwischen seinen Gefühlen. Er war wütend auf den Detective und dankbar zugleich. Er wollte nur nach Hause, wusste aber, dass er dort nicht sicher war und ähnlich verhielt es sich mit seiner Familie und seinen Freunden. Er wollte Kontakt zu ihnen, wollte mit ihnen schreiben und sprechen! Doch er wusste, er spürte, dass Sam Wilkins die Wahrheit sagte und er all diejenigen gefährden würde, die ihm etwas bedeuteten. Was war nur in diesen wenigen Stunden passiert, das sein Leben so auf den Kopf gestellt hatte? Aiden ahnte, dass er im Moment nur einen ganz geringen Teil davon begriff, aber dieser Teil reichte schon aus, ihm den Boden unter den Füßen wegzuziehen.

»Sie bekommen es zurück. Aber ich muss erst die Daten sichern lassen.« Sie liefen jetzt an der Anmeldung vorbei und Sam spürte den Blick von Anna deutlich. Sah die Frage dahinter, die er aber nicht beantworten würde. Er würde niemandem erzählen, wohin er diesen Mann brachte, denn im Moment konnte er niemandem vertrauen außer sich selbst. Er zog sein Sakko über, als sie nach draußen traten und es verbarg so die Dienstwaffe, die er am Gürtel trug. Er deutete auf einen alten Dodge.

»Das ist mein Wagen.« Die Sonne hatte sich bereits durch die Wolken gekämpft und ein Blick auf die Uhr sagte Sam, dass es bereits kurz nach neun Uhr war. Rebecca würde ihm die Hölle heiß machen, aber auch das musste warten.

»Wenn Sie... mich umbringen wollen, machen Sie es bitte schnell«, sagte Aiden, als auch der Detective in den Dodge gestiegen war. Er versuchte ein Lächeln.

Sam zog die Tür hinter sich zu, sah dann den jungen Mann neben sich an. »Entschuldigung, was?«

Aiden seufzte leise. »Ich meine nur, falls Sie doch mit diesem Cortez unter einer Decke stecken, dann machen Sie wenigstens schnell.«

Ein Lächeln zeigte sich auf dem Gesicht des Detectives. »Keine Sorge. Ich habe wirklich nicht vor, sie umzubringen. Ganz im Gegenteil. Ich will, dass Sie am Leben bleiben.« Er startete den Motor. »Da fällt mir ein... Haben Sie Hunger?«

»Hunger?«, wiederholte Aiden, als würde er dieses Wort zum ersten Mal hören. Dann schüttelte er den Kopf. »Nein.« Er schnaubte leise und griff nach dem Gurt, um sich anzuschnallen. »Ganz und gar nicht, mir ist übel.« Noch dazu schwebte ein Gefühl über Aiden, das er als Wolke wahrnahm. Eine Wolke des Misstrauens, der Unsicherheit, der Angst. Cortez würde ihn finden, ihn ausschalten. Das hatte der Detective gesagt. Ihm trachtete jemand nach dem Leben oder er würde es tun, sobald er von ihm erfuhr. Fest strich Aiden mit beiden Händen über seine Oberschenkel. Das konnte unmöglich die Realität sein. So etwas passierte doch sonst nur im Fernsehen! Oder anderen Leuten. Aber nicht ihm.

»Woher wissen Sie, dass ich bei Ihrem Bekannten sicher bin?«, fragte er und sah dabei aus dem Fenster. Wieder überkam ihn eine Gänsehaut, ließ ihn schaudern. Nirgends war es sicher. Auch das hatte Wilkins gesagt. Aiden betrachtete die Menschen auf dem Bürgersteig, in den Autos und Bussen und ihn überkam ein seltsam weltfremdes Gefühl.

Der Detective konzentrierte sich auf den Verkehr, während er sprach. »Sagen wir einfach, er hat sehr großes Interesse daran, Cortez die Suppe zu versalzen.«

Aiden zog es vor zu schweigen, während Häuser, Menschen und der morgendliche Verkehr vor dem Fenster vorbeizogen. Heute war er eigentlich mit Amy zum Abendessen verabredet. Sie hatten Pizza machen wollen.

»Ich weiß, das Ganze kommt Ihnen merkwürdig vor. Und normalerweise würde ich den üblichen bürokratischen Weg gehen. Sie in ein sicheres Haus bringen lassen, Bewachung durch Polizeibeamte... Aber wie ich schon sagte: Cortez ist unheimlich schwer zu fassen und ich bin mir sicher, dass er seine Leute auch bei der Polizei hat. Dieser Mann ist... ein Dreckschwein. Er kontrolliert nahezu 70 Prozent des Drogenhandels hier in Tribent und verschiebt das Zeug in großem Stil. Nicht nur hier. Vermutlich im ganzen Staat, wenn nicht sogar im ganzen Land. Er geht sprichwörtlich über Leichen, was Sie ja selbst gesehen haben. Und ihm habhaft zu werden, ist nahezu unmöglich. Er weiß genau, wen er schmieren muss, um unbeschadet aus der Sache herauszugehen. Das wäre nicht das erste Mal. Aber mit einem Zeugen wie Ihnen und dem Video dazu... Da kann er sich nicht rausreden. Und darum kann ich es nicht riskieren, den normalen Weg zu gehen. Was, wenn ein Beamter, den ich zu Ihrem Schutz abstelle, für Cortez arbeitet? Dann wären Sie tot. Oder wenn die Adresse herauskommt. Noch dazu hat die Polizei nach den letzten Umstrukturierungen gar nicht die Möglichkeiten, Sie so zu bewachen, wie es nötig wäre. 24 Stunden am Tag. Sie haben keine Ahnung, was da alles dazu gehört.« Sam seufzte. »Es muss schnell gehen. Underkann das leisten.«

Aiden hatte, während Wilkins sprach, den Kopf gedreht und den Beamten beobachtet. Es schien ihm ernst zu sein und vielleicht, wenn Aiden Glück hatte, dann konnte er ihm vertrauen. Wenn nicht... Daran wollte er lieber nicht denken, aber im Moment blieb ihm nichts weiter übrig, als diesem Mann zu folgen. Ohne ihn zu kennen, war er Aidens einzige Hoffnung auf Sicherheit. Erneut überlief den jungen Mann ein Schauder.

»Verraten Sie mir seinen Namen?«

»Gabriel Barone.« Der Polizist kam nicht umhin, das Gesicht zu verziehen, als er den Namen aussprach.

Aidens Augenbrauen flogen nach oben. Ein starker Name, so viel stand fest. »Ich werde das Gefühl nicht los, dass Sie Ihren Bekannten nicht sonderlich leiden können.«

Das brachte den Detective zum Lächeln. »Nun. Da liegen Sie gar nicht so falsch.« Es gab sogar eine ganze Menge Menschen, die er mehr mochte als diesen Mann. Und nur sehr wenige, die er weniger mochte.

»Und dennoch bringen Sie mich zu ihm.« Steckte dahinter nur, dass sich die beiden unsympathisch waren oder mehr? Und was war das für ein Mann, der ihn angeblich besser beschützen konnte als die Polizei? Es gab so viele Fragen in Aiden, so viele, die nichts mit Gabriel Barone und mit Sam Wilkins zu tun hatten, die er aber nicht greifen konnte oder für den Moment verdrängte.

»Ja.« Sam fuhr auf eine große Kreuzung zu und reihte sich in die Linksabbiegerspur ein, die ihn auf den Hampshire-Boulevard bringen würde. Der Verkehr hier war zäh und zahlreich. Man nannte diese Straße, die eine beachtliche Länge aufwies, auch die Happy Street. Hier gab es alles, was man brauchte, um sich im Nachtleben zu vergnügen. Bars, Clubs, preiswerte Restaurants mit bunter Neonbeleuchtung, Restaurants ohne Neonbeleuchtung, die man sich nur im Traum leisten konnte, Bordelle und vor allem Hotels und Casinos. Und hier kam Gabriel Barone ins Spiel.

Denn ein Großteil dieser Casinos gehörte ihm. Genau wie das dazugehörige Nachtleben. Und das machte ihn zum Erzfeind von Cortez. Ein Umstand, den Sam Wilkins jetzt ausnutzen würde. Er hoffte, dass sein Plan aufging, denn normalerweise war er eher darauf bedacht, diesen Mann hinter Gitter zu bringen, der seine Casinos dazu nutzte, Geld zu waschen. NichtseinGeld, sondern das Geld von Steuerhinterziehern, Dieben und Betrügern. Ein ganz besonderer Service, den er sich gut bezahlen ließ und das Schlimmste an dem Mann war, dass er verflucht intelligent war. Beinahe genau wie Cortez. Bisher hatte die Polizei ihm nichts nachweisen können. Es war verrückt, was in dieser Stadt abging. Doch etwas fehlte Barone, was Cortez ausmachte. Gabriel Barone war berechnend und kühl, geldgierig und arrogant. Aber er war nicht grausam.

Cortez hingegen fehlte jede Menschlichkeit. Sofern der Detective Barone jedoch einschätzen konnte, hatte der sich einen Teil seiner Menschlichkeit erhalten können. Er mochte Geld waschen im großen Stil und damit Betrügern das Leben leichter machen und vermutlich ging auch der ein oder andere Mord auf sein Konto aber dennoch war dieser Mann kein Vergleich zu Cortez. Cortez war eine Reinkarnation des Teufels. Er ging sogar so weit, seine Opfer oder Feinde grausam zu foltern. Es gab einen ganzen Ordner voller Fotos von Leichen, die auf das Konto von Cortez gingen und das war etwas, das jeden Horrorfilm übertraf. Aufnahmen aus der Hölle selbst.

Kurz ging sein Blick zu dem jungen Mann neben ihm. Er würde dieses junge Leben auf keinen Fall Cortez überlassen. Dafür würde er sorgen. Er bog in die Happy Street ein und kämpfte sich erneut auf die linke Spur, was alles andere als einfach war. Das Bel Amare war schon zu sehen. Ein großes Hotel, elegant und teuer, mit einem hauseigenen Casino. Ein Etablissement für die oberen Zehntausend aus aller Welt, die hierherkamen, um dem leichten Leben in Tribent zu frönen. Bei Gabriel Barone fanden sie Zerstreuung. In den Restaurants herrschte Anzugpflicht für die Herren und Abendgarderobe für die Damen.

Sam war bereits häufiger hier gewesen. Um zu observieren. Es war das Hotel, in dem Barone seine Büroräumlichkeiten eingerichtet hatte. Und in dem er am Häufigsten anzutreffen war. Sam setzte darauf, dass es so auch jetzt sein würde, trotz der frühen Stunde. Barone war ein Arbeitstier. Aber vermutlich waren das alle Verbrecher.

Aiden war sich nicht sicher, ob die Happy Street das Ende oder nur ein Zwischenstopp auf ihrer Reise war. Er kannte sie - jeder in Tribent City tat das. Und doch war Aiden noch nie hier gewesen. Er gehörte weder zur obersten Gesellschaftsschicht, noch besaß er einen Anzug oder auch nur genug Geld, um sich hier zu vergnügen. Auch nicht in den preiswerteren Etablissements.

Detective Wilkins zog auf die linke Spur, wurde dafür einmal angehupt, aber er ließ sich nicht beirren und bog schließlich auf die Einfahrt zu einem großen, nobel aussehenden Hotel ein. Bel Amare stand auf dem Schild, das nachts durch seine Beleuchtung auch in weiter Entfernung zu sehen sein würde, da war sich Aiden sicher. Er war sich jedoch nicht sicher, wieso sie hier hielten.

»Sind wir da?«

»Ja. Wir sind da.« Sie steigen aus und der alte Dodge wirkte in dieser Einfahrt sehr fehl am Platz. Ein junger Mann kam angerannt und er tauschte seinen Autoschlüssel gegen eine kleine Parkplakette ein. »Machen Sie keinen Kratzer rein«, mahnte Wilkins und er bemerkte den Seitenblick durchaus, mit dem der Parkplatzangestellte seinen Wagen bedachte, dessen Lack schon deutlich bessere Tage gesehen hatte. Normalerweise parkte dieser hier wohl Bentleys, Porsches oder Ferraris. Aber sicher nicht so etwas. Dennoch war er bemüht, seine Professionalität zu wahren.

»Natürlich nicht, Sir.«

Aidens Blicke flogen trotz der angespannten Situation umher. Gepflegte Grünanlagen, in denen sich perfekt arrangierte Gräser und Kiesplätze abwechselten, unter dem überdachten Vorplatz warteten Portiers und ein weiterer Mitarbeiter des Parkservice. Ein Gepäckwagen stand bereit, golden glänzend, selbst in dem morgendlichen Licht, das sie umgab. Aiden fühlte sich völlig deplatziert. Jeans und Langarmshirt hatte er nicht nur gestern, sondern schon vorgestern getragen und ihn überkam das Gefühl, sich dreckig fühlen zu müssen ohne es zu sein. Ganz abgesehen davon, dass der Fleck auf seinem Turnschuh noch immer da war.

Allein seine Kleidung, die zwar nicht aus einem Walmart stammte, aber eben auch nicht maßgeschneidert war, wirkte falsch und unpassend. Aiden rief sich ins Gedächtnis, dass er nicht hier war, um Urlaub zu machen. Hinter Sam Wilkins, dessen Namen er sich immer wieder ins Gedächtnis rief, um ihn nicht zu vergessen, trat er in ein Foyer, das er so noch nie gesehen hatte - nicht einmal im Urlaub.

»Heilige Scheiße...«, entfuhr es ihm, Gott sei Dank leise genug, sodass es nur der Detective zu hören bekam. Seine Blicke flogen umher, völlig überfordert mit all dem, was es zu sehen gab. Prunk und ja, Protz, aber nicht auf eine hässliche Art und Weise. Marmorfußboden, da war er sich ziemlich sicher, schwere Teppiche in den Lounge-Ecken, teure Möbel. Man sah es ihnen an. Ein großer Kronleuchter hing von der Decke, der für stimmungsvolles Licht sorgte. Der Tresen, auf den Wilkins zusteuerte, sah schwer aus und war aus dunklem Holz. Für einen Augenblick vergaß Aiden völlig, weshalb sie eigentlich hier waren.

Sam Wilkins trat an die Rezeption. Sie bot vielen Gästen gleichzeitig Platz, um einzuchecken. Auch die Oberfläche des Tresens bestand aus Marmor. Hier jedoch dunkler als der des Fußbodens. Er konnte verstehen, dass Aiden Miller überrumpelt war. Das hier war etwas, was Normalsterbliche sonst nur im Fernsehen zu Gesicht bekam. Oder wenn man im Lotto oder einem Preisausschreiben gewann. Die junge Dame hinter der Anmeldung lächelte ihn an. Ihre Frisur saß perfekt. Leichte Locken, eine dezente Spange an einer Seite. Ein dunkler Blazer zu einem passenden Rock und eine makellos weiße Bluse darunter. Dazu eine unter dem Kragen gebundene Schleife in einem leichten Ockerton. Dezent. Elegant. Sie war schlank und ihre Fingernägel waren natürlich manikürt.

Gabriel Barone überließ nichts dem Zufall. Er war Perfektionist und das erwartete er auch von seinen Angestellten. Egal in welcher Position sie arbeiteten. Vom Tellerwäscher über den Zimmerservice bis hin zum Concierge. Raum für Fehler gab es kaum.