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Gewaltakteure unterschiedlicher Schattierung spielen eine zentrale Rolle in Krisen und Kriegen. Ein besonderer Typus sind dabei Milizen, die für die Verteidigung eines politischen Status quo eintreten und die in ein Geflecht aus staatlichen und gesellschaftlichen Akteuren eingebunden sind. Dieser Band handelt vom "langen Schatten", den solche Milizen auf ihre Gesellschaften werfen. Analysiert werden Entstehung, Entwicklung und Langlebigkeit von Milizgewalt sowie deren Folgen am Beispiel der kolumbianischen Paramilitärs und der kurdisch-irakischen Peschmerga.
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Seitenzahl: 478
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Ulrich Schneckener, Christoph König, Sandra Wienand
Der lange Schatten der Miliz
Zur Persistenz von Gewalt in Kolumbien und Kurdistan-Irak
Campus Verlag
Frankfurt / New York
Über das Buch
Gewaltakteure unterschiedlicher Schattierung spielen eine zentrale Rolle in aktuellen Krisen und Kriegen. Ein besonderer Typus sind dabei Milizen, die für die Verteidigung eines politischen Status quo eintreten und die in ein Geflecht aus staatlichen und gesellschaftlichen Akteuren eingebunden sind. Dieser Band handelt vom »langen Schatten«, den solche Milizen auf ihre Gesellschaften werfen. Analysiert werden die Entstehung, die Entwicklung und die Langlebigkeit von Milizgewalt sowie deren Folgen für Politik und Gesellschaft – am Beispiel der kolumbianischen Paramilitärs und der kurdisch-irakischen Peschmerga.
Vita
Ulrich Schneckener ist Professor für Internationale Beziehungen & Friedens- und Konfliktforschung an der Universität Osnabrück und leitete das DFG-Projekt Security Governance durch Milizen.
Christoph J. König (Dipl.-Pol.) war bis 2017 wissenschaftlicher Mitarbeiter in dem DFG-Projekt.
Sandra Wienand (M. A.) ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Sozialwissenschaften der Universität Osnabrück und war bis 2017 in dem DFG-Projekt beschäftigt.
Vorwort
IDie Rolle von Milizgewalt in Kriegen und fragilen Staaten
1.Einleitung
2.Idee und historische Entwicklung des Milizwesens
3.Stand der Forschung
4.Zur Untersuchung von Milizgewalt
4.1Konfliktkonstellationen und Formen
4.2Zum Verhältnis von Miliz, Staat und Gesellschaft
4.3Fallauswahl und methodische Vorgehensweise
IIParamilitärische Verbände in Kolumbien
1.Entstehung und Entwicklung: Von der Aufstandsbekämpfung zur Sicherung der Drogenökonomie
1.1Einleitung
1.2Entstehungskontext des Paramilitarismo
1.2.1Erste Phase: Legalisierung von Selbstverteidigungsgruppen in den 1960er und 1970er Jahren
1.2.2Zweite Phase: Expansion und Ökonomisierung von Milizen in den 1980er Jahren
1.2.3Dritte Phase: Zentralisierung und Demobilisierung der Paramilitärs – die Autodefensas Unidas de Colombia (1994–2006)
1.2.4Vierte Phase: Post-Demobilisierung und Nachfolgeorganisationen des AUC
2.Milizgewalt und (Un-)Sicherheit durch den AUC
2.1Charakterisierung der Milizgewalt
2.2Dynamiken der Milizgewalt des AUC
2.3Sicherheit durch Milizen?
2.3.1Das Sicherheitsversprechen der Paramilitärs
2.3.2Lokale (Un-)Sicherheitsproduktion durch Paramilitärs
3.Paramilitärisch-kriminelle Konsolidierung und Langzeitwirkungen der Milizgewalt
3.1Die Persistenz von Milizgewalt
3.1.1Die Konsolidierung von Milizgewalt: Das Beispiel Los Urabeños
3.1.2Milizgewalt im urbanen Kontext: Das Beispiel Medellín
3.1.3Milizgewalt im Kontext von Landkonflikten: »Hot Spots« Antioquia und Cauca
3.2Folgen für Staat und Gesellschaft
4.Zusammenfassung und Fazit
IIIPeschmerga-Verbände in Kurdistan-Irak
1.Entstehung und Entwicklung: Gegen Unterdrücker und Rivalen
1.1Zur Charakterisierung des Phänomens Peschmerga
1.2Politischer Pluralismus: Kurdische Parteien im Überblick
1.3Ursprünge: Gründung der KDP und Entwicklungen bis 1958
1.4Entwicklung der Peschmerga im Irak
1.4.1Erste Phase 1958–1975: Entwicklung der KDP und ihrer Peschmerga bis zum Abkommen von Algier
1.4.2Zweite Phase 1975–1991: Fraktionierung und Fortsetzung des bewaffneten Kampfs gegen das Baath-Regime
1.4.3Dritte Phase 1991–2003: De-facto-Autonomie und der innerkurdische Krieg
1.4.4Vierte Phase 2003–2016: Die Peschmerga nach dem Sturz von Saddam
2.Milizgewalt und (Un-)Sicherheit in der Region Kurdistan ab 1991
2.1Zur Gewalt der Parteimilizen im innerkurdischen Krieg
2.2Dynamiken der Milizgewalt
2.3Sicherheit durch Parteimilizen?
2.3.1Sicherheit in der de facto autonomen Region Kurdistan 1991 bis 2003
2.3.2Sicherheit in der Region Kurdistan seit dem Sturz des Saddam-Regimes 2003
3.Persistenz der Milizgewalt und ihre Langzeitwirkungen
3.1Persistenz trotz Transformation: Kontrollstrukturen im Sicherheitsapparat der KRG
3.2Politik und Gewalt im »Quasi-Staat« Kurdistan-Irak
4.Zusammenfassung und Fazit
IVVergleichende Auswertung der Fallstudien
1.Die Entwicklungspfade von Paramilitärs und Peschmerga
2.Milizgewalt, (Un-)Sicherheit und Kontrolle
3.Gründe und Folgen der Persistenz von Milizgewalt
VFazit und Ausblick: Wie umgehen mit Milizgewalt?
Tabellen
Abbildungen
Interviews
IFallstudie Paramilitärs (Kolumbien)
IIFallstudie Perschmerga (Kurdistan-Irak)
Literatur
Gewaltakteure der unterschiedlichsten Schattierung spielen eine zentrale Rolle in den aktuellen Krisen und Kriegen. Die Bandbreite reicht dabei von Aufständischen, Rebellenorganisationen und terroristischen Akteuren über Warlords und Söldnern bis hin zu kriminellen Banden und privaten Sicherheitsdiensten – sowie eben Milizen. Dieser Akteurstyp, der für die Verteidigung eines politischen Status quo steht, und seine spezifische Gewaltstrategie stehen im Mittelpunkt der vorliegenden Studie. Sie handelt vom »langen Schatten«, den Milizen auf ihre Gesellschaften werfen; sie analysiert die Entstehung, die Entwicklung und die Persistenz von Milizgewalt sowie deren strukturbildende Folgen für Staat und Gesellschaft – am Beispiel zweier Fälle.
Dieses Buch ist das Ergebnis eines mehrjährigen Forschungsprozesses und entstand im Rahmen eines von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) geförderten Projektes zur Rolle von Milizen in Kriegen und fragilen Staaten, das wir von Oktober 2012 bis Juni 2017 durchführten. Der Band wird von uns gemeinsam verantwortet, die Konzeption wurde gemeinsam entwickelt, alle Kapitel wurden wechselseitig gelesen, kommentiert und überarbeitet. Dennoch gibt es für die einzelnen Teile hauptverantwortliche Autor*innen: Ulrich Schneckener verfasste die Einleitungs- und Schlusskapitel I, IV und V, während Sandra Wienand (Kapitel II) und Christoph König (Kapitel III) für die beiden vertieften Fallstudien zu den Paramilitärs in Kolumbien und den Peschmerga in Kurdistan-Irak verantwortlich sind.
Ein solches Unterfangen, das nicht zuletzt eine Reihe von Feldaufenthalten erforderte, wäre nicht möglich ohne die konstruktive Begleitung und Unterstützung durch zahlreiche Personen, denen wir zu großem Dank verpflichtet sind. Das Projektteam bedankt sich insbesondere bei Stiven Tremaria für seine langjährige Mitwirkung als wissenschaftliche Hilfskraft, die u. a. einen eigenständigen Feldaufenthalt in Medellín umfasste, bei Sven Keller für seine Unterstützung bei der Erstellung von Datensätzen und Karten sowie bei Susanne Hölscher und Johanna Freimuth für ihre Unterstützung bei Korrekturen und der Fertigstellung des Manuskripts. Darüber hinaus erhielt das Projekt wertvolle Hinweise und Impulse von verschiedenen Kolleg*innen sowohl in Deutschland als auch in den beiden Fallregionen. Wir danken daher Günther Maihold, Rainer Dombois, Enzo Nussio, Andrea Fischer-Tahir, Cilja Harders, Salim Hajy und Khoshawe Kamal. Schließlich danken wir herzlich einer Reihe von Personen, die uns maßgeblich bei Übersetzungen (vor allem aus dem Kurdischen) und vor Ort bei der Feldforschung unterstützt haben, die aber aus nachvollziehbaren Gründen nicht namentlich genannt werden wollen.
Abschließend möchten wir den beiden Herausgebern, Klaus Schichte und Peter Waldmann, für die Aufnahme des Bandes in die Reihe »Mikropolitik der Gewalt« danken.
Ulrich Schneckener, Christoph König, Sandra Wienand
Osnabrück, Juli 2018
Ob kolumbianische oder philippinische Paramilitärs, christliche Forces Libanaises, Kamajors in Sierra Leone, sudanesische Janjaweed, peruanische Rondas Campesinas, kurdische Peschmerga oder (überwiegend) schiitische al-Hashed al-Sha’bi im Irak, Abarkees in Afghanistan oder ukrainische Freiwilligenbataillone – so sehr sich diese bewaffneten Gruppierungen in ihrer Genese, Struktur, konkreten Zielsetzungen und der Wahl ihrer Mittel unterscheiden, teilen sie doch einen gemeinsamen Kern. Bei ihnen handelt es sich um Milizformationen, die ihrem Selbstverständnis nach als »Verteidiger« oder »Hüter« einer politischen und sozialen Ordnung auftreten und den Anspruch erheben, diese vor inneren und äußeren »Feinden« zu schützen. Dabei agieren sie, jedenfalls anfangs, im Interesse oder unter Billigung einer Regierung, dominierender Eliten, politischer Parteien, Clans oder anderer gesellschaftlicher Akteure (bspw. Großgrundbesitzer, Kaufleute, einflussreiche Familien).
Je nach Kontext werden Milizen auch als Paramilitärs, Freiwilligenverbände, Schutzbünde, »Civil Defence Forces« oder Bürgerwehren bezeichnet. Bereits die Vielzahl an Titulierungen verweist auf die Vielschichtigkeit des Milizphänomens, das häufig zwischen formal-staatlicher und nicht-staatlicher Gewalt changiert. Oder in den Worten von Blom (2009: 135): »Militia is one of the most ambiguous words in military vocabulary. It veers between two extremes, from a back-up police force that replaces or reinforces a regular army to an illegal formation tasked by a community […] with defending its interests through the use of force.« Darüber hinaus erweist sich der ubiquitäre Gebrauch des Begriffs, wonach nahezu jede bewaffnete Gruppierung in der medialen Darstellung oder umgangssprachlich als Miliz bezeichnet wird, analytisch als wenig hilfreich.1
Zum einen gilt es den Typus Miliz von der staatlichen Gewalt bzw. vom formalen Staatsapparat abzugrenzen, was empirisch mitunter nicht ganz eindeutig ist, zumal dann, wenn – wie bspw. in Kolumbien, Guatemala, auf den Philippinen, in Zimbabwe oder in jüngerer Zeit in der Ukraine – eine materielle und personelle Verzahnung mit staatlichen Sicherheitskräften, der Regierung oder der dominierenden Regierungspartei bestand. Gleichwohl sind Milizen vielerorts nicht nur rein formal und institutionell vom Staatsapparat getrennt, sondern sie verfügen auch über einen gewissen Grad an Handlungsautonomie. Sie folgen einer eigenen Organisationslogik, sie entwickeln entsprechende Interessen und Agenden. Eine Charakterisierung als »proxy warriors« (Ahram 2011a), »pro-regime strongmen« (Alden et al. 2011) oder »pro-government«-Akteure (Carey et al. 2013) greift daher zu kurz und läuft Gefahr, das Eigenleben dieser Gruppierungen und somit die Persistenz von Milizgewalt zu unterschätzen. Zum anderen unterscheiden sich Milizen von anderen Formen nicht-staatlicher Gewalt. Grundlegend ist hierbei die Differenz zu Rebellen oder Aufständischen, die auf einen radikalen Wandel, auf den Sturz eines Regimes oder auf die Abspaltung eines Landesteils (Separatismus) setzen. Kurzum: Rebellische oder aufständische Gewalt zielt auf eine Änderung des politischen Status quo, Milizgewalt hingegen auf die Beibehaltung und Verteidigung einer – wie auch immer – definierten Ordnung. Der Milizionär ist insofern typologisch die Gegenfigur zum Rebellen. Er setzt seine Gewalt explizit gegen jene Akteure und Bevölkerungsgruppen ein, die einen Status quo gefährden oder potenziell gefährden können.2
Auf dieser Basis lassen sich Milizen wie folgt charakterisieren: Bei ihnen handelt es sich um aus der eigenen Bevölkerung rekrutierte, paramilitärisch organisierte und bewaffnete Verbände, die aber nicht institutionell oder formal Teil des staatlichen Sicherheitsapparates sind. Sie agieren vielmehr als Schutz- oder Hilfstruppen jener Status quo-Kräfte einer Gesellschaft, für die Milizgewalt instrumentell zur Absicherung bestimmter Interessen, Privilegien und Ordnungsvorstellungen ist. Diese Kräfte fungieren in der Regel auch als direkte Auftraggeber, Sponsoren oder – allgemeiner formuliert – Stakeholder (Francis 2005: 2) der Milizen. Beide – Stakeholder wie Milizorganisationen – legitimieren Milizgewalt als eine Form der politisch motivierten Gewalt, die für den Schutz und die öffentliche Sicherheit erforderlich sei. Milizen zeichnen sich daher durch »Status-quo-orientierte Gewalt« (Schneckener 2015) bzw. »establishment violence« (Rosenbaum / Sederberg 1974) aus.3
Trotz dieser Merkmale bleibt eine konzeptionelle Ab- und Eingrenzung des Milizphänomens im Einzelfall auch deshalb schwierig, weil Milizen unterschiedlicher Schattierung in ein Geflecht aus staatlichen wie gesellschaftlichen Akteuren eingebunden sind und sich diese Konstellation im Zeitverlauf ändern kann. Milizen und Milizgewalt können demzufolge als ein Ausdruck der grundsätzlich konflikthaften Staat-Gesellschaft-Beziehungen verstanden werden (Migdal 1988: 24–33). Die Existenz von Milizen verweist auf ein bestehendes Misstrauen zwischen dem Staat, verkörpert durch Regierung und Staatsapparat, und (Teilen der) Gesellschaft oder zwischen verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen, die um die Macht im Staat konkurrieren. Sie sind insofern ein Abbild innergesellschaftlicher Konflikte und Trennlinien. Aus konfliktsoziologischer Sicht ist die Bildung von Milizen ein sichtbarer Beleg für eine fortschreitende Spaltung in einer Gesellschaft, bei der die Bevölkerung oder Teile davon aufgefordert werden, sich auf die Seite der Status-quo-Verteidiger zu stellen und einer tatsächlichen oder antizipierten Bedrohung der eigenen »Wir-Gruppe« zu begegnen. Diese Überlegungen bilden den Ausgangspunkt für diese Studie zur Genese und Persistenz von Milizgewalt: In vielen Fällen zeigt sich, dass Milizen nicht nur in unterschiedlichen Konfliktkonstellationen auf den Plan treten, sondern ihre Strukturen und ihre Gewaltpraktiken zumeist über Jahrzehnte fortexistieren. Anders formuliert: Die Milizgewalt bleibt Staat und Gesellschaft oftmals auf lange Sicht erhalten, auch wenn sich ihre Erscheinungsformen sowie die äußeren Umstände wandeln mögen, sogar selbst dann, wenn ihr ursprünglicher Zweck längst entfallen ist.
Das zentrale Argument lautet daher: Die lange Lebensdauer des Milizphänomens hängt zum einen mit der Fortschreibung der dahinter stehenden Konfliktsituationen zusammen, zum anderen aber auch mit der Eigenlogik von Milizgewalt, die nicht nur wiederholt temporäre Gewalt- und Eskalationsspiralen in Gang setzen und halten kann, sondern die sich über Zeit auch als latente Gewalt tief in die gesellschaftlichen Strukturen eingräbt und sich auf politische Prozesse auswirkt. Die Studie will einen Beitrag zum genaueren Verständnis dieser Milizgewalt, ihrer Persistenz und ihrer Konsequenzen leisten. Dazu gilt es erstens die Genese und Entwicklung von Milizformationen eingehender zu untersuchen, zweitens die Funktionsweise und Dynamiken von Milizgewalt besser zu verstehen sowie drittens die Gründe für die Persistenz sowie ihre Folgen für Staat und Gesellschaft herauszuarbeiten. Dafür wurden zwei Fälle ausgewählt, die als paradigmatisch gelten können: die paramilitärischen Verbände in Kolumbien sowie die kurdischen Peschmerga im Nordirak. An beiden Fällen lässt sich nicht nur der Einsatz von Milizen zu unterschiedlichen Zwecken darstellen, sondern auch die Persistenz von Milizgewalt auf verschiedenen Pfaden verfolgen, die jeweils andere Konsequenzen für die kolumbianische bzw. kurdische Gesellschaft haben. Während im kolumbianischen Fall diverse Mutationen von Milizformationen beobachtet werden können, zeichnet sich der irakisch-kurdische Fall – ungeachtet aller Kriege und Wandlungen – durch eine bemerkenswerte Kontinuität aus. Beide Konstellationen führen aber im Ergebnis zu einem langen Schatten der Milizen, der bis in die Gegenwart reicht.
Der Rückgriff auf Milizen zur »Verteidigung« und zum »Schutz« von Regierungen, Territorien, Bevölkerungsgruppen oder spezifischen Interessen ist kein neuartiges Phänomen, sondern stellte zu allen Zeiten eine Strategie von Herrschenden oder dominierenden gesellschaftlichen Kräften dar. In der historischen militärstrategischen Literatur wurden dem Milizkonzept unterschiedliche Funktionen zugeschrieben: Es diente als Alternative zum Söldnerwesen, als Ersatz für ein stehendes Heer oder als Unterstützung für eine reguläre Armee. Für die erste Variante steht Niccolò Machiavelli (1469–1527), für die zweite Alexander Hamilton (1755 / 7–1804) und für die dritte Carl von Clausewitz (1780–1831).
Machiavelli wandte sich vehement gegen die Söldnertruppen (Condottieri) des 14. / 15. Jahrhunderts, die zum Schutz der oberitalienischen Städterepubliken angeheuert und bezahlt wurden. Stattdessen empfahl er die Aufstellung von Bürgermilizen. Söldner hingegen seien nicht nur teurer und führten zu wiederholten Steuererhöhungen, sondern sie seien für die Regierenden nach innen wie nach außen kontraproduktiv. In »Il Principe« (Kap. XII) brachte Machiavelli seine Kritik auf den Punkt: »Die Söldner und die Hilfstruppen sind unnütz und gefährlich, und wer seine Macht auf angeworbene Truppen stützt, der wird nie fest und sicher dastehen« (Machiavelli 1990: 64–65). Und weiter: »Söldnerführer sind entweder hervorragende Männer oder nicht. Sind sie es, so ist kein Verlass auf sie, weil sie stets nach eigener Größe trachten, indem sie entweder dich, ihren Kriegsherrn, oder andere gegen deinen Willen unterdrücken. Ist aber der Feldhauptmann untüchtig, so bereitet er seinem Kriegsherrn meist den Untergang« (ebd.: 65). Er plädierte daher für die Einführung von »gens d’armes« nach französischem Vorbild. Als Chef der Florentiner Militärbehörde erhielt Machiavelli die Gelegenheit, seine Überlegungen in die Tat umzusetzen und eine Miliz (ab 1506), bestehend aus Bauern und Bürgern, aufzubauen. Zwar gab es anfänglich militärische Erfolge (1508 Wiedereingliederung der von Florenz abtrünnigen Stadt Pisa), jedoch misstraute die regierende Oberschicht grundsätzlich der Bewaffnung von Einwohnern aus den unteren Schichten. Daher wurden nur bestimmte Teile der Bürgerschaft ausgerüstet und gleichzeitig basierte die Führung der Miliz auf einem Rotationsprinzip (Münkler 1984: 381–394). Nach einigen Misserfolgen wurde Machiavellis Miliz 1512 wieder aufgelöst und Florenz kehrte zum Söldnerwesen zurück.
Hamilton hielt eine »well-regulated militia« für die »natürlichste Form« der Verteidigung eines freien Landes. In seinem Artikel »Concerning the militia« (Federalist Papers no. 29, 1788) zog er eine solche Formation einer stehenden Berufsarmee vor, die er – wie die meisten Gründerväter der USA – für eine potenzielle Bedrohung der neu gewonnenen Freiheit hielt. Sein Hauptanliegen bestand allerdings darin, dafür zu werben, dass die neue Union eine eigene Miliz (»a select corps of moderate extent«) aufbauen, unterhalten und ausrüsten dürfe, um Bundesgesetze vollziehen und die Landesverteidigung gewährleisten zu können. Um dabei Kontrolle und Mitsprache der Bundesstaaten zu garantieren, sollten diese für die Auswahl der Offiziere und – auf der Grundlage gemeinsamer Standards – für die Ausbildung zuständig bleiben. Ferner sollten die etablierten einzelstaatlichen Milizverbände dazu verpflichtet werden, sich im Falle von inneren Unruhen oder einer Invasion von außen gegenseitigen Beistand zu leisten. Die Milizkonzeption resultierte aus den Erfahrungen der weißen nordamerikanischen Siedler, die sich traditionell zur Selbstverteidigung bewaffneten. Zudem durften lokale Autoritäten (Sheriffs) einfache Bürger zur Durchsetzung von Recht und Gesetz rekrutieren. Vielerorts hatte sich die Praxis der sogenannten »minutemen« etabliert, die innerhalb kürzester Zeit abrufbar waren, um eine Siedlung vor Übergriffen zu schützen oder um Kriminelle zu verfolgen. Hamiltons Sichtweise, die auf einen Mittelweg zwischen Zentralisierung und Professionalisierung von Milizen einerseits und dem angestammten Recht auf Bewaffnung andererseits hinauslief, schlug sich später im 2. Zusatzartikel der amerikanischen Verfassung (1791) nieder, in dem es heißt: »A well regulated militia being necessary to the security of a free State, the right of the People to keep and bear arms shall not be infringed.«4
Für Clausewitz war hingegen die »Volksbewaffnung« eine zusätzliche Option, um ein reguläres Heer gegen einen externen Feind zu unterstützen. In seiner Schrift »Vom Kriege« (Kap. XIX) sprach er von der »Volksbewaffnung« als »letztes Hilfsmittel nach verlorener Schlacht oder als ein natürlicher Beistand, ehe eine entscheidende Schlacht beliefert wird« (Clausewitz 2003: 284). Er verwies auf das Beispiel Preußens, das 1813 im Kontext der anti-napoleonischen »Befreiungskriege« seine Streitkräfte durch die Aufstellung von Milizen als Hilfstruppen versechsfacht habe. Dabei wurde zwischen Einheiten der Landwehr (Edikt vom 17.3.1813) und des Landsturms (Edikt vom 21.4.1813) unterschieden (Daase / Davis 2015: 195–204): Während die Landwehr – bestehend aus Freiwilligen im Alter von 17 bis 40 Jahren – der Armee mehr oder minder gleichgestellt wurde, war der Landsturm so etwas wie das letzte Aufgebot, das aber durch die dezentrale, weniger hierarchische Organisation, die leichte Bewaffnung und die lokale Verankerung stärker den Charakter einer Miliz hatte. Die nur mäßig trainierte Landbevölkerung sollte weniger in der direkten militärischen Konfrontation eingesetzt werden als vielmehr dem Schutz der Gemeinden und Bezirke dienen. Clausewitz mahnte zwar ein Zusammenwirken der »bewaffneten Volkshaufen« mit dem Militär an, wies aber auf die taktischen Nachteile der Miliz hin: »Der Charakter eines Landsturmgefechtes ist der aller Gefechte mit schlechteren Truppenmassen: eine große Gewalt und Hitze im Anlauf, aber wenig kaltes Blut und wenig Nachhall in der Dauer« (Clausewitz 2003: 283).
Aus diesen Versionen lassen sich wesentliche Elemente des Milizverständnisses herausfiltern, auch wenn sich die jeweiligen Organisationsformen im Detail unterschieden: Bei allen drei Varianten handelt es sich im Kern um bewaffnete, geschulte Zivilisten, die neben ihrer sonstigen zivilen Tätigkeit einer paramilitärisch organisierten Miliz angehören und zu bestimmten Zwecken in Aktion treten, um eine bestehende Ordnung zu schützen, sei es in Friedens- oder Kriegszeiten. Diese Einheiten aus Freiwilligen unterstehen dabei direkt der jeweiligen Obrigkeit; Einsatz, Rekrutierung, Ausrüstung und Ausbildung werden entsprechend durch Erlasse oder Gesetze reguliert. Diese Konzeption bezeichnete Francis (2005: 2) als »first generation understanding« von Milizen: »[T]hey are trained as soldiers, but not part of a regular army, and are regarded as a supplementary force or reserve army, organized by the state or government.« Ausgehend von dieser Grundidee wurden Milizen im Laufe der Zeit in sehr unterschiedlichen Kontexten aufgestellt, wobei sie verstärkt als ein Instrument in innergesellschaftlichen Machtkämpfen und zur Absicherung einer Ordnung nach innen begriffen wurden. Verbunden war diese Tendenz mit einer Ausweitung des Aufgabenspektrums und der wachsenden Zahl interessierter Stakeholder. Laut Francis (2005: 2–3) sind dies Indikatoren für Milzen einer »zweiten Generation«. Insbesondere in Folge des Ersten Weltkrieges und des Zerfalls der multi-nationalen Reiche der Habsburger, Osmanen und Romanovs kam es in Ost- und Südeuropa zu einer Vielzahl von paramilitärischen Gewaltakteuren, die zwischen 1917 / 18 und 1923 an Bürger- und Unabhängigkeitskriegen, Revolutionen und Gegenrevolutionen sowie an Pogromen und Massenvertreibungen, nicht zuletzt im Zuge von Grenzverschiebungen und der Bildung neuer Staaten, beteiligt war (Gerwarth / Horne 2013). Dazu gehörten anti-revolutionäre Kräfte wie russische Weißgardisten oder deutsche Freikorps (bestehend aus demobilisierten Soldaten und Offizieren) ebenso wie ukrainische Bauern- und Kosakenmilizen, italienische Veteranenverbände (Arditi) oder paramilitärische Gruppierungen, die im griechisch-türkischen Krieg (1919–22) auf beiden Seiten die regulären Streitkräfte verstärkten und für ethnische Säuberungen mitverantwortlich waren.
Als geradezu paradigmatisch für die Entwicklung unterschiedlicher Milizprofile können zwei andere Fälle aus dieser Zeitperiode gelten: Das erste Beispiel sind die sogenannten »Black and Tans«, die im irischen Unabhängigkeitskrieg (1919–21) zur Unterstützung der Royal Irish Constabulary und der pro-unionistischen Ulster-Miliz (Ulster Volunteer Force, gegründet 1913) aufgestellt wurden, um die Union mit Großbritannien zu verteidigen. Diese Truppe, benannt nach den Farben ihrer Dienstkleidung (eine Mischung aus Armee- und Polizeiuniformen), rekrutierte sich aus ehemaligen britischen Soldaten (rund 9000 Mann); daneben bestand noch eine Auxiliary Division aus Ex-Offizieren. Beide Verbände sollten para-polizeiliche und para-militärische Aufgaben übernehmen, um den Guerillakampf der irisch-nationalen IRA zu unterbinden. Gleichzeitig vermied damit die britische Regierung, mit regulären Truppen direkt in den Konflikt zu intervenieren. Im Zuge der gewaltsamen Eskalation erwiesen sich die Milizeinheiten jedoch als kontraproduktiv, da sie zunehmend für Folter, Mord, willkürliche Verhaftungen oder das Niederbrennen von Häusern verantwortlich und zudem in kriminelle Machenschaften verstrickt waren (Dolan 2013).
Das zweite Beispiel betrifft die 1919 gegründeten Kampfverbände Fasci italiani di cambattimento (auch als squadristi oder »Schwarzhemden« bekannt), die mit massiver Gewalt gegen konkurrierende italienische Parteien vorgingen, nicht zuletzt im Kontext von Wahlkämpfen und Wahlen. Die faschistische Bewegung, seit 1921 als Partito Nazionale Fascista aktiv, verstand sich von Beginn an als ein bewaffneter Akteur, weshalb Gentile (2013) von einer »Milizpartei« spricht. Im Parteiprogramm wurde die »untrennbare Einheit mit den Kampfbünden, der Freiwilligenmiliz im Dienst der Nation und des Staates« (zitiert nach Gentile 2013: 161) betont. Nach Mussolinis Ernennung zum Regierungschef wurde Anfang 1923 als paramilitärische Organisation der Partei die Milizia Volontaria per la Sicurezza Nazionale gegründet (rund 190 000 Mann), um die Macht der Faschisten zu sichern und auszubauen. Dieser Schritt sei, so erklärte Mussolini später, das »Todesurteil« für den demokratisch-liberalen Staat gewesen, denn: »Die bewaffnete Partei führte das Regime« (zitiert nach Gentile 2013: 150). Dienten im ersten Fall die Milizen zur Bekämpfung von (irischen) Aufständischen, ging es im italienischen Kontext um die Ausschaltung von politischen Konkurrenten und schließlich um die Absicherung eines neuen Regimes.
Auch nach 1945 setzten sich solche Herrschaftspraktiken in veränderter Form fort. Zum einen betrieben europäische Kolonialmächte die Aufstellung und Ausrüstung von einheimischen Milizen, um gegen anti-koloniale Befreiungsbewegungen vorzugehen, sei es Frankreich im Algerienkrieg, Großbritannien in Malaya und Kenia (Home Guards) oder Portugal in Guinea-Bissau, Angola und Mozambique. Im Rahmen von counter-insurgency-Kampagnen während des Vietnamkrieges griffen die USA auf diese Methoden zurück, indem U. S. Marines gemeinsam mit lokalen vietnamesischen Milizen Dörfer sichern und verteidigen sollten (ab 1965 Combined Action Platoons, vgl. Peic 2014: 166). In jüngerer Zeit unternahmen die USA und ihre Verbündeten ähnlich gelagerte Versuche mit der Ausbildung und Ausrüstung von Stammes- und Dorfmilizen im Irak (Mowle 2006) und in Afghanistan (Schmeidl / Karohail 2009; Jones 2012: 21–33). Zum anderen entwickelte sich in den 1960er und 1970er Jahren mit der Ausbreitung von rechtsgerichteten Todesschwadronen (»death squads«), vor allem in lateinamerikanischen Staaten, eine weitere Spielart des Milizwesens. Sie erledigten für autoritäre Regierungen bzw. für herrschende Eliten das »schmutzige Geschäft«, indem sie (angeblich kommunistische) Regimegegner entführten, folterten und ermordeten. Teils geschah dies verdeckt, teils offen, um die Bevölkerung einzuschüchtern (Campbell / Brenner 2002; Mazzei 2009). Zu Pogromen kam es auch Mitte der 1960er Jahre in Indonesien, als das Militär mit breiter Unterstützung von nationalistischen und religiösen Partei- und Jugendmilizen (bspw. Pancasila-Front) gewaltsam gegen die kommunistische Partei PKI und ihre (vermeintlichen) Anhänger vorging (Gerlach 2011: 27–123).
Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass bis heute weltweit Milizen unterschiedlichen Typs, nicht zuletzt in Afrika, Lateinamerika und Asien, existieren, um im »Auftrag« oder unter Billigung einer Regierung, dominierender Eliten oder anderer Gruppierungen zu handeln (siehe Datensätze bei Jones 2012 und Carey et al. 2013). Trotz der langen Historie, ihrer Häufigkeit und Vielgestaltigkeit sind Milizen im Vergleich zu anderen Formen organisierter Gewalt mit Blick auf ihre Entstehung und Entwicklung, ihre Handlungsmuster, ihre Art und Weise der Gewaltanwendung sowie die längerfristigen Konsequenzen für Staat und Gesellschaft jedoch vergleichsweise wenig erforscht.
Die Forschung zu Bürgerkriegen konzentrierte sich lange Zeit auf die klassische, binäre Auseinandersetzung zwischen einer Regierung und Rebellen- bzw. Aufstandsbewegungen sowie deren jeweiligen Unterstützern (siehe vor allem Kalyvas 2006; Weinstein 2007). Daneben stand die Logik von Gewalt- und Kriegsökonomien im Blickpunkt, bei denen Rebellenführer, Warlords, kriminelle Organisationen und mitunter terroristische Netzwerke als prominente Profiteure ausgemacht werden, die eher durch »greed« denn durch »grievance« motiviert seien.5 Eine weitere Perspektive bietet die Analyse von lokalen Gewaltordnungen, bei denen Gewaltakteure – wie typischerweise Rebellen oder Warlords – entweder Parallelstrukturen zum Staat aufbauen oder aber in der Lage sind, Teile des Staatsgebietes zu kontrollieren und dort quasi-staatliche Strukturen zu etablieren (Bakonyi et al. 2006). In der Security Governance-Literatur, die sich auch mit der »Privatisierung« oder dem »Outsourcing« von Sicherheit beschäftigt, dominieren ferner Untersuchungen zur Rolle von privaten Sicherheits- und Militärfirmen (PSCs / PMCs), die von unterschiedlichen Auftraggebern, in der Regel von Regierungen, angeheuert werden, um vom Wachschutz bis hin zur operativen Kriegführung bestimmte Dienstleistungen und Sicherheitsfunktionen zu übernehmen (Singer 2003; Leander 2005; Krahmann 2005; Jäger / Kümmel 2007).
Bei keinem der genannten Felder finden Milizen eine besondere Berücksichtigung, obwohl sie nicht weniger häufig in bewaffneten Konflikten oder post-kolonialen Kontexten anzutreffen sind als etwa Aufständische oder PSCs / PMCs. Ihre Gründung und ihr Einsatz folgen allerdings weder der typischen »Rebellenlogik«, sich aktiv gegen eine bestehende Ordnung zu wenden, noch der kommerziellen Logik von Sicherheitsfirmen, auch wenn sie teilweise in ähnlicher Form für Sicherheitsdienstleistungen genutzt werden. In aller Regel werden, wie eingangs erläutert, Milizen gegründet, um einer (vermeintlichen) Gefährdung der öffentlichen Ordnung zu begegnen oder vorzubeugen. Die wesentliche Rechtfertigung lautet vielfach, dass sie zur Stärkung und zum Schutz von Staatlichkeit beitragen und damit – paradoxerweise – den Gewaltmonopolanspruch des Staates unterstützen sollen. Allerdings kann dies auf sehr unterschiedliche Weise erfolgen, weshalb sich in der Literatur zu Milizen eine Fülle von Bezeichnungen findet, um diverse Spielarten näher zu bestimmen und voneinander abzugrenzen. Zumeist geschieht dies durch die Verwendung von Attributen, die spezifische Charakteristika betonen: Je nach Perspektive werden (i) die jeweiligen Auftraggeber bzw. Sponsoren einer Miliz, (ii) ihr sozio-kultureller Hintergrund bzw. ihre Mitgliederstruktur sowie (iii) ihr Status (legal / illegal) und Organisationsgrad (bspw. formell / informell) als Referenzpunkte herangezogen (vgl. Tab. 1).
Unterscheidung nach
Bezeichnungen
Auftraggeber / Sponsoren
pro-government militia (Carey et al. 2013; Ahram 2016), government-supported militia (Jones 2012), state-sponsored militia (Ahram 2011a); state-manipulated / state-parallel militia (Aliyev 2016); party militia group (Ero 2000); personal militia (Hills 1997); clan militia (Hills 1997); community-based defense militia (Koos 2014)
Sozio-kultureller Kontext / Mitgliederstruktur
ethnic militia (Ikelegbe 2005); separatist militia (Francis 2005); urban militia (Wang 1978); youth militia (Vlassenroot / Van Acker 2001); citizen militia (Haider-Markel / O’Brien 1998); hunter militia (Ferme / Hoffman 2004)
Politisch-rechtlicher Status / Organisationsgrad
civil militia (Francis 2005); civil(ian) defence forces (Ero 2000; Peic 2014); freelance militia (Hills 1997); informal / semi-official militia (Carey et al. 2013); armed vigilante group (Ero 2000)
Tab. 1: Milizbezeichnungen
Dabei handelt es sich nicht um eine trennscharfe Einteilung, sondern im konkreten Einzelfall dürften mehrere Charakteristika vorliegen, weshalb ein und dieselbe Miliz bspw. als »state-sponsored«, »youth militia« und »freelance militia« beschrieben werden könnte. Auch Begriffspaare wie »semi-official« versus »informal militias« (Carey et al. 2013: 251) oder »state-manipulated« versus »state-parallel militias« (Aliyev 2016: 502–504) eignen sich nur begrenzt zur kategorialen Unterscheidung oder zur empirischen Untersuchung. Zwar mag ein legaler oder legalisierter Status, wie er bei »semi-official militias« oder »state-parallel militias« unterstellt wird, ein wichtiges Abgrenzungsmerkmal zu anderen Milizformationen sein. Ansonsten aber verschwimmen die Kategorien relativ rasch, da sich Milizen über Zeit wandeln und Zuordnungen nur temporär (meist bezogen auf die Formationsphase) möglich sind.
Weiterführender sind Ansätze, die sich mit der Genese und Entwicklung von Milizen im Allgemeinen bzw. mit ihrem Verhältnis zu Staat und gesellschaftlichen Gruppen im Besonderen beschäftigen. Dabei können fünf Perspektiven unterschieden werden: Erstens wird der Frage nachgegangen, warum und unter welchen Bedingungen Regierungen bzw. staatliche Sicherheitsapparate Milizen für bestimmte Zwecke einsetzen. Zumeist dominieren Rational Choice-Annahmen, die Kosten-Nutzen-Kalküle auf Seiten des Staates und den instrumentellen Charakter von Milizen betonen. Diese dienen danach als Alternative zum regulären Militär, als zusätzliche Ressource (»force multiplier«) oder als taktisches Mittel bei der irregulären Kriegführung (Ahram 2011a; Carey et al. 2013; 2015). Darüber hinaus bieten Milizen für den Staat die Möglichkeit von »plausible deniability« (Ahram 2016: 219), d. h. bei Gewalttaten, die gegen Menschenrechte oder humanitäres Völkerrecht verstoßen, eine staatliche Verantwortung abzustreiten bzw. die Zurechenbarkeit zu verschleiern (Carey et al. 2015). Ahram (2016) weist ferner auf Basis einer quantitativen Analyse daraufhin, dass die Wahrscheinlichkeit von »pro-government«-Milizen je nach Regimetyp variiere: Danach seien »low capacity autocracies«, vor allem Ein- oder Mehrparteien-Regime, besonders geneigt, Milizen zu unterhalten, während bei »high capacity democracies« und bei Militärdiktaturen die Wahrscheinlichkeit am geringsten sei.
Zweitens wird die Bildung von Milizen im Kontext von bewaffneten Konflikten verortet, weshalb Jentzsch et al. (2015) Milizen als »dritten« Akteur neben Militär und Rebellen in die Bürgerkriegsforschung einführen und primär aus der Eskalationsdynamik von Rebellion und counter-insurgency-Kampagnen erklären. Milizen sind dabei eine Reaktion auf die Existenz anderer Gewaltakteure, die offen den politischen Status quo attackieren oder durch ihre Aktivitäten in Frage stellen könnten. Für Barter (2013) hängt die Art und Weise, wie Milizen gegründet werden und agieren, von der Stärke der jeweiligen Rebellenbewegung ab, die es zu bekämpfen gilt. Dort, wo die staatliche Gewalt dominiere, seien Milizen eher als »state proxies« zu bezeichnen, die etwa als Todesschwadronen nach Angehörigen oder Anhängern der Rebellenorganisation fahnden. In Regionen, in denen die Insurgenten militärisch überlegen seien, würden dagegen in stärkerem Maße lokale Autoritäten Milizen zur Selbstverteidigung aufstellen. Staniland (2015) argumentiert demgegenüber, dass die politische Ideologie und die Bedrohungsperzeption eines Regimes von entscheidender Bedeutung sei, ob und inwiefern Milizen in Bürgerkriegen genutzt würden. Dabei unterscheidet er vier idealtypische Strategien (»suppression«, »containment«, »collusion« und »incorporation«), die der Staat je nach »regime ideology« gegenüber Milizen verfolge (Staniland 2015: 772–776).
Drittens wird die Existenz von Milizen als Ausdruck post-kolonialer, fragiler Staatlichkeit verstanden, bei der sich ein geordnetes und als legitim erachtetes staatliches Gewaltmonopol nur in Ansätzen durchgesetzt hat. Die Gewährleistung öffentlicher Sicherheit ist stattdessen vielerorts durch Fragmentierung und Politisierung gekennzeichnet, bei der neben der regulären Armee, verschiedenen Polizeieinheiten, Spezialkräften, National- und Präsidentengarden auch unterschiedlich strukturierte Milizverbände existieren. Ahram (2011a) verweist als Erklärung auf Pfadabhängigkeiten im Zuge der Dekolonisierung bzw. auf geopolitische Faktoren, die dazu führten, dass sich vielfach »anti-colonial insurgents« in »pro-state militias« transformierten. Diese Konstellation treffe insbesondere auf Fälle von »revolutionary decolonization« und dem damit verbundenen Zusammenbruch der kolonialen Herrschaft zu. Dort, wo jedoch der neue Staat auf koloniale Strukturen zurückgreife, sei der Aufbau konventioneller Armeen wahrscheinlicher. Zudem würde ein »hostile regional threat environment« die Zentralisierung von Sicherheitskräften und die Auflösung von Milizen befördern. In ähnlicher Weise hängt für Aliyev (2016) die Art und Weise der Milizbildung von der Stärke bzw. Schwäche des post-kolonialen Staates ab. Aufgrund von schwacher bzw. fragiler Staatlichkeit komme es zur Bildung von offen agierenden »state-parallel militias«, die sich als Antwort auf die staatlichen Defizite verstünden, während verdeckt operierende »state-manipulated militias« ein Ausweis für einen machtvollen Staatsapparat seien.
Viertens wird die Milizbildung mit politischen und gesellschaftlichen Spaltungen (»cleavages«) entlang von ethnischen, regionalen, clan-bezogenen oder parteipolitischen Identitäten begründet (Ikelegbe 2005). Verschiedene »communal groups« bzw. Elitenformationen in einer Sub-Region oder im Gesamtstaat fürchten um ihren Status und konkurrieren um politische Macht und / oder ökonomische Ressourcen. Sie unterhalten dafür Milizverbände, die in einer Patron-Klient-Beziehung bzw. in persönlicher Loyalität zu den jeweiligen Führungspersonen stehen. Darüber hinaus argumentiert Kubai (2010) mit Blick auf afrikanische Staaten, dass in erster Linie lokale Eliten, einflussreiche Chiefs, Familien oder Clans ihren Schutz weiterhin in Form von Milizen organisierten, um sich entweder Macht und Privilegien im neu gegründeten Staat zu sichern oder sich ungebetener Eingriffe durch den Staatsapparat zu erwehren. Eng damit verbunden sind fünftens polit-ökonomische Erklärungen (Omotola 2009; Ibaba / Ikelegbe 2010), die der Logik eines »Gewaltmarktes« (Elwert 1997) folgen. Einerseits dienten Milizen hierbei als Instrumente zum Schutz wirtschaftlicher Privilegien und Interessen bestimmter Gruppen – wie etwa Geschäftsleute, Händler, Großgrundbesitzer, Warlords oder Drogenbarone. Andererseits seien die Milizionäre bzw. ihre führenden Kader selbst durch die Aussicht auf einen sozio-ökonomischen Aufstieg bzw. durch Gewinnstreben oder persönliche Bereicherung motiviert. Dieser Mechanismus wird auch als Erklärung für sich selbst erhaltende »Milizsysteme« wie etwa im Libanon (Picard 1999) angeführt.
Die verschiedenen Sichtweisen schließen sich nicht gegenseitig aus, sondern können je nach Kontext zu komplexeren Erklärungen des Milizphänomens kombiniert werden. Deutlich wird bei allen Ansätzen, dass Milizen typischerweise in einem Geflecht aus staatlichen und gesellschaftlichen Akteuren eingebettet sind, das bei einer Analyse mitberücksichtigt werden muss. Dabei ist es für außenstehende Beobachter wie für Betroffene oftmals nicht leicht nachvollziehbar, in wessen Namen, Dienst oder Auftrag eine Miliz handelt und wer wofür verantwortlich ist bzw. politisch wie rechtlich zur Rechenschaft gezogen werden kann. Quer zu diesen Erklärungsansätzen verläuft daher die Debatte über Effektivität, Legitimität und möglichen Konsequenzen von Milizen und Milizgewalt. Auf der einen Seite vertreten einige Autoren die These, dass Milizen eine effektive und kostengünstige Unterstützung für staatliche Streitkräfte darstellten: Jones (2012) und Peic (2014) kommen beispielweise auf der Basis von quantitativen Studien zu dem Ergebnis, dass der Einsatz von Milizen im Zuge von counter-insurgency-Strategien vergleichsweise »erfolgreich« sei. Peic (2014: 178) spricht davon, dass die Wahrscheinlichkeit, eine bewaffnete Rebellion niederzuschlagen, um mehr als 50 Prozent steige, wenn sich eine Regierung dabei neben der Armee auf Milizen stützen könne. Eine wesentliche Rolle spiele dabei der Umstand, dass Milizen üblicherweise über genaue lokale Kenntnisse verfügten und die Milizangehörigen in den sozialen Gemeinschaften verankert seien, die vor den Aufständischen geschützt werden sollen (Clayton / Thomson 2014; Jones 2012; Lyall 2010). Ahram (2011b) hält angesichts von defizitärer Staatlichkeit Milizen für den Schutz der Bevölkerung für das »kleinere Übel«, weshalb diese auch durch internationale Geber unterstützt werden sollten. Jones (2012: 11) wendet sich gegen eine pauschale Ablehnung von Milizen: »Militias do not always undermine state authority, are not always unwieldy, and do not always commit human rights abuses – especially compared to state forces.« Ob Milizen positive oder negative Effekte hätten, ob sie von der lokalen Bevölkerung als legitim erachtet würden, hänge, so wird argumentiert, letztlich von der Qualität der Regulierung (Jones 2012: 34), vom Grad der Formalisierung (Gosztonyi / Koehler / Feda 2015) oder von einem effektiven Kontrollregime ab (Stanton 2015). Auf der Basis ihrer Datenbank zu »pro-government«-Milizen argumentieren Mitchell / Carey / Butler (2014), dass die Wahrscheinlichkeit von Menschenrechtsverletzungen und gewaltsamen Übergriffen gegen die Bevölkerung durch Milizen abnehme, je stärker diese formalisiert und reguliert seien. Stanton (2015) behauptet zudem, dass Milizen gegenüber »co-ethnics« weniger zu Menschenrechtsverletzungen tendierten als reguläre Streitkräfte. Übergriffe gegen Zivilisten seien vor allem dann wahrscheinlich, wenn daran auch das Militär beteiligt sei.
Auf der anderen Seite gibt es eine Reihe von Einwänden gegen den Einsatz von Milizen. In der Literatur wird auf typische Principal-Agent- oder Patron-Client-Probleme aufmerksam gemacht, die zwischen den Milizen und den jeweiligen Stakeholdern bestünden (Blom 2009; Ahram 2011a; Carey et al. 2015). Dies gilt nicht zuletzt für Informationsasymmetrien, die sich im Laufe der Zeit zu Ungunsten einer Regierung oder anderer Stakeholder verändern können. Im Extremfall kehrt sich das Verhältnis um, so dass der Stakeholder mehr und mehr in Abhängigkeit zur Miliz gerät und diese ihrerseits die Bedingungen für eine Kooperation diktieren könne. Diese Logik, die einer Kontrolle oder Aufsicht durch den Stakeholder Grenzen setzt, folgt der Forschung zu Söldnern oder Sicherheitsfirmen. Sie unterstellt allerdings ein klar definiertes Auftraggeber-Auftragnehmer-Verhältnis, das aber in dieser Form bei Milizen nicht immer besteht, da diese zumeist stärker in gesellschaftliche und politische Kontexte eingebettet sind. Für gravierender werden daher kontraproduktive Effekte von Milizgewalt gehalten. Schlichte (2009: 48–56) sieht in dieser »Delegation von Gewalt« unter Kriegs- oder kriegsähnlichen Bedingungen einen höchst ambivalenten spin-off-Mechanismus, bei dem der Staat oder herrschende Eliten riskieren, dass sich Milizen im Zuge der Gewaltdynamik verselbständigen und den staatlichen Gewaltmonopolanspruch unterminieren. Dabei versuchen Milizen – wie andere nicht-staatliche Gewaltakteure – auf eigene Quellen der Legitimität zurückzugreifen, um ihre Unabhängigkeit von den Stakeholdern zu unterstreichen (Schlichte / Schneckener 2015; Schneckener 2017a). Die Gefahr der Verselbständigung besteht aus dieser Perspektive paradoxerweise gerade dann, wenn Milizen als besonders »erfolgreich« gelten. In dem Maße, wie sie sich als »wahre« Verteidiger einer Nation oder als effektiver Schutz für soziale Gemeinschaften in Szene setzen können, gewinnen sie an gesellschaftlicher Akzeptanz und politischem Gewicht, was sie zur Eigenständigkeit gegenüber dem Staat und seinem Sicherheitsapparat nutzen können. Im negativen Falle droht hingegen eine Erosion der externen und organisationsinternen Gewaltkontrolle, die sich in eine Proliferation von milizähnlichen Akteuren und in eine Entgrenzung von Gewalt übersetzen kann (Schneckener 2015). Beide Szenarien können im Ergebnis zur Persistenz von Milizgewalt führen, die sich auf Dauer in einer Gesellschaft festsetzt und strukturierend auf politische Prozesse auswirkt. Die Frage, in welcher Form und unter welchen Bedingungen sich Milizen als langlebig und Milizgewalt als persistentes Phänomen erweisen, wird jedoch in der Forschung wenig untersucht. Dazu bedarf es vergleichender Langzeitstudien, die den Entwicklungspfad von Milizformationen über mehrere Jahrzehnte abschreiten und zeigen, inwieweit sich Milizen an veränderte Rahmenbedingungen anpassen und warum Milizgewalt virulent bleibt. Genau an dieser Leerstelle setzt die vorliegende Studie ein.
Diese Studie untersucht die längerfristigen Entwicklungspfade von Milizstrukturen, die daraus resultierende Persistenz von Milizgewalt sowie deren Konsequenzen für Staat und Gesellschaft. Dies geschieht aus einer konfliktsoziologischen Perspektive, die in erster Linie die Interaktionsverhältnisse von (Konflikt-)Akteuren und die eigendynamischen Aspekte von (Bürgerkriegs-)Gewalt thematisiert.6 Diese Sichtweise verortet sich jenseits der oben referierten strukturellen Erklärungsfaktoren (bspw. Rolle fragiler Staatlichkeit, makroökonomische Faktoren), historisch-institutioneller Pfadabhängigkeiten (bspw. im Kontext der Dekolonisierung) oder Rational-Choice-Ansätzen (wie im Rahmen der Principal-Agent-Theorie), sondern setzt bei der Erklärung von Milizgewalt vielmehr am Konfliktgeschehen selbst und der damit verbundenen Dynamik an. Ausgehend von den grundlegenden Überlegungen von Mayntz / Nedelmann (1987: 648–49) wird angenommen, dass sozialen Prozessen, wenn sie »einmal in Gang gekommen oder ausgelöst« wurden, eine Eigendynamik innewohnt, die »ein für sie charakteristisches Muster produzieren und reproduzieren«. Bezogen auf die beteiligten Akteure bedeute dies, dass sie »die sie antreibenden Motivationen im Prozessverlauf selbst hervorbringen und verstärken«. Gewaltkonflikte sind typischerweise durch solche sich selbst verstärkenden Effekte gekennzeichnet, die einerseits Motivlagen und Ziele der Akteure im Fortgang der Auseinandersetzung weiter konturieren und andererseits zur steten Reproduktion von Konfliktkonstellationen beitragen. Der Einsatz von Gewalt wirkt dabei wie eine Schwelle, die einerseits die Regeln des Konfliktaustrags grundlegend verändert und eine neue Dynamik freisetzt, andererseits wirkt Gewalt gleichermaßen mobilisierend wie polarisierend, sie verstärkt Freund-Feind-Unterscheidungen und festigt somit die zuvor nur latenten Motivationen und Rechtfertigungen der Akteure. Es zeigt sich dann, »dass alle Beteiligten sich fortlaufend gegenseitig stimulieren, im Feld zu bleiben und weiterzumachen«, wie Neidhardt (1981: 251–2) mit Verweis auf die eigendynamischen Prozesse von Gewalt und Gegengewalt beobachtet. Zentral für diese »Zirkulärstimulation« sind die »wechselseitigen Verstärkungen oder (gerade umgekehrt) Hemmungen bestimmter Verhaltensweisen« (Mayntz / Nedelmann 1987: 651). Zudem erzeugten solche Eigendynamiken jene Folgen, »die zum Bestandteil ihrer eigenen Verursachungsstruktur werden« (Mayntz / Nedelmann 1987: 660). Insofern können Gewaltkonflikte, wie Waldmann (1995) feststellt, als »Systeme eigener Art« verstanden werden, bei denen die Gefahr einer »Entwicklungslogik expandierender, sich perpetuierender Gewalt« besteht. Im Zuge oder in Antizipation einer solchen Entwicklung bleibt Gewalt als Option für die politischen Akteure dauerhaft virulent – unabhängig davon, ob sie dieses Gewaltpotenzial latent (zur Einschüchterung und Abschreckung von Personen oder Gruppen) oder manifest (zur physischen Gewaltsamkeit gegen andere) nutzen. Zu den typischen Effekten der Eigendynamik gehören die (Re-)Produktion von kollektiven Handlungsmustern, sozialen Formationen und politischen Ordnungen, die systematisch jene Kräfte in einer Gesellschaft stärken, die erfolgreich physische Gewalt anwenden können oder in der Lage sind, gewaltkompetente Akteure zum eigenen Schutz zu unterstützen, zu rekrutieren und zu unterhalten.
Die Formation von Milizen lässt sich daher als Ausdruck einer historisch tradierten, einer akuten oder auch nur antizipierten Konfliktkonstellation verstehen. Die konkret angewendete oder angedrohte Milizgewalt ist in den Augen von relevanten Teilen der Gesellschaft eine Antwort auf eine reale oder empfundene Bedrohung durch einen »inneren« oder »äußeren« Gegner, die ihrerseits wiederum die Konfliktkonstellation weiter verschärft und reproduziert. Milizen und ihr soziales Umfeld bilden den Dreh- und Angelpunkt für diese Untersuchung, die nicht an der Dauerhaftigkeit von Gewaltkontexten per se, sondern an der Persistenz von Milizgewalt im Besonderen interessiert ist: Eingangs wurden Milizen als aus der eigenen Bevölkerung rekrutierte, paramilitärisch organisierte und bewaffnete Verbände definiert, die aber nicht institutionell oder formal Teil des staatlichen Sicherheitsapparates sind, sondern als Schutz- oder Hilfstruppen von Status-quo-Kräften einer Gesellschaft agieren. Ihrem Anspruch nach sollen sie zum Schutz einer etablierten Ordnung und zur Sicherheit bestimmter Gruppen (Eliten), Teilen der Gesellschaft oder sogar der Gesellschaft als Ganzes dienen. Milizen werden damit in Beziehung zu interessierten Stakeholdern gesetzt. Unter diesem Sammelbegriff werden höchst unterschiedliche Akteure rubriziert, die sich einen »Nutzen« von den Milizstrukturen versprechen, sei es der physische Schutz vor Bedrohungen durch Dritte, die Herstellung von (öffentlicher) Sicherheit und / oder die Absicherung von politischen wie wirtschaftlichen Interessen. Zu diesen Stakeholdern zählen nicht nur staatliche Akteure (bspw. Regierung, Verteidigungsministerium, Armeeführung, Polizei etc.), sondern auch eine Vielzahl an gesellschaftlichen und sozio-ökonomischen Akteuren, darunter politische Parteien und Bewegungen, politische Führer, einflussreiche (Familien-)Clans oder soziale Gemeinschaften sowie Landbesitzer, Kaufleute, Händler oder Unternehmer. Darüber hinaus können auch – wie beide Fälle zeigen – internationale Akteure als Stakeholder in Erscheinung treten, dies gilt für internationale Geber und Interventen, wie etwa die USA im Zuge von Aufstandsbekämpfung, ebenso wie für Regierungen in benachbarten Staaten, die versuchen, Milizstrukturen für innen- wie außenpolitische Ziele zu instrumentalisieren. Dabei kann man zwischen primären und sekundären Stakeholdern unterscheiden: Während erstere über einen direkten Zugriff auf die Milizen verfügen, stehen letztere in der zweiten Reihe und müssen sich mit den primären Stakeholdern ins Benehmen setzen. Nicht selten gruppieren sich daher mehrere Stakeholder um eine Miliz, die mitunter unterschiedliche Ziele und Interessen verfolgen, was wiederum Handlungsspielräume für den bewaffneten Verband entstehen lässt. Die jeweilige Stakeholder-Konstellation kann sich über Jahrzehnte als überaus stabil erweisen oder sich im Zeitverlauf ändern; geschieht letzteres, wandeln sich in der Regel auch der Charakter der Miliz und der Zweck der Milizgewalt. Die Peschmerga stehen für die erste, die Paramilitärs eher für die zweite Variante.
Die beiden Fallstudien untersuchen exemplarisch Muster der Produktion und Reproduktion von Milizgewalt, die im Ergebnis zur Langlebigkeit von Milizstrukturen bzw. zur Persistenz von Milizgewalt führen. Persistenz bezieht sich nicht nur auf eine langanhaltende Präsenz von Milizgewalt, ob in manifester oder latenter Form, im öffentlichen Raum, sondern auch auf ihre strukturbildende Funktion, die sich prägend auf das Verhältnis von Staat und Gesellschaft bzw. auf die Beziehungen zwischen (rivalisierenden) gesellschaftlichen Gruppen auswirkt. Die beiden Aspekte – die Milizorganisation und die Milizgewalt – sind daher analytisch zu unterscheiden, da die Anwendung und Androhung von milizähnlicher Gewalt als gesellschaftliches Phänomen fortexistieren kann, selbst wenn – wie in Kolumbien – die vormaligen Milizstrukturen nicht mehr existieren bzw. sich in ihrem Charakter (radikal) gewandelt haben. Die zentrale Fragestellung lautet: Wie entstehen Milizstrukturen und wie lässt sich die Langlebigkeit von Milizgewalt erklären? In welcher Form äußert sich die Persistenz von Milizgewalt und welche Folgen hat diese für Staat und Gesellschaft? Um diese Fragen systematisch zu bearbeiten, erfolgt die Analyse der beiden vertieften Fallstudien in drei Schritten: Erstens ist es notwendig, die spezifischen Gründungskontexte herauszuarbeiten und mithilfe einer Phaseneinteilung die historische Entwicklung von Milizen nachzuzeichnen. Zweitens sollen Praktiken, Dynamiken und Rechtfertigungen von Milizgewalt sowie ihre ambivalenten Effekte auf öffentliche Sicherheit untersucht werden. Drittens wird gezeigt, wie sich – trotz der unterschiedlichen Verläufe – in beiden Fällen die Persistenz von Milizgewalt darstellt und welche längerfristigen Auswirkungen dieser Umstand für Staat wie Gesellschaft hat. Die Prozessanalyse wird durch einen konzeptionellen Rahmen angeleitet: Erstens werden drei typische Konfliktkonstellationen unterschieden, die als Gründungskontexte von Milizen dienen und die mit unterschiedlichen Formen und Rechtfertigungen von Milizgewalt einhergehen (4.1). Zweitens gilt es die Einbettung von Milizen in ihrem sozialen Umfeld, sprich in staatliche und gesellschaftliche Zusammenhänge, näher auszuleuchten. Das Hauptaugenmerk richtet sich dabei auf jene Handlungs- und Interaktionsmuster, die prägend für den weiteren Prozessverlauf sind und die mit der Produktion von (Un-)Sicherheit, der Legitimation und der Kontrolle von Milizen verbunden sind (4. 2).
Als Grundlage für die Untersuchung von Milizgewalt dient die Identifizierung idealtypischer Konfliktkonstellationen, innerhalb derer Milizen gebildet werden sowie Praktiken von Milizgewalt ihren Ausgang haben. Ganz allgemein formuliert richten sich Milizen gegen jeden, der aus ihrer Sicht eine etablierte Ordnung gefährdet bzw. zu gefährden droht. Mit der Gründung von Milizen entsteht somit eine trilaterale Konstellation, bestehend aus staatlichen bzw. gesellschaftlichen Stakeholdern (Status-quo-Kräfte), den Milizformationen und ihren Gegnern. In Anlehnung an die oben zitierte Literatur können drei Konstellationen unterschieden werden (Schneckener 2015; 2017a): die Bekämpfung von Rebellen / Aufständischen (counter-insurgency), von Oppositionellen und anderen (potenziellen) »Rivalen« (counter-rival) sowie von Kriminellen bzw. als »kriminell« markierten Personenkreisen (counter-crime). Diese begriffliche Trias erfasst nicht nur unterschiedliche Gründungskontexte und Aufgabenfelder von Milizen, sondern verweist auch auf unterschiedliche Zwecke und Rechtfertigungsnarrative von Milizgewalt.
(a) Counter-insurgency: Bei dieser Konstellation sind Milizen Teil einer umfassenderen counter-insurgency-Strategie. Ihre Aufstellung und Ausrüstung geschieht angesichts von Übergriffen durch Rebellen oder militante Widerstandsgruppen; sie werden daher auch als »anti-rebel militias« bezeichnet (Barter 2013). Die Verbände werden in Taktiken zur Guerillabekämpfung ausgebildet, sie dienen in der Regel als Verstärkung und Reserve für reguläre staatliche Sicherheitskräfte oder für ausländische Interventionstruppen. Sie sollen (zurückeroberte) Gebiete absichern, Stellungen halten, Checkpoints errichten, Dörfer und Siedlungen schützen und das »Einsickern« von Aufständischen verhindern. Sie sollen die Unterstützung der Rebellen durch Teile der Bevölkerung unterbinden, mutmaßliche »Kollaborateure« aufspüren und ausschalten; sie sollen aufgrund ihrer lokalen Verankerung Informationen sammeln, die für staatliche Gegenmaßnahmen genutzt werden können. Milizgewalt ist somit einerseits funktional im Kampf um die »hearts and minds«, andererseits aber auch ein repressives Instrument, um die Bevölkerung als Ganzes oder in Teilen einzuschüchtern. Die Rolle der primären Stakeholder übernehmen hierbei häufig staatliche Sicherheitskräfte, die über einen direkten Zugriff auf die Milizen verfügen, und / oder dominierende Eliten, die ihre politischen und wirtschaftlichen Interessen durch Aufständische bedroht sehen. Die Konstellation trifft zum Beispiel auf die philippinische Citizen Armed Forced Geographic Unit (CAFGU), die Civil Defence Forces in Sri Lanka oder auf die Patrullas de Autodefensa Civil (PAC) in Guatemala zu. In diesen Fällen reagierte der Staat auf eine Bedrohung durch militante Aufständische, seien es sozialrevolutionäre oder separatistische Bestrebungen, indem er die Aufstellung von Milizen (mit-)organisierte, zum Teil wie in Guatemala durch Zwangsrekrutierungen. In anderen Fällen wie bei den Rondas Campesinas in Peru oder den Janjaweed im Sudan (Dafur) griff die Regierung zur Aufstandsbekämpfung auf bereits bestehende Selbstverteidigungskräfte zurück. Eine Mischung aus beiden Konstellationen zeigte sich in der Ukraine, als im Frühjahr 2014 innerhalb weniger Wochen Dutzende von Freiwilligenbataillonen organisiert wurden, um die schlecht ausgerüstete ukrainische Armee gegen die von Russland unterstützten Aufständischen in der Donbass-Region zu verstärken. Die Verbände umfassten mehrere tausend Kämpfer und wurden von zumeist selbst ernannten Kommandeuren geführt. Sie gingen nicht zuletzt aus den (teils rechtsextremen) Selbstverteidigungskräften der Majdan-Bewegung hervor; ihre Kämpfer wurden durch Aufrufe in den sozialen Medien rekrutiert, in Kurzlehrgängen para-militärisch ausgebildet und von diversen Stakeholdern (u. a. Regierung, politische Parteien, Gouverneure, Oligarchen, lokale Solidaritätsgruppen) unterstützt (Schneckener 2014; 2017b: 206–209; Bezruk / Umland 2015; Malyrenko / Galbraith 2016).
(b) Counter-rival: Bei diesem Typus handelt es sich um Milizen, die als bewaffneter Arm von politischen Parteien oder sozialen Verbänden (Clan, ethno-nationale Gruppe, religiöse Gemeinschaft) agieren. Sie dienen in erster Linie dazu, »Rivalen« abzuschrecken, einzuschüchtern oder gewaltsam auszuschalten, um die Interessen, Privilegien oder Vormachtstellung der jeweiligen Gruppierung zu verteidigen. Als »Rivalen« gelten danach Konkurrenten um politische und ökonomische Positionen in Staat und Gesellschaft. Diese Konstellation betrifft sowohl Auseinandersetzungen zwischen einzelnen Führungspersonen oder Fraktionen innerhalb einer Partei oder Gruppe (Intra-Elitenkonflikt) als auch jene zwischen verschiedenen gesellschaftlichen Gruppierungen (Inter-Elitenkonflikt). Die Milizgewalt äußert sich nicht selten in brutalen Übergriffen auf interne Widersacher, Regimekritiker, Oppositionelle und Minderheiten oder in Form von bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen ethno-nationalen Gruppen, die die jeweils andere Seite als Bedrohung des eigenen Status wahrnehmen. Letzteres ist vor allem unter den Bedingungen einer stark segmentierten Gesellschaft der Fall, wenn wie im Libanon, in Bosnien, im Irak oder in Libyen politische Macht primär entlang ethnischer, religiöser oder clan-basierter Bindungen verteilt wird und nahezu jede Bevölkerungsgruppe eigene bewaffnete Verbände zu ihrem Schutz unterhält. In solchen Fällen ist von einer »Milizionarisierung« der Gesellschaft (Rotter 1986) oder einem »Milizsystem« (Endres 2006) die Rede. Besonders häufig ist counter-rival-Milizgewalt im Kontext von autoritären oder semi-autoritären Regimen anzutreffen, in denen eine regierende Partei oder Sammlungsbewegung über bewaffnete Kräfte verfügt, um Oppositionsgruppen, insbesondere im Kontext von Wahlen, einzuschüchtern und deren Aktionsradius einzuschränken. Als Illustration dafür können die hierarchisch geführten, parteinahen Milizen (auch »Green Bombers« genannt) der ZANU-PF in Simbabwe oder die Jugendmiliz Imbonerakure in Burundi dienen. Erstere gelten seit 1999 als verlängerter Arm von Mugabes Regierungspartei und setzen sich vorrangig aus Veteranen des Unabhängigkeitskrieges sowie aus ideologisch geschulten Jugendlichen zusammen (Scarnecchia 2006; Muvingi 2008). Bei letzterer handelt es sich um eine Hutu-dominierte Organisation, vorwiegend bestehend aus demobilisierten Rebellen, die als Miliz der regierenden Partei CNDD-FDD auftritt. Eine spezifischere Aufgabe besteht in der Verhinderung und Abwehr von Putschversuchen (coup-proofing) (Carey et al. 2013). Milizverbände dienen hierbei als »Gegengewicht« zu Teilen des staatlichen Sicherheitsapparates und zu möglichen »internen« Rivalen, etwa aus der Armeeführung oder dem Offizierskorps, denen die regierenden Machthaber nicht über den Weg trauen. Beispiele dafür waren die Chávez-loyalen Colectivos in Venezuela, die den früheren Präsidenten gegen Putschversuche schützen sollten, oder die Assad-treuen, vom Bruder des Staatspräsidenten befehligten Schabbiha-Milizen in Syrien. Dem counter-rival-Profil entspricht ein breites Spektrum an Milizformationen, bei denen staatliche Institutionen nicht selten eher eine untergeordnete – allenfalls verdeckte – Rolle als Stakeholder spielen. Die primäre Loyalität der Milizen gilt vielmehr zentralen Führungspersonen, politischen Bewegungen oder sozialen Gruppen, nicht selten verbunden mit einer ideologisch-politischen Ausrichtung, die – wie bei der ZANU-PF – auch zur Schulung der Milizionäre dient.
(c) Counter-crime: In dieser Konstellation übernehmen Milizen die Aufgabe, gegen (vermeintliche) »Kriminelle« vorzugehen und damit einen Beitrag zur Aufrechterhaltung von »Sicherheit und Ordnung« zu leisten. Dazu gehören typischerweise der Schutz von Marktplätzen, Dörfern oder Stadtvierteln, territorialen Grenzen, die Abschreckung, Festnahme und Verfolgung von (mutmaßlichen) Straftätern, die Bekämpfung von Korruption, die Unterstützung von Polizei und Justiz, aber auch extra-legale Maßnahmen und Formen von Selbstjustiz. Die Milizen sollen für Sicherheit sorgen und das Eigentum von Bürgern, vor allem aber von bestimmten Interessensgruppen schützen (bspw. Geschäftsleute, Händler, Politiker), die oftmals im Hintergrund als Auftrag- und Geldgeber fungieren. Diesem Profil entsprechen Bürgerwehren, Nachbarschaftspatrouillen oder »community-based« Selbstverteidigungsgruppen, nicht selten handelt es sich um selbst ernannte, vigilantistisch agierende »Ordnungshüter«, die sich als Antwort auf einen schwachen oder abwesenden Staatsapparat verstehen. Ehemalige oder aktive Angehörige staatlicher Sicherheitsdienste stellen ihre Gewaltkompetenz anderen »Kunden« zur Verfügung oder agieren auf eigene Faust, ob mit oder ohne Duldung ihrer Dienststellen, um Personen auf eine Weise unschädlich zu machen, die ihnen in Uniform und unter Einhaltung der Vorschriften verwehrt bleibt (»schwarze Sheriffs«). Paradigmatische Beispiele dafür sind die People Against Gangsterism and Drugs (PAGAD) in Südafrika oder die Bakassi Boys in Nigeria. Die PAGAD wurde Mitte der 1990er Jahre von Händlern, Nachbarschaftsinitiativen und Bürgern gegründet, um für eine effektivere Bekämpfung der Kriminalität, insbesondere des Drogenhandels, in den Randbezirken von Kapstadt zu sorgen (Ero 2000: 26–27). Die Bakassi Boys wurden 1998 im Bundesstaat Abia von Händlervereinigungen und Geschäftsleuten ins Leben gerufen, die ihre lokalen Märkte vor kriminellen Banden schützen wollten und der von Korruption geprägten nigerianischen Polizei misstrauten (Harnischfeger 2001; 2003; Meagher 2007). Die Miliz unterstand einem zivilen »Aufsichtsrat«, in dem die Händlerorganisationen vertreten waren, die den Aufbau und die Ausrichtung der Miliz koordinieren und überwachen sollten. Während sich in Südafrika Teile der PAGAD politisch radikalisierten und die direkte Konfrontation mit dem Staat suchten, gab es in Nigeria auf Ebene der Bundesstaaten den Versuch, die Bakassi Boys zu semi-offiziellen Akteuren zu machen, indem sie legalisiert und in Abia bzw. Anambra Vigilante Service umbenannt wurden.
Die jeweilige Konfliktkonstellation markiert zwar den Anlass und Ausgangspunkt für die Bildung von Milizen. Eine eindeutige Zuordnung bleibt jedoch im Einzelfall schwierig, da die gleiche Miliz mehreren Zwecken dienen mag, sei es gleichzeitig oder sei es zeitversetzt. Das Aufgabenspektrum einer Miliz kann sich je nach Konfliktdynamik erweitern (oder verkleinern), es können sich Stakeholder und Zielsetzungen ändern oder andere Gegner in den Blick geraten. Solche Entwicklungen und Mutationen lassen sich aber ohne ein begriffliches Instrumentarium nicht sinnvoll erfassen. Die typologische Dreiteilung dient daher als ein heuristisches Mittel, um Grundkonstellationen zu unterscheiden und um die Entwicklung zur Persistenz von Milizgewalt nachzeichnen zu können.
Bei allen drei Konfliktkonstellationen wird deutlich, dass die Bewaffnung von Zivilisten bzw. die Rekrutierung von Milizionären stets mit einer – mehr oder minder expliziten – Einforderung von politischer Loyalität gegenüber einem Status quo verbunden ist. Die Bildung von Milizen ist ein sichtbares Zeichen für eine fortschreitende gesellschaftliche Polarisierung und für die Verschärfung von Konfliktlinien zwischen (selbst ernannten) »Verteidigern« und (vermeintlichen) »Gegnern« einer bestehenden Ordnung. Diese »Eigendynamik der Polarisierung« (Waldmann 1995: 380) führt regelmäßig dazu, dass dritte, vermittelnde Positionen unter Druck geraten und in der politischen Auseinandersetzung an Boden verlieren. Stattdessen gewinnen auf beiden Seiten Hardliner an Einfluss, die sich wechselseitig in ihrer Gegnerschaft bestätigen. Der Einsatz von Milizgewalt spiegelt dabei die konflikthaften Beziehungen zwischen Staat und Gesellschaft bzw. zwischen gesellschaftlichen Gruppen wider. Wechselseitiges Misstrauen oder offene Feindseligkeit können dabei unterschiedlichen Mustern folgen: Im ersten Fall verstärken sich bestehende gesellschaftliche Spaltungen, ausgeprägte Gruppenidentitäten und sich antagonistisch gegenüberstehende Gruppierungen (Parteien), die mittels konkurrierender Milizformationen um politische Macht(verteilung) und ihren Einfluss auf den Staat ringen (counter-rival). Im zweiten Fall misstrauen eine Regierung, ein Staatsapparat und seine gesellschaftlichen Unterstützer einem bestimmten Teil der Bevölkerung, weil dieser als soziale Basis für Insurgenten oder Rivalen dienen und mit einer neuen politischen Ordnung bzw. einem Regierungswechsel sympathisieren könnte (counter-insurgency, counter-rival). Im dritten Fall ist das Verhältnis von Staat und Gesellschaft dadurch geprägt, dass relevante Teile der Gesellschaft wenig Vertrauen in den staatlichen Sicherheitsapparat haben bzw. ihre Interessen nicht oder nur unzureichend geschützt sehen. Aus ihrer Sicht sind Regierung, Justiz, Polizei oder Militär nicht willens, unfähig oder schlicht korrupt, um organisierter Kriminalität, bewaffneten Banden oder Formen von politischer Gewalt Einhalt zu gebieten, weshalb ihnen angeblich nichts anderes übrig bliebe, als sich zu verteidigen, entsprechende Kräfte auszurüsten sowie im Zweifel »Recht und Gesetz« selbst in die Hand zu nehmen. Dieses Argumentationsmuster, bei dem Milizgewalt in Form von Selbstmandatierung »von unten« organisiert und gerechtfertigt wird, ist grundsätzlich bei allen drei Konfliktkonstellationen angelegt (counter-insurgency, counter-rival und counter-crime). Diese Muster, die charakteristisch für das jeweilige Verhältnis von Miliz-Staat-Gesellschaft sind, übersetzen sich in unterschiedlich gelagerte Arrangements zur Herstellung von Sicherheit. Diese können formell-institutionalisiert (etwa basierend auf einer rechtlichen Grundlage) oder informeller Natur sein; sie können auf Dauer angelegt sein oder sich als situativ bedingte ad-hoc-Arrangements erweisen. Je nachdem welche Rolle die staatlichen oder gesellschaftlichen Stakeholder gegenüber einer Miliz beanspruchen, können solche Arrangements mehr oder minder hierarchisch strukturiert sein. Die Stakeholder können gegenüber der Miliz über die strategische Steuerung, über die operative Befehls- und Kommandogewalt und / oder die politische Aufsicht verfügen. Sie können als Auftraggeber fungieren, die einen konkreten Sicherheits- oder Schutzauftrag für den »Dienstleister« Miliz definieren (etwa den Schutz einer Gemeinde). Oder die Stakeholder treten weniger dominant und sichtbar in Erscheinung, sie agieren eher als (stille) Sponsoren, Unterstützer oder Kunden. Die konkrete Ausgestaltung eines solchen Arrangements ist deshalb nicht allein abhängig von der Sicherheitslage und der Konfliktkonstellation, sondern auch von den Aushandlungsprozessen und Interaktionen zwischen Stakeholder und Milizen. Üblicherweise sind an diesen Sicherheitsarrangements nicht nur mehrere (primäre wie sekundäre) Stakeholder beteiligt, sondern auch mehrere Milizformationen sowie, unter Umständen, weitere bewaffnete Akteure (vor allem Militär, Polizei, Geheimdienste).
Sicherheitsarrangements sind nicht gleichbedeutend mit einer umfassenderen Gewaltordnung. Während mit Gewaltordnungen zumeist eine auf staatliche bzw. nicht-staatliche Gewalt gestützte, soziale Ordnung und ein allgemeiner Herrschaftsanspruch verbunden wird (Siegelberg / Hensell 2006: 32–33), dienen die hier in Rede stehenden Sicherheitsarrangements weitaus spezifischeren Zwecken. Innerhalb einer Gewaltordnung sind daher verschiedene Arrangements auf gesamtstaatlicher oder lokaler Ebene denkbar. Typische »Leistungen« von Milizen im Rahmen solcher Arrangements sind u. a. die operative Unterstützung und logistische Hilfsdienste für staatliche Sicherheitskräfte, Verteidigungs- und Schutzmaßnahmen für Individuen oder soziale Gruppen, der Schutz von Infrastruktur, Grundbesitz und Eigentum, die Kontrolle von Grenzen, Ortschaften oder Stadtvierteln (etwa durch Patrouillen oder Checkpoints), die Verfolgung, Festnahme und Befragung von Personen, die Beschaffung von Informationen (intelligence), die Durchführung von extralegalen Strafmaßnahmen und nicht zuletzt die Erbringung von sozialen Diensten für die lokale Bevölkerung, die zumeist als vertrauensbildende Maßnahmen dienen und die Akzeptanz von Milizgewalt fördern sollen. Die Sicherheitsarrangements definieren den Aufgabenkatalog für die Milizorganisationen, sie strukturieren und beschränken idealiter den Einsatz von Gewalt.
Die eher operativen Sicherheitsarrangements sind eng verbunden mit der diskursiven Legitimation von Milizgewalt. Das zentrale Rechtfertigungsnarrativ hängt, wie schon betont, mit dem Schutz und der Verteidigung einer politischen Ordnung zusammen. Die typische Argumentation nimmt Bezug auf eine spezifische oder abstrakte Bedrohung, die das Agieren para-militärischer oder para-polizeilicher Verbände zur Unterstützung staatlicher Sicherheitskräfte bzw. zum Schutz von sozialen Gruppen oder lokalen Gemeinschaften erforderlich mache. Milizen werden dabei häufig als eine Art funktionales Äquivalent zu offiziellen Sicherheitskräften präsentiert. Die Milizgewalt wird auf diese Weise nicht allein mit den partikularen Interessen und Agenden der Stakeholder begründet, sondern rhetorisch mit dem öffentlichen Gut Sicherheit verknüpft. Milizgewalt dient insofern »höheren« Zwecken, die moralisch und normativ aufgeladen werden. Vereinfacht gesprochen: Milizionäre präsentieren sich als die »Guten«, Rebellen oder »Verräter« im eigenen Lager sind dagegen das »Übel«. Milizen profitieren damit von einer »geliehenen Legitimität« der Stakeholder, nicht selten wird diese durch einen quasi-offiziellen oder legalen Status unterstrichen, der sich in entsprechenden Symbolen, Uniformen und Rangabzeichen niederschlägt. In diesem Punkt unterscheiden sich Milizen grundlegend von Rebellen oder Aufständischen, die ihrerseits Legalität nicht als Quelle ihrer Legitimität nutzen können, sondern im Gegenteil einen kategorischen Unterschied zwischen politischer Legitimität und bloßer Legalität behaupten müssen (Schneckener 2017a: 811). Die Legitimität von Milizverbänden ist – zumindest während ihrer Gründungs- und Formationsphase – eng verkoppelt mit derjenigen der Stakeholder: Genießen die Stakeholder ihrerseits innerhalb der Gesellschaft eine relativ hohe Legitimität (im Sinne der Akzeptanz durch die Bevölkerung bzw. der relevanten Bezugsgruppe), dürfte dies auf die Milizen abfärben (»top down«-Legitimität). Es ist daher zu vermuten, dass eine geringe oder sinkende Legitimität der Stakeholder, sich auch nachteilig auf die Legitimation der mit ihnen in Verbindung stehenden oder gebrachten Milizen auswirkt. Sollten Milizen umgekehrt durch vergleichsweise effektive Sicherheitsleistungen über eine hohe Reputation und Akzeptanz in der breiteren Bevölkerung (»bottum up«-Legitimität) verfügen, könnten davon indirekt auch die Status-quo-Kräfte in der Gesellschaft profitieren. Gleichzeitig besteht aber die Gefahr, dass Milizen auf diese Weise zu einer echten Konkurrenz oder Alternative zu staatlichen Sicherheitskräften werden, die von der adressierten Bevölkerung als korrupt oder unfähig wahrgenommen werden. Das Verhältnis zwischen Milizen, Stakeholder und Staat bleibt auch hier ambivalent und nicht frei von Spannungen.