Smartphone Sweetheart - Ava Patell - E-Book

Smartphone Sweetheart E-Book

Ava Patell

5,0

  • Herausgeber: epubli
  • Kategorie: Erotik
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2017
Beschreibung

Emmett Brone hat die Hoffnung bereits aufgegeben, die große Liebe zu finden. Da kommt seine beste Freundin auf eine Idee und überredet ihn zu einer kindischen Mutprobe: Schreibe eine Nachricht an eine willkürlich aus dem Telefonbuch gewählte Nummer. Und dann passiert das Unverhoffte, denn Emmett bekommt eine Antwort. Dass sich aus dieser Mutprobe ein ungeahntes Gefühlschaos nicht nur für Emmett, sondern auch für den unbekannten Fremden entwickeln würde, ahnt zu Beginn keiner von beiden. Doch sie scheinen eine Verbindung zueinander zu haben, die nicht nur aus kurzen, digitalen Nachrichten besteht.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 442

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
5,0 (1 Bewertung)
1
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Smartphone Sweetheart

Smartphone Sweetheart1 – Ein Telefonbuch und H. G. Wells2 – John Doe und Mr. M3 – Ein Hauch von Nähe4 – Hals über Kopf5 – Hi!6 – Wir sollten umziehen!7 – Ein Virus namens Liebe8 – Küsse in der Dunkelheit9 – Im Rausch10 – Geständnisse11 – Ja, das ist es

Smartphone Sweetheart

Ava Patell & Kim Pearse

Gay Romance

Ava Patell & Kim Pearse

c/oPapyrus Autoren-Club,R.O.M. Logicware GmbHPettenkoferstr. 16-1810247 Berlin

Titelfoto mit freundlicher Genehmigung von: www.pixabay.com

1 – Ein Telefonbuch und H. G. Wells

»Weißt du, genau das ist dein Problem.«, meinte Hanni jetzt und setzte damit das Gespräch fort, das sie bisher geführt hatten, während sie an ihrem Whisky nippte. Das war eine der vielen Sachen, die er so an ihr liebte. Er kannte sonst keine Frau, die sich so gut im Whisky-Segment auskannte wie sie. Sie hasste Cocktails. Wo andere Frauen mit Vorliebe Süßes oder Sahniges bestellten, das in schillernd bunten Farben daherkam, griff sie auf die bernsteinfarbene, hochprozentige Flüssigkeit mit dem rauchigen Aroma und der öligen Konsistenz zurück.

Deprimiert rührte er mit dem Strohhalm in seinem Glas herum. Das Seufzen kam tief aus seiner Kehle und Hanni neben ihm grummelte. Sie hatte sich ihr langes, straßenköter-blondes Haar zu einem Messi-Bun auf dem Kopf zusammen gebunden. Hanni war eine besondere Person. Sie war groß für eine Frau, sie hatte lange Beine, ihre Hüfte war eine Spur zu schmal, ihre Brüste etwas zu groß. Außerdem hatte sie ein kesses Mundwerk. Ihre Nase war klein, ihre Lippen voll und ihre Augen standen vielleicht eine Spur zu weit auseinander, aber vielleicht war es gerade das, was ihre Ausstrahlung ausmachte. Aus ihrer Frisur hatten sich über den Verlauf des Tages einige Strähnen gelöst und es sah dennoch so aus als wäre es gewollt. Über ihrem schlichten, grauen Shirt trug sie eine weiße Strickjacke im Oversized-Look und dazu Skinny-Jeans. Ihre Füße steckten in glänzenden, schwarzen Turnschuhen. Seine beste Freundin wusste einfach, wie man sich kleidete.

»Du bist eben einfach nicht wirklich sexy.«, konstatierte sie jetzt weiter, während sie den Whisky im Glas schwenkte. Er sah sie an und hob eine Augenbraue.

»Wow. Danke. Du verstehst es wirklich, mich aufzubauen, Hanni.«, meinte Emmett.

Sie gluckste. »Ach komm, Em. Als wäre das was Neues für dich. Du bist niedlich. Das ist ja nichts Schlimmes. Aber du bist eben nicht sexy. Nicht sehr. Und das fehlt eben vielen Männern.« Sie lächelte aufmunternd und Emmett fragte sich, wann genau in den letzten Minuten ausgerechnetsiezur Männer-Versteherin schlechthin mutiert war.

»Aber das ist doch auch nicht schlimm. Du musst nur den einen Mann finden, der weniger auf sexy steht, sondern mehr auf niedlich. Einen...mit einem Helferkomplex oder so was. Wie wäre es...mit dem Papst?«

Nun musste Emmett doch lachen. Sie war nicht auf den Mund gefallen und sie verstand es, ihn auch jetzt noch zum Lachen zu bringen. Nach dem vierten Korb in drei Monaten. Er würde sich einfach damit abfinden, Single zu bleiben. Es gab genug Katzen im Tierheim, die er sich in die Wohnung holen konnte, um als verschroben gelten zu können.

»Ich denke nicht, dass der Papst auch nur halbwegs mein Alter hat.«

Sie kicherte. »Wenn er so aussehen würde wie Jude Law in ›The Young Pope‹ wäre es doch glatt eine Überlegung wert, oder?«

Da konnte er nicht widersprechen. »Aber der Papst ist im Moment leider Papst Franziskus und der ist 81 Jahre alt.«

Sie winkte ab und verzog das Gesicht, während sie an ihrem Drink nippte. »Bäh. Hör mir auf mit deinem viel zu großen Allgemeinwissen. Das ist noch so eine Sache. Niemand mag Besserwisser.« Mit dem Zeigefinger deutete sie auf ihn.

Emmett schob die Unterlippe vor. »Ich lese eben gerne.« Nicht nur das, Bücher waren sprichwörtlich sein Leben.

»Ja, ja. Und ich mag das ja auch an dir. Aber das schreckt die Kerle ab.«

Er runzelte die Stirn und sah sie fragend an. »Wieso das denn?«

Sie sah für einen Moment in ihr Glas und schien nachzudenken. Ihre Stirn legte sich in Falten. »Weißt du, was ich mich schon immer gefragt habe? Wie die so ein Fass herstellen für Whisky. Damit der darin gelagert werden kann…«

Er hob eine Augenbraue. Das war ein abrupter Themenwechsel, aber auch das war er nach so vielen Jahren Freundschaft gewohnt. Auch wenn es ihm immer noch schwerfiel, diesen heftigen Themenwechseln zu folgen. »Also das ist wirklich interessant. Es beginnt mit der Auswahl des richtigen Holzes. Echter schottischer Whisky und Kentucky Straight Bourbon dürfen nur in Eichenfässern gelagert werden. Und da gibt es zwei Eichenarten, die hauptsächlich verwendet werden. Einmal die amerikanische Weißeiche und dann die...« Er stutzte, da Hanni ihn unbeweglich mit großen Augen abwartend ansah.

»Was?« , fragte er irritiert.

Sie gluckste. »Okay. Keine weiteren Fragen. Das scheucht dann auch noch die Typen auf, die vorher auf deinen Niedlichkeitsfaktor angesprungen sind. Niedlichundschlau, das passt wirklich nicht zusammen.«

Er grummelte und machte kleine Blasen in seiner Cola. Emmett hatte wirklich keine Ahnung, ob sie nun wirklich etwas von Männern verstand oder sich das alles einfach nur zurechtlegte.

»Ja, siehst du? Niedlich. Ich will dich ständig in den Arm nehmen.« Sie kicherte. Dann lehnte sie sich zu ihm. »Nein, aber mal im Ernst. Du bist gut so wie du bist. Nur manchmal denke ich...dir fehlt ein wenig Spontaneität.« Er sah sie an.

»Hanni, ich mag mein Leben eben geordnet.«

Sie winkte ab. »Das meine ich ja auch nicht. Aber wann... Wann hast du das letzte Mal etwas gemacht, das nicht ganz so...sicherist?«

Einen Moment überlegte Emmett, strich sich durch das Haar. »Ich bin letzte Woche bei Rot über eine Ampel gelaufen.«, fiel ihm dann ein und sie ließ für eine Sekunde den Kopf auf die Tischplatte sinken. Ein Ausdruck purer Verzweiflung.

»Oh Gott...«, stöhnte sie gequält. Dann ruckte ihr Kopf wieder hoch. »Ich hab eine Idee!« Im nächsten Moment sprang sie auf und lief die paar Schritte zur Bar. Da sie hier Stammgäste waren, war der Barkeeper Heath nicht im Mindesten überrascht als ihn Hanni um ein Telefonbuch bat. Viel überraschender war der Umstand, dass er tatsächlich eines unter der Bar hervorkramte. Wer benutzte so was heute noch? Es sah alt aus, zerpflückt und ziemlich abgenutzt. Hanni lächelte, schlug es willkürlich auf und riss eine Seite heraus.

»Hey!«, schimpfte der Barkeeper, doch als sie ihm eine Kusshand zuwarf, schüttelte er nur lächelnd den Kopf und sah ihr nach, als sie zurück an den Tisch ging und sich setzte. Dann griff sie nach Emmetts Handy. Der blinzelte.

»Sag mal, was machst du da?« Sie rief sein Nachrichtenprogramm auf und tippte eine Nummer ein. Dann knüllte sie die Seite zusammen.

»Wir wissen beide nicht, wem die Nummer gehört, aber du schreibst jetzt eine Nachricht dahin. Egal was. Das überlasse ich dir. Los.«

Er starrte auf sein Handy. Dann auf Hanni. »Du hast 'nen Knall. Ich bin 28 Jahre alt. Ich bin zu alt für solche Art von Streichen. Das ist doch...kindisch.«

Sie schüttelte den Kopf. »Nein. Spontan. Etwas wagen. Schon vergessen? Und damit tut man doch niemandem weh. Sieh es als eine Art Therapie an. Kleine Schritte und so ein Kram. Über deinen eigenen Schatten springen. Oder wie man das sonst noch so nennt.«

Emmett sah auf seine Uhr, trommelte mit den Fingern auf der Tischplatte herum und konnte sich nicht mit dem Gedanken anfreunden, einem wildfremden Menschen um diese Uhrzeit eine Art Klingelstreich der Neuzeit zu spielen.

»Es ist bereits halb elf. Was, wenn der- oder diejenige schon schläft? Oder...«

»Oh um Himmels Willen, Em! Jetzt mach einfach! Schreib!«

Er hatte jetzt zwei Möglichkeiten. Sich für die nächsten Wochen anzuhören was für ein Hasenfuß er war oder das Handy zu nehmen und die Nachricht zu tippen. Die zweite Lösung wäre einfacher bei einer Frau wie Hanni als Freundin.

»Nicht lange nachdenken.«, mahnte diese nun, während er noch seinen Gedanken nachhing. »Einfach schreiben.«

Emmett sah auf den blinkenden Cursor in dem kleinen Nachrichtenfeld. »Na gut. Schön. Du hast gewonnen.« Einen Moment überlegte er doch und zögerte erneut. Dann tippte er:

›Die Errungenschaften der Zivilisation sind nur eine Anhäufung von Torheiten, die unweigerlich auf ihre Schöpfer zurückfallen und sie am Ende vernichten werden.‹Für eine Sekunde biss er sich auf die Unterlippe. Dann tippte er auf Senden und drehte sein Handy um, legte es auf die Tischplatte.

»Gut. Ich hab's gemacht.« Irrationalerweise schlug ihm das Herz bis zum Hals. Es war nur eine Nachricht und dennoch fühlte er sich schlecht. Hanni kicherte.

»Und?«

Er holte tief Luft. »Ich fühle mich furchtbar.«, gestand er.

Sie lachte auf. »Aber du hast es getan und das war gut! Das war mal etwas anderes und das zeigt doch, dass du spontan sein kannst. Und das istgut. Wir arbeiten einfach daran und du findest schon noch den Typen, der dich genau so nimmt wie du bist, Em. Und mal ganz im Ernst. Ein bisschen Spontaneität hat noch niemandem geschadet. Dann klappt es auch mit dem Traumprinzen.« Nun ja. Es war immerhin schön, dass es einen Menschen auf dieser Welt gab, der daran glaubte.

+++

Blind griff Matthew Louis nach seinem Handy. Es hatte ruhig neben ihm auf der Couch gelegen, dann kurz vibriert. Er konnte sich schon vorstellen, von wem die Nachricht war und war daher umso überraschter, als nicht der übliche Name auf seinem Display prangte, sondern eine ihm völlig unbekannte Nummer. Matthew las die Nachricht zweimal, die Augenbrauen zusammen gezogen. Welcher Irre schickte ihm denn um diese Uhrzeit ein Zitat von Herbert George Wells, einem der größten Science-Fiction-Visionäre der Welt? Und dann auch noch, ohne die Nummer zu unterdrücken. Zeitreisen und Science-Fiction-Romane waren zwar überhaupt nicht sein Ding, aber dafür hatte er ja Noah, seinen 8-jährigen Neffen, der total auf diesen Typ Geschichten ansprang. Kopfschüttelnd schob Matthew das Handy wieder auf die Couch. Sicher nur ein Streich von Glenda. Die Geschäftspartnerin seines Arbeitgebers schrieb ihm ständig Nachrichten, was er noch zu bedenken oder zu tun hatte. Er richtete seinen Blick auf den Laptopbildschirm vor sich, ging seine Präsentation für übermorgen weiter durch und entschied sich für eine andere Grafik für Seite drei. Doch seine Gedanken blieben nicht lange bei den Grafiken und Buchstaben vor ihm auf dem Bildschirm, sondern wanderten zurück zu dem so bedeutungslos scheinenden Vorfall. So ein Streich sah Glenda gar nicht ähnlich. Was, wenn sich jemand verwählt hatte? Konnte man sich in einem Nachrichtenprogramm verwählen? »Hm...«, machte Matthew leise in die Stille seines Hotel-Wohnzimmers hinein, griff nach dem hohen Glas auf dem Tisch und leerte es. Der Geschmack des Aspirins haftete noch lange an seinem Gaumen und für einen Moment verzog er den Mund. »Na schön...« Erneut griff er nach seinem Blackberry und legte die Finger auf die digitale Tastatur. »Wie war das gleich?«, murmelte er zu sich selbst, bevor er zu tippen begann.

›Stärke ist das Ergebnis der Not, Schwäche ist ein Preis der Sicherheit.‹Matthew nickte leicht. So müsste es stimmen und er zögerte nicht, die Nachricht an einen vermeintlich fremden Menschen zu schicken. Als er das Handy beiseiteschob, schüttelte er doch über sich selbst den Kopf. Er hätte gar nicht darauf eingehen sollen. Übermorgen würde ihn Glenda damit aufziehen. Wenn er sich die brünette Mittvierzigerin vorstellte, war er froh, noch knapp zwei Tage in Los Angeles zu haben, bevor er zurück musste. Er mochte seine Arbeit bei Welsh & Baker, auch wenn er sie nur als Sprungbrett ansah. In den Jahren seiner Anstellung bei dem Private Equity Unternehmen hatte er einiges gelernt, was in seinem Wirtschaftsstudium zu kurz gekommen war. Wie er Investoren dazu brachte, ihnen zu helfen, junge Unternehmen aufzunehmen oder mit ihnen gemeinsam den Börsengang zu bestreiten zum Beispiel.

Erneut wendete er seine Aufmerksamkeit der Präsentation zu, ging sie weiter durch und klappte schließlich den Laptop zu, schob ihn in die Tasche und stellte alles, was er brauchen würde, neben die Eingangstür seines Hotelzimmers. An einem Haken der Garderobe hing sein Anzug für übermorgen auf einem Bügel, sicher verstaut in einer Kleiderhülle. Matthew trat auf den kleinen Balkon, der zu seinem Zimmer gehörte, lehnte sich auf die Brüstung und ließ seinen Blick über das nächtliche L.A. gleiten.

+++

Das Handy machte sich in Emmetts Tasche bemerkbar, als er schon im Bus auf dem Weg nach Hause saß. Die Straßen waren dunkel, nur erhellt von den Laternen und den Scheinwerfern der vorbeifahrenden Autos. Es hatte gleichermaßen etwas Mystisches als auch Bedrohliches, besonders da jetzt noch leichter Nieselregen einsetzte. Manchmal wünschte Emmett sich, er hätte ein Auto, wurde aber aus seinen Gedanken gerissen, als sein Handy vibrierte. Er dachte, Hanni würde ihm schreiben, aber er kannte die Nummer nicht und als er die Nachricht öffnete, schoss ihm vor Scham das Blut in die Wangen. Eine Weile sah er darauf. H. G. Wells. Die oder der Fremde hatte das Zitat also erkannt... Schon alleine das war verrückt genug, aber noch verrückter war, dass dieser Mensch auch noch geantwortet hatte. Und dann ebenfalls mit einem Zitat. Tropfen hingen an der Fensterscheibe des Busses und Emmett sah sein eigenes Spiegelbild darin. Rote Wangen. Verlegenheit und Scham.

»Ich kann so was einfach nicht, Hanni.«, flüsterte er zu sich selbst und fiel damit sicherlich unter die Rubrik ›der Irre, der des Nachts unterwegs ist und mit sich selbst spricht‹. Genau der Typ Mensch, neben dem man spät am Abend oder früh in der Nacht nicht sitzen wollte. So weit war es jetzt schon gekommen.

›Bitte entschuldigen Sie. H. G. Wells war ein schlauerer Mensch als ich und hätte sich nie auf so einen kindischen Streich eingelassen.‹

Vermutlich war dies schon der nächste Schritt in seinem Irrsinn, denn er hätte es einfach gut sein lassen können. Doch diese Entschuldigung war ihm ein echtes Bedürfnis. Seine Mutter sollte nicht behaupten können, sie hätte ihn falsch erzogen. Prompt fühlte er sich besser. Mit einer Entschuldigung tat man niemandem weh. Und ihm selbst nahm diese kleine Geste das nagende, kleine, fiese Gefühl ab, das ihn belastet hatte. Er war einfach nicht spontan. Und er war auch nicht mutig. Egal was Hanni versuchte, er würde sich dahingehend wohl nie ändern, weil das einfach Teil seiner Persönlichkeit war. Und so etwas ließ sich so schnell nun einmal nicht ändern. Wenn überhaupt. Sein Blick ging wieder nach draußen. Dieses kleine Intermezzo, das für ihn aufregend gewesen war, war nun beendet.

+++

Im Bett liegend las Matthew die Nachricht, allerdings antwortete er nicht. Ein Streich also doch, aber nicht von Glenda wie er gedacht hatte, denn die hätte sich spätestens jetzt verraten und sich schon gar nicht entschuldigt oder sich selbst als kindisch bezeichnet. Er legte das Handy beiseite und nahm sich vor, nicht mehr darauf einzugehen. Ein Streich, der offensichtlich missglückt war. Tiefer rutschte er in die Laken und war bemüht darum, noch ein paar Stunden Schlaf zu bekommen bevor ihn am Sonntagmorgen sein Biorhythmus kurz vor neun Uhr weckte. Er verließ das Zimmer und frühstückte in der Lobby des Hotels. Das Frühstück war gut, das Ambiente angenehm und beruhigend. Seine Anstellung brachte es mit sich, dass er viel reiste, um sich mit Investoren zu treffen oder mit den Gründern von Firmen, an denen sein Chef, Henry Baker, interessiert war. Eines Tages würde das vielleicht ein Ende haben, aber noch war er auf diesen Mann angewiesen, wenn er weiter die Miete seiner Wohnung zahlen wollte. Erst als er am späten Vormittag auf sein Handy sah, um seine E-Mails zu kontrollieren, erinnerte sich Matthew an diese merkwürdige Begebenheit des gestrigen Abends. Lächelnd schüttelte er den Kopf und wandte seinen Blick aus dem Seitenfenster des Taxis, in dem er sich befand. Wahrscheinlich ein junges Mädchen, das im Beisein ihrer Freundinnen gezwungen wurde, so eine Nachricht zu schreiben oder sie hatten sich alle überlegt, wie witzig es wäre, einem Fremden zu texten. Vielleicht steckte auch eine romantische Vorstellung geprägt durch Film und Fernsehen dahinter.

Er hatte sich heute einiges vorgenommen. Wenn er schon in L.A. war und den heutigen Tag frei hatte, wollte er auch etwas von der Stadt sehen. Beverly Hills interessierte ihn weniger, aber die Crystal Cathedral kannte er noch nicht und der Taxifahrer, der vor ihm im Wagen saß und zu der leisen Musik, die das Autoradio von sich gab, den Kopf hin und her wog, hatte ihm ein Restaurant in Little Tokio empfohlen. Erst als er am Abend zurück im Hotel durch das mehr als bedrückende Fernsehprogramm schaltete, kam ihm der Gedanke an diesen unbekannten Menschen erneut. Er tauschte Fernbedienung durch Handy aus.

›Bei einem Mann wie Wells, der solche Geschichten in sich getragen hat, weiß man nie, auf was er sich eingelassen hätte und auf was nicht.‹Wieso genau er das ausgerechnet jetzt schrieb, wusste Matthew selbst nicht. Es war eine Impulshandlung. Beinahe perplex sah er auf sein Handy, als er die Nachricht abgeschickt hatte.

+++

Der Tee war kalt und hatte inzwischen einen unansehnlichen Film entwickelt. Der Käse auf seinem Brötchen wellte sich an den Ecken bereits nach oben und dennoch war auf seinem Bildschirm nicht viel mehr zu sehen als am Morgen. Tief seufzte Emmett. Er wurde durch das leise Piepsen seines Handys aus seiner Trance gerissen und sah darauf. Überrascht hob er die Augenbrauen. Er hatte mit Vielem gerechnet, aber damit sicherlich nicht. Nicht mit einer Nachricht des Fremden. Immerhin schien er oder sie ihm nicht böse zu sein. Kopfschüttelnd lächelte er über sich selbst, entdeckte das Brötchen, das dort schon seit heute Morgen auf dem Teller lag und rümpfte die Nase. Dann erhob er sich, räumte den Schreibtisch auf und schob ein paar Pommes in den Ofen. Der Tee landete im Ausguss, die Tasse stellte er in die Spüle und das Brötchen landete im Müll. Auch, wenn er im Grunde absolut dagegen war, Essen wegzuwerfen, passierte es ihm deutlich zu oft. Berufskrankheit. Die Eieruhr zeigte noch ein paar Minuten, bis die Pommes fertig wären und von der Küche aus blickte er zu seinem Handy, welches noch immer auf seinem Schreibtisch lag. Er merkte erst, dass er sich bewegt hatte, als er es wieder in die Hand nahm.

›Und das waren nur die Geschichten, die er mit der Welt geteilt hat. Niemand weiß, was er noch in seinem Kopf mit sich herumgetragen hat.‹Der Mann war seiner Zeit weit voraus gewesen und hatte mit seinen Visionen vielleicht sogar dazu beigetragen, dass die Welt heute so aussah wie sie nun einmal aussah. Etliche Meilen entfernt jedoch machte sich Matthew solche Gedanken nicht, als nur ein paar Minuten später eine Antwort auf seine Nachricht kam.

›Sie würden sich sehr gut mit meinem Neffen verstehen.‹Die Nachricht war schnell getippt und noch schneller abgeschickt. Erst als sie geschrieben stand, stutzte Matthew. Jetzt zog er auch noch seine Familie mit hinein! Entschlossen wählte er Glendas Nummer. Er musste abklären, ob das nicht doch auf ihren Mist gewachsen war.

»Ich möchte, dass du mir schwörst, dass du mir in den letzten Tagen keine Nachrichten geschickt hast, die nichts mit der Arbeit zu tun hatten.« Glenda schnaubte am anderen Ende und Matthew rollte mit den Augen. »Tu es einfach, ja?«

»Gut, schön! Ich war brav. Bist du jetzt beruhigt?«

»Hm...« Matthew war auf den Balkon des Hotelzimmers getreten und schob seine Hand auf die Brüstung. »Ja. Beruhigter zumindest.«

»Gut, dann jetzt zum Geschäftlichen. Die Präsentation steht?«

»Natürlich.«

»Hast du diese unsägliche Grafik auf Seite drei noch mal geändert?« Diesmal war es Matthew, der schnaubte.

»Weißt du, du hättest mir auch sagen können, dass sie dir nicht gefällt.« Glendas Grinsen konnte er beinahe körperlich spüren. »Ich hab sie geändert.«

»Guter Junge.«

Matthew musste lächeln. »Ich mach das hier schon und dann komme ich zurück. Gegen 17 Uhr müsste ich da sein, bist du da noch im Büro?«

»Bin ich. Dann sehen wir uns gegen fünf.« Glenda legte auf, ohne sich zu verabschieden. Eine schreckliche Marotte und wie so oft grummelte er leise, sagte ›Bis dann.‹ zu sich selbst und ließ das Handy sinken. Während Henry Baker in der Firma für den geschäftlichen Teil zuständig zu sein schien, regelte Glenda alles aus dem Hintergrund. Niemand, der Glenda Welsh kannte, würde darauf kommen, dass Henry eigentlich der Kopf der Firma war, denn bei Welsh & Baker lief nur alles so rund, weil Glenda von morgens bis abends ein Auge darauf hatte. Nicht umsonst hatte sie dafür gesorgt, dass ihr Name vor Henrys genannt wurde.

Während Matthew den Blick vom Fernseher abwandte und über die nächtliche Stadt gleiten ließ, schüttelte Emmett über sich selbst den Kopf in seiner kleinen Wohnung.

Das war verrückt. Wieso ließ er es nicht einfach sein? Er griff nach dem Wasserkocher und machte sich einen neuen Tee, lief hinüber zum PC und speicherte seine Arbeit ab. Als er das Wasser über den Beutel gab, leuchtete bereits die Anzeige für eine neue Nachricht.

»Huh.«, machte er leise und war verwundert über diese doch recht persönliche Offenbarung. Die Person am anderen Ende dieses elektronischen Gerätes hatte immerhin eine Familie, hatte Kontakt zu ihr und es war davon auszugehen, dass sie sich mit Kindern verstand.

›Wie alt ist denn Ihr Neffe?‹, tippte er und schickte die Nachricht ab. Ein fremder Mensch, der einen Neffen hatte und H. G. Wells kannte. Das war dennoch keine sehr ausufernde Charakterbeschreibung, aber im Moment sogar besser als die fünf Seiten, die er heute auf seinem Laptop zustande gebracht hatte. Und selbst die waren ihm wie eine Zangengeburt vorgekommen. Über den Äther hinweg bahnten sich die Worte ihren Weg auf Matthews Handy und dort zeigte ein kleines blinkendes Symbol auf dem Display den Eingang einer neuen Nachricht. Matthew las die Antwort der fremden Frau oder des fremden Mannes.

›Er wird acht dieses Jahr und ist ein großer Science-Fiction-Fan.‹, schrieb er zurück.

Der Ofen in der kleinen Wohnung piepste und signalisierte Emmett damit, dass sein Essen fertig war. Er holte die Pommes heraus, verbrannte sich wie immer dabei am Backblech und gab ordentlich Ketchup dazu. Dann setzte er sich mit seinem Tee, dem Essen und dem Handy vor den Fernseher. Er brauchte ein paar Minuten Abstand von der Arbeit. Doch auch beim Zappen durch das Programm fühlte Emmett sich nicht besser. Es lief nur Müll. Da bot das Handy neben ihm weit mehr Zerstreuung, denn es zeigte inzwischen eine neue Nachricht an.

›Das ist gut. Kinder mögen mich in der Regel, also könnte Ihre Aussage stimmen.‹Es war wirklich so. Er kam mit Kindern ausgesprochen gut klar. Mit Frauen im Allgemeinen auch. Nur mit erwachsenen Männern haperte es und während er darüber nachdachte, woran genau das liegen mochte, las Matthew lächelnd die Antwort.

»Ja, könnte sie.«, sagte er leise zu sich selbst, schrieb aber nicht mehr zurück. Stattdessen nahm er sich seine Badehose sowie eines der Hotelhandtücher und ging sich im hoteleigenen Schwimmbad verausgaben. Anschließend legte er sich ins Bett. Er musste morgen unbedingt ausgeruht sein. Wenn alles glatt gehen würde, hatte er einen weiteren Schritt auf seiner persönlichen Leiter getan. Tatsächlich lief am nächsten Morgen alles wie er es sich vorgenommen hatte und er konnte mehr als zufrieden zum Flughafen fahren. Während auf der Erde eine dicke Wolkendecke einen Blick auf die Sonne unmöglich machte, konnte Matthew über den Wolken in ihr strahlendes Gesicht sehen. Der Flieger landete pünktlich und so konnte er sich noch mit Glenda und Henry über die nächsten Schritte unterhalten. Auf dem Rückweg im Taxi rief Matthew sein Nachrichtenprogramm auf, um seiner Schwester zu schreiben, dass er gut angekommen war. Sein Blick fiel auf eine andere Unterhaltung. Noch immer hatte die Nummer keinen Namen, er hatte sie inzwischen aber als ›Mrs./Mr. Unbekannt‹ abgespeichert. Sinnlos wahrscheinlich, denn ihre Unterhaltung schien am Ende. Zumindest momentan.

2 – John Doe und Mr. M

An diesem Abend erhielt Emmett keine Nachricht mehr und er versuchte sich in das Fernsehprogramm zu vertiefen, aber da hätte er sich auch freiwillig einer Lobotomie unterziehen können, das Ergebnis wäre in etwa das Gleiche gewesen. Zerstörung des Gehirns. Zurück blieb in beiden Fällen nur ein sabbernder, apathischer Haufen Mensch. Und für Watch-It fehlte ihm momentan das Geld. Frustriert schaltete er das Fernsehen wieder aus und tingelte zurück zum Laptop. Der Bildschirmschoner hatte sich eingeschaltet und eine Weile betrachtete er die vorbeifliegenden Sterne, während er die letzten Pommes vertilgte. Keine Antwort. Nun. Damit wäre diese Konversation wohl endgültig passé. Ein kleines, spannendes Intermezzo wie er es schon beim letzten Mal festgestellt hatte. Doch nur eine Woche später sollte er wieder eine Nachricht an diese Nummer schicken. Eher aus der Not heraus und er fragte sich, ob es dennoch als Spontaneität zählen würde. Ob Hanni ihm das anrechnen würde, dass er von sich aus erneut an diesen Fremden Menschen schrieb.

Es war kalt, der Wind fegte durch die Straßen und man spürte jetzt deutlich die Einflüsse des Herbstes. Nur noch ein paar Monate und der Winter würde Einzug halten. Schnee. Eis. Straßenchaos. Er zog den Kragen seines Mantels höher und beeilte sich, zur U-Bahn zu kommen. Der U-Bahnhof versprach immerhin Schutz vor dem beißenden, kalten Wind.

Und dann hieß es warten. Die Anzeige für die nächste Bahn zeigte 15 Minuten Wartezeit. Es war kurz vor 24 Uhr. Hanni war noch mit den anderen zusammen und feierte. Sie hatte offenbar keine Probleme damit, sich den gesellschaftlichen Normen anzupassen. An einem Freitagabend feiern gehen, Alkohol trinken, Spaß haben, Sex haben. Sich betrinken und dabei über die Stränge schlagen. Zu viel trinken, mit einem Rausch im Bett landen, zusammen mit einer anderen Person, wilden Sex, an den man sich am nächsten Morgen nicht mehr erinnerte und dann der Walk of Shame nach Hause in den frühen Morgenstunden, gerne ohne den Sexualpartner dabei zu wecken und es so bei einem namenlosen Abenteuer zu belassen. Das waren alles Dinge, die normal waren, die erstrebenswert schienen, zumindest für einen Großteil der Bevölkerung. Aber Emmett selbst fehlte jegliches Interesse daran. Ja. Mit ihm stimmte tatsächlich etwas nicht. Für ihn sah ein perfekter Abend ganz anders aus. Ein weicher Sessel, ein Raum voller Bücher, leise Musik. Ein heißer Tee und vielleicht noch ein prasselndes Kaminfeuer, während draußen vor dem Fenster der Schnee fiel. Er schauderte. Er war ein Mann. Er sollte darauf aus sein, selbst flachgelegt zu werden. Sexy Typen anzuflirten. Hemmungslosen Sex zu haben. Sich zu betrinken oder rumzupöbeln. Das alles ging ihm ab und er fragte sich, ob es daran lag, dass er schwul war. Der U-Bahnhof lag beinahe verlassen da und wirkte unheimlich und auch wenn hier unten der Wind nicht wehte, so war es dennoch kalt. Er tippte sich durch die Apps auf seinem Smartphone in der Hoffnung auf Zerstreuung bis die Bahn eintraf, aber nichts fesselte ihn. Nichts lenkte ihn von der leichten Furcht ab, die in seinem Bauch nistete und dort leise an ihm nagte. War das auch so ein Schwulending? Angst zu haben war für einen Mann in dieser Gesellschaft ebenso unangebracht wie Nagellack zu tragen. Nun, er trug zwar keinen Nagellack, aber das Gefühl der Angst konnte er nicht abstreiten. Aber konnte ein Mann nicht genauso Furcht empfinden wie eine Frau? War es nicht einfach nur der Gesellschaft geschuldet, dass Angst als Schwäche bei Männern angesehen wurde? Einfach nur ein kulturelles Maß, das ihm hier aufgedrückt und dessen Opfer er wurde? Dann stutzte er. Und schüttelte den Kopf. Beinahe ohne sein Zutun hatte er das Nachrichtenfenster geöffnet und die Nummer des fremden Gesprächspartners angewählt und tippte jetzt die Worte in das kleine Fenster.

›Halten Sie Furcht für ein reales Gefühl oder eine Einbildung? Ein Gespinst unseres Verstandes?‹Vielleicht würde er keine Antwort bekommen, aber allein der Akt des Tippens und die Gedanken daran, ob Angst real oder nur Einbildung war, lenkte ihn bereits von seiner düsteren und gruseligen Umgebung ab.

Er schickte die Nachricht an diesen unbekannten Menschen, dem er damit schon wieder auf die Nerven ging. Doch diesen Menschen kannte er nicht, was es einfach machte, diese Frage zu stellen. Vielleicht lagen sogar mehrere tausend Meilen zwischen ihnen und das machte es leicht. Anonymität war nicht immer nur ein Fluch. Manchmal konnte sie auch ein Segen sein. Eine Last, die einem von den Schultern genommen wurde, da gerade hier und jetzt in diesem Moment keine Konsequenzen zu fürchten waren. Emmett konnte im Grunde schreiben, was er wollte. Es war absolut unerheblich. Es war egal, ob der- oder diejenige ihn für verrückt hielt. Er würde ihn oder sie niemals treffen. Und darum würde er auch nie erfahren was dieser Mensch von ihm hielt. Sofern er es ihm nicht in einer Nachricht mitteilte.

Die Umgebung, in der sich Matthew in diesem Moment befand, hätte unterschiedlicher zu der von Emmett nicht sein können. Es war warm, es war windstill und er war alleine. In einer kreisenden Bewegung ließ Matthew den Scotch im Glas kreisen. Immer und immer wieder, unbewusst, während er durchs Fenster auf die nächtliche Stadt unter sich sah. In seiner Hosentasche vibrierte sein Handy und er stutzte, als er ›Nachricht von Mrs./Mr. Unbekannt‹auf dem Display las. Sie hatten seit etwa einer Woche nicht mehr miteinander geschrieben und Matthew hatte auch nicht mehr mit einer Nachricht gerechnet. Allerdings hatte er es auch vergessen oder vermieden, wer wusste das schon, den Kontakt aus dem Blackberry zu löschen.

»Verrückt...«, murmelte er und bezog sich dabei auf das Thema der Nachricht. Denn das traf so genau auf den Kopf des Nagels, der sich über den Abend in sein Hirn gebohrt hatte.

›Eine schwierige Frage. Ich denke es gibt sehr reale Furcht. Die Furcht, am nächsten Tag nichts zu essen oder zu trinken zu haben. Nicht zu wissen, wo man schlafen soll. Daran finde ich nichts Eingebildetes. Aber es gibt auch diese implizierte Furcht, von Horrorfilmen oder Gruselgeschichten eingegeben. Ein Knacken hier, ein Knistern dort, ein Luftzug, ein plötzlicher Lichtstrahl...‹, schrieb er nachdenklich und setzte nach einigem Überlegen hinzu: ›Allerdings überlege ich gerade selbst, zu welcher Kategorie meine persönlichen Zukunftsängste gehören könnten.‹ Denn in Matts Kopf herrschte ein Durcheinander aus Erinnerungen an einen unschönen Streit, aus Gedanken, die er sich um seine Zukunft machte und aus der Frage, ob er die richtige Entscheidung getroffen hatte. Es gab ja Menschen, die verurteilten die Unterteilung in richtig und falsch und sagten, alles sollte so sein wie es in diesem Moment war. Die nicht unterteilten in schwarz und weiß, sondern in alle Graustufen, die es gab. Matthew konnte nur hoffen, dass sie Recht hatten.

Es war diese Art von Antwort, mit der Emmett nicht gerechnet hatte und sie brachte ihn zum Lächeln. Er hatte im Grunde mit überhaupt keiner Reaktion gerechnet. Aber das hier war...bemerkenswert. Durchdacht und nicht einfach in den Raum geworfen. Und es schien als wäre sein Gegenüber, nun, sein hypothetisches Gegenüber, bereit, sich mitzuteilen und ein echtes Gespräch zu führen. Sofern man eine Unterhaltung über einen Nachrichtendienst als Gespräch bezeichnen konnte, doch der Einfachheit halber würde Emmett es bei dieser Bezeichnung lassen.

›Nun, in meinem Fall ist es eher etwas aktuelleres, etwas greifbares: Ein Bahnhof, es ist hier bereits 12 Uhr nachts.‹Amerika war groß. Der Fremde konnte also in einer ganz anderen Zeitzone leben. Da war es besser, die Gegebenheiten klar zu stellen. ›Eine Lampe an der Decke ist kaputt und wirft ein flackerndes Licht auf den Boden. Es sind kaum Menschen hier. Eine Frau, die eine Edelprostituierte oder eine Bankangestellte sein könnte, ein Mann, der nervös an seiner Jacke herumzupft. Eine Jacke, unter die locker eine Pistole passt und die Bankprostituierte könnte sicherlich ein Messer in der Tasche haben. Also so gesehen...eher eine eingebildete Furcht. Dennoch fühlt sie sich real an. Worum geht es bei Ihren Zukunftsängsten?‹Erneut hoffte Emmett auf eine Ablenkung, auf eine Zerstreuung, denn die Wartezeit an der Anzeige schien nur sehr langsam zu schrumpfen. Es waren noch immer 10 Minuten und er begann von einem Fuß auf den anderen zu steigen, um die Kälte zu verscheuchen, die ihm die Beine hinaufkroch. Darum schrieb er die Nachricht auch sofort, die bei dem fremden Menschen nur ein paar Sekunden später eintraf, nachdem dieser seine eigene abgeschickt hatte.

Matthew las die Nachricht und legte leicht den Kopf schief, goss sich nach. Währenddessen dachte er über seine Antwort nach.

›Auch eine eingebildete Furcht kann real werden, vor allem, da jeder Mensch individuell empfindet. Insofern ist meiner Meinung nach auch jede eingebildete Furcht real.‹, schrieb er zunächst. ›Bei mir ist es so: Ich denke darüber nach, ob es richtig war, die Entscheidung zu treffen, mich selbständig zu machen.‹

Über die Antwort, die ihren Weg auf Emmetts Handy fand, konnte dieser nur lächeln. Ihn selbst hatten diese Probleme und Gedanken vor einigen Jahren gequält. Die Selbstständigkeit war ein Risiko und ganz sicher kein leichter Schritt, den man unbedacht tätigte.

›Gibt es denn Probleme? Eine Selbstständigkeit ist immer ein großer Schritt, der Angst machen kann. Aber die Frage ist, ob er das sollte. Solange man am Ende des Monats seine Miete zahlen kann und vielleicht noch eine Kleinigkeit über bleibt, um mal eine Pizza bestellen zu können, hat man alles richtig gemacht.‹ Auch wenn er Watch-It, das bekannte Video-on-Demand Portal, vermisste. Aber das würde sich auch bald wieder ändern. Überrascht sah Emmett auf, als er das leise Rumpeln hörte und dann den Luftzug spürte, der sich durch den U-Bahn-Tunnel schob. Der Zug fuhr ein und im Inneren war es bedeutend heller, aber genau so leer. 24 Uhr an einem Freitagabend war das Äquivalent zu den Vormittagen in der Woche. Die richtigen Party-Gänger waren bereits auf den Partys, aber noch lange nicht fertig mit dem Feiern. Die Züge würden sich erst wieder ab 2 oder 3 Uhr füllen, um die Tanzwütigen nach Hause zu bringen. Emmett suchte sich einen Platz am Fenster, öffnete seinen Mantel und seufzte leise auf, bevor er wieder nach seinem Handy griff und die Nachricht beantwortete.

›Wie soll ich Sie eigentlich anreden? John oder Jane Doe?‹Es war vielleicht ein etwas plumper Versuch mit der Anspielung auf den Polizeijargon für nicht identifizierte Personen herauszufinden, welchen Geschlechts sein Gegenüber war, aber es kam ihm in diesem Moment ganz passend vor. Und er war neugierig.

Matthew hingegen musste lachen, als er nach dem leichten Vibrieren die Nachricht las und einen Moment fragte er sich, ob es schon an der Zeit war für ein Outing dieser Art.

›Sind wir schon soweit?‹, schrieb er dann einfach, um die Entscheidung dem oder der Fremden zu überlassen.

›Nun, obwohl Sie inzwischen zweifellos gemerkt haben, dass ich verrückt bin, macht es mir die Offenbarung ihres Geschlechtes immer noch nicht möglich, Sie zu finden. 50% der Menschheit sind noch immer ein weites Feld. Obwohl ich der Meinung bin, dieses Feld auf Amerika verkleinern zu können. Immerhin stand diese Nummer in einem amerikanischen Telefonbuch. Welches genau das war, weiß ich jedoch nicht. Aber es war alt.‹, war die Antwort, die er nur kurz darauf bekam. Sie war entschieden länger als viele ihrer bisherigen Mitteilungen und so schloss Matthew daraus, dass sein Gegenüber offensichtlich in der Lage war, sich auszudrücken. Ein Umstand, dachte er, der heutzutage gar nicht mehr so selbstverständlich war. Er hatte sich inzwischen auf die Couch gesetzt und stellte nun sein Glas auf dem Tisch ab.

›Ich bin definitiv ein John Doe, aber Sie dürfen mich M. Doe nennen.‹, schrieb er schmunzelnd zurück. ›Um auf Ihre Frage einzugehen: Ich bin erst seit ein paar Stunden selbständig, daher weiß ich noch nicht, ob es Probleme geben wird. Momentan gibt es nur jede Menge Arbeit.‹ Und auch dieses Mal kam die Antwort beinahe sofort. Der oder die Fremde schien also gerade Zeit zum Schreiben zu haben. Kein Wunder, dachte er. Immerhin befand sich diese Person auf einem Bahnhof oder in einer Bahn und da gab es nur selten viel anderes zu tun.

›Ich würde Ihnen gerne sagen, dass es besser wird mit der Zeit. Aber in der Regel wird es schlimmer und sogar noch sehr viel mehr Arbeit. Sie sollten sich weniger Gedanken machen und mehr schlafen. Oder es zumindest versuchen. In jeder Minute, die sie erübrigen können. Ein klarer Kopf kann helfen und es werden Zeiten kommen, da werden Sie einfach keine Zeit haben zum Schlafen.‹Es folgte eine kurze Pause, bevor noch ein Nachsatz kam. ›Und sinnvoller als mit einem Fremden zu schreiben wäre es allemal. ;)‹

Matthew lächelte, während er nun ebenfalls seine Antwort ohne Verzögerung in das Blackberry tippte. ›Es klingt, als hätte dieser Fremde (also auch ein John Doe?) eine genaue Vorstellung davon wie es ist, selbständig zu sein.‹Tief seufzte er. Vermutlich hatte dieser Unbekannte auch noch Recht mit allem... Er griff nach dem Glas auf dem Tisch, leerte es in einigen Schlucken und brachte es dann in die Küche, bevor er sich ins Bett legte. Von dem Streit mit Glenda hatte er dem Fremden nichts geschrieben. Dieser beschäftigte ihn aber besonders und führte dazu, dass er im Bett liegend auch nur vor sich hin starrte, bis das Handy neben ihm erneut vibrierte und er danach griff.

›Ja, der Fremde (ja, ebenfalls ein John D.) hat sehr viel Erfahrung damit und vermisst im Moment am meisten Watch-It. Auch solche Zeiten gibt es. Ein Glück gibt es kurze Kündigungsfristen bei solchen Anbietern. ;)‹Es dauerte dieses Mal, bis der Nachsatz auf Matthews Handy eintraf. ›Schlafen Sie gut, M. Und genießen Sie jede Sekunde davon.‹

Matthew las die Nachricht noch, antwortete aber nicht mehr. Er schrieb also mit einem vermutlich selbständigen Mann, der gut mit Kindern konnte und H. G. Wells kannte, der mit der Bahn fuhr und das spät am Abend. Viel mehr wusste er nicht. Nach ein paar Minuten änderte er lächelnd den Kontakt und nannte ihn nun ›John Doe‹.

Der Streit mit Glenda ging ihm nicht aus dem Kopf. Sie hatten sich vor Henry angeschrien, weil sie nicht verstehen hatte können, dass er nun seiner eigenen Wege gehen wollte. Sie hatte nicht verstanden, wie er sich erst dankbar für seine Ausbildung hatte zeigen und dann die Firma verlassen können. Matthew hielt das für völlig natürlich in seiner Branche. Es nagte an ihm, dass diejenige, mit der er sich am besten verstanden hatte, so verletzt von ihm war und er ärgerte sich darüber, dass er seinen Abschied von der Firma nicht früher schon einmal thematisiert hatte. Glenda war enttäuscht, das wusste er. Sie und Henry hatten ihn zum Partner machen wollen, das zumindest hatten sie ihm heute gesagt. Es hatte nichts an seiner Entscheidung geändert, aber ihn doch überrascht. Er hoffte, dass sie alle in der Zukunft darüber lächeln würden können, doch vorerst...würde er zur Konkurrenz von Welsh & Baker werden, wenn alles so verlief wie er es sich wünschte. Irgendwann gegen drei fand Matt endlich in den Schlaf und nur drei Stunden später riss ihn sein Wecker aus einem unruhigen Schlaf.

Im Spiegel sah Matthew ein unausgeschlafenes Monster entgegen. Ja, John Doe hatte definitiv Recht gehabt. Er hätte früher schlafen gehen sollen... Doch es gab so viel zu tun, selbst an diesem heutigen Samstag. Gleich nach einer erfrischenden Dusche machte er sich an die Arbeit. Als er das nächste Mal auf die Uhr sah, war es früher Nachmittag, sein Magen knurrte und seine Zunge klebte ihm am Gaumen. Na prima. Das ging ja gut los! Noch bis zum Abend arbeitete er weiter, doch heute war er so erschöpft, dass er bereits gegen 21 Uhr 30 im Bett lag. Ohne groß darüber nachzudenken, griff er nach seinem Handy und schrieb an John Doe.

›Wenn Sie sich das nächste Mal auf dem Bahnhof fürchten, stellen Sie sich doch Harry-Potter-Musik vor, dann ist es vielleicht weniger angsteinflößend. Gute Nacht, fremder Unbekannter.‹Kaum hatte Matthew das Handy weggelegt, schlief er ein.

Emmett musste sich die Hände abtrocknen und einen Moment seinen Abwasch unterbrechen, um auf sein Handy zu sehen, dann lachte er laut los, als er die Nachricht las. ›Das ist eine nette Idee, aber bei meinem Glück werde ich davon so gefangen genommen, dass ich gegen die nächste Mauer renne, nur in der Hoffnung, dahinter auf Gleis 9 3/4 zu treffen. Was eine Platzwunde nach sich ziehen würde, die wiederum ein paar Sanitäter auf den Plan riefe, welche meine Erklärung sicherlich für sehr merkwürdig hielten. Das Annehmen einer alternativen Realität gilt allgemein als ein Symptom einer psychischen Störung und ich würde mich daraufhin in einer Psychiatrie wieder finden.‹Seine Finger flogen über die Tasten, während der Schaum in der Spüle leise knisterte. ›Ein ohne Frage sicherlich interessanter Ort, aber kein Ort, an dem ich länger Zeit verbringen möchte. Aber vielleicht versuche ich es mit Musik von Alice aus dem Wunderland. Das Auftauchen eines Hasen mit einer Taschenuhr scheint mir in der heutigen Zeit weit weniger verrückt. Besonders dann nicht, wenn er eine Krawatte trägt und das Monokel weg lässt. Das wäre doch reichlich »overdressed« und vor allem nicht mehr in Mode.‹Er schickte die Nachricht ab und lachte über sich selbst. Ja. Er hatte einen Schaden. Hanni hatte Recht. Und auch Unrecht. Er würde niemals einen Mann finden, der seine Macken verstand und ihn nicht für geisteskrank hielt. Und dann traf ihn der Schlag. Kein Hirnschlag, der ihm das Leben nahm. Nein. Ein Schlag ganz anderer Natur.

»Oh... Oh wow. Ja!« Er warf das Geschirrtuch zur Seite, das halb im Waschbecken landete, sich einen Moment vollsog und dann zu Boden fiel. Es blieb unbeachtet dort liegen, denn Emmett holte den Laptop aus dem Schlafmodus, öffnete das Schreibprogramm und versank in einer Welt aus Buchstaben und Worten, während seine Finger beinahe ohne sein Zutun über die Tastatur rasten und ihn Zeit und Raum komplett vergessen ließen.

+++

Als Matthew am nächsten Morgen die lange Nachricht des Fremden las, blinzelte er, bevor er sie erneut durchging. Und dann noch einmal. Vielleicht war er noch nicht richtig wach, aber das klang nach einer deutlich regen Fantasie. Viel reger als seine eigene und vielleicht, aber nur vielleicht, sogar reger als die seines Neffen.

›Irre ich mich, oder ist Alice dem Kaninchen durch das Loch eines Kaninchenbaus an einem Baum in eine andere Welt gefolgt? Wenn Sie das auf dem Bahnhof versuchen, dürften dieselben Konsequenzen wie bei Harry Potter-Musik auftauchen. Vom Alice im Wunderland-Soundtrack ist daher ebenfalls abzuraten.‹, schrieb Matthew lächelnd zurück. Allerdings sollte er lange keine Antwort bekommen. Anfangs fragte sich der Braunhaarige, ob er etwas Falsches geantwortet hatte, dann rückte John Doe immer weiter in den Hintergrund und sein viel realeres Leben nahm sich seiner an. Ein Leben, das im Hier und Jetzt stattfand.

Ganz anders als das von Emmett im Augenblick. Essen, schreiben, schlafen. Die Tage verschwammen ineinander und es geschah nur zu häufig, dass Emmett jegliches Zeitgefühl verlor. Eine solche Phase hatte er schon lange nicht mehr gehabt und er ließ sich nicht aus ihr herausreißen. Das hier war gut, es war sogar sehr gut und die Figuren führten ihn. So musste es sein. Nicht gequält und gezwungen, sondern leicht. Wie von einer fremden Macht geleitet. Er schlief nur kurz, er aß noch weniger. In solchen Phasen schien sein Körper in eine Art Sparmodus zu schalten und nur Hanni war es zu verdanken, dass er überhaupt noch etwas im Kühlschrank hatte. Sie kannte ihn lange genug, um zu wissen, was vor sich ging. Er sah in solchen Momenten nicht auf sein Handy. Er hatte gar keinen Blick dafür.

Aus den Stunden wurden Tage, aus den Tagen wurden Wochen. Und die zwei Protagonisten begannen ihn langsam aus ihren Fingern zu entlassen. Ihre Geschichte war erzählt. Auf gut 640 Seiten fand sich der seltsame Fall von Tischlermeister James Forster, der überraschend bei einer Lieferung einen Mord beobachtet, welcher auf einem von ihm gefertigten Stuhl geschieht, woraufhin er von Leuten verfolgt wird, die er nicht kennt. Hilfe erhielt er von einem kleinwüchsigen Privatermittler, dem er bei seiner überstürzten Flucht beinahe die Haare abgefackelt hätte. Es war verrückt, es war spannend, es war witzig und Emmett war so zufrieden damit wie schon lange nicht mehr mit einem Buch. Er hatte kaum etwas dazu beigetragen. Die Figuren hatten ihre Geschichte erzählt. Er hatte sie niedergeschrieben. In ihrer Rohfassung. Er wusste nicht, warum es so war, aber er hatte schon früh gelernt, sich auf dieses Vorgehen einzulassen. Früher hatte er es mit einem Storyboard versucht, mit stundenlangen Grübeleien darüber, wie er die Handlung eines Romans am besten aufbauen konnte und wie das Ende auszusehen hatte. Mit dem Ergebnis, dass es nie funktioniert hatte. Die Figuren übernahmen ab einem bestimmten Punkt die Kontrolle und enthoben ihn damit jeglicher Verantwortung, was die Handlung und ihre Konsequenzen anging. Er war nur noch ein Mittel zum Zweck, da diese imaginären Personen keine Finger besaßen, um ihre Geschichte selbst aufzuschreiben. Dazu war er jetzt da und seit er aufgegeben hatte alles planen zu wollen, lief es richtig gut mit der Schriftstellerei und er konnte davon leben.

Ein Ziel, das auch in einer anderen Stadt ein anderer Mann verfolgte. Matthew schloss die Augen und atmete tief ein und wieder aus. Es roch nach Farbe, nach Holz, nach frischer Bettwäsche. Alles war neu, nicht nur der Geruch, auch die Geräusche im Haus. Ein Knacken hier, ein Knistern da, ein Luftzug... Er runzelte die Stirn. Die Worte kamen ihm bekannt vor, auch wenn er gerade nicht sagen konnte, woher. Er dachte an den Tag zurück, an all die Gespräche und Orte. Er hatte heute viel Zeit im Taxi verbracht und vier neue Menschen kennengelernt. Investoren. Es war schon beinahe Winter und Matthew fragte sich, wann dieses eine bestimmte Gefühl vergehen würde. Er stutzte und griff dann nach seinem Handy, rief den Nachrichtenverlauf mit John Doe auf.

›Kennen Sie das Gefühl, sich nirgends Zuhause zu fühlen?‹, schrieb er langsam. ›Diese innere Unruhe, weil Geist und Körper nicht wissen, wo sie hingehören?‹Es war dämlich, John Doe überhaupt wieder zu schreiben. Dennoch schickte Matthew die Nachricht ab und er seufzte dabei. Unruhig tippte er auf die Tasten, so leicht, dass sie keinen Buchstaben auf dem Display hinterließen. Es war Wochen her, dass er von dem Unbekannten gehört hatte und er rechnete auch jetzt nicht mit einer Antwort. Doch mit dieser Nachricht brachte er sich ohne es zu ahnen wieder in Erinnerung und bald schon zeigten ihm drei kleine Punkte, dass John schrieb.

Als Emmett die Nachricht las, war er überrascht. Er hatte Mr. M total vergessen. Über all die letzten Wochen, die mit einem Mal so voller Arbeit waren. Korrektur lesen. Lektorats-Termine. Telefonkonferenzen mit seiner Verlegerin.

›Ja und nein.‹, schrieb er und stutzte dann, nachdem er die Nachricht abgeschickt hatte. Sie kam ihm ungenügend vor. ›Es gibt Tage, an denen weiß ich genau, wo ich hin gehöre. An denen ich weiß, wo mein Platz in der Welt ist. Aber das hält nur so lange an, wie ich nicht in die Zukunft denke. Wenn ich das tue, dann weiß ich genau, was Sie meinen, Mr. M. Ich weiß für den Moment wo ich hin gehöre, aber ich weiß auch, wie ich mir meine Zukunft vorstelle und wie sehr mein jetziges Leben davon abweicht. Ich weiß nicht, wie ich diese zwei losen Fäden jemals verbinden soll. Oder ob ich das überhaupt jemals kann.‹Er sah einen Moment auf die Nachricht. Wie oft hatte er das gedacht? Doch ausgesprochen hatte er das nie. Nicht einmal Hanni gegenüber. Sie ahnte es wohl, er hatte es angedeutet. Aber niemals so konkret benannt wie jetzt Mr. M gegenüber. Und das, nachdem er so lange nichts mehr von ihm gehört hatte. Und auch selbst von sich nichts hatte hören lassen. Verrückt. Einfach verrückt.

Matthew nickte leicht und schrieb sofort zurück, schmunzelte jedoch über den Namen, den ihm John Doe verpasst hatte. ›Ich bin meiner Zukunftsvorstellung in den letzten Tagen näher gekommen, dennoch fühle ich mich noch nicht Zuhause. Was daran liegen mag, dass ich umgezogen bin. Ich hoffe, dass es daran liegt und dass ich mich nach und nach hier eingewöhnen werde.‹Matthew war sich nicht sicher, ob er dem Fremden nicht auf den Geist ging. Er hätte genauso gut mit seiner Schwester schreiben können oder mit Daniel, seinem besten Freund, doch gerade die unbekannte Entfernung zwischen ihm und John Doe machte es so reizvoll, ihm zu schreiben. Ganz so als könnte man die Glaskugel einer Wahrsagerin befragen, die zwar nicht die Zukunft voraussagte, aber einem eine andere Meinung bot. Es sollte ja Menschen geben, die Billardkugeln oder Würfel befragten, was sie wann tun sollten. Vielleicht war der Fremde ja sein Würfel. Diesmal kam die Antwort auch wieder zügig, fast ohne Verzögerung.

›Nur in eine neue Wohnung oder auch in eine neue Stadt?‹

John Doe schien neugierig zu sein, aber er war bereit, dieser Neugier zumindest ein Stück weit entgegen zu kommen.

›Auch in eine neue Stadt.‹, schrieb Matthew deshalb zurück. Die kleine Nachttischlampe warf ein ungewohntes Licht in den Raum. Draußen war es schon längst dunkel und das Handy vibrierte in seinen Fingern, als die Antwort kam.

›Also kennen Sie noch niemanden, Mr. M? Eine wirklich sehr gute Freundin von mir würde Ihnen jetzt raten, einfach rauszugehen, in irgendeinen Club oder eine Bar und dort Leute kennenzulernen. Dann fühlen Sie sich nicht mehr so isoliert.‹

»Oh na ja...«, murmelte Matthew vor sich hin, nachdem er die Worte gelesen hatte.

›Nicht mehr heute. Ich fühle mich im Übrigen auch nicht isoliert. Meine Schwester wohnt nur noch eine halbe Stunde von mir entfernt und außerdem bin ich es gewohnt, viel umzuziehen. Das war jetzt der...‹Kurz musste er nachrechnen. ›...fünfte Umzug in den letzten 20 Jahren.‹, schrieb er zu Ende. ›Sind Sie gerade unterwegs?‹

Emmett hob die Augenbrauen, während er die Beine auf die Couch zog, auf der er gerade saß. Er war wirklich erstaunt. Das waren eine Menge Umzüge für eine Person. Und er fragte sich prompt, wie alt Mr. M war. Sicherlich war er keine 20 mehr. Vielleicht um die 50? Oder auch 60. Aber machte man sich in einem solchen Alter noch selbstständig? Nun, warum eigentlich nicht? Man wurde heute immer älter und älter und geschenkt wurde einem nichts. Warum also nicht, wenn es die Gesundheit zuließ? Er schüttelte den Kopf, als er merkte, dass er gedanklich abschweifte und tippte eine Antwort.

›Nein. Ich gehe im Allgemeinen nicht sehr gerne aus. Nicht...im üblichen Sinne zumindest.‹Die Frage, die als Antwort kam, hatte er beinahe erwartet.

›Was machen Sie stattdessen?‹

›Ich hab doch schon erwähnt, dass ich verrückt bin.‹, tippte Emmett schmunzelnd. ›Ich gehe schon gerne aus. Aber ich bin kein großer Freund von Clubs. Sie sind einfach nur furchtbar laut und voll... Ich mag Cafés. Die kleinen, urigen. Wo man hervorragenden Kuchen bekommt. Ich gehe gerne in Galerien und sehe mir Kunst an. Die gute Kunst. Nicht die moderne. Wobei nichts daran verkehrt ist, moderne Kunst zu mögen, aber ich kann mit einem Bild, das aussieht, als wäre der Künstler in Farbe getunkt darüber gerollt, nichts anfangen. Ich gehe gerne spazieren. Oder sitze einfach nur mit einer Decke und einem guten Buch im Park.‹Über sich selbst schüttelte er den Kopf. Jetzt klangerbeinahe als wäre er 60 Jahre alt. Oder 80. Vielleicht auch eher 100. ›Sehen Sie? Das ist genau der Grund, warum meine beste Freundin sagt, ich sei niedlich, aber nicht sexy.‹

Laut lachte Matthew auf. Bis jetzt hatte er John Doe für einen jungen Erwachsenen gehalten, vielleicht Mitte 20. Wie das alles angefangen hatte, dieser Streich und dann die Freundin, die gern in Clubs und Bars ging. Dagegen sprach Matthews Meinung nach die Selbständigkeit und nun dieses Bild vom Ausgehen.

›Als ich das gelesen habe, dachte ich für einen Moment, Sie wären vielleicht doch älter als ich gedacht hätte, Johnny, aber die letzten Sätze haben das Bild wieder geradegerückt. Empfinden Sie sich selbst denn als sexy?‹Matthew sah auf die Nachricht. Ja, das hatte er tatsächlich geschrieben. An einen Wildfremden! Andererseits...hatte der es ja auch geschrieben, oder?

›Nein. Schon lange nicht mehr.‹

»Schon lange...«, murmelte Matthew. Gut, vielleicht lag er mit seiner Alterseinschätzung auch komplett daneben. Aber sie schrieben nie über...

›Ich bin übrigens 28.‹Matthew unterbrach seine eigenen Gedanken, als er diese nächste Nachricht las.

»Oh.« Er legte ein ausgestrecktes Bein über das andere und begann zu tippen. ›Ich bin 32. Meinen Respekt zur frühen Selbständigkeit. Genügt es den Menschen nicht mehr, jemanden niedlich zu finden, um ihn näher kennenzulernen?‹, schrieb er und die Antwort ließ nicht lang auf sich warten.

›Sagen Sie es mir, Mr. M. Sie haben mehr Lebenserfahrung als ich. Sie sind in den letzten 20 Jahren 5x umgezogen. Ich hab in den letzten 5 Jahren ungefähr 20 Körbe bekommen. Also würde ich von meinem Standpunkt aus sagen, nein. Es reicht nicht.‹

›Aber in Galerien, Cafés und Parks müssten Sie doch Gleichgesinnte treffen.‹Matthew hob kurz den Blick. Neben ihm lag ein Buch. Ach ja... Er hatte lesen wollen. Doch wie so oft wenn er mit John Doe schrieb, blieben seine Gedanken an dem Thema hängen, das sie gerade bearbeiteten. So auch heute. 20 Körbe, dachte er. Das war eine Menge. Gut, er wusste ja nicht, wie Johnny aussah. Vielleicht war er fett und gab nur vor, selbständig zu sein. Vielleicht bekam er deshalb Körbe...im Internet. Weil er den lieben langen Tag... Moment, es gab ja noch die Freundin. Eingebildet? Ausgedacht? Schnell schüttelte Matt den Kopf. Unterstellte er Johnny gerade Unehrlichkeit? Himmel, er war schon jetzt ein analytisch denkender Workaholic, obwohl er genau das hatte nicht werden wollen. Schon lenkte ihn die Antwort des Fremden von seinen Gedanken ab.

›Kein wirklich guter Ort, um Dates kennenzulernen.‹, kam die Antwort des fremden John Doe. Matthew runzelte die Stirn. Er wollte gern etwas Aufmunterndes schreiben, aber das schien ihm nicht gut zu gelingen. Kurz dachte Matthew nach, suchte in einer App nach der Lösung, die er benötigte.

›In diesem Augenblick leben 7.406.904.694 Menschen auf der Erde. Manchmal braucht man nur einen einzigen, um sich besser zu fühlen.‹, schrieb er dann. ›Sie werden ihn schon finden.‹

Statt weiter auf das Thema einzugehen, wechselte John Doe es jetzt jedoch. ›Was ist mit Ihnen, Mr. M? Sind sie verheiratet?‹

Matthew lächelte. ›Nein, Johnny, bin ich nicht. Ich habe einige...‹Leicht wog er den Kopf hin und her. ›...Bekanntschaften gehabt, aber ich bin nicht in einer Beziehung.‹Neugierig wartete er auf die Antwort, die bereits getippt wurde, kaum dass er seine abgeschickt hatte.

›Und dabei stelle ich Sie mir als ganz netten Menschen vor. 7 Billionen Menschen auf der Erde. Wie wahrscheinlich ist es da, den einen zu finden, der zu einem passt? Ein Lottogewinn ist wahrscheinlicher. Sogar von einem Blitz getroffen zu werden ist wahrscheinlicher.‹, kam die recht pragmatische Antwort. Matthew musste schmunzeln.

›Nun, Sie können ja einige für sich ausschließen. Rentner, Kinder...‹, deutete er an. ›Im Übrigen glaube ich nicht, dass es da nur einen gibt. Beziehungen bedeuten harte Arbeit und man verändert sich auch mit ihnen. Also wer weiß? Vielleicht gibt es mehrere und der Rest ergibt sich dann von selbst.‹Erneut fiel Matthews Blick auf das Buch. ›Was lesen Sie gerade, Johnny? Welches Genre?‹Er wartete gespannt auf eine Nachricht des Unbekannten. Er wusste ja nicht einmal, ob John Doe überhaupt gern las, er nahm es aufgrund ihrer Anspielungen auf Wells, Harry Potter und Alice im Wunderland betreffend aber an.

›Ich kann das so genau nicht sagen. Ich lese immer eine Menge Bücher parallel. Ich mag Thriller, ich mag romantische Bücher. Ich lese gerne Sachbücher und genauso gerne recherchiere ich im Internet zu Themen, die mich interessieren.‹John Doe hatte sich mit dieser Antwort Zeit gelassen.

»Hm.«, machte Matthew leise. ›Ich kann das nicht, dieses parallel lesen. Konnte ich noch nie. Gut, ein Fachbuch oder eine Biografie nebenher, das ginge vielleicht, aber mehrere Thriller oder ein Krimi neben einem Psychothriller und ich wäre raus. Ich lese auch sehr langsam. Meine Schwester hat mich damit immer aufgezogen.‹

›Es geht nicht darum wie schnell man liest, sondern darum, wie man in das Gelesene eintaucht. Es gibt genug Menschen, die Bücher lesen, sich aber nie auf den Inhalt oder die Geschichte einlassen.‹, kam die wieder so eloquent formulierte Antwort, die auch noch zum Nachdenken anregte. Ohne es zu merken, hob Matthew eine Augenbraue.

›Ich habe Sie schon früh als Bücherfreund identifiziert.‹

›Schuldig.‹

Matthew lächelte und rutschte tiefer, während er schrieb. ›Wie ist das, sind Sie ein klassischer Papierleser?‹, fragte er als nächstes, weil dieses Thema ihm in letzter Zeit immer wieder begegnete.

›Ja. Ich liebe echte Bücher. Kennen Sie die Bibliothek aus »Die Schöne und das Biest«? Das wäre der perfekte Ort für mich.‹Das kleine Zeichen zeigte Matthew, dass der Andere immer noch tippte, obwohl die erste Nachricht bereits geschrieben stand, und so wartete er einen Moment auf das, was da noch kommen würde. ›Wenn ich es so geschrieben sehe, dann weiß ich, warum ich ständig abserviert werde. Ich bin ein Freak.Oder ein Nerd. Was auch immer man heutzutage sagt.‹

Matthew lächelte, blinzelte dann aber. »Die Schöne und das Biest...« Oh je, den Film hatte er zuletzt mit...seiner Schwester geguckt, vor... Na ja, er war alt.

›Und ich merke, wie alt ich bin. Den Film habe ich vor etlichen Jahren das letzte Mal gesehen.‹Aus den folgenden Worten konnte er die Überraschung, mit der sie geschrieben wurden, deutlich ausmachen.

›Ist das Ihr Ernst, Mr. M?! Das ist ein Klassiker! Kein Wunder, dass Sie nicht verheiratet sind. Sie sollten Ihre Chancen aufbessern und sich den Film so schnell wie möglich noch einmal ansehen! ;)‹ Jetzt musste Matthew lachen.

›Sie denken also, auf mich stehen Menschen, die diesen Klassiker jedes zweite Wochenende ansehen und zu schätzen wüssten, wenn ich die Bibliothek kennen würde?‹, schrieb er amüsiert zurück. Eigentlich hatte er sich ja extra früh ins Bett gelegt, um noch etwas zu lesen und dann früh zu schlafen. Er war auch müde, aber dieses Gespräch fesselte ihn viel zu sehr, was verrückt war, wenn man bedachte, dass es lediglich digital stattfand.

›Es geht nicht um jedes zweite Wochenende. Aber -vor Jahren- das letzte Mal ist nicht verhandelbar, Sir.‹Lächelnd schüttelte Matthew den Kopf.

›In Ordnung. Ich werde ihn mir ansehen, wenn Sie mir versprechen, es noch einmal mit sexy Flirten zu versuchen, Johnny.‹ Schon bevor er die Antwort des Fremden bekam, war Matt sich sicher, dass dieser nicht auf den Deal eingehen würde.

›Nur wenn Sie mich dann im Gefängnis besuchen, in dem ich aufgrund von Erregung öffentlichen Ärgernisses landen werde. Ich kann so etwas nicht.‹

Matthew schnaubte. ›Ich bitte Sie! Sie schließen die Lippen um einen Strohhalm und sehen ihrem Objekt der Begierde in die Augen. Sie streichen sich durchs Haar oder, wenn das geht, eine Haarsträhne hinters Ohr. Sie suchen Blickkontakt, lächeln. Während Sie mit jemand anderem tanzen, sehen sie natürlich nicht auf ihn, sondern auf die Frau oder den Mann, mit dem Sie lieber tanzen würden. Es ist ganz einfach!‹Versuchte er hier gerade wirklich, einem fremden Menschen das Flirten beizubringen?