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Dieter Haselbach

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Beschreibung

Zu viel Geld für Kultur schadet nur – eine Provokation

Immer mehr Geld für die Kultur! Dabei haben wir schon von allem zu viel und überall das Gleiche. Vier führende Kulturexperten entlarven den Mythos vom Kulturstaat und ziehen gegen die Auswüchse der Subventionskultur zu Felde. Denn das oberste Ziel öffentlicher Kultureinrichtungen ist nicht etwa Kunst oder Innovation, sondern der schiere Selbsterhalt.

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Dieter Haselbach · Armin Klein

Pius Knüsel · Stephan Opitz

DERKULTURINFARKT

Von allem zu viel und überall das Gleiche

Eine Polemik über Kulturpolitik,

Kulturstaat, Kultursubvention

Knaus

Dank

Die Autoren danken allen Künstlern, Mitarbeitern von Institutionen und Kulturverwaltungen, Forschern und Kritikern, die sie willentlich oder unwissentlich inspiriert haben.

1. Auflage

Copyright © der Originalausgabe 2012

beim Albrecht Knaus Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Redaktion: Dunja Reulein

Gesetzt aus der Sabon von Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN 978-3-641-07287-2

www.knaus-verlag.de

A u c h K u l t u r

ist nur eine unmaßgebliche Schutzbehauptung.

Peter Rühmkorf

Vorwort

Deutschlands Kulturbetrieb steht vor dem Infarkt. Von allem gibt es zu viel und nahezu überall das Gleiche. Wer kann in dieser Flut das Wichtige noch wahrnehmen, annehmen und genießen? Und was Kultur alles leisten soll, ohne dass es ihr gegeben ist: die Demokratisierung befördern, die Fremden integrieren, die Wirtlichkeit der Städte steigern, die geistige Einheit der Nation herstellen, die Neonazis vertreiben, den Frieden sichern, wirtschaftliches Wachstum generieren, sozialen Ausgleich schaffen.

Was die Gesellschaft gesund machen sollte, liegt selbst darnieder. Dem Patienten schwindelt, denn er hängt an einem Tropf, der »öffentlichen Förderung«, und daraus tröpfelt es – gefühlt – immer weniger. Die Krankheitssymptome nehmen zu, aber alle drücken sich um die Diagnose. Das Trostlied vom Kulturstaat will nicht wirken.

Eurokrise, Globalisierung, Demografie, Migration, Digitalisierung – ungeheuer sind die Fliehkräfte, die aus den gesellschaftlichen Veränderungen erwachsen. Kirchen werden geschlossen, weil es an Gläubigen mangelt, Schulen aufgelöst, weil weniger Nachwuchs kommt, Krankenhäuser werden von Heilanstalten zu Reparaturgaragen umgewandelt, aus denen man die Patienten so rasch wie möglich wieder nach Hause schickt, sogar Atomkraftwerke werden abgestellt, weil die Gesellschaft andere Energiequellen wünscht – nur im Bereich von Kunst und Kultur soll alles so bleiben, wie man es, ausgehend vom Geheimrat Goethe, überzogen mit bürgerlicher Gesellschaftspädagogik, instrumentalisiert von den Sinnspendern der siebziger Jahre, eingerichtet hat?

Von allem zu viel: Sozialdemokratisch erfunden, setzt die »neue Kulturpolitik« der letzten Jahrzehnte doch auf das Theorem, dass jedes Angebot, einmal geschaffen, seine Konsumenten erzeuge. Diese Angebotsfixierung hat die Institutionen vermehrt und die Fördertöpfe, nicht aber die Konsumenten. Wenn es denn eine ästhetische Durchdringung der Gesellschaft gibt, dann verdanken wir sie dem kommerziellen Sektor.

Überall das Gleiche: Der Vormarsch der geförderten Kultur, der Jurys, Experten und Kulturmanager produziert nicht Innovation, sondern bürokratisch unterlegte Konformität – Übereinstimmung mit Fördermatrizen, Projektformaten und Kriterien. Natürlich gibt es noch große Kunst. Doch wer findet sie in der gleichwertigen, ja gleichgültigen Masse gut gemeinter und gut geförderter Halbfabrikate? Wo ist die Diskussion über die Bedingungen des Lebens, ausgelöst von Kunst?

Eine Polemik: Ja, wir holen zur Kritik aus. Wir kritisieren selten Personen, aber immer das System, das einseitig auf Produktion fixiert ist und den Einzelnen bestenfalls als kulturell schadhaftes, mithin zu reparierendes Individuum betrachtet. Wogegen Letzteres sich natürlich mit gutem Recht wehrt. Wir lesen Fakten, Statistiken und fügen die Schlüsse aneinander, die andere schon vor uns gezogen haben, die aber – auch hier das Zuviel! – niemand hören will.

Wir ziehen zu Felde gegen das Schisma, das moderne Kulturpolitik in die Gesellschaft bringt: dass es gute und schlechte Kultur gebe, Kulturbürger und Kulturferne. Wir legen Einspruch ein gegen den wachsenden Einfluss des Staates auf die Kultur. Wir beklagen die Nähe zu Staat, Macht und Geld, die im Kulturbetrieb so modisch geworden ist. Wir bekunden Mühe mit der Verantwortungslosigkeit des institutionellen Kulturbetriebs. Uns passt seine Abnabelung von den Veränderungen nicht, seine Wagenburgmentalität. Und uns passt noch weniger, wie Politik sich in Sonntagsreden übt, diese montags aber vergessen hat. Zuletzt fehlt es uns an Debatten in der Kulturszene. Dort gilt das allgemeine Schonrecht: Niemand kritisiert niemanden, alle haben dasselbe Existenzrecht und denselben Anspruch auf Förderung. Die Großen brauchen die Kleinen als Feigenblatt, die Kleinen lieben den Windschatten.

Wir belassen es nicht bei einer Polemik. Wir möchten den Patienten therapieren. Wir machen uns Gedanken über eine Zukunft, über neue Ansätze und neue Paradigmen: Abschied vom autoritären Werturteil zum Beispiel, Rückbau der Institutionen, Investition in das unabhängige Schaffen, Wechsel in die digitale Distribution, Nachfrageorientierung vor allem durch höhere Wertschöpfung am Konsumentenmarkt, Aufbau einer wertschöpfenden Kulturwirtschaft. Wir entwickeln keine kompakte Vision. Visionen, die sich mit der Macht der Politik verbinden, werden rasch zu Zwangsjacken, das wissen wir gut genug. Deshalb bleibt unser Widerspruch widersprüchlich.

In allen Politikfeldern beschäftigt Politik sich damit, die Zukunft zu gestalten, am besten sichtbar an der Energie oder an der Gesundheit. Allein in der Kultur geht es immer nur um Vergangenheit, um Strukturerhaltung und moralische Selbstverteidigung. Selbst ästhetische Innovation, Hätschelkind der Förderung, ist eine Keule von gestern. Dabei ändert sich nichts rascher als die Kunst. Die Globalisierung hat sie binnen 20 Jahren auf den Kopf gestellt. Hat die Politik darauf eine Antwort? Hat sie nicht. Hat der Kulturbetrieb darauf eine Antwort? Hat er nicht. Mehr Geld, so der Ruf.

Wer Kulturbetrieb und Kulturpolitik kritisiert, ist nicht der Feind der Kunst. Im Gegenteil: Uns liegt daran, sie zu befreien – von den vermeintlichen Schützern, die sie umarmen bis zur Erstickung. Die Forderungen sind nicht neu, aber aktueller denn je: mehr Unternehmergeist, mehr Auseinandersetzung mit den Bedürfnissen des Publikums, weniger Allmachtsphantasien. Und das Eingeständnis, dass die Welt an der Kunst nicht genesen wird. Sonst bräuchte es – paradoxerweise – womöglich keine Kunst mehr!

Dieter Haselbach, Armin Klein, Pius Knüsel, Stephan Opitz

Die Symptome des nahenden Zusammenbruchs

Die Kulturpolitik steckt in einer Immobilitätskrise – doch die ist selbst verschuldet. Kulturinstitutionen sind immer noch vom »Rationalitätstypus korporativer Selbsterhaltung« (Gerhard Schulze) geprägt – »Theater muss sein«! Mehr Begründung braucht es anscheinend nicht.

Wer im System öffentlicher Förderung drin ist, hat es zwar immer schwerer, aber wenigstens ein Dach über dem Kopf. Er jammert, aber auf hohem Niveau. Wer zu spät gekommen ist oder wer noch kommen wird, hat Pech. Heute geht es nur noch um »kulturelle Infrastruktur« (das meint das bereits Geförderte), um »kulturelle Grundversorgung« (das meint, dass alle mit derselben Kultur wie bislang »versorgt«, ja »grundversorgt« werden müssen). Gab es je Innovation? So abwegig ist der Befund nicht, dass wir mit Steuermitteln das Ende zukunftsorientierter Kunst- und Kulturproduktion herbeigeführt haben.

Von allem zu viel und überall das Gleiche

Sind wir wirklich zu Recht stolz auf das Erreichte? Seit den siebziger Jahren haben sich Museen, Theater, Bibliotheken, Volkshochschulen, Musikschulen, Konzerthäuser, soziokulturelle Zentren, Jugendkunstschulen, Literaturhäuser, kulturelle Verbände, Kulturausgaben mächtig vermehrt. Das hehre Ziel, alle umfassend an Kunst und Kultur teilhaben zu lassen, führte in den massiven Ausbau kultureller Einrichtungen.

Für Deutschland sind die Zahlen aus dem Bericht »Kultur in den Städten« des Deutschen Städtetags mit Daten von 1977 aufschlussreich. Seit jenem Jahr haben sich die Volkshochschulen versechsfacht, die öffentlichen Bibliotheken versiebenfacht. Es gibt jetzt achtmal mehr Musikschulen als 1977. Über Museen gibt es keine vollständige Statistik, aber eine Versieben- bis Verzehnfachung seit dem Ende der sechziger Jahre ist plausibel. Und »Soziokultur« gab es 1977 institutionell – zumindest im Westen – noch gar nicht. Jetzt gibt es ein flächendeckendes Netz von soziokulturellen Einrichtungen in Deutschland. Natürlich, die Zahlen von 1977 betreffen die alte Bundesrepublik, mit der deutschen Einheit kamen Einrichtungen aus der DDR hinzu – das ist zu berücksichtigen. Die Theater etwa verdoppelten sich mit der Vereinigung. Doch das erklärt längst nicht alles. Unter der Programmhoheit von »Kultur für alle« fand in diesem Land – man verzeihe die militärische Metapher – eine systematische kulturelle Aufrüstung statt.

Das Ideal eines in der Tradition verwurzelten Kulturstaats zeigt sich in Deutschland plastisch in der kulturellen Infrastruktur. Etwa neun Milliarden Euro jährliche Zuwendung der öffentlichen Hand, rund 5000 öffentliche Museen und über 140 Staats- und Stadttheater und Landesbühnen, 8500 öffentliche Bibliotheken, dazu jeweils fast 1000 Musikschulen und Volkshochschulen in kommunaler Trägerschaft – das sind die Reproduktionsanlagen des Ideals »Kulturstaat«. Sie bieten die sogenannte Grundversorgung, vom Staat nicht durchgehend effizient, aber doch günstig organisiert für alle, die daraus Nutzen ziehen.

Das wirtschaftliche Wachstum der siebziger und achtziger Jahre machte das alles möglich. An die mittel- und langfristigen Folgen dachte niemand. Die laufenden Kulturausgaben der Gemeinden – sie tätigen den größten Teil – stiegen zwischen 1975 und 1995 im Westen Deutschlands schneller als die kommunalen Haushalte. Zweistellige Wachstumsraten, bis hin zu 26,5 Prozent (1979), waren nicht unüblich. Nach 1995 flaute die Dynamik insgesamt ab. Die Verbalkomposition vom »Kaputtsparen« erreichte wenig später den kulturpolitischen Wortschatz. Allerdings gibt es keinen einheitlichen Trend: In einigen Bereichen und Regionen gibt es weiterhin beachtliche Zuwachsraten.

Das Wachstum der kulturellen Infrastruktur ist keine deutsche Sonderentwicklung. Aus der Schweiz sind ähnliche Steigerungen zu berichten. Die Zahl der Museen hat sich seit 1970 von 300 auf 1000 erhöht, die Zahl der öffentlichen Bibliotheken stieg von 900 auf 1300. Die Bevölkerung ist im selben Zeitraum aber nur um 15 Prozent gewachsen. Auch Österreich zeigt eine vergleichbare Dynamik, dort ist das Niveau der Kulturausgaben zudem immer höher gewesen als in Deutschland; Zeichen dafür, dass das kulturelle Erbe des k. u. k. Imperiums angenommen wurde. So verfügt Österreich laut Austria Statistik aktuell über 812 Museen und museale Einrichtungen. Es gibt 15 öffentliche Theater, neben den Einrichtungen in Wien vor allem die Landesbühnen in den einzelnen österreichischen Landeshauptstädten. In der Spielzeit 2009/10 erfolgten rund 3,79 Millionen Besuche in öffentlichen, 1,57 Millionen in privaten Theatern. Österreich ist darüber hinaus das Land der Festspiele: Neben Salzburg und Bregenz gibt es eine Vielzahl mittlerer und kleiner Festspiele, die es in der Spielzeit 2009/2010 auf insgesamt 3106 Vorstellungen und rund 1,8 Millionen Besuche brachten.

Nehmen wir die Festivals, um die Dynamik zu veranschaulichen. In Deutschland hat sich nach der Statistik des Deutschen Bühnenvereins die Zahl der Theaterfestivals von 25 mit 1324 Vorstellungen in der Saison 1991/92 auf 56 mit 3579 Vorstellungen in der Saison 2009/10 mehr als verdoppelt. Kamen 1991/92 1427667 Zuschauer, waren es 2009/10 nicht weniger als 2441487. Allerdings ging die Zahl der Besuche pro Vorstellung von 1080 auf 680 empfindlich zurück. Die Festivals wurden kleinteiliger. Für Europa schätzt man, dass sich die Musikfestivals binnen 30 Jahren verzehnfacht haben. Das Wachstum hält unvermindert an, das ist auch ohne Statistik greifbar. Dass explodierende Konkurrenz zur Eventisierung des öffentlich geförderten Kulturbetriebs führt, ist bei solchen Wachstumsraten nicht erstaunlich.

Und das öffentlich-rechtliche, mit Gebühren finanzierte Fernsehen will da nicht nachstehen. Versammelte sich die Fernsehgemeinde vor noch gar nicht langer Zeit zur sonntagabendlichen Talkshow, deren Bedeutung ein namhafter Politiker noch über dem Parlament ansiedeln wollte, so kam die ARD im Herbst 2010 auf die Idee, nun jeden Abend eine Talkshow mit bekannten Moderatorinnen und Moderatoren zu senden – immer mehr und immer das Gleiche. Gewählte Themen und Diskutanten sind austauschbar, Wichtigtuer ertrinken in selbstreferentiellem Gebrabbel. Der ganze öffentlich-rechtliche Betrieb kostet noch einmal fast genauso viel wie die Kulturausgaben insgesamt – für die Gebührenanpassung 2013 summieren sich die Forderungen der Anstalten auf neun Milliarden Euro pro Jahr.

In der Kulturpolitik aber herrscht die Überzeugung: Lasst uns das Angebot ausbauen. Und dann wollen wir vermitteln, was das Zeug hält, um die gefährlichen Schwellenängste gegenüber der Kunst abzubauen und endlich, endlich die kulturfernen Schichten zu erreichen!

Doch das System steht vor dem finanziellen Zusammenbruch. In Deutschland ist es kaum mehr finanzierbar, in Österreich und der Schweiz werden die Grenzen bald erreicht sein. Im Jahr 2012 verfügen die öffentlichen Museen Deutschlands praktisch über keine Anschaffungsetats mehr. Und auch die Personalkosten sind kaum gesichert. Die Stätten, die der kulturellen Anschauung dienen sollen, müssen über reduzierte Öffnungszeiten nachdenken. Bibliotheken geht es nicht anders. Landesbibliotheken haben keine Mittel mehr, um ihre Zeitschriftenbestände à jour und eingebunden zu halten. Die Arbeit der öffentlich geförderten soziokulturellen Zentren kann man problemlos mit der von Kulturzentren »ohne Staatsknete« verwechseln. Das gilt gleichermaßen für Konzerthäuser und Galerien. Geld ist überall knapp. Das kenntnisfreie Zauberwort aus politischem Munde zur Lösung heißt: Sponsoring einwerben und Leuchtturmfunktionen entwickeln.

Der Ausbau der Kultur geschah planlos. Kulturpolitiker wie Geförderte wollten etwas Gutes, so viel ist sicher. Und Gutes kann man nur mit mehr Gutem überbieten. Wer würde es wagen, nach dem Sinn von noch mehr Geld zu fragen? »Kultur gut fördern« hieß die Tageslosung 2011, die Haushaltskrise der europäischen Staaten dahingestellt.

Mehr als »Kultur für alle« fiel in den letzten Jahrzehnten niemandem ein. Und als es ab 1989 etwas problematischer mit den Haushaltsmitteln wurde, riefen alle nach Kulturmanagement. Formulare, Funktionäre und Abläufe sollten den Status quo sichern. Eine Verständigung darüber, welche kulturellen Ziele mit welchen Mitteln erreicht werden könnten, war nicht gewollt. Kulturpolitik beschränkt sich darauf, alle Wünsche zu addieren, beraten vom Deutschen Kulturrat.

»Kultur für alle« war ein überaus erfolgreiches Programm. Ein eingängiger Slogan, übrigens auch versinnbildlicht durch den Einzug der Popkultur in die Kunsttempel. Zu Anfang ging es natürlich nicht um die Popkultur, der Begriff war ja noch gar nicht erfunden. Es ging um die Hochkultur, die für die ganze Gesellschaft Leitwerte zu verhandeln beansprucht. Sie sollte zeitgemäßer, zugänglicher für alle werden. Unterhalten durfte sie allerdings nur ein bisschen, naive Freude ist gar nicht gut. So wurde die Breitenkultur zur Entwicklungszone und bekam einen zwitterhaften Status: Einerseits wollten die Promotoren einer künftigen Kultur dieser den nötigen Respekt verschaffen (das mündete in Soziokultur), andererseits stand sie immer im Verdacht, bloße Unterhaltung zu sein (das führte zum Bannstrahl durch das antikommerzielle Dogma der Kulturpolitik).

Bereits 1987 zog ein aufmerksamer Beobachter der damaligen Entwicklung das vorläufige Fazit: »Heute sieht es so aus, als hätten wir es mit einer ungeheuren Explosion des Kulturellen zu tun, die bald alle Lebensbereiche und Lebenstätigkeiten zu umgreifen scheint.« Und weiter: »Ohne Kultur geht nichts mehr. Nicht die Organisation des eigenen Lebens und die Repräsentation der Gesellschaft, nicht die Vermittlung von Politik und der Verkauf von Waren. Alles scheint auf jenes diffuse Medium Kultur verwiesen.«1 In den zwei Jahrzehnten seither ist die Ästhetisierung des Alltags ungemein fortgeschritten. Gestaltung ist der Schlüssel zum Erfolg, der Geruch von Kunst unerlässliche Zutat. Kunst, so die Kolumnistin und Gesellschaftssatirikerin Wäis Kiani, »ist überall. Es ist wie mit den Flip Flops. Erst war es nur ein Hype. Jetzt gibt es Flip Flops auf Laufstegen wie auch beim Lidl. Sie sind an den Füßen der ganzen Welt.«2

1 Knödler-Bunte, Eberhard: »Editorial Kulturgesellschaft«, in: »Themenheft Kulturgesellschaft« von Ästhetik und Kommunikation 67, 1987, S. 21.

2Süddeutsche Zeitung, 7./8.6.2008.

Sicherlich hatte sich – gerade in Deutschland, wo die neue Kulturpolitik programmatisch entwickelt wurde – ein großer Nachholbedarf aufgebaut. Unter dem wenig verfänglichen Begriff »Kulturpflege« hatte Kulturpolitik sich vom Zweiten Weltkrieg bis Ende der sechziger Jahre um einen möglichst ewigkeitsorientierten Wiederaufbau und eine Wiederbelebung der kriegszerstörten Institutionen der Hochkultur gekümmert. Was in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts passiert war, interessierte Kulturpflege nicht. Das »Volk der Richter und Henker« wollte durch Kultur wieder zum »Volk der Dichter und Denker« werden (Hermann Glaser). Der Bezug auf den großen europäischen Kulturrahmen, die Weimarer Klassik, war bestimmend. Es ging um das Wahre, Schöne und Gute, um einen – wie Herbert Marcuse schon 1937 kritisiert hatte – »affirmativen Kulturbegriff«.

Die sechziger Jahre brachten kulturpolitische Bewegung. Auf das von Ludwig Erhard entwickelte wirtschaftliche Expansionsprogramm (»Wohlstand für alle«, 1957) folgten die von Georg Picht (»Die deutsche Bildungskatastrophe«, 1964) inspirierte bildungspolitische Forderung »Bildung für alle« und Anfang der siebziger Jahre schließlich das kulturpolitische Pendant »Kultur für alle«. Die Dortmunder Jahreshauptversammlung des Deutschen Städtetags 1973 unter dem Titel »Wege zur menschlichen Stadt« war die kulturpolitische Wasserscheide. Kultur sollte retten, was falsch gelaufen war. Der Städtebau in den fünfziger und sechziger Jahren hatte zu massiver Stadtzerstörung geführt, was Alexander Mitscherlich 1965 in seiner Streitschrift über die »Unwirtlichkeit unserer Städte« angeklagt hatte. Mit der durch den Ölschock ausgelösten Wirtschaftskrise der frühen siebziger Jahre geriet auch das Wohlstandsmodell erstmals ins Wanken. Das entstandene Vakuum sollte mit Werten gefüllt werden.

Der Frankfurter Kulturdezernent Hilmar Hoffmann brachte Ende der siebziger Jahre das Postulat einer »Kultur für alle« auf den Punkt: »Jeder Bürger«, so sein Credo, »muss grundsätzlich in die Lage versetzt werden, Angebote in allen Sparten und mit allen Spezialisierungsgraden wahrzunehmen, und zwar mit einem zeitlichen Aufwand und einer finanziellen Beteiligung, die so bemessen sein muss, dass keine einkommensspezifischen Schranken aufgerichtet werden. Weder Geld noch ungünstige Arbeitszeitverteilung, weder Familie noch Kinder noch Fehlen eines privaten Fortbewegungsmittels dürfen auf die Dauer Hindernisse bilden, die es unmöglich machen, Angebote wahrzunehmen oder entsprechend Aktivitäten auszuüben.«3

3 Hoffmann, Hilmar: Kultur für alle. Modelle und Perspektiven, Frankfurt a. M. 1981, S. 29.

»Kultur für alle« war reine Angebotspolitik. Und mehr: Der neue programmatische Ansatz bedeutete auch, dass Kultur in andere Bereiche expandieren, dass sie das Reservat der »affirmativen Kultur« verlassen sollte. Besonders schön illustriert ein Zitat des Zürcher Stadtpräsidenten Sigmund Widmer den Umschwung in der Kultur. Er sagte noch 1978 in einer Rede: »Rockmusik ist keine Kultur.« Doch bereits 1980 musste er dem Druck der Straße nachgeben und die Rote Fabrik eröffnen, ein alternatives Kulturzentrum, welches sich aus dem Geist des Punks nährte, 1981 folgte das (1984 geschlossene) autonome Jugendzentrum, in dem sich das Kulturangebot auf Rock und Drogen beschränkte. 1982 musste Widmer, der die Jugendrevolte nicht in den Griff bekam, zurücktreten, kurz darauf wurde ein Programm eingerichtet, um Rock- und Popmusik zu fördern.

Die Logik einer »Kultur für alle« orientierte und orientiert sich noch immer an der Hoffnung, dass das Produkt seinen Konsumenten erzeuge, wenn es bloß auf dem Markt erscheint. Denn kulturelle Expansion wurde stets vom Angebot, nicht von der Nachfrage her gedacht. Damit sich aber jeder eines Angebots jeden Anspruchsgrades bedienen konnte, musste dieses Angebot in seiner Reichweite geschaffen werden. Wenn Kultur vor der eigenen Haustür auftauche, werde sich das Interesse schon einstellen. Kulturpolitik wurde zu strategischer Planung in der Fläche.

Für die Expansion benötigte man Manager. So kam das Kulturmanagement in die Welt, ein Begriff, der nur der deutschen Sprache eigen ist. Kulturmanagement verlängerte die Didaktisierung des Schulbetriebs in die Kultur. Kurz skizziert kam die Didaktik wohl deswegen in die Welt, weil Lehrer, die unfähig sind, die Geschichten aus ihrem Fach so zu erzählen, dass Schüler sie verstehen, auf die Dauer schwer erträglich sind. Kulturmanagement hat Kultur zu vermitteln, das gehört zu den Axiomen des schillernden Fachs seit seinen Ursprüngen. Ein anderes ist der Bezug auf die Betriebswirtschaft mit ihren Management- und Marketingtechniken. Heute ist das Fach aufgespalten. Ein Teil der zahllosen Studiengänge hat sich die Kulturpädagogik auf die Fahnen geschrieben, der andere betont Management und Marketing für, mit und in der Kultur. In den Neunzigern dominierte Marketing, heute ist Pädagogik angesagt.

Doch nach den Interessen der Kulturkonsumenten und vor allem nach der Wirkung einer Kultur für alle auf alle fragte niemand. Wer es im Hinterzimmer dennoch zu tun wagte, setzte seinen Status als zivilisierter Mensch aufs Spiel. Emanzipatorischer Anspruch einer »Kultur für alle« hin oder her, derlei war nicht gefragt. Kultur anders zu denken? Unvorstellbar! Das Besondere an diesem Modell war und ist, dass es einer elitären Vision der Gestaltung des Kollektivs, nicht einer Nachfrage an der Basis entsprang. Was dazu führte, dass das wachsende Angebot von wirtschaftlichen Risiken weitgehend freigestellt wurde. Etats werden öffentlich gedeckt. Solange Politikerinnen und Politiker daran Gefallen finden, sich anlässlich der Eröffnung neuer Kulturstätten in Pose zu werfen, gibt es kein Problem.

Gefangen in der selbst verschuldeten Unmündigkeit

Die heutige Infrastruktur ruht auf einem erzieherischen Fundament. Bühnen und Museen sind die Schulen des neuen Bürgers: Das Programm ist die ästhetische Erziehung des Menschengeschlechts. Wie schade, dass das Konzept aus der Zeit der aufgeklärten Aristokratie stammt, vordemokratisch ist. Das politische Projekt des mündigen, selbstbestimmten Bürgers steht in Widerspruch zum ästhetischen Projekt des Kulturbürgers, der bestimmten Wertvorstellungen anhängt und eine bestimmte ästhetische Qualifikation erreicht hat, die längst nicht für alle erreichbar ist und auch nicht sein darf. Kulturbürger, das ist eine Distinktion, die über Politik, mithin über den Pöbel erhebt.

Der rasante Ausbau der Infrastruktur war die letzte Offensive dieses vordemokratischen Modells angesichts der Fortschritte des demokratischen Projekts nach dem Zweiten Weltkrieg. Sie hat sich dabei ein zentrales Axiom von Demokratie zu eigen gemacht: Freiheit. Alles musste zulässig sein, jede Aussage und – als die Aussagen knapper wurden – jede Form. Die Freiheit der Kunst wird als Befreiung von der Nachfrage gelebt, sichtbar an Selbstfinanzierungsgraden von 15 Prozent oder weniger. Der Konsument erlebt sie aber auch als Befreiung von der Autorität der Institutionen – Freiheit der Kunst ist nicht nur die Freiheit, frei von politischem Druck künstlerisch zu arbeiten, sie lässt sich ebenso als Freiheit von der Kunst praktizieren. Verschärfend kommt dazu, dass mit dem Niedergang der kulturellen Autoritäten deren Welterklärungsmuster hinfällig werden. Die Vertreter universeller Werte gehören heute selbst ins Museum, die Kritiker sind entmachtet. Heute gibt es zu jeder Aussage eine genauso legitime Gegenaussage.

Der demokratische Staat mutet dem Bürger eine Mündigkeit im Urteilen und Gestalten seines Lebens zu, welche Kulturpolitik ihm abspricht. Letztere nimmt ihn an die Leine der kulturellen Erziehung. Auf diese kurze Formel kann man den Widerspruch zwischen dem politischen Projekt der Moderne und dem vormodernen Projekt der ästhetischen Erziehung der Menschen bringen.

Die Erneuerung der Kunst, alle gesellschaftlichen Bewegungen, welche Veränderungsdruck erzeugen, kommen von jenseits des Kunsthorizonts: Einwanderung, globaler Austausch, Medienrevolutionen. Sie verändern den Alltag, aber nicht den Kulturbetrieb. Die Programme werden zwar etwas bunter, doch am Anspruch, die eigene, abgegrenzte Kultur zu verteidigen, ändert sich nichts. Institutionen sind nicht nur Gefäße, in denen Kunst produziert und mittels Vorführung in Kultur verwandelt wird. Das Gefäß selbst ist eine Aussage, die vom Programm, das es beherbergt, nicht widerlegt werden kann. Die Aussage ist Unverrückbarkeit. Diese Kultur steht für immer. Hier werden trotz des Wandels und trotz des Einzugs neuer Technik dauerhafte Werte erhalten. Die Ahnenreihe, durch das Programm immer wieder in Erinnerung gerufen, reicht bis in die Antike zurück.

Es geht um Macht. In Stein gefügte Einrichtungen stehen für Macht. Jemand hat sie entworfen, finanziert, gebaut. Sie kosten eine Stange gemeinsamen Geldes – je dicker die Stange, umso größer die Macht. Eine Jahressubvention von 10 Millionen Euro bedeutet mehr als eine von 50000 Euro. Es geht nicht allein um die Frage, wie teuer diese oder jene Kunst ist, wie viel Ausstellungen oder Musiktheater kosten dürfen. Die Spanne zwischen Kellertheater und Staatstheater weist vielmehr auf den politisch untermauerten Anspruch, dass am einen Ende höchste Kunst entsteht, indem sie ihrer Selbstfinanzierung praktisch enthoben ist, und am anderen Ende eben nicht. Dieser Anspruch bleibt den großen Institutionen eingeschrieben. Keine schafft es, auf Dauer gegen ihr Existenzgesetz zu handeln.

Es ist deshalb kein Zufall, dass China als System des Social Engineerings 1000 Museen bauen will und 2011 das größte Museum der Welt am Platz des Himmlischen Friedens eröffnet hat, als kulturelle Manifestation eben dieser Autorität. Dass es Museen als »systemrelevant« einstuft, versteht sich von selbst. Es ist auch kein Zufall, dass die Exkursionen der deutschen Bühnen ins Antitheater der siebziger Jahre scheitern mussten. Ein erfolgreicher Ausbruch hätte bedeutet, dass die Institutionen sich selbst aufgeben. Die Kultureinrichtungen besitzen eine Gravitationskraft, die alles, was in ihrem Kraftfeld passiert, in ihren Auftrag einschreibt, ohne dass dieser sich verändert. So ist es nur logisch, dass die Provokateure der achtziger Jahre heute Opern inszenieren. Die Provokation war ein Sturm im Wasserglas. Immerhin gibt es jetzt mehr nackte Haut und originelleres Dekor, doch Oper bleibt Oper. Noch immer ist sie bürgerliche Verschwendung, ein europäischer Potlatch. Je mehr öffentliches Geld drinsteckt, umso unverrückbarer ist die Institution dem Druck des Publikums enthoben. Oder umgekehrt: Die Institution selbst erzeugt den Druck, der ihre Macht zementiert. Die kulturellen Institutionen stabilisieren sich, indem sie sich von den wirtschaftlichen Kräften abkoppeln, sie tragen sich durch ihr eigenes Gewicht.

Dass wir uns womöglich eine Zukunft ohne Kultureinrichtungen denken müssen, illustrieren die Kirchen. Sie übernahmen bis zur Reformation die Funktion der Museen. Im Katholizismus tun sie es noch heute. Kunstvoll vermittelten und gestalteten sie Sinn und Vergangenheit, zugänglich und verständlich für alle. Mehr noch: Sie schenkten auch Zukunftsgewissheit, etwas, was Museen, da nach der Aufklärung entstanden, nicht mehr hinbekommen. Die Kirchen lieferten die Kunst und die große Erzählung des Glaubens und brachten so Kunstartefakte und Alltag in einen Sinnzusammenhang. Der Sieg der Aufklärung hat der großen Erzählung des Glaubens die Autorität geraubt. Die Kirchen leeren sich, die Infrastruktur des Glaubens zerfällt, das Gedankengut wird säkularisiert und wirkt anderswo weiter. Außer der Kirche selbst sieht darin niemand die Existenzfrage der europäischen Kultur. An die Stelle von Kirchen und Klöstern treten Schulen, Medien und Kulturhäuser. Auch ihnen muss keine ewige Funktion zukommen.

Kultureinrichtungen sind nur Gefäße. Das Konzept des geschützten Raums hat die Kunst weitergebracht, jetzt stößt es an seine Grenzen. Es mag zwar Innovationen pflegen als ästhetische Globuli, doch verliert es an Einfluss darauf, wie wir unser Leben gestalten. Das Konzept verliert gegen Kräfte aus dem Off, die aus der Entwicklung der Medien erwachsen. Medien kommen nie als Medien für Kunst in die Welt. Doch werden sie von den Künstlern rasch adaptiert und zu Instrumenten des Wandels jenseits der Institutionen entwickelt.

Das begann mit dem Buchdruck, es setzte sich fort mit der Zeitung, dem Radio, der Fotografie, mit Schallplatte, Film, Computer, Internet. Der gesellschaftliche Umbruch fand in diesen Medien seinen kulturellen, später künstlerischen Ausdruck. Neue Medien haben Sex-Appeal. Die latente, gelegentlich auch sehr manifeste Opposition gegen institutionelle Autorität, welche jeder Generation eigen ist, findet bevorzugt in neuen Medien ihre Gestalt. Es ist der Kampf gegen jene Verhaltenskodifizierung, die Institutionen eingeschrieben ist.

Europa hat die vermutlich teuerste Kulturlandschaft der Welt, viele Staaten geben 100 bis 200 Euro pro Jahr und Bürger für das Kultursystem aus. Dieser Reichtum kontrastiert mit der Abwesenheit Europas auf den weltweiten Kulturmärkten. Auf die Zirkulation der Inhalte hat unser Kontinent keinen Einfluss. Europa finanziert vielmehr seine Präsenz (für Eliten) auf den Bühnen anderer Kontinente selbst. Die globale und die Wahrnehmung prägende Kulturindustrie ist in den Händen der Amerikaner, der Japaner, der Koreaner, der Brasilianer.4 Sie bedienen das aufstrebende Asien, sie bedienen die erwachenden arabischen, afrikanischen und lateinamerikanischen Märkte, sie räumen selbst in Europa ab.

4 Vgl. Martel, Frédéric: Mainstream. Wie funktioniert, was allen gefällt, München 2011.

Deutsche Filme tauchen nicht auf in den Hunderten von Multiplexen, die derzeit in Indien gebaut werden. Deutsche, österreichische und schweizerische Filme werden bestenfalls in Goethe-Instituten, in Kulturforen und auf Festivals von Filmhochschulen gezeigt. Derart speisen sie kein europäisches Element in das Kulturbewusstsein der nächsten Generationen Indiens, Chinas, des Orients ein. Sie geben höchstens Orientierungspunkte für die künstlerischen Eliten jener Länder: Was ist zu tun, um sich ins westliche Kunstsystem einzugliedern? Unsere Kunst spielt in vergoldeten Nischen.

Man kann das so wollen. Die Abneigung der westlichen Kulturdenker gegen die Kulturindustrie haben Max Horkheimer und Theodor W. Adorno am schärfsten vermittelt. Der Widerwille selbst rührt aus dem Interesse, die eigene Autorität nicht preiszugeben. Man könnte aber auch wollen, dass europäische Kultur die Welt mitgestaltet, wie sie das mit der Klassik einmal tat. Politiker und Kulturverwalter fummeln deshalb überall am Begriff der Kulturindustrie herum. Das ist ein erstes Zeichen des Wandels. Zu befürchten ist bloß, dass sie Kulturindustrie wie Kunsthandwerk sehen, also beschaulich und hilfsbedürftig, und dass ihnen der Mut fehlt, gegen den herrschenden Kunstbegriff zu handeln. Eine Kulturindustrie, welche den Namen verdient, würde sich nach außen öffnen und in Produkten denken, welche sich verkaufen mit Blick auf kulturelle Vielfalt und fremde Kontexte. Sie beschäftigte viele Menschen, sie wäre, da hoch kompetitiv, evolutiv. Europa, vor allem dem deutschsprachigen Europa, aber fehlen dazu Wissen und Wille.

Eine Elite für alle

Der sogenannten neuen Kulturpolitik ging es um das bekannte bürgerliche Anliegen, den Menschen zu formen, ihn ästhetisch zu erziehen, in ihm das wahre Bewusstsein heranzubilden. Eine wirkliche Demokratisierung der Kultur, die notwendig eine »Vermassung« gewesen wäre, konnte bei der Skepsis gegen Massenkultur, die die Ingenieure der »neuen Kulturpolitik« leitete, nicht gewollt sein. Dafür rückte Kultur auf der politischen Agenda der achtziger Jahre als Medium der sozialen Formierung ganz nach oben. Auch gelang es den neuen Kulturpolitikern, Kunst von der konservativen Gesinnungsästhetik loszumachen. Allenthalben wurde ihre Freiheit in den Verfassungen festgeschrieben; jetzt ging es nur noch um künstlerische Qualität. Die aber zeichnete sich erstmals durch eine kritische Haltung aus und durch ästhetische Experimente, wobei das eine das andere ersetzen konnte. Die trug dazu bei, dass der öffentliche Kulturbetrieb sich rasch von den vielen entfernte. Galt Soziokultur in den Achtzigern als Einstiegsdroge in die Hochkultur, so wurde sie in der Schweiz, während sich das Kulturschaffen professionalisierte, binnen eines Jahrzehnts als Kulturwaise in die Sozialbehörden abgeschoben. Und in Deutschland und Österreich weiß niemand so recht, wohin mit der Soziokultur und vor allem, in welchen Strukturen sie – wenn überhaupt – künftig gefördert werden soll. Das Interesse der jüngeren Generation an den subventionierten Angeboten der Hochkultur, das wissen wir aus den Nutzerstatistiken, wollte nach den unruhigen Jahren nicht wachsen.

Es war der Qualitätsbegriff, der die Öffnung des Kulturbetriebs hin zu neuen Schichten torpedierte. Beispielhaft illustriert das der Zürcher Germanistenstreit. 1966 erhielt Emil Staiger, von 1943 bis 1976 Professor für Literatur an der dortigen Universität, den Literaturpreis der Stadt Zürich. In seiner Dankesrede verdammte er die zeitgenössische Literatur pauschal als Gesinnungsliteratur, in der es von »Psychopathen und Scheußlichkeiten großen Stils« wimmle und der jede Verbindung zu den sittlichen Grundbegriffen abhandengekommen sei. Eine Literatur, die keine Kunst mehr sei, weil sie die Verbindung zu den ewigen Werten gekappt habe.

Staiger provozierte harte Repliken von Hugo Leber (»Ich bekenne: Ich fand Gefallen an Kloakendichtern«5), Werner Wollenberger und Max Frisch. Sie beschuldigten Staiger, eine ganze Generation von Schriftstellern pauschal zu denunzieren, und unterstellten ihm Weltfremdheit. Der Streit ging um Qualität: Was ist gute Literatur? Staiger verlor. Die neue Literatur schrieb im Lichte eines politischen Erkenntnisinteresses. Qualität besaß, was einer neuen, antiausbeuterischen Moral Vorschub leistete. Kultur und ihre Förderung klinkten sich in die Agenda des Umsturzes ein.

5Tages-Anzeiger vom 21.12.1966.

Der Germanistenstreit war nur die erste von mehreren Metamorphosen des Qualitätsbegriffs. Zuerst hatte über künstlerische Qualität verfügt, was sich in den bürgerlich-humanistischen Kanon einreihen ließ. Seit den siebziger Jahren verfügte über Qualität, was sich als gesellschaftskritisch gebärdete. Die Weltrevolution eroberte die Bühnen. Aus der politischen Revolution löste sich die ästhetische heraus. In den achtziger Jahren – das Publikum war der Politisiererei auf den Bühnen müde – manifestierte sich Qualität als Destruktion der gestrigen Kunstprinzipien, deutlich erkennbar im Free Jazz, im Punk, in der Malerei und in der Neuen Musik. Man müsse die Tempel der Vergangenheit erst einreißen, um neu bauen und eine neue volksverbundene Kunst feiern zu können, lautete das Dogma. Die Zukunft war also unterfüttert mit heftiger Zurückweisung der künstlerischen Vergangenheit. Da die Vergangenheit aber heute beginnt, ergab sich aus dieser Aporie, die eine Überwindung jeder Norm als die einzige Norm anerkannte, eine unglaubliche Beschleunigung. Die Kunst aus dem Augenblick neu zu erfinden gilt seither als höchste der Leistungen, sowohl im institutionellen wie im unabhängigen Bereich. Wie können die Meister der Gegenwart anerkannt werden, wenn jeder Lehrling von Anfang behaupten darf und muss, ein Meister zu sein, will er ernst genommen werden? Lernen von anderen – das war gestern. Fertigkeit ist out, dass Kunst etwas mit Können, mit Handwerk zu tun haben könnte, gehört zur Staiger-Ära. Kunst der Gegenwart ist Schöpfung aus dem Moment, aus dem Zufall, aus sich selbst. Wer sich in eine Tradition einreiht, hat schon verloren. Das Prinzip der vagen Assoziation ist das Leitmotiv neuen Schaffens geworden. Es gestattet dem Besucher umgekehrt beliebige Interpretationsspiele. Und enthebt den Künstler wiederum der Notwendigkeit, seine eigene Geschichte zu reflektieren. Das Glück des Schaffens wie das Glück des Erlebens ist dem Individuum alleine überantwortet, also privatisiert. Das ist in jeder Hinsicht postmodern. Jeder, ob Künstler oder Konsument, ist der Angelpunkt seiner ästhetischen Welt.

Solche Atomisierung des Schöpfungs- wie des Rezeptionsprozesses, die auch mit kultureller Bildung und Kulturvermittlung nicht aufzuholen sein wird, lässt einen merkwürdig leeren Begriff von Qualität zurück. Je schwerer er zu fassen ist, umso fleißiger wird er von Kulturförderern gebraucht, den Kindern jener Umwertung. Wo die Väter noch eine klare Idee hatten, was sie mit Qualität meinten (ewige, aus der nacherfundenen Antike abgeleitete Werte, kondensiert im Kanon), entwickelte sich der Begriff im Zuge der Demokratisierung zu einem Instrument situativen Ein- und Ausschlusses, der im Zeichen von zeitgemäßer Toleranz, von zeitgemäßem Dialog und global manifester Vielfalt keine Inhalte und keine Verfahren mehr beschreibt. »Künstlerische Qualität«, von praktisch allen Fördereinrichtungen als selbstverständliches Kriterium gesetzt, ist zum genialen Instrument geworden, um eigene Interessen zu verteidigen. Die neue Generation, welche sich im System festgesetzt hat, verteidigt ihre Position ebenso zäh, wie damals die Väter es gegen die nachstoßende Jugend getan hatten. Ihr Erfolg beruht wesentlich auf dieser Unbestimmtheit des Qualitätsbegriffs, der fruchtbaren Kombination von Konsens über das allgemeine Erfordernis und seiner substanziellen Leere. Qualität wird heute selbstreferentiell definiert. Jedes Projekt evoziert eigene Kriterien. Damit verfügt der Begriff über maximale Schärfe – er ist hermetisch – und maximale Unschärfe – er ist beliebig – zugleich. Das macht ihn so brauchbar als ideologische Keule. Deshalb ist es so interessant, in Jurys zu sitzen; endlich kriegt man die Keule in die Hand.

Die Spaltung der Welt in geförderte Kunst und nicht geförderte Nicht-Kunst ergibt sich daraus, dass die Kunst aus dem Kanon befreit wurde. Jedes Konzept findet seine Anhänger. In einer Kulturwelt, die dem Erfolg am Markt misstraut, ist die Größe der Anhängerschaft unbedeutend. Wo keine Autorität mehr sein darf und kommerzieller Erfolg unstatthaft ist, ist jeder Gestus gleichberechtigt. Der Gestus der Kunstwilligkeit allein muss gefördert werden. Förderung adelt ihn zur Glücksoption für alle.

In der Freiheit der Kunst, die zum Schutz vor totalitärer Vereinnahmung in den Verfassungen verankert wurde, findet die mäzenatische Haltung der europäischen Demokratien ihren höchsten Ausdruck. Der damit verbundene Kult der Freiheit – alles ist legitim – hat allerdings seinen Preis: Er führt dazu, sagte Thomas Steinfeld in einer mit »Das Exzentrische ist der Feind des Exzellenten« betitelten Rede anlässlich des Forums Kultur und Ökonomie 2008 in Bern, »dass die Zurückweisung von Norm und Regel zu Norm und Regel wird, er hat eine Kultur zur Folge, die gleichermaßen subversiv wie akademisch, ebenso rebellisch wie angepasst ist«. Die Auflösung der Maßstäbe führt zum Orientierungsverlust, es beginnt – moderiert durch ein System von Kommissionen – die stille Herrschaft der Willkür.

Weil wir es fördern, ist etwas gut. Das ist der clevere Ausweg aus dem Dilemma der Postmoderne. Dass Förderentscheidungen immer häufiger als willkürlich und weltfremd erscheinen, ist der Preis der Freiheit. Über Qualität kann niemand mehr richten. Nochmals Steinfeld: »Denn die Kulturförderung eines modernen, westlichen Staates ist formal – sie kennt kaum inhaltliche Kriterien, und sie darf auch keine kennen. Sie weigert sich, und sie muss sich weigern, gut und schlecht, wichtig und unwichtig, wahr und falsch zu unterscheiden. Nur so glaubt sie, und nur so vermag sie zu glauben, die Kulturförderung einer offenen Gesellschaft sein zu können.« Deshalb privilegiert die Kulturförderung der Postmoderne das Exzentrische, das Originelle, das dezidiert Individuelle, welches nach Subversion riecht, durch seine Kompatibilität zur Förderung aber eine Herrschaftsform ist, die verhindern will, dass »irgendwo ein auf allgemeine Befürwortung zielender Stil« entsteht. Kulturförderung tut sich trotz aller Bekenntnisse zur Partizipation schwer mit der Kunst der Massen, mit der Popkultur, mit dem Erfolg. Sie kann die Ekstase, eine Form kollektiven Glücks, nicht umarmen. Sie fördert stattdessen ausschließlich privates Schaffen und innerliches Erleben. Sie ist in ihrem Wesen pietistisch.

Nicht alle sind von Natur aus so brav. In Das Bildnis des Dorian Gray lässt Oscar Wilde Lord Henry sagen: »Das Verbrechen gehört ganz und gar den untern Klassen. Ich tadle sie nicht im Geringsten. Ich sollte meinen, das Verbrechen sei ihnen, was uns die Kunst ist, einfach eine Art, sich außergewöhnliche Empfindungen zu verschaffen.«6

6 Wilde, Oscar: Das Bildnis des Dorian Gray, Frankfurt a. M. 1972, S. 270.

Oscar Wilde offenbart uns en passant das Geheimnis, warum der Film als einziges Medium in allen Gesellschaftsschichten populär ist: Weil sich im Kino niederes Verbrechen und hohe Kunst treffen. Doch bleiben wir bei jenen höheren Ständen, die Wilde mit »uns« meinte. Sie bestimmen noch immer das Kulturleben, häufig genug auch die Kulturpolitik. Von 221 Stiftungsräten, welche die staatliche Schweizer Kulturstiftung Pro Helvetia von 1939 bis 2009 leiteten, hatten 80 Prozent einen universitären Abschluss, der Anteil jener mit akademischem Lehrberuf betrug im Schnitt 40 Prozent. Das bäuerliche Milieu war nie vertreten, obwohl die Stiftung in der Gründungsphase beauftragt war, die auf der bäuerlichen Ikonografie aufbauende traditionelle Schweizer Kultur zu pflegen. Auch in der Jury der deutschen Bundeskulturstiftung sitzen nur eingeschworene Profis des Kulturbetriebs, die aus Haushalten mit hohem Bildungshintergrund stammen, genauso wie in der Kulturverwaltung. Die »neue Kulturpolitik« sah die Demokratisierung als Last der Konsumenten, nicht der Anbieter und Entscheider. Die bleiben bis heute unter sich. Der Norm unterwerfen mussten sich immer die anderen.

Man kann Oscar Wilde auch so verstehen, dass die »Erlebnisgesellschaft« (Gerhard Schulze) keine Erfindung der Neunziger und schon gar keine der Soziologie ist, sondern immer schon existierte. Nach außerordentlichen Erlebnissen streben alle Klassen, elitäre wie proletarische. Doch die herrschende Klasse (die vor 1968 und die danach gleichermaßen) wäre nicht die herrschende, würde sie nicht ihre Erlebniswelt als höherwertig einstufen und daraus ein kulturelles Programm ableiten, das ihre eigenen Interessen schützt. Interesseloses Wohlgefallen, Ergriffenheit oder, in der Begrifflichkeit von Gerhard Schulze, »Selbsttranszendenz«7 ist kein Zustand, sondern eine Leistung an Selbstzähmung, die man erbringen wollen muss, wenn man zur kulturellen Elite gehören will. Dies ist mit den Vorteilen höheren Ansehens und interessanten Kontakten verbunden.

7 Schulze, Gerhard: »Das Dilemma zwischen Kunst und Kanalisation«, Passagen, Kulturmagazin von Pro Helvetia, Nr. 53/2010, S. 19.

Selbstdomestikation ist eine mit sozialem Aufstieg honorierte Leistung, welche uns die Hochkultur abfordert. Sie steht – hier wird eine ideologische Untermauerung der Spaltung zwischen E als ernster und U als Unterhaltungskultur sichtbar – im Gegensatz zur leistungsfreien Ekstase der Popkultur. Es kann kein Zufall sein, dass in Zeiten, wo die Selbsttranszendenz vor allem bei jungen Menschen aus der Mode kommt, das medizinische Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom so populär wird. Der Unwille, sich der Domestikation zu unterwerfen, muss medizinisch begründet sein, er kann nicht in der Schwäche des kulturellen Konzeptes selbst liegen.

Die Aussicht, für erwünschtes Verhalten sozial belohnt zu werden, führt zu den vom amerikanischen Philosophen Harry Frankfurt beschriebenen Wünschen zweiter Ordnung: Wenn man so sein will wie die Erfolgreichen, imitiert man deren Tun. Man geht in die Oper, um so zu erscheinen wie jene, die sich mit der Oper auskennen. Man geht ins Museum, weil es zum guten Ton gehört, egal, was man daraus mitnimmt. Es gehört zu den Gewissheiten der Soziologie, dass diese »Second Order Desires« das kulturelle Verhalten stark bestimmen. Der Kunsthistoriker Beat Wyss haut in dieselbe Kerbe: »Ich glaube … in der Tat, dass das Hauptinteresse des Publikums beim Auch-dabei-gewesen-Sein liegt … Kunstobjekte funktionieren wie Reliquien. Man sucht eine magische Nähe.«8 Die Magie entsteht aus der kumulierten Nähe, nicht aus dem Kunstwerk. Wie in Santiago de Compostela, so im Louvre.

8 »Platzt der Kunst das Herz? Interview mit Beat Wyss«, Tages-Anzeiger,Das Magazin, Nr. 1, 5.1.2008.

Der bürgerlichen Selbstzähmung gegenüber steht die Ekstase. Sie ist das Markenzeichen der Massenkultur. Alle Kulturpolitik dient dazu, die Ekstase zu bremsen und in »interesseloses« Wohlgefallen zu überführen. Allen Bürgerinnen und Bürgern den Zugang zur spirituellen Gefühlswelt zu ebnen war das kulturpolitische Programm der kritischen Demokratie. Dieses sah einen zivilisierenden Eingriff am lebendigen Objekt vor. Der empfindsame Bürger ist dem ekstatischen Pöbel überlegen. Ein Übermaß an Emotion weckt seit Theodor W. Adorno den Verdacht auf Manipulation. Tränen und Gelächter sind angesichts einer erstarkten Unterhaltungsindustrie, die sie als Versprechen ausbeutet, die Gegner der Aufklärung. Der wahre Citoyen ist ein Citoyen, der sein Innenleben kontrolliert. Er kennt nur noch die Ergriffenheit. So ausgeliefert erholt er sich. Das ist die große zivilisatorische Leistung der bürgerlichen Kultur. Dieses Kulturverständnis geht bestens mit der protestantischen Ethik einher. Die Katholiken gönnen sich mit dem Karneval eine Möglichkeit zur Ekstase, wenigstens einmal pro Jahr eine Woche Auslauf. Die restlichen 51 Wochen sind sie Bürger wie die Protestanten auch. Immerhin gibt es die kleine Flucht ins Fußballstadion.

Die Ausgrenzung der »Unkultur«