Ein Hauch von Vorsehung - Ava Patell - E-Book

Ein Hauch von Vorsehung E-Book

Ava Patell

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  • Herausgeber: epubli
  • Kategorie: Erotik
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2018
Beschreibung

circa 260 A4- oder ca. 500 Romanseiten In einer Welt, in der die Evolution einen anderen Weg genommen hat und die Menschen über einen außergewöhnlich guten Geruchssinn verfügen, hat sich auch die Art zu lieben verändert. In dieser Welt trifft der erfolgreiche Musiklabelchef Nikolaj auf den Hotelangestellten Kaden und ist von der ersten Sekunde an von dessen Duft angetan. Ohne es sich erklären zu können, werden die beiden immer wieder voneinander angezogen und kommen bald zu dem Schluss, dass sie herausfinden müssen, was es damit auf sich hat. Ist es Schicksal oder einfach nur Biologie, die ihren freien Willen unterdrückt und sie zu etwas zwingt, das sie gar nicht wollen?

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Seitenzahl: 597

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Ein Hauch von Vorsehung

Ein Hauch von VorsehungKapitel 1Kapitel 2Kapitel 3Kapitel 4Kapitel 5Kapitel 6Kapitel 7Kapitel 8Kapitel 9Kapitel 10Kapitel 11Kapitel 12Kapitel 13Kapitel 14Kapitel 15Kapitel 16

Ein Hauch von Vorsehung

Ava Patell & Kim Pearse

Gay Romance

Ava Patell & Kim Pearse

c/oPapyrus Autoren-Club,R.O.M. Logicware GmbHPettenkoferstr. 16-1810247 Berlin

Texte: © Copyright by Ava Patell & Kim Pearse

Umschlaggestaltung: © Copyright by Carina Neppe

Besucht uns unter:

https://www.facebook.com/avpatell/

https://www.facebook.com/kipearse/

Alle in diesem Buch geschilderten Handlungen

und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten

mit lebenden oder verstorbenen Personen wären

zufällig und nicht beabsichtigt.

Das MORC (Main Olfactoric Research Center)

ist geistiges Eigentum von

Ava Patell und Kim Pearse.

Ein besonderer Dank geht an unsere fleißigen Testleser-Bienchen.

Nichts in der Geschichte des Lebens ist beständiger als der Wandel.

Charles Darwin

Kapitel 1

»Guten Morgen, Ladies und Gentlemen.«

Augenblicklich richtete sich Kaden gerade auf, als die harte Stimme von Mrs. Fowler, der Personalmanagerin, sie begrüßte. Sie stand vor der Gruppe an Mitarbeitern, die am heutigen Tage zum Dienst im Hotel erschienen waren.

»Keine besonderen Vorkommnisse in der letzten Nacht. Keine Beschwerden. Das sind Dinge, die ich gerne höre. Beziehungsweise nicht höre.« Sie lächelte schmal.

»War das ein Witz?«, fragte Irma leise. Sie war klein, hatte ein wenig zu viel auf den Rippen, eine Stupsnase und schöne, dunkle Augen. Und sie war Kadens liebste Kollegin. Er gluckste unterdrückt.

»Ich vermute fast, ja«, flüsterte er zurück, um den Morgenappell nicht zu unterbrechen.

»Gut. Kommen wir nun zur Aufteilung«, fuhr Mrs. Fowler fort und begann jetzt, die Namen zu nennen und die dazugehörigen Etagen, die gereinigt werden mussten. So spielte sich das jeden Morgen ab im Biltmore in Richfield Park. Es war ein altes, teures und schönes Hotel. Es wurde hier viel Wert auf … alles gelegt. Sauberkeit in den Zimmern, exquisite Einrichtung. Teures und gutes Essen. Es war Kaden bis heute ein Rätsel, wie er es geschafft hatte, hier einen Job zu bekommen. Auch wenn die Arbeit hart war, mehr als hart, sie war anspruchsvoll und das war etwas, das er sehr mochte. Ja, etwas, das er sogar brauchte. Und vielleicht war das einer der Gründe, warum er den Job hier bekommen hatte.

»Miss Jenkins. Sie haben heute die Etagen 9 und 10. Vier Abreisen, drei Anreisen. Der Rest voll belegt.«

Irma seufzte leise, als sie ihre Aufgabe für den Tag erfuhr. »Das wird ein langer Tag.«

Kaden nickte nur und hörte dann seinen eigenen Namen.

»Mr. Williams.«

Er sah Mrs. Fowler an und nickte.

»Mrs. Burlington hat sich heute früh krank gemeldet und kann demnach die Suiten nicht übernehmen. Denken Sie, Sie sind dem gewachsen?«

Mit einem Mal schlug ihm das Herz bis zum Hals. Irma sah ihn perplex an. »Ja. Ja, Ma’am. Ich denke schon. Ja.«

Oh Gott. Sollte das wirklich gerade passieren? Würde er die Suiten von Stella übernehmen? Normalerweise waren die Suiten nur den besten Mitarbeitern vorbehalten. Es war schwere Arbeit, viel mehr sauber zu machen als in einem normalen Zimmer. Und vor allem noch strengere Kontrolle und noch weniger Toleranz für Fehler. Kein einziger Wasserfleck auf einem Spiegel würde durchgehen, keine Schliere auf einem Kristallglas. Kein Staubkorn auf einem der dunklen Schränke. Keine nicht sorgfältig gebürstete Teppichfranse. Nichts davon würde ihm heute passieren dürfen. Sein Gehirn lief auf Hochtouren, arbeitete in drei bis vier verschiedene Richtungen zeitgleich.

»Gut, Mr. Williams. Dann versuchen wir das doch. Funken Sie mich an, wenn Sie mit der ersten Suite durch sind. Dann kann ich mir Ihre Arbeit ansehen.«

Kaden nickte wie benommen und sie verteilte die restlichen Etagen auf die übrigen Mitarbeiter, während er mit Irma zu den Rollwagen ging, um sich einen zu nehmen und mit frischen Handtüchern, Seifen und allem, was sonst noch fehlte, zu beladen.

»Das ist großartig, Kaden!«, jubelte Irma leise und fasste ihn bei den Armen. »Wow. Ich bin neidisch. Na ja, und dann auch wieder nicht. Das ist eine scheiß Arbeit. Aber verdammt, das ist auch eine großartige Chance für dich!«

Kaden nickte und steckte ein paar Seifenstücke in die Box auf seinem Trolley. »Ich weiß. Aber damit hätte ich nie gerechnet.«

Sie kicherte und boxte ihm leicht gegen die Schulter. »Du machst echt gute Arbeit, Kaden. Kein Wunder also, über kurz oder lang wäre das sowieso passiert. Und jetzt lass uns hoch fahren. Wir haben viel zu tun.«

Irma verließ den Personalaufzug vor ihm und Kaden selbst fuhr weiter in die vorletzte Etage. Hier befanden sich die Junior-Suiten und die würde er nun sauber machen. Die General-Schlüsselkarte hing an einem Flip-Bändchen an seinem Hosenbund, daneben steckte das Walkie-Talkie, über das die Hotelangestellten kommunizierten.

Er trug eine dunkelblaue Stoffhose, dazu ein weißes Hemd. Makellos weiß. Flecken wurden nicht geduldet und sowohl die Männer als auch die Frauen mussten stets Wechselkleidung im Hotel haben, um immer ordentlich auszusehen. Ein Namensschild wies ihn als Hotelangestellten aus. Die Frauen trugen anstatt eines Hemdes eine weiße Bluse, ansonsten unterschied sich das Outfit nicht. Und immerhin hatten sie das Zugeständnis bekommen, Turnschuhe tragen zu dürfen. Denn nach mehreren Stunden auf den Beinen, mit zum Teil sehr anstrengender körperlicher Arbeit, konnte man in eleganten Lederschuhen einfach nicht mehr laufen. Das hatte irgendwann auch der Hotelmanager eingesehen. Trotzdem taten einem am Ende des Tages die Füße weh ohne Ende. Aber das gehörte nun mal zum Job.

Kaden schob seinen Trolley an die Seite, damit der Weg nicht komplett versperrt war, griff nach dem Klemmbrett, welches oben auf lag und sah auf die Liste mit den Zimmernummern und den Kürzeln dahinter. Sieben Junior Suiten. Alle vermietet. Vier davon in der Club-Ausführung mit dunklen Möbeln. Es waren eher maskuline Zimmer. Drei der Suiten in normaler Ausführung, helle Möbel, insgesamt helles Design. Kaden mochte die Club Suiten lieber. Dann gab es noch die One Bedroom Suiten und die Club One Bedroom Suiten. Gleiches System, was das Design anging. Aber diese Suiten machte nicht Stella. Die machte ein anderer Angestellter. Und Kaden war ehrlich gesagt froh, dass der nicht krank war. Denn diese Suiten waren noch eine Nummer größer. Und die zwei teuersten Suiten würde wohl überhaupt niemals jemand anderes außer Mrs. Fowler selbst sauber machen. Die King Suite und die Presidential Suite, die sich im obersten Stockwerk des Hotels befanden.

Kaden begann mit den Zimmern, die auf seinem Zettel als Abreise gekennzeichnet waren. Suite 03 war bereits alsabgereistgekennzeichnet und er trat an die Tür. Laut und vernehmlich klopfte er an.

»Zimmerservice«, sagte er und wartete die vorgeschriebenen 10 Sekunden, bevor er den Ruf wiederholte und schließlich eintrat. Niemand hatte geantwortet. Kaden verzog das Gesicht. Wenigstens das Fenster hätten die feinen Herrschaften öffnen können. Es roch hier drinnen nach Sex und Schweiß und Matsch. Es war nicht anders zu beschreiben. Er trat zurück zum Wagen, griff nach dem Geruchs-Neutralisierer. Wie eine Waffe hielt er ihn vor sich, sprühte eine große Ladung in die Suite, während er zu den Fenstern vordrang und sie weit öffnete.

Viele Wissenschaftler beschäftigten sich mit dem Thema. Wann es angefangen hatte, wieso es angefangen hatte. Ob es ein fehlgeleitetes Experiment war, die Erprobung eines Kampfstoffes oder einfach nur eine Laune der Natur. Bisher gab es kaum Ergebnisse dazu, aber vor etlichen Jahrzehnten hatte die Welt begonnen, sich zu wandeln. Nicht die Welt selbst, sondern die Menschen, die darin lebten. Kaden kannte es nicht anders, er war bereits in diese Welt hineingeboren worden, hatte es nie anders erlebt. Doch es sollte eine Zeit gegeben haben, in der die Menschen keinen so ausgeprägten Geruchssinn hatten, wie es jetzt der Fall war.

Etwas im Laufe der Jahre hatte sich verändert und jetzt waren die Menschen in der Lage, ähnlich gut zu riechen wie Hunde. Nun ja, an einen Hund würde wohl kein Mensch jemals herankommen, egal wie gut er seine Sinne trainierte. Dennoch, die Menschen waren nun in der Lage, andere Menschen zuriechen. Nicht nur Schweiß, sondern feine Veränderungen in ihrem Hormonhaushalt. Die einen waren besser darin, die anderen schlechter, aber die grundlegenden Gerüche war wohl jeder in der Lage, wahrzunehmen.

Früher, vor dieser Veränderung, so hieß es, war es eher eine Ahnung, wenn man einem wütenden Menschen gegenüber stand undahnte, dass er gleich die Beherrschung verlieren würde. Heutzutage konnte man solche Emotionen deutlicher wahrnehmen. In der Veränderung des Geruchs eines Menschen. Nervosität ließ sich ebenso deutlich wahrnehmen wie Desinteresse.

Das Schlimmste an diesem Umstand waren wohl die Eigengerüche der Menschen. Keiner roch gleich, jeder trug sein ganz eigenes Aroma mit sich und der Spruch ›jemanden nicht riechen können‹bekam eine ganz eigene Bedeutung. Es gab tatsächlich Menschen, mit denen man es kaum ein paar Minuten im selben Raum aushielt, weil sie penetrant nach Veilchen rochen. Oder feuchtem Tier. Oder Vanille. So stark, dass einem schwindelig wurde und man kaum noch Sauerstoff zum Atmen fand. Für einen anderen Menschen konnte das natürlich sehr attraktiv sein. Für einige jedoch nicht und es hatte nicht lange gedauert, bis die Industrie und die Wissenschaft sich auf diesen Umstand gestürzt hatten.

Es gab inzwischen alles, vom Geruchs-Neutralisierer als Raumspray, das sie hier in rauen Mengen benutzen, damit die Zimmer für die nachfolgenden Gäste benutzbar undreinwaren, über Haarshampoos, die den eigenen Geruch beseitigten, zumindest für 24 Stunden. Deos gab es natürlich, aber auch Geruchs-Verstärker oder, etwas das Kaden absolut ablehnte, spezielle Parfums. Diese überdeckten nicht nur den eigenen Geruch, sie gaukelten einen ganz anderen Duft vor und boten so die Möglichkeit, auch die Menschen auf einen aufmerksam zu machen, die sonst einen weiten Bogen um einen gemacht hätten.

Es gab verschiedene Ansichtspunkte über die Ursache in dieser Entwicklung. Viele hielten es für eine Laune der Natur, einen Unfall. Kaden schlug sich da eher auf die romantische Sichtweise des Ganzen. Es hatte einen Grund, dass man sein Gegenüber auf diese Art und Weise wahrnehmen konnte. Der Geruch eines Menschen machte ihn aus. Er kam immerhin aus seiner Genetik.

Er zeichnete ihn aus und wenn man jemanden nicht riechen konnte, so wie in diesem Zimmer - er schickte eine weitere Ladung des Sprays hinterher, um diesen Geruch zu vertreiben - dann ging man keine tiefere Beziehung mit diesem Menschen ein und vermied so eine Menge Kummer und Leid. Man ging falschen und zum Scheitern verurteilten Beziehungen aus dem Weg. Aber dank der Geruchs-Stabilisierer, wie sich diese Parfums nannten, die den eigenen Duft veränderten, kam es immer wieder zu Ehen, die nicht hielten. Ja, sogar zu schlimmen Verbrechen, da sie vertuschten, was die Menschen bewegte, was sie fühlten.

Ein von Grund auf schlechter Mensch, ein krimineller, wirklich gefährlicher Mensch würde jedem Menschen in der Nase kitzeln, dem er begegnete. Ein von der Natur eingerichtetes Warnsystem. Doch durch die Stabilisierer waren diese Menschen in der Lage, ihr Innerstes zu kaschieren. Die Gefahr zu überdecken und sogar umzukehren. Wirklich geübte Nasen, so sagte man, waren in der Lage, durch diesen Schleier zu sehen. Diese Pheromon- und Lockstoffe, die künstlich hergestellt worden waren, zu erkennen, aber dazu gehörten wohl die wenigsten. Die Wissenschaft hatte ganze Arbeit geleistet und verdiente eine Menge Geld damit.

Ein Journalist hatte es mit Süßstoff und Zucker verglichen. Auch da war nicht jeder in der Lage, den Unterschied in Speisen festzustellen. Aber ab einer gewissen Konzentration an Süßstoff würde es vermutlich irgendwann jeder schmecken. Das war bei den Stabilisierern leider nicht der Fall. Sie waren so effizient hergestellt worden, dass es nur den Geübtesten gelingen würde, die Scharade zu durchschauen. Es war schwierig und stellte die Polizei und auch das Rechtssystem vor neue Herausforderungen. Zur Zeit berieten erneut die Obersten des Landes, ob Stabilisierer nicht verboten werden sollten oder zumindest eine Konzentrationsbeschränkung eingeführt werden müsse.

Kaden schüttelte den Kopf bei diesem Gedanken, während er sich daran machte, das Bett abzuziehen, wobei er die Luft anhielt. Der Geruch hier war enorm. Nichts gegen Sex, doch wenn es danach roch wie in einem Pumakäfig, dann konnte doch etwas nicht stimmen. Auch die Matratzenschoner zog er ab und schmiss alles auf einen Haufen. Dann besprühte er das Bett mit einem eigens dafür hergestellten Spray, das die Duftstoffe aus den Fasern saugte und einen leichten Hauch von Baumwolle und Leinen zurückließ. Sprays dieser Art waren vornehmlich für den öffentlichen Bereich bestimmt und dementsprechend kostspielig. Für Privatpersonen waren solche Hilfsmittel eher Luxusartikel und teuer.

Kaden drehte die Musik seines MP3-Players etwas lauter. Das war etwas, was erlaubt war, solange die Musik nicht so laut lief, dass die Angestellten den Funk oder die Gäste des Hotels nicht mehr hören konnten.

Er brauchte fast eine Stunde für die Suite, was eine Schande war, aber Kaden war nicht geübt in diesen Zimmern. Als er Mrs. Fowler anfunkte, musste er nur noch neue kleine Fläschchen im Bad platzieren. Noch einmal kontrollierte er, ob auch ja kein Streifen auf der Glasabtrennung der großen Dusche zu sehen war. Aber er konnte nichts entdecken. Fünf Minuten später betrat Mrs. Fowler das Zimmer.

»Ah. Mr. Williams.« Sie nickte ihm zu, während er sich die Stöpsel aus den Ohren zog. »Etwas langsam, aber das nehme ich Ihnen nicht übel. Sie werden schneller werden, das weiß ich.« Sie lächelte wie so oft ihr schmales Lächeln. Mrs. Fowler gehörte zu den wenigen Menschen, die er kannte, die dazu in der Lage waren, ihren Duft unter Kontrolle zu halten. Wohl zusammen mit ihren Emotionen. Durch und durch faszinierend. Alles, was er wahrnehmen konnte, war ein Hauch von Sonne, Leder und Sand. Kein Hinweis darauf, wie sie die Arbeit bewertete. Sie lief durch die Suite, sah in die Schränke, hob die Bettdecken an, um zu sehen, ob die Laken darunter glatt waren. Keine Bügelfalten waren zu sehen. Danach zog sie die Bettdecken wieder glatt. Sie sah in die Minibar, betrachtete die Kristallgläser, hielt sie gegen das Licht. Fasste in die Lampenschirme und auf die weißen Querstreben der Fenster. Dann ging sie ins Bad.

Kaden war nervös. Er wusste genau, dasssiedas würde riechen können. Denn während sein Gehirn auf Hochtouren lief und alle Szenarien gleichzeitig durchspielte, war kein Platz mehr dafür, seine Emotionen irgendwie unter Kontrolle zu halten. So knetete er nervös seine Finger und biss sich auf die Unterlippe. Als sie aus dem Bad trat, sah sie ihn einen Augenblick lang an. Er konnte es nicht verhindern, tief einzuatmen. Nichts. Sand, Sonne, Leder. Sonst nichts.

Dann nickte sie schließlich. »Ich habe mich nicht in Ihnen getäuscht, Mr. Williams. Nur den Spiegel sollten Sie noch einmal nachpolieren. Wenn sie links versetzt davor stehen, dann sehen Sie schon, was ich meine.« Sie trat an Kaden vorbei. »Funken Sie mich an, wenn Sie im letzten Zimmer sind. Ich komme dann vorbei, um die anderen Suiten zu kontrollieren. Ach und Mr. Williams.«

Er drehte sich zu ihr um. Sein Herz hämmerte noch immer und sie lächelte wieder dieses schmale Lächeln.

»Eine letzte Dosis des Raumsprays kann nicht schaden, bevor Sie gehen«, meinte sie und Kaden glaubte fast, eine Spur Amüsement in ihrer Stimme wahrzunehmen. Knallrot lief er an, weil er genau wusste, was sie meinte. Da versagte jedes Deo und jemand wie sie war in der Lage, seine Aufregung 100 Meter gegen den Wind aufzuschnappen. Es war peinlich.

»Ja, Ma’am«, sagte er daher nur und sie verschwand. Er lief zurück ins Bad und beseitigte die Schlieren, versprühte noch eine Dosis Spray und ging dann zur nächsten Suite. Ebenfalls Abreise und eine Nachfrage an der Rezeption bestätigte, dass auch diese Gäste inzwischen ausgezogen waren. Hier waren die Fenster angeklappt, es hing noch ein leichter Duft von Rosen und Apfel in der Luft. Verrückt. Aber er wusste, selbst wenn hier nicht schon gelüftet gewesen wäre, wäre dieser Duft nicht so aufdringlich gewesen wie im Zimmer davor.

Er machte sich auch hier an die Arbeit, steckte sich die Ohrstöpsel wieder ein und zog das Bett ab. Dieses Mal war er schon sicherer in dem, was er tat, und schaffte es fast in 45 Minuten, was deutlich besser war. Die nächsten zwei Suiten, die Kaden sich vornahm, weil die Bewohner gerade nicht da waren, warenBleiber. Hier war weniger zu tun. Handtücher auswechseln. Das Bad putzen, aber eben nicht so tiefgreifend, als wenn sie ausgezogen wären. Das Bett wurde in der Regel nur zurecht gemacht, nicht neu bezogen, je nachdem in welchem Zustand man es vorfand. Und Kaden hatte bereits einige Zustände mit ansehen müssen.

Minibar auffüllen, die gut erreichbaren Oberflächen reinigen und natürlich nichts anfassen, was den Gästen gehörte. Abgesehen von Kleidungsstücken, die auf dem Boden lagen. Diese durfte man aufheben und ordentlich auf einen Bügel oder über einen Stuhl hängen, um die Zimmer saugen zu können. Als er mit diesen beiden Suiten durch war, war es Zeit für eine kurze Mittagspause. Der Wäscheberg landete im Wäscheschacht und er aß zusammen mit Irma, bevor sie zurück an die Arbeit gingen.

Als Kaden die nächste Suite öffnete, eine der Club Suiten, stutzte er. Und schnupperte. Es war kaum ein Geruch auszumachen. Und das irritierte ihn. Neutralisierer? Nein, dann würde gar nichts zu riechen sein. Es war eher so, dass er diesen Duft nicht greifen konnte, weil er absolut anders war. Er schüttelte den Kopf, ermahnte sich dazu, seine Arbeit zu machen. Als er jedoch auf die Sitzecke schaute und den dortigen Stapel an Papieren und Ordner entdeckte, stutzte er erneut. Kein Urlaubsbesuch. Geschäftsmann? Es gehörte sich nicht, dennoch warf Kaden einen Blick in den Kleiderschrank im Schlafbereich. Da hing ein Anzug und wenn ihn nicht alles täuschte sogar ein recht teurer. Seine Finger strichen nur kurz über den Stoff, der sich leicht kühl anfühlte, jedoch schnell seine Körperwärme aufnahm. Schnell schloss er den Schrank wieder.

Und noch etwas war anders. Das Bett war ordentlich zurück geschlagen, das Kissen aufgeschüttelt. Nicht wie in den anderen Zimmern, wo alles noch zerknüllt herumgelegen hatte. Und selbst hier, als er das Bett machte, war der Geruch des Mannes kaum zu greifen. Ein Hauch von Wald? Moschus? Meer? Zitronen? Was war das? Er zuckte zurück, als er sich dabei ertappte, wie er an dem Kopfkissen schnupperte.

»Guter Gott«, murmelte er und machte schnell, aber ordentlich das Bett fertig. Das nächste, was ihm ins Auge fiel, war ein Glas auf dem Stubentisch, ein weiteres auf dem Schreibtisch. Als Kaden das Glas vom Schreibtisch nahm, stutzte er. So viele Unterlagen, Zettel und Aufzeichnungen! Eine klare, aber schiefe Handschrift. Mit einem Lappen wischte er den Wasserrand vom lackierten Holz, den das Glas hinterlassen hatte.

Seine Augen scannten die Unterlagen, ohne dass er etwas dagegen tun konnte. Was wohl auch an dem merkwürdigen Design des Schriftstückes lag, das hier in mehrfacher Ausfertigung durcheinander geschoben aufzufinden war. Ein Teil davon sorgfältig gestapelt, der andere wild durcheinander und ein paar der Zettel mit unterschiedlichen Handschriften versehen.

Sie erhalten den Auftrag, einen Musiker Ihrer Wahl für einen Aufenthalt und für die Produktion eines Albums in einem Hotel unterzubringen. Erstellen Sie eine Kalkulation.

Kaden blinzelte und las die kurze Instruktion erneut. Das war vage. Mehr als vage. Was für einen Musiker? Jazz? Rock? Pop? Danach richtete sich doch der ganze Rest. Aber es war der Musiker einer freien Wahl. Er schüttelte den Kopf. Verdammt noch mal! Zurück an die Arbeit! Es gehörte sich nicht, in fremden Zimmern zu schnüffeln. Das sagte er sich auf dem Weg zum Trolley, von dem er zwei neue Gläser holte und die Minibar füllte. Auf dem Stubentisch stand ein Kühler mit einer leeren Flasche Wasser, den er ebenfalls aus dem Zimmer räumte.

Swing? Country? Die Aufgabe war knifflig. Eine Kalkulation zu erstellen war an sich ja schon keine leichte Aufgabe, weil immer dazu gehörte, sämtliche Eventualitäten mit einzuberechnen. Alles was möglich war, konnte passieren. So musste man kalkulieren. Kostete es am Ende weniger, dann war es nur umso besser. Kostete es aber mehr als das, was man berechnet hatte ... Das konnte böse enden.

Das hatten sie sogar hier im Hotel schon erlebt. Nur kannte sich Kaden im Musik-Geschäft wirklich nicht sehr gut aus. Aber um ein Album aufzunehmen, dazu gehörte sicherlich ebenfalls eine ganze Menge. Tonstudio, Personal, Instrumente, Copyright-Verhandlungen. Verträge, also auch Anwaltshonorare. Die Treffen, die anstanden, um so etwas zu verhandeln. Er ertappte sich selbst, wie er dämlich vor sich hin starrend mit dem Putzlappen im Bad stand, weil sein Kopf mal wieder seine eigenen Wege ging. Verflucht!

Aber selbst bei so einem Treffen wurde Wasser benötigt, Gebäck oder Cracker. Was noch? Was bot man denn im Musik-Business bei Vertragsverhandlungen an? Oder … Moment, ging man da nicht essen? Ein Restaurant. Je nach Musiker natürlich. Vielleicht nach den Vorlieben. Vielleicht hatte er eine Vergangenheit hier in La Junta Gardens, ein Lieblingsrestaurant oder derjenige aß einfach sehr gerne Hummer.

Aber nicht den zweiten vor dem ersten Schritt! Als erstes musste ein Musiker her. Kaden schlug sich gegen die Stirn. Verflucht noch mal! Er sah auf seine Uhr. Diese Aufgabe reizte ihn, weil sie ihn forderte und darum ließ sie ihn nicht mehr los. Er trat zu dem Schreibtisch, zog aus der Schublade das Hotelbriefpapier, und den Stift aus seiner Hemdtasche. Dann griff er nach seinem MP3-Player und stellte aufShuffle. Der erste Song, der erklang, war von Ray Charles.

Natürlich. Einen toten Star unterzubringen wäre nicht sehr praktisch. Er klickte einen Song weiter. Christina Aguilera. Hui. Verdammt schwer. Kaden wusste zu wenig über diese Frau. Er klickte noch drei weitere Songs und dann sang ihm die ruhige und rauchige Stimme von Trevor Orbinson ins Ohr. Er liebte diesen Countrysänger. Ja. Das würde gehen. Von dem wusste er sogar etwas. Kaden schrieb den Namen oben auf das Briefpapier. Und dann kritzelte er schnell ein paar Positionen darunter. Orbinson lebte in Texas. Also wäre das erste auf der Positionsliste wohl der Flug von Texas nach La Junta Gardens. So weit, so gut. Was brauchte man noch? Transfer. Vom Flughafen ins Hotel. Was für ein Hotel? Vermutlich nicht dieses hier. Zu wenig Sicherheitsvorkehrungen. Zu öffentlich. Wohl eher das Four Seasons, die hatten eine Tiefgarage. Suite. Die waren teuer, aber groß und schön. Was noch? Tonstudio. Ganz klar. Dahinter musste er ein Fragezeichen setzen. Er hatte keine Ahnung, was so etwas kostete. Sicherlich eine heiden Kohle. Er kritzelte schnell noch ein paar weitere Positionen dazu, die ihm sofort einfielen und machte dann weiter mit seiner Arbeit. Endlich hatte er den Knoten so weit gelöst, dass er im Badezimmer seine Arbeit beenden konnte. Doch als er die Tür hinter sich zuzog, hatte Kaden erneut den Kopf voll von Positionen, die er aufschreiben musste, weil sie dazu gehörten. Schließlich riss er das Blatt vom Block, weil es voll war und drehte es um. Schrieb weiter. Saugte das Zimmer, schrieb erneut ein paar Kosten auf. Die Musik in seinen Ohren dämpfte seine Schritte, ebenso wie die dicken Teppiche hier im Hotel und so hörte er nicht, wie jemand das Zimmer betrat.

Kaden schrieb gerade

›Obstkorb im Hotelzimmer mit frischen Passionsfrüchten‹

auf seine Kalkulation, als er hinter sich ein Räuspern vernahm. Zu Tode erschrocken fuhr er herum und konnte nicht fassen, dass das gerade passierte. Fuck! Und das an seinem ersten Tag auf dieser Etage! Das wäre mehr als nur ein Kündigungsgrund!

»WasmachenSie denn da?«, fragte die Frau vor Kaden streng. Eine Hand in die Hüfte gestemmt, in der anderen Unterlagen, sah sie auf ihn herab. Sie betonte das Wort ›machen‹ scharf, ganz so als wollte sie andeuten, dass das Gegenüber eigentlich doch etwas ganz anderes zu tun hatte - was in diesem Fall ja sogar stimmte.

Da stand Kaden nun. Seinen Kugelschreiber noch immer in der Hand und sah sich ihr gegenüber, einer Frau, wie er sie wohl noch nie in seinem ganzen Leben gesehen hatte. Ihre schlanken Füße steckten in hohen Schuhen, deren Pfennigabsätze sich in den Teppichboden gruben. Dennoch stand sie so sicher wie auf Turnschuhen. Auf Höhe ihrer Knie begann ein dunkelblaues, elegantes Kleid, welches ihre Figur sanft umschmeichelte. Ein schiefer V-Ausschnitt enthüllte ein makelloses Dekolletee, welches in einen schmalen Hals überging und schließlich in einem wunderschönen Gesicht endete, in dem die feurigsten Augen lagen, die er je gesehen hatte. Die Lippen waren missmutig verzogen. Sie trug nur ein dezentes Make-Up, welches ihre natürliche Schönheit unterstrich. Aber das wohl Auffälligste waren ihre Haare. Kohlrabenschwarz. Lang. In sanften Wellen fiel es ihr über die rechte Schulter. Diese Frau war wahrlich eine Erscheinung. Dazu kam der Duft, der sie umgab. Das erste, was Kaden auffiel war ein Hauch von Zimt. Das nächste waren Orangen oder etwas ähnlich fruchtiges. Und darunter mischte sich eine leicht herbe Note, die er nicht fassen konnte.

Kaden bekam keinen Ton heraus. Diese Frau machte ihm Angst. Und jetzt kam sie mit langen Schritten auf ihn zu, griff nach dem Blatt Papier unter seiner Hand.

»Geben Sie das her.« Sie warf einen Blick auf das Papier, nachdem sie es an sich gerissen hatte und stutzte dann. Ihr Blick huschte wieder zu Kaden, während sie das Blatt wendete und die Positionen auf der Rückseite überflog.

»Sie sind vom Zimmerservice?«

Kaden nickte. »Es ... Es tut mir so leid, Ma’am. Ich hätte das nicht tun dürfen.«

»Nein. Das hätten Sie nicht«, stimmte die Frau kühl zu. »Wie heißen Sie?«

»Kaden Williams, Ma’am. Aber ich schwöre, ich hab das nur für mich gemacht. Ich habe nicht spioniert oder so etwas.« Er knetete seinen Kugelschreiber zwischen den Fingern. Das Plastikteil knarzte leise protestierend unter dieser Behandlung.

»Zunächst ... Nennen Sie mich nie wieder Ma’am. Zweimal genügt. Ich bin Darea. Darea Harrison.« Ihre schmalen Finger mit den perfekt manikürten Fingernägeln deuteten auf den Stift. »Lassen Sie das.«

Jetzt, wo diese Frau so dicht bei ihm stand, konnte Kaden ihren Duft noch intensiver wahrnehmen. Irgendwie war er wie Weihnachten. So unendlich angenehm. Das absolute Gegenteil zu den Gefühlen, die sie in ihm auslöste. Auf ihren Befehl hin legte er sofort den Stift nieder.

»Entschuldigung.«

Darea griff nach den Papieren auf dem Tisch, legte sie auf die anderen Unterlagen auf ihrem Arm und Kadens begonnene Lösung obenauf.

»Sie sollten wieder an Ihre Arbeit gehen, Mr. Williams«, sagte sie und ging bis zur Tür, in der sie sich noch einmal umdrehte. »Oh, bevor ich es vergesse. Sollte ich später auch nur einen Hinweis darauf finden, dass Sie noch einmal an Mr. Sorokins Sachen waren, werde ich Ihnen das Leben zur Hölle machen«, sagte sie zuckersüß, doch Kaden war sofort klar, dass sie es ernst meinte. Darea drehte sich um und schritt aus dem Zimmer, den Flur entlang bis zum Fahrstuhl, der bereits auf sie wartete, als hätte sie es ihm angeordnet.

Und Kaden starrte ihr nach. Unbeweglich. Verängstigt. So stand er gute fünf Minuten da. Dann schauderte er, bekam Gänsehaut am ganzen Körper. Er war so was von erledigt! Wie auf rohen Eiern ging Kaden zurück zu seinem Trolley. Verdammt! Wieso nur hatte er das getan? War er denn übergeschnappt? Seine Finger schlossen sich um den Rahmen des Wagens und er atmete ein paar Mal tief durch. Ganz ruhig, sagte er sich. Noch arbeitete er hier. Noch musste er seine Arbeit machen. Gewissenhaft und so gut er konnte.

Genau das tat Kaden auch. Er berührte nichts mehr in dem Zimmer, das nicht dem Hotel gehörte. Zog zum Schluss noch einmal das Bettzeug glatt und schloss dann die Tür, bevor er sich an die letzte Suite machte. Mrs. Fowler kontrollierte nach einem Funkspruch seinerseits bereits die anderen Suiten. Er war unglaublich nervös. Aber jetzt nicht mehr wegen der Arbeit auf dieser Etage, sondern weil er Angst hatte, seinen Job zu verlieren. Wegen diesem verfluchten Gehirn in seinem Kopf!

Er hatte Angst vor der Standpauke von Mrs. Fowler, sollte sie davon erfahren. Und vor dieser Frau mit den schwarzen Haaren! Bisher hatte Kaden gedacht, solche Menschen gäbe es nur in Büchern oder Serien. Im Fernsehen. Aber nicht in der Realität! Sie war unheimlich schön gewesen. Elegant. Zielstrebig, da ging er jede Wette ein. Und sie würde sicherlich immer das bekommen, was sie wollte. Weil sie es sich im Zweifel einfach nahm. Solche Frauen gab es doch gar nicht!

***

Als Darea den kleinen Veranstaltungsraum, den sie für die Vorstellungsgespräche im Hotel gebucht hatte, betrat, gab sie ein Geräusch von sich, das wie ›Buah!‹ klang. Im Gegensatz zu ihr behielt sich Nikolaj Sorokin wie immer unter Kontrolle. Aufmerksam schien er dem blonden Bewerber zuzuhören, der irgendetwas vor sich hin stammelte, das keinen Sinn ergab. Er roch nach gefrorenem Fisch und als Darea näher trat, sah sie, dass er einen hochroten Kopf hatte. Neben Nikolaj blieb sie stehen und unterbrach den Bewerber mit nur einer Handbewegung. Der sah sie fragend an, den Mund offen wie ein Kugelfisch.

»Kusch«, sagte sie und nickte zur Tür. Er machte große Augen. Angstgeruch trat aus seinen Poren, bitter und sauer zugleich. Als die Tür hinter ihm zufiel, ging Darea zu den Fenstern und riss sie weit auf.

»Haben wir noch etwas von dem Neutralisierer?«, fragte Nikolaj und atmete tief die frische Luft ein, die in den Raum strömte. Schneematsch und ein Hauch von Abgasen, aber alles war besser als tiefgefrorener Fisch!

»Ja, haben wir«, antwortete Darea und legte die kopierten Anleitungen, um die Nikolaj gebeten hatte, auf dem Tisch vor ihm ab.

»Und wir haben das«, sagte sie vielversprechend und legte ihm ein Blatt vor die Nase, bevor sie nach dem Raumspray griff und eine ordentliche Ladung davon im Raum verteilte. Langsam sank es hinab, den üblen Duft an sich bindend, der daraufhin verschwand.

Mit zusammengezogenen Augenbrauen nahm Nikolaj das Blatt, sah auf den Namen, der ihm nichts sagte und überflog nach und nach die einzelnen Posten. Am Ende der Seite hatte er die Augenbrauen hochgezogen.

»Es geht auf der Rückseite weiter«, sagte Darea, während sie die Fenster wieder schloss. »Ich habe die Unterlagen zwar mitgebracht, aber ich denke, du hast deinen Assistenten gefunden. Ach nein, warte!« Sie lächelte Nikolaj entwaffnend an und legte sich eine Hand an die Brust. »Das war ja ich.«

Leise lachend hob er den Blick. Ihre grün-grauen Augen sahen in seine. Nikolaj nickte und tippte auf das Blatt in seiner Hand.

»Das ist gut. Besser als alles, was ich heute gesehen habe.«

Darea nickte. »Und gestern. Ich weiß.«

»Ich hätte nicht unbedingt einen Country-Sänger genommen.«

Darea setzte sich neben Nikolaj und schlug elegant die Beine übereinander. »Ich weiß«, sagte sie wieder. Zimt, Orangen und Nelken stiegen ihm sanft in die Nase.

»Aber die Wahl des Künstlers hatte ich ja frei gestellt.«

Darea stützte einen Ellbogen auf den Tisch und ihr Kinn auf ihre Hand, sah ihren Vorgesetzten lächelnd an. »Ich weiß.«

Der sah zu ihr, den Kopf leicht schief gelegt. »Und? Wo ist er? Dieser Kaden Williams?«

»Er putzt gerade deine Suite«, antwortete Darea.

Nikolajs Lachen klang ungläubig. »Ja, natürlich!«

Doch Darea sah ihn unverwandt an und Nikolaj blieb das Lachen im Hals stecken.

»Das ist dein Ernst?«

Sie nickte. In diesem Augenblick öffnete sich die Tür und ein weiterer Bewerber trat hinein. Nikolaj faltete den beschriebenen Briefbogen des Hotels zusammen und schob ihn in die Innentasche seines Jacketts. Darea hatte dafür gesorgt, dass die Bewerber in 15-Minuten-Abständen den Raum betraten. Sie hatten eine Vorbereitungszeit gehabt und die Aufgabe bei sich. Mehr oder weniger gut gelöst. In Gerald Hassingers Fall, der nun vor sie trat, unterirdisch schlecht.

An diesem Tag stellte sich Nikolaj noch öfter die Frage, ob er die Aufgabe zu schwer formuliert hatte. Ob die Fragestellung unklar war oder ob er die Job-Anzeige in den falschen Medien platziert hatte. Aber das war nicht einmal er gewesen, sondern Darea und Darea machte nie etwas falsch!

In der Pause, die Darea und er im Restaurant des Hotels verbrachten, zog er den Zettel erneut heraus, auf dem Kaden Williams’ Antworten standen. Ein Fragezeichen hinter den Gebühren für das Studio, aber woher sollte eine Reinigungskraft das auch wissen? Dafür war alles andere so durchdacht, dass es funktionieren würde. Vermutlich fehlte noch der Aufpreis für das Sperrgepäck am Flughafen. Countrysänger hatten häufig mehr als eine Gitarre dabei. Dafür hatte kaum jemand an einen Obstkorb gedacht, schon gar nicht an einen persönlichen, an Getränke und Mahlzeiten während der Studioaufnahmen. Nikolaj seufzte leise.

»Du willst ihn«, sagte Darea, die sich eine Gabel Salat zwischen die Lippen schob, welche schon seit dem Morgen roter Lippenstift zierte, der auch jetzt genau dort blieb, wo sie ihn haben wollte.

»Ja«, antwortete Nikolaj und legte das Blatt Papier zwischen sich und seine Sekretärin. Eine Berufsbezeichnung, die auf Darea nur schwerlich passte. Er deutete auf die letzte Position. »Trevor Orbinson liebt Passionsfrüchte. Keiner der anderen hat an solche Kleinigkeiten gedacht. Es sind diese Kleinigkeiten, die oft den Unterschied machen können. Darüber verzeihe ich ihm glatt das Fragezeichen bei den Studiokosten.«

Dareas Lächeln sagte ihm, dass sie sich königlich amüsierte. Am Ende des Tages stand für ihn eines fest: Er ertrug diesen Gestank nach Angst nicht mehr. Raumspray und lüften hin oder her, er brauchte Abstand von diesem fiesen Duft. Er verstopfte seine Geruchsnerven und hing ihm selbst nach der Dusche noch in der Nase. Nicht einmal die nur sanft duftende Pflegeserie, die er benutzte, hatten daran etwas ändern können. Nein, es war klar! Er musste diesen Kaden Williams kennenlernen.

Darea hatte ihm nichts weiter über ihn verraten wollen, nur dass sie nicht viele Worte gewechselt hatten. Das machte sie immer so. Sie wollte, dass er sich selbst ein Bild machte und gerade bei der Ausschreibung einer Assistentenstelle war das nur zu berechtigt.

In diesem besonderen Fall jedoch packte ihn die Neugierde mehr und mehr.

***

Mrs. Fowler arbeitete schnell, aber zuverlässig. Darum war sie ja auch der Kopf des Ganzen hier. Sie trat in die letzte Suite, als Kaden gerade den Staubsauger ausschaltete. Sie trug seine Etagenliste bei sich.

»Ich habe Ihnen die Nacharbeiten eingetragen.« Sie tippte auf das Klemmbrett. »Gute Arbeit, Mr. Williams. Ich habe mich offensichtlich nicht in Ihnen getäuscht.«

Kaden brauchte all seine Willenskraft, um nicht zu überrascht zu wirken. Er hatte gedacht, dass sie ihn jetzt feuern würde, aber nichts. Stattdessen dieses Lob. Also war er nicht ... Also hatte diese Frau nicht ... Er war verwirrt.

»Danke, Mrs. Fowler«, sagte er leise und nahm ihr das Klemmbrett ab, sah auf die Liste. Zwei Spiegel, ein Bettlaken nachziehen, ein Fingerabdruck auf der Scheibe eines Schrankes. Verdammt, diese dämlichen Spiegel! Aber er war nicht gefeuert.

»Denken Sie, Sie sind dieser Aufgabe gewachsen?«

Kaden blinzelte die Frau vor sich an und schluckte schwer. »Ja. Ich denke schon. Es ist etwas Anderes als ein normales Zimmer, aber ... ja.«

Sie nickte. »Gut. Dann übernehmen Sie für diese Woche die Krankheitsvertretung und wir sehen mal, wohin das führt.« Sie nickte knapp und verließ dann das Zimmer, in dem er noch ein paar letzte Handgriffe erledigen musste. Und in dem er vorsorglich den Spiegel im Bad noch einmal polierte und von allen Seiten kontrollierte.

***

Irma starrte ihn an, während er ihr erzählte, was passiert war. Ihre Augen waren so groß wie Untertassen und er war ihr unendlich dankbar, dass sie ihm ihr Wasser nicht ins Gesicht spuckte. Stattdessen sah sie aus wie ein Frosch. Die Wangen voll mit Wasser und die Augen so groß wie Untertassen. Geräuschvoll schluckte sie.

»Du machst Witze. Du ... Wieso hast du das denn gemacht?!«, zischte sie, während sie in der Bahn auf dem Weg nach Hause waren.

»Ich weiß es nicht«, log Kaden. Er wusste genau, warum er es gemacht hatte. Er kannte dieses verfluchte Ding in seinem Kopf jetzt schon sein Leben lang und es hatte ihn schon so oft in solche Situationen gebracht. Momente, in denen es ihm vorauseilte und ihn dazu brachte, Dinge zu tun, die nicht angebracht waren.

Irma war zwar seine Freundin, aber er hatte zu viel erlebt und wusste, dass dieses Ding ihn viel mehr Freunde kostete als es ihm einbrachte. Neid war nicht berechenbar. Er kannte Irma seit zwei Jahren und wollte gerne, dass sie Freunde blieben. Er verstand sich gut mir ihr. »Es war einfach eine spannende Aufgabe«, druckste er also herum und verschwieg damit den eigentlichen Grund für sein Handeln: sein überaktives Gehirn.

Sie grummelte. »Ich verstehe, dass du es mir nicht sagst. Aber neugierig bin ich schon.«

In der Bahn vermischten sich so viele Gerüche miteinander, dass es unmöglich war, einen einzelnen herauszufiltern und das war nicht gerade angenehm.

»Aber die Frau scheint wirklich nichts gesagt zu haben. Sonst hätte dich Mrs. Fowler doch sofort gefeuert. Oder denkst du, sie will ein Exempel statuieren und tut es morgen früh?«

Kaden stöhnte auf. »Na herzlichen Dank! Genau das brauche ich jetzt.«

Irma lächelte schief. »Tut mir leid. Ich hoffe, die Dame hält dicht. Ich arbeite gerne mit dir zusammen.«

Sein Blick ging aus dem Fenster der Bahn auf den Bahnhof, an dem sie gerade hielten. »Das hoffe ich auch, Irma.«

***

Noch vor dem Frühstück am nächsten Morgen suchte Nikolaj den Kontakt zu einer Mrs. Fowler, die laut Concierge für die Reinigungskräfte zuständig war. Als sie vor ihm stand und ihn mit dünnen Lippen anlächelte, nahm er nur einen sehr zurückhaltenden Duft wahr. Sonne, Leder, Sand, ein wenig Metall, aber alle vier Duftnoten kaum wahrnehmbar. Offenbar war sie ebenso in der Lage wie er selbst, sich zu kontrollieren. Sie standen an der Rezeption und er bat sie, ein Treffen mit Mr. Williams zu arrangieren. Mehrmals versuchte Mrs. Fowler, den Grund des Treffens herauszufinden, ebenso wie sie versuchte zu erfragen, woher Nikolaj Mr. Williams kannte. Schließlich aber blieb ihr nichts weiter übrig als ihm zu versichern, dass sie Mr. Williams in die Lobby bitten würde, sobald Nikolaj sein Frühstück beendet hatte.

Der bat sie wiederum lächelnd, ihren Mitarbeiter um 8:30 Uhr in den Raum zu bringen, in dem gestern die Vorstellungsgespräche stattgefunden hatten und den Darea auch für den heutigen Tag gebucht hatte. Sie nickte und Nikolaj sah nur an einem kurzen Aufblitzen in ihren Augen, dass sie neugierig war auf das, was sich hinter diesen Türen abspielen würde.

Nach dem Frühstück gönnte er sich noch eine kurze Ruhepause, blätterte in der Tageszeitung, bevor er mit Darea die heutigen Bewerber der Vormittagsrunde begrüßte – und sie wieder nach Hause schickte. Der Duft in diesem Vorraum war unerträglich und so flüchteten sie in den etwas größeren Raum und setzten sich an den Schreibtisch.

»Denkst du, er wird kommen?«, fragte sie und Nikolaj zuckte die Schultern.

»Er wird wohl kommen müssen, so wie ich diese Mrs. Fowler einschätze. Die Frage ist, ob ich ihn überzeugen kann, für mich zu arbeiten.«

Darea grinste. »Ich bitte dich, Nik. Natürlich kannst du das. Ich bin sicher, er wird dir gefallen.«

Doch Nikolaj winkte nur ab. »Er muss mir nicht gefallen. Er muss vor allem meinen Ansprüchen genügen.«

Darea lächelte jetzt wissend. »Ich sagte doch, er wird dir gefallen«

***

Mrs. Fowler hatte Kaden nach der morgendlichen Ansprache zur Seite gezogen und ihn ausgefragt, warum ein gewisser Mr. Sorokin ihn sehen wollte. Um 8:30 Uhr. In dem von ihm gemieteten Interview-Zimmer. Ihm war das Blut in den Adern gefroren. Er war ein wirklich miserabler Lügner und sie hatte es ihm an der Nasenspitze angesehen, dass er etwas ausgefressen hatte.

»Mr. Williams, ich gebe Ihnen jetzt genau eine Chance, mir zu erzählen, was vorgefallen ist«, meinte sie jetzt ruhig, aber bestimmt und Kaden schluckte mühsam an dem Kloß in seinem Hals vorbei. Dann erzählte er ihr, was passiert war.

Als er geendet hatte, sah Mrs. Fowler mehr als verkniffen aus. Sie war blass, die Lippen kaum mehr als ein dünner Strich in ihrem Gesicht. Es hätte nicht viel gefehlt und Dampf wäre aus ihren Ohren gekommen, da war sich Kaden sicher. Sie sammelte sich ein paar Sekunden, lief in ihrem Büro auf und ab und Kaden konnte nichts weiter tun als zu versuchen, weiter zu atmen.

»Ich weiß nicht, was ich sagen soll, Mr. Williams. Nur so viel, das wird noch ein Nachspiel haben. Eine solch eklatante Missachtung unserer Geschäftspolitik ist mir noch nicht untergekommen. In all den Jahren nicht, in denen ich hier arbeite.«

Es fühlte sich an, als würde ihm jemand ein Messer zwischen die Rippen rammen.

»Es tut mir wirklich leid, Mrs. Fowler. Ich habe nicht nachgedacht. Aber ...« Er schluckte und senkte den Blick. »Sie werden meine Kündigung heute Abend auf Ihrem Tisch haben, Ma’am.« Er spürte ihre Wut nur allzu deutlich und konnte sogar einen Hauch davon wahrnehmen.

»Und jetzt gehen Sie. Ich hoffe wirklich für Sie, dass Mr. Sorokin weder Sie noch das Hotel verklagen wird.« Sofort sah Kaden auf.

»Das Hotel trifft keine Schuld«, meinte er. »Das werde ich ihm klarmachen.«

Lange sah Mrs. Fowler ihn mit einem Blick an, der deutlich machte, wie enttäuscht sie war. Kaden konnte es ihr nicht verdenken. Er war selbst von sich enttäuscht. Mit hängenden Schultern verließ er das Büro und fuhr in die zweite Etage, wo sich das von Mr. Sorokin gemietete Interview-Zimmer befand. Der Vorraum war leer, als er eintrat. Kaden fühlte sich fast als würde er über seinem eigenen Körper schweben. Er hob die Hand und klopfte an die verschlossene Zimmertür. Sein Herz hämmerte wie wild.

»Herein«, drang eine feste, männliche Stimme an sein Ohr. Kaden sah sich zwei Personen gegenüber, als er eingetreten war. Einmal war da die hübsche Frau von gestern. Diesmal in einem cremefarbenen Kleid. Ein kaum sichtbares Lächeln auf den rot geschminkten Lippen.

Und da war ein Mann. Ein durchaus attraktiver Mann. Tief dunkelbraunes Haar, leicht gebräunte Haut. Eine gerade Nase und helle, grau-blaue Augen, die auf ihm lagen. Der Mann, vermutlich Mr. Sorokin, trug einen teuren, dreiteiligen Anzug. Den Anzug, den er gestern noch im Schrank hatte hängen sehen. Dunkles grau, eine blaue Krawatte und diese Farben taten alles dafür, um die klaren, hellen Augen zu betonen. Er saß in einer Haltung, als würde ihm dieser Raum, ja, das gesamte Hotel gehören.

Nikolaj musterte ebenfalls den jungen Mann, der den Raum betreten hatte. Rötlich braunes Haar, ein wenig länger als sein eigenes. Ein unsicherer Blick aus grünen Augen traf seinen. Ein beinahe jugendliches Gesicht, obwohl er den Mann auf Anfang 30 schätzte, helle Haut. Kurz warf er einen fragenden Blick zu Darea, die bestätigend nickte.

»Mr. Williams«, sagte Nikolaj also zu ihm und deutete auf den freien Stuhl vor dem Tisch. »Setzen Sie sich.«

»Mr. Sorokin«, begann Kaden, nachdem er genau das getan hatte, »ich weiß, dass es nicht ändert, was ich getan habe, aber ich möchte trotzdem sagen, dass es mir leid tut. Das, was ich getan habe, geht weit über alles hinaus, was sich gehört. Aber bitte, verklagen Sie das Hotel nicht. Das war ganz allein mein Fehler.«

Mandelmilch, ein Hauch Vanille, Baumwolle und Granatapfel stiegen Nikolaj in die Nase. Ein durchaus angenehmer Duft, aber verschleiert, als läge ein Tuch über ihm. Nervosität und Angst, deutlicher als alles andere. Nicht so angenehm. Darea stellte ein Glas Wasser vor Kaden ab und setzte sich dann neben Nikolaj, während dieser in seine Jacketttasche griff und den gefalteten beschriebenen Hotelbriefbogen auf den Tisch vor sich legte.

»Sie haben in Unterlagen gesehen, die Sie nichts angehen.«

Dem jungen Mann stieg das Blut in den Kopf. Schamgeruch mischte sich zu der Angst, metallisch wie Blut. Kadens Blick lag auf dem Zettel. Ein einziger Zettel und mit einem Mal war sein ganzes Leben ein reines Chaos.

»Ja, Sir«, sagte er leise.

Der Mann vor ihm faltete den Zettel auseinander und schob ihn Kaden hin. »Haben Sie das geschrieben?«

»Ja, Sir.«

Ein kräftiger, gepflegter Finger tippte auf den Posten des Tonstudios und auf das Fragezeichen dahinter. »Ich nehme an, das steht hier, weil Sie die Kosten nicht kennen.«

Kaden nickte mit zusammengezogenen Augenbrauen. Was sollte das Ganze?

»Wieso ausgerechnet Trevor Orbinson?« Nikolaj Sorokin lehnte sich zurück und schlug ein Bein über das andere.

Kaden hob den Blick und sah ihn an. Durch und durch selbstsicher, schoss es ihm durch den Kopf. Und offensichtlich auch noch sehr zufrieden mit sich selbst. »Er war der erste Interpret auf meinem MP3-Player, von dem ich mehr wusste als nur den Namen und ein paar oberflächliche Details.« Sein Mund war staubtrocken. Aber er wagte nicht, nach dem Glas zu greifen, aus Angst, seine Hände würden deutlich sichtbar zittern.

»Hm.« Nikolaj Sorokin zog das Blatt wieder zu sich, ohne auf die geschwungene Handschrift darauf zu achten, faltete es zusammen und schob es zurück in die Innentasche seines Jacketts.

»Ich nehme an, Sie wissen nicht, was es mit dieser Aufgabe auf sich hatte? Wofür sie gedacht war?«

»Nein, Sir.« Kaden hatte sie einfach nur sehr spannend gefunden. Herausfordernd. So offen und mit so viel Platz für Spekulationen. Diese Aufgabe schien wie für seinen Kopf gemacht zu sein, der sonst ständig und ohne Aufforderung in sieben verschiedene Richtungen dachte. Genau wie jetzt. Selbst hier, in diesem Moment.

Kaden fragte sich, wie es im Knast war, ob man dort halbwegs gutes Essen bekam. Ob man dort warm duschen konnte. Ob es zu den Privilegien gehörte, ein Buch aus der Bücherei ausleihen zu dürfen. Oder was passieren würde, wenn er genau hier und jetzt das Bewusstsein verlor. Und ein Krankenwagen kam, ihn ins Krankenhaus brachte. Ob er einer Anklage entgehen konnte? Aber dann hätte er Arztrechnungen zu bezahlen, die sicherlich immens hoch waren und er hatte noch immer keine Krankenversicherung. Er überlegte, ob er ein gutes Arbeitszeugnis bekommen würde, aber er glaubte nicht daran. Und wie lange würde es wohl dauern, einen neuen Job zu bekommen? Ob er in einem anderen Hotel unterkommen könnte? Das alles dachte er innerhalb von Bruchteilen von Sekunden.

»Wieso haben Sie die Aufgabe dann gelöst?«

Bei der Frage biss sich Kaden auf die Unterlippe. »Ich glaube, es war eine Kurzschlussreaktion.«

»Eine, die Ihnen Ihren Job kostet?« Die Stimme Sorokins war ruhig.

Kaden seufzte tief. »Leider.«

Lange spürte er den klaren, festen Blick auf sich ruhen. »Diese Aufgabe war Teil eines Bewerbungsgesprächs«, erklärte Nikolaj Sorokin schließlich.

Überrascht sah Kaden auf.

»Ich suche einen persönlichen Assistenten, der mich bei der Leitung meiner Plattenfirma Dark Side Records unterstützt. Haben Sie den Namen schon einmal gehört?«

»Ja. Habe ich.« Eine relativ große Plattenfirma in der Stadt, die gerade dabei war, sich einen richtigen Namen zu machen und große Stars unter Vertrag zu nehmen.

»Gut«, erwiderte Sorokin, er lächelte ein reserviertes Lächeln, beugte sich vor und lehnte seine Unterarme auf den Tisch. »Sie haben diese Aufgabe so gut wie kein Zweiter gelöst. Ich habe mich dazu entschlossen, Sie als meinen Assistenten einzustellen.«

Kaden hätte nicht dämlicher dreinschauen können, wenn genau in diesem Moment draußen vor dem Hotel ein Raumschiff gelandet wäre, aus dem kleine pinke Kühe gestiegen wären, um der Menschheit eine niemals endende Energiequelle aus Cola und Pfefferminzbonbons zu überreichen. Ihm klappte tatsächlich der Mund auf.

»Was?«, fragte er schließlich.

»Sie werden mein Assistent. Das dürfte Ihnen ziemlich gut passen, jetzt, wo Sie diesen Job hier los sind.« Nikolaj Sorokins Blick lag weiterhin fest auf ihm.

»Ich«, setzte Kaden an, aber er musste sich räuspern. Er wusste nicht, was er sagen sollte. »Ich habe nicht einmal studiert.« Merkwürdig, dass erdasaussprach, obwohl in seinem Kopf ungefähr tausend andere Gründe umherschwirrten, warum das eine ganz dumme Idee war. Und warum er für so einen Job nicht qualifiziert war. Sein Blick huschte kurz zu der schwarzhaarigen Frau. Darea Harrison. Sie schien sich köstlich zu amüsieren, das leichte Lächeln um ihre Lippen war deutlicher zu sehen.

»Sind Sie in der Lage, sich in neue Aufgaben schnell einzuarbeiten?«, fragte Nikolaj Sorokin ihn jetzt, dabei zog er eine Augenbraue nach oben. »Sind Sie dazu bereit, sich weiterzubilden, sich über Vorgehensweisen, Verträge, Verhandlungen und Künstler zu informieren?«

Diese Fragen waren so weit außerhalb von Kadens Komfort-Zone, dass er vermutlich deshalb das Folgende sagte: »Sie klingen wie eine Werbeanzeige.« In seinem Kopf hatte er einen fetten Knoten.

Darea griff nach dem Wasserglas und schob es Kaden wortlos näher hin, während Nikolaj die Zeit nutzte, sein Gegenüber eingehender zu betrachten. Die Nase hatte einen leichten Schwung, die Augen, die er anfänglich nur für grün gehalten hatte, wiesen einen leichten braunen Schimmer um die Iris auf. Er fragte sich, wann er das letzte Mal den Duft nach Granatapfel in der Nase gehabt hatte. Kaden griff nach dem Glas.

»Ich weiß Ihr Angebot zu schätzen, Sir. Vor allem nach dem, was passiert ist, aber ich halte mich nicht für qualifiziert für so einen Job.«

»Ich schon. Wie ich schon sagte, alle anderen Bewerber haben diesen Test nicht so ausgeführt wie Sie. Das zeigt mir, dass Sie sich in die Situationen hineinversetzen und dann Lösungen finden, die meinen sehr nahekommen.« Nikolaj warf Darea einen Blick zu und sie nickte, erhob sich und legte kurz darauf eine Dokumentenmappe auf dem Tisch ab, die er Kaden Williams hinschob. »Nehmen Sie das mit. Überlegen Sie es sich. Ich werde Sie in drei Tagen anrufen.«

Kaden schluckte schwer und sah auf den blauen Ordner vor sich. Dann griff er vorsichtig danach. »Okay.« Trotzdem, eine Frage hatte er noch. »Also werden Sie das Hotel nicht verklagen?«

»Nein. Das Hotel hat damit nichts zu tun. Wie Sie schon sagten. Das ist eine Sache zwischen Ihnen und mir.«

Erleichtert atmete Kaden auf. »Danke.«

Als die Tür hinter Kaden Williams ins Schloss gefallen war, sah Nikolaj ihm hinterher. »Du hast dich nicht in ihm getäuscht«, sagte er leise und Dareas Grinsen spürte er so deutlich wie ihren Blick, der auf ihm ruhte.

»Oh nein. Ich irre mich nie«, antwortete sie selbstsicher.

***

Als Kaden seinen Spind ausräumte, war von Irma weit und breit nichts zu sehen. Und um ehrlich zu sein war er froh darüber. Er wollte jetzt nicht mit ihr sprechen. Am liebsten wollte er jetzt mit niemandem sprechen. Er wollte nur nach Hause, an seinem Laptop seine Kündigung schreiben, sie ausdrucken, per Post hierher schicken und auf dem Rückweg das kalorienreichste Eis kaufen, das er finden konnte. Und sich danach in seiner Wohnung verkriechen. Aber vorher musste er noch zu Mrs. Fowler und ihr die guten Nachrichten überbringen. Sie nahm sie gelassen auf. Der übliche Gleichmut, schien es. Kaden verließ das Hotel durch den Personaleingang und stand dann, in seinen Mantel gewickelt, auf dem Bürgersteig. Gute zwei Jahre. Und das war’s. In seiner Tüte steckte auch der Ordner. Er hatte noch nicht hineingeschaut.

Wenn man es ganz genau betrachtete, dann hatte er noch wahnsinniges Glück gehabt, dachte er zwei Tage später. Keine Klage. Weder vom Hotel, noch von Mr. Sorokin persönlich. Und dafür sollte er dankbar sein. Ja. Das war er auch. Kaden hätte sichnieim Leben einen Anwalt leisten können. Nicht, ohne sich hoch zu verschulden. Die Kündigung war inzwischen im Hotel eingegangen und im Grunde nichts weiter als eine Formalität.

Dieses Kapitel seines Lebens war vorbei und er war traurig darüber. Die Arbeit im Hotel hatte Spaß gemacht. Sie hatte ihn abgelenkt. Weniger geistig als viel mehr körperlich und das war gut gewesen. Jetzt hier zu sitzen, nichts zu tun zu haben, zeigte ihm nur, wie sehr er das gebraucht hatte, denn in seinem Kopf wirbelten Gedankengänge, die nicht gesund waren. Er hatte es mit Lesen versucht, aber alle Bücher, die er besaß, kannte er bereits und musste sie nicht aufschlagen, um die Buchstaben vor sich zu sehen. Und ein neues Buch zu kaufen ... Nun, unter den gegebenen Umständen war das wohl keine gute Idee.

La Junta Gardens war, ähnlich wie New York, ein sehr teures Pflaster und Kaden musste sein Geld jetzt, da er kein Einkommen mehr bezog, zusammenhalten. Er seufzte tief, wenn er daran dachte, dass eine Lösung für vermutlich beide Probleme vor ihm auf dem kleinen Tisch lag. Nach dem dunkelblauen Ordner zu greifen, würde ihm sowohl etwas zu lesen geben und wenn er zustimmte, dann am Ende vielleicht sogar ein Gehalt, mit dem er seine Miete zahlen konnte.

Dennoch, das konnte nicht wahr sein. So ein Angebot für so eine Position. Das war einfach nicht möglich. Dank Irma wusste Kaden inzwischen, dass der Interview-Raum für den Zweck der Vorstellungsgespräche gemietet worden war und er konnte sich sehr gut vorstellen, was für Männer und Frauen sich auf solch eine Stelle beworben hatten.

Harvard, Yale, Columbia. Als Assistent eines so erfolgreichen Mannes arbeiten zu können, wäre für diese studierten Köpfe mehr als nur ein Sprungbrett. Vielleicht sogar der Weg in eine Geschäftspartnerschaft und wieso sollte ein Mann wie Nikolaj Sorokin auf die Idee kommen, jemanden wie ihn auszuwählen? Das leuchtete Kaden nicht ein.

Und noch etwas leuchtete ihm nicht ein. Mr. Sorokin hatte gesagt, er hätte die ›Aufgabe so gut wie kein Zweiter gelöst‹. Natürlich konnte er sich an diesen Wortlaut genau erinnern. Auch wenn er sich sonst an nicht viel erinnern konnte, was in diesem Zimmer passiert war. Verdammt, er konnte sich ja kaum daran erinnern, wie Sorokin ausgesehen hatte! Alles wirkte verschwommen und das war äußerst ungewöhnlich für sein verqueres Gehirn. Nur der Blick aus hellen, klaren blau-grauen Augen wollte ihm nicht aus dem Kopf gehen. So fest. So unerschütterlich. Es war beängstigend, wie deutlich er ihn noch vor sich sehen konnte.

Kaden merkte, wie er auf seiner Daumenspitze herumkaute und zog den Finger von seinen Lippen. Er erhob sich, lief in die Küche. Was genau vier Schritte vom Sofa aus brauchte.

»Also schön.« Er ging zurück zum Sofa, setzte sich und griff nach der Mappe. Vermutlich lag darin sowieso nur ein Zettel mit der AufschriftReingelegt!oder noch schlimmer:Klageschrift.

Kaden fasste sich ein Herz und öffnete den Ordner. Doch nichts von dem, was er erwartet hatte, fand er vor. Stattdessen stand auf der ersten Seite die ÜberschriftAnforderungsprofil Assistent Dark Side Records. Das Ganze sah sehr offiziell aus und er schluckte unwillkürlich. Verdammt. Das war tatsächlich kein Scherz. Und kein Traum. Kadens Augen flogen über die Zeilen, die sich auf dem blütenweißen Papier erstreckten. Da stand wirklich eine ganze Menge, auch wenn es nur Stichpunkte waren.

Automatisch begann er abzugleichen, ob er diese Anforderungen erfüllte. Der erste Punkt warStressresistenz. Leicht rümpfte er die Nase. Das konnte er nicht einmal beantworten. Kam vermutlich auf den Stress an. Wenn er kopfüber an einem dünnen Seil über einem Becken voller Skorpione hängen würde, dann wäre es mit einem kühlen Kopf sicherlich vorbei.

Verhandlungsgeschickwar der nächste Punkt. Das war ein dickes, fettes Nein. Zumindest traute er sich so etwas nicht zu. Er konnte nicht einmal in einem Second-Hand-Store den Preis drücken. Traurig, aber wahr.

Die Liste setzte sich über zwei Seiten fort:

Reisefreudigkeit(Er hatte keine Ahnung, er war nie über die Grenzen der Vereinigten Staaten hinaus gekommen.)

Teamfähigkeit(Endlich, ein Ja.)

Selbstmanagementfähigkeiten(Ein merkwürdiges Wort, aber er war schon der Meinung, dass er sich selbst organisieren konnte.)

Tiefgreifendes Wissen über Künstler(Nein.)

Tiefgreifendes Wissen über verschiedene Musikstile(Nein.)

Tiefgreifendes Wissen über Musikproduktionsprozesse(Er wusste, wie man einen Musik-Player bediente, also nein.)

Belastbarkeit(Ha! Ein weiteres Ja.)

Abgabetermine einhalten(Nun ja, die Zimmer mussten ja immer möglichst schnell und ordentlich fertig sein, also vermutlich.)

Flexibilität(Keine Ahnung, ehrlich.)

Selbstsicherheit(In den letzten zwei Tagen wohl eher nicht.)

Offenheit(Ja)

Artikulationsfähigkeit(Er besaß eine Zunge, also ein Ja.)

Hervorragende Kenntnisse in Grammatik(Ja.)

sowieBetriebswirtschaftslehre(Nein.)

undRechnungswesen(Ein weiteres, dickes Nein.)

undSchriftsatz(Was?)

Es war eine wirklich sehr lange Liste und am Ende stolperte Kaden über einen Punkt, an dem ihm klar wurde, wie absolut unsinnig das Ganze war. Denn da stand allen ErnstesModisches Erscheinungsbild. Und er hatte bereits bei zwei Menschen gesehen, was genaudasbedeutete. Zum einen bei Darea Harrison. Elegant und durchgestylt bis hin zu den roten Fingernägeln, die absolut und haargenau zu dem roten Lippenstift gepasst hatten. Und zum anderen beim Geschäftsführer selbst.

Mr. Nikolaj Sorokin. Ein Anzug, der vermutlich mehr kostete als Kaden in einem Jahr im Hotel verdient hatte. Er konnte nur den Kopf schütteln. Er besaß gerade mal drei Jeans. Und eine davon hatte ein Loch im Knie, weil er auf einer glatten Stelle ausgerutscht war. Sein Glück war nur, dass das gerade modern war.

Kaden blätterte weiter und fand sich dann einer Stellenbeschreibung gegenüber. Und was er hier las, gab eine Menge mehr Aufschluss darüber, was ein Assistent so zu tun hatte. Begleitung zu sämtlichen Geschäftsterminen. Korrekturlesen sämtlicher verfasster Schriftstücke. Aufsetzen von Schriftstücken. Schreiben nach Diktat. Recherchearbeiten. Und im Grunde alles, was mit den Musikern zu tun hatte, managen. Kalkulationen erarbeiten für verschiedenste Veranstaltungen und Gelegenheiten. Daher also auch diese vage formulierte Aufgabe. Kontrollieren von Rechnungen. Er sah einen Moment auf die Wand gegenüber seines Schlafsofas. Also im Grunde all das, wofür der große Boss keine Zeit hatte? Er hatte vorher schon geahnt, dass dies ein ziemlich anspruchsvoller Job war, aber als er diesen Text las und sich jedes Wort, jedes Satzzeichen davon in sein Gehirn brannte, wurde ihm bewusst, wie anspruchsvoll.

Schwer schluckte Kaden. Dann blätterte er weiter und die nächsten sieben eng beschriebenen Seiten waren die Kopie eines Arbeitsvertrags. Paragrafen über Paragrafen, die genau auflisteten, welche Rechte und Pflichten sowohl Arbeitgeber als auch Arbeitnehmer hatten und er war baff. Krankenversicherung. Das war das Erste, über das Kaden stolperte. Alle Angestellten von DSR bekamen eine Krankenversicherung! Inklusive Zahnersatz! Das war weit mehr als nur großzügig. Das war absolut unüblich. Und so ähnlich ging es weiter.

Urlaubstage. 18 Stück im ersten Jahr, mit der Option auf Anpassung, sollte der Arbeitsvertrag die Dauer von 12 Monaten überschreiten. Das war weit mehr als viele andere Amerikaner erhielten. Und noch dazu war dies bezahlter Urlaub! Denn das stand da auch:

§24b: Die Lohn- und Gehaltszahlungen werden für die Dauer der vertraglich geregelten Urlaubstage fortgesetzt.

Bezahlter Urlaub. Kaden blätterte auf die nächste Seite.

§27a: Der Arbeitgeber verpflichtet sich zur Zahlung eines Weihnachtsgeldes, dessen Höhe und Angemessenheit der Arbeitgeber bestimmt.

§27b: Die Zahlung des Weihnachtsgeldes kann unterbleiben, sollten sich hierfür in der Vergangenheit Gründe finden, die dem Wohle der Firma entgegenwirken oder sollte das Vertrauensverhältnis zwischen Arbeitnehmer und Arbeitgeber gestört worden sein. Ein ziemlich verschachtelter Paragraf, aber Weihnachtsgeld?! Da stand tatsächlichverpflichtet. Das hieß, rein rechtlich gesehen war man in der Lage, diese Zahlung sogar einzuklagen!

Es folgte eine Auflistung der Wochenarbeitszeit, 40 Stunden, exklusive Pausen, und in einer Zeile stand das Gehalt. Da fielen Kaden schließlich fast die Augen aus dem Kopf. Das war ein Witz! Er drehte die Seite, sah auf die Rückseite, aber nichts deutete auf einen Druckfehler hin. 23 Dollar in der Stunde. Das machte einen Wochenlohn von 920 $. Was bedeutete, dass man am Ende des Monats sage und schreibe 3.680 amerikanische Dollar besaß! Im Hotel hatte er gerade einmal acht Dollar die Stunde verdient! Das war praktisch eine Verdreifachung seines Einkommens!

In einem weiteren Paragrafen stand auch noch etwas von Sonderleistungen. Dieser Vertrag war zu schön, um wahr zu sein. Und er sollte diesen Vertrag unterschreiben? Das hielt Kaden für ein Gerücht. Zumal er sicher war, nicht einmal eine einzige Woche in dem beschriebenen Aufgabenfeld bestehen zu können. Überaktives Gehirn hin oder her. Und noch etwas wurde ihm bewusst. Nikolaj Sorokin hatte gar nicht seine Handynummer.

Er schlug sich gegen die Stirn. Das war doch wohl das beste Zeichen, um ihm zu beweisen, dass das alles nur ein schlechter Witz war! Also schön. Kaden klappte den Ordner zu. Dann eben nicht. Er würde sich morgen eine Tageszeitung besorgen und nach einem Job suchen.

***

Nikolaj senkte seinen Blick von Andy Gerwind, der gerade mit geschlossenen Augen im Tonstudio seinen kühlen, ruhigen Pop in das Mikrofon sang, und warf einen Blick auf seine Armbanduhr. 11:14 Uhr am 27. Februar. Es war exakt drei Tage her, dass er Kaden Williams kennengelernt und mit den Unterlagen entlassen hatte, die sich der junge Mann hoffentlich zu Gemüte gezogen hatte.

»Mario, ich muss kurz telefonieren«, sagte er zum Boss des bekannten TonstudiosCosic. Der hatte den Kopfhörer schief auf den Ohren und spielte mit seinem Mischpult an den Einstellungen, um Nikolajs Künstler perfekt auszuloten.

»Alles klar«, antwortete Mario lässig. Er hatte alles im Griff. Natürlich, immerhin hatte er über 20 Jahre Erfahrung und war damit gerade gut genug, um mit Nikolaj zusammen zu arbeiten.

Nikolaj trat vor die Tür in den Eingangsbereich desCosic, ging hinter die Bar und öffnete den Kühlschrank, um sich eine Flasche Orangensaft zu nehmen. Aus seiner Hosentasche zog er sein Handy, wählte dann die Nummer, die in seinem Handy unter 'Kaden Williams' eingespeichert war und öffnete mit der anderen Hand den Drehverschluss. Über die Stadt hinweg suchte sich das Mobilfunksignal seinen Weg und fand schließlich das altersschwache Handy von Kaden Williams, der gerade versuchte, trotz steif gefrorener Finger eine Zeitung aus der Auslage eines Zeitungsstandes zu ziehen.

Seit 10 Minuten suchte er jetzt die passende Zeitung. Die mit den meisten Stellenanzeigen. Das Handy in seiner Hosentasche begann zu vibrieren und umständlich zog er es heraus. Eine ihm unbekannte Nummer stand auf dem Display.

»Ja?«, nahm er das Gespräch an.

»Mr. Williams, hier spricht Nikolaj Sorokin.«

Um ein Haar wäre Kaden die Zeitung hinuntergefallen. Wieder einmal klappte ihm der Mund auf. »Äh«, war alles, was er herausbrachte.

»Ich sagte ja, ich würde Sie nach drei Tagen anrufen. Hatten Sie Zeit, sich das Angebot anzusehen?«

»Woher haben Sie diese Nummer?«, platzte Kaden heraus.

»Miss Harrison hat sie besorgt.«

Kaden blinzelte verwirrt. »Aha.«

Es raschelte leise am anderen Ende. »Was sagen Sie zu dem Angebot?«

»Es ist zu schön, um wahr zu sein.«

»Mr. Williams, in solchen Angelegenheiten beliebe ich nicht zu scherzen«, sagte Nikolaj Sorokin fest.

Kaden sah auf die Schlagzeile der Zeitung in seiner Hand ohne sie zu lesen. »Ich erfülle nicht einmal ein Drittel aller Anforderungen in Ihrem Portfolio, Mr. Sorokin. Sie sollten sich jemand anderen suchen.«

»Das stimmt. Aber den Rest können Sie lernen.«

Kaden schnaubte. Erneut. Wie konnte man bitte lernen, modisch zu sein? »Ich denke einfach nicht, dass ich der Richtige für Sie bin, Sir.« Der Zeitungshändler sah ihn merkwürdig an.

»Gut. Sprechen wir über die Punkte, die Sie beschäftigen. Was ist das Erste, das Ihnen einfällt und das nicht auf Sie zutrifft?«

»Dass ... Ich ...«

»Kaufen Sie die Zeitung jetzt, oder was wird das hier?«, empörte sich der Zeitungshändler und Kaden stutzte.

»Ja, ich ... Moment.« Er drehte sich leicht vom Stand weg. »Hören Sie, ich muss Schluss machen.«

»Lassen Sie uns das persönlich besprechen, Mr. Williams. Sagen wir 17 Uhr in der London Street im Hauptsitz?«

»Hey, junger Mann!«, motzte der Verkäufer jetzt wieder und Kaden stöhnte.

»Also gut. Ja. 17 Uhr.« Er legte auf und drehte sich zu dem Verkäufer um, um die Zeitung zu bezahlen.

Zu was hatte er da eigentlich gerade ja gesagt? Hatte er gerade wirklich zugesagt, sich um 17 Uhr mit diesem Mr. Sorokin zu treffen? War er denn total übergeschnappt? Mit der Zeitung unter dem Arm lief er zurück nach Hause. Sah in den Verlauf seines Handys. Nein. Tatsächlich. Der Anruf war wirklich passiert. London Street.

Kaden klappte seinen Laptop auf und suchte nach der Adresse. Oh Gott. Quer durch die Stadt. Mist! Er sah auf die blaue Mappe, die immer noch auf seinem kleinen Küchentisch lag und dort ihr Dasein fristete. Na schön. Dann fuhr er halt dorthin. Er hatte eh nichts Besseres zu tun und dann konnte er Mr. Sorokin persönlich sagen, dass dies eine dumme Idee war und er niemals diesen Anforderungen genügen würde. Er sah an sich hinunter. Er hatte ja nicht mal was Passendes anzuziehen! Aber das war ja wohl auch nicht nötig für eine Absage, oder?

Kaden fuhr um 16 Uhr los, durch eine Stadt, über der die Dämmerung bereits aufzog. Er brauchte eine gute dreiviertel Stunde, dann stand er vor einem großen Gebäude. Schwer schluckte er und trat ein.

Auf einer großen Tafel standen die Stockwerke, in denen sich die unterschiedlichsten Firmen befanden. Dark Side Records. Etage 56. Also schön. Er betrat den Fahrstuhl, drückte den Knopf und wickelte sich den Schal vom Hals. In ein paar Etagen stiegen Menschen aus und wieder ein. Und schließlich wurde Kaden in die 56. Etage entlassen. Er sah direkt auf die Wand gegenüber den Fahrstühlen. In großen, geschwungenen Buchstaben prangte dort das Logo des Unternehmens. Schwer schluckte er, als er die Füße auf den Marmorfußboden setzte. Zu seiner Rechten entdeckte er eine Rezeption. Drei junge, hübsche Frauen saßen dahinter. Perfekt frisiert und geschminkt. Eine der Damen hob den Blick.

»Guten Tag. Was kann ich für Sie tun?«

Kaden knetete den Schal in seinen Fingern. »Also, ich habe einen Termin. Mit Mr. Sorokin.« Alles hier glänzte. Viel Silber. Viel Grau. Ein paar farbige Tupfer hier und dort. Sehr modern. Sehr edel.

»Ihr Name?«

»Williams. Kaden Williams.«

Die junge Dame griff nach einem Telefonhörer und drückte wohl eine Kurzwahltaste. Sie sprach leise ins Telefon, aber Kaden hörte nicht zu. Er war noch nie in einer Plattenfirma gewesen und er wusste nicht, was er erwartet hatte. Aber das war ... Wow!

»Nehmen Sie doch einen Augenblick dort Platz.« Die junge Dame deutete auf eine Stuhlreihe an der Seite und er nickte nervös.

»Okay. Danke.«

Kaden setzte sich und sah auf seine Schuhe. Oh Gott. Das war dermaßen unangenehm! Er wirkte hier so fehl am Platz! Wie ein ... Wie ein ... Ihm fiel nicht einmal ein passender Vergleich ein!

***

In langsamen, ruhigen Bewegungen drehte Nikolaj den Teelöffel in seiner Kaffeetasse, um den restlichen Zucker darin zu verwirbeln. Er sah auf den Monitor des Laptops, auf dem sich die lange E-Mail eines Journalisten ausbreitete. Nikolajs Blick huschte in die untere rechte Ecke. 16:54 Uhr. Kurz darauf sah er durch die Glasfront seines Büros, wie Darea sich erhob und die Tür zu seinem Büro öffnete.

»Mr. Williams ist da. Ich hole ihn ab.«

Nikolaj sah ihr nach. Das violette Kleid mit den langen Armen schwang ihr sanft um die Knie.

Sie ging nach vorne in die Lobby und sah Kaden lächelnd entgegen, ohne dass man ihr ansah, was sie wirklich dachte.

»Mr. Williams«, sagte sie und blieb vor der Stuhlreihe stehen.

Als sich ein Paar High-Heels in Kadens Blickfeld schob, hob er den Blick und sah in das Gesicht von Darea Harrison. Von der Frau, die so wunderbar nach Zimt duftete und die ihm nach wie vor Angst einjagte. Schnell erhob er sich. »Ma’a...« Im letzten Moment erinnerte er sich daran, dass sie diese Anrede nicht mochte und räusperte sich. »Mrs. Harrison.«

Darea nickte knapp. »Miss Harrison«, korrigierte sie und hob lächelnd die Hände, an deren Fingern sich keine Ringe befanden. »Folgen Sie mir bitte, ich bringe Sie zu Mr. Sorokin.«

»Sie sind nicht verheiratet?«, fragte Kaden perplex. Der Blick, den er dafür kassierte, ließ ihm die Knie weich werden. Eine Augenbraue gehoben, die Arme verschränkt.

»Ich ... Ich meine nur ... Sie sind so hübsch und riechen so gut und ...« Er hörte sich gerade selber reden. »Oh Gott«, presste er hervor und spürte, wie ihm das Blut in den Kopf stieg.

»Schieben wir das auf die Nervosität. Nun kommen Sie.« Darea lief langen Schrittes voraus. »Kann ich Ihnen etwas zu trinken anbieten?«

»Batteriesäure wäre gut«, murmelte Kaden. Dann hätte er das Ganze schnell hinter sich.

»Mr. Williams.« Darea blieb mitten im Gang stehen und drehte sich zu ihm um. Selbst das sah elegant aus. »Hören Sie mir zu. Ich weiß, Sie denken, Sie würden hier nicht hergehören und wer weiß, vielleicht haben Sie damit Recht.« Sie verschwieg aus Höflichkeit, dass sie Kadens Unsicherheit auch riechen konnte. »Aber ich vertraue auf die Menschenkenntnis von Mr. Sorokin und das sollten Sie auch. Wenn ich Sie also frage, ob ich Ihnen etwas zu trinken anbieten darf, dann antworten Sie ...?«

Mit großen Augen sah Kaden sie an. »Ein Wasser?«, presste er hervor und hoffte, dass das die richtige Antwort war.