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Die Autorin beschreibt in 26 Episoden die Suche nach der großen Liebe. Auf ihrem Lebensweg begegnet die Ich-Erzählerin den unterschiedlichsten Männern. Jede einzelne Erfahrung bringt sie einen Schritt näher zu ihrem "Chéri". Das Buch erzählt von Schulfreundschaften, vom ersten Liebesbrief und die "fast erste Liebesnacht", von der Schwärmerei für den Uniprofessor und vom enttäuschenden ersten Mal. Von platonischen Beziehungen und übergriffigen Verwandten, von Affären, Romanzen und Heiratsanträgen. Und von der großen Liebe - wie sie kam und warum sie bleibt. Entstanden ist ein bitter-süsses, lustig und gleichzeitig nachdenklich stimmendes Kaleidoskop mitten aus dem Leben - ein Buch für Frauen, die ganz bestimmt den ein oder anderen Typ Mann wieder erkennen werden. Denn "Der lange Weg zu dir, Chéri"... ist auch ein Weg zu sich selbst!
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Seitenzahl: 162
Veröffentlichungsjahr: 2021
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Vorwort
Kapitel 0 Vor und nach der Geburt
ICH
Rudolf Willibald, genannt Rudi
Manfred, genannt Fredi
Johannes, genannt Hänns
Kapitel 1 Die Volksschule
Jeremy
Lukas
Erich
Kapitel 2 Das Gymnasium
Matthias
Allan
Edgar
Justus
Kapitel 3 Die Universität und das Praktikum
Jan
Paul
Prof. Feldspat
Nikolaus, oder Beelzebub
Kapitel 4 Das Berufsleben
Cornelius de Klerk, genannt Colin
Félipe Salvatore Barilli
Marcelo
Verwandtschaft – kein Märchen
Wolfgang – mein väterlicher Freund
Josef Wamokuzzi
Wagner
Nennen wir ihn – Nemo
Ernst, Graf von Sägestein zu Selb
Kapitel 5 Chéri
… lass uns rudern!
Kapitel 6 Und dann …
… gar keine Männergeschichten mehr?
Statt Epilog
Ich habe mich vor vielen Jahren entschlossen, Geschichten festzuhalten oder zu erfinden, bevor ich sie oder meine Ideen vergesse. Und dass genau das passieren wird, weiss doch jeder Mensch. Irgendwann, manchmal schon in den Dreissigern, haben wir doch alle schon mal gesagt:
«Oh wei, das habe ich doch glatt vergessen ...»
Und Gründe, warum so was passiert, sind uns doch hinlänglich bekannt:
Viel zu viele Informationen und viel zu wenig Zeit, sie zu verarbeiten. Alles geht immer schneller; verlangt und erwartet wird natürlich immer mehr. Alles wird komplizierter, statt einfacher. Dabei sind wir doch immer noch keine Maschinen. Und wollen auch keine werden ...
Mit Vierzig und erst recht mit Fünfzig hört das Phänomen der Vergesslichkeit mitnichten auf. Es nimmt sogar zu. Und spätestens ab Sechzig macht so mancher sich Gedanken, ob vielleicht nicht doch ein gesundheitliches Problem zugrunde liegt, wenn ganz sachte, nach und nach, die Namen von alten Freunden, oder vielleicht sogar Feinden, Ortschaften und überhaupt so Vielem, einem nicht mehr einfallen wollen. Und nur der Vollständigkeit halber soll an dieser Stelle noch eine nahe Verwandte des Vergessens Erwähnung finden: die sogenannte Verdrängung, ein durchaus wichtiger, natürlicher Selbstschutz.
Dazu will ich nur soviel sagen:
Vergessen ist wichtig, ist keine Ausfallerscheinung, sondern ein Prozess, der zu unserem Leben gehört wie vieles andere auch und sollte vielleicht sogar geübt werden. Damit wir besser damit umgehen können, wenn daraus eine Krankheit entstehen sollte.
Aber um all das geht es in DIESEM Buch nicht.
Auf den folgenden Seiten geht es ausschliesslich um Liebe und ihre kleinen und grossen Schwestern:
Verliebtheit, Schwärmerei, Sympathie, Romanze, Erotik, Seelenverwandtschaft, Leidenschaft, Begierde, Hingabe, Passion, Eifer und Sucht, Lust, Sex, Verführung - und die Erinnerung daran. Erinnerung vor allem an Männer: Männer, wie wir sie alle kennen: Männer ohne Alter, mit Alter, ganz junge, ganz alte, mittelalte. Gute und weniger gute. Charmante und brutale. Wir sind doch alle nur Menschen ...
Ich gehe jede Wette ein, dass ich den einen oder anderen Leser sehr erstaunen werde, weil meine Erinnerungen an das andere Geschlecht ein Spiegel sind, in dem viele von uns sich wiedererkennen.
Bei dieser aussergewöhnlichen Entdeckungsreise wünsche ich euch nun viel Spass und verbleibe mit lieben Grüssen,
Karin Bohr-Jankowski, mal in Burgund und mal in der thüringischen Rhön ...
Besucht bitte auch gerne meine Webseite: www.karinbjankowski.de
Dort findet ihr Informationen zu meinen Büchern sowie meinen Blog und mein Forum.
stelle mal kurz ein paar meiner Gedanken vor und damit mich selbst!
Heute bin ich mir sicher, dass unser Leben eigentlich schon vor unserer Geburt anfängt. Das klingt auf den ersten «Blick» natürlich mehr als paradox. Und wenn ich so was behaupte, spreche ich nicht NUR von Karma und Seelenwanderung im buddhistischen oder hinduistischen Sinne.
Aber auch ...
Denn Freunde haben mir vor Jahren erzählt: Niemand käme ganz und gar, so wie er mal war, wieder auf die Welt. Nicht als Mensch, aber auch nicht als Tier oder Pflanze. Laut einer uralten Schriftrolle, die aus dem Kindo-Baha Kloster in Nepal stammen soll, ähneln wir Menschen einem Wassertropfen, der im Tod zurück ins Meer fällt, und dann, in einem nächsten Leben, in einer der vielen Wellen wieder ins Leben geschwemmt wird. Aber niemals in derselben; und die setzt sich aus Millionen und Abermillionen Tropfen zusammen.
So käme es, dass in einer Welle Fragmente von uns, unseren Vorfahren, aber auch ganz viel anderen Lebewesen wiedergeboren würden: Von Menschen, Tieren und Pflanzen, alles kunterbunt durcheinander. Und deswegen, so die ausführliche Bildgeschichte der Mönche, sollen wir respektvoll, vorsichtig und behutsam mit allen Lebewesen jeglicher Art umgehen. Es könnten unsere Männer, Frauen, Kinder, Eltern, Grosseltern, Geschwister oder Freunde darin sein …
* * *
Von dieser Geschichte mag man halten, was man will; ich finde jedoch, sie klingt versöhnlicher als das biblische «Auge um Auge» und schöner als «macht euch die Erde untertan». Warum sollten wir das auch tun? Ach ja, weil wir ja die «Krone der Schöpfung» sein sollen ...
Ich will nicht abschweifen, und deswegen frage ich euch nach einem anderen Phänomen in diesem Gesamtkontext:
Habt ihr auch schon mal die Erfahrung gemacht, dass euch bei einer neuen Bekanntschaft, oder einfach nur bei einem kurzen Zusammentreffen, reell oder virtuell, mit einem euch bis dato vollkommen unbekannten Menschen, das Gefühl beschleicht, in ihm, oder ihr, Züge zu entdecken, die an andere Menschen, oder an eine ganz bestimmte andere Person erinnern?
Angeblich funktioniert jeder Mensch so, weil unser Gedächtnis, je älter wir werden, auf immer mehr «Erfahrungen» zurückgreift, und daraus eine bunte Mischung an «Gefühlsauslösern» entsteht. Das kann gut sein, muss aber nicht. Auf jeden Fall nicht unproblematisch, weil doch jeder Mensch einzigartig ist, auch wenn er äusserlich oder in seinem Tun uns an jemand anderen erinnert. Jeder verdient doch, für sich selbst «begrüsst» und nicht, durch gute, weniger gute oder gar schlechte Trugbilder unseres Gehirns, verfälscht zu werden.
Tiere lassen sich übrigens nicht solche Streiche spielen ...
Ich finde diese Themen ja toll interessant und frage mich manchmal, ob ich mich für solche Fragen schon immer begeistern konnte?
Wenn nicht … wann habe ich denn ein Gefühl dafür bekommen?
Mit zwanzig, dreissig, vierzig, fünfzig oder sechzig Jahren? Fing das Interesse etwa schon in den neun wunderbaren Monaten in Mamas schöner warmer Höhle an? Es würde mich freuen, wenn es so gewesen wäre. Denn ich glaube, dass ich, wie wir alle, eine bunte Mischung aus ganz tollen und wunderbaren Veranlagungen und ein paar, oder sogar genau so vielen, nicht so guten bin. Und dafür sind nicht nur Papa und Mama verantwortlich. Sondern deren Papa und Mama und weiter und weiter zurück. Bis wohin zurück? Ja, das wäre Stoff für ein anderes Buch …
Jetzt haben wir zuerst mal geklärt, woher ich komme.
Nämlich aus Mamas Höhle! Wie ich da reingekommen bin, wissen die meisten von euch auch schon; das haben wir irgendwann mal gelernt. Aber wer von uns weiss etwas über die Zeit da drin? In dieser wohlig warmen Behausung, aus der manches Baby nach neun Monaten noch gar nicht rauskommen will. Und dann gibt es die, die sie sogar viel früher verlassen müssen und noch andere, die nie bleiben konnten.
Also, ich hab mir überlegt, wenn ich an einem 11. Juli rauskam, muss ich doch wohl ungefähr im Oktober reingekommen sein. Und dann bin ich nach und nach gewachsen. Zuerst sah ich wohl noch ziemlich unförmig aus und war nicht direkt als Menschlein zu erkennen. Aber mit jedem Tag und jeder Woche immer mehr. So sehr, dass man irgendwann erkennen konnte, dass ich wohl ein Mädchen bin.
* * *
A propos erkennen:
Da gibt es noch was, was mich fasziniert ...
Ich liebe Spiegel und habe eine grosse Sammlung verschiedenster Modelle; von gross bis klein; aus Holz oder Metall; alt und modern. Ich habe vor circa zwanzig Jahren angefangen zu sammeln. Ursprünglich nicht, um mich darin anzuschauen, oder gar zu ERKENNEN, was vielleicht keine schlechte Idee gewesen wäre. Denn heute weiss ich, dass es dazu manchmal ein ganzes Leben braucht. Aber so weit war ich damals noch nicht. Hinter meinen ersten Spiegeln steckte die Banalität des täglichen Lebens: Ich wollte ein kleines Haus ohne grosse Baumassnahmen «vergrössern».
Es ging mir tatsächlich nur um den optischen Effekt. Es ist schon phantastisch, wie das Auge sich täuschen lässt. Jeder, der zum Friseur geht, erlebt es hautnah. Überall Spiegel! Alles gross und weit und tief und manchmal auch - erschreckend. Aber alles in allem: Ein kleines Wunder!
Das empfindet sicherlich jeder Mensch anders.
Als mich zum Beispiel meine amerikanische Freundin zum ersten Mal in Südfrankreich besuchte, war ihre erste Reaktion:
«Oh mein Gott, überall Spiegel – wie sehe ich heute nur wieder aus …?»
Ich antwortete ihr ganz erstaunt, dass ich MICH eigentlich gar nicht darin betrachte, sondern lediglich den optischen Effekt geniesse. Und dann zeigte ich ihr, wie ich von meiner Kochstelle über geschickt gestellte Spiegel das Feuer im Wohnzimmerkamin sehen konnte. Oder von der Spüle den Blick auf den TV, ebenso im Wohnzimmer stehend. Ich bin mir heute noch nicht sicher, ob sie mir glaubte. Da Denise sich jedoch sehr für Psychologie interessiert, kannte sie sich bestimmt besser aus mit dem «Spiegelstadium» eines Menschen als ich.
Ich habe erst viel später davon erfahren:
Dass wir Menschen nämlich, erst zwischen ein und drei Jahren, anfangen, uns in einem Spiegel wirklich erkennen zu können; ist das nicht toll? Ein Säugling erkennt im Spiegel noch nicht sich selbst, sondern ein Baby. Ähnlich geht es wohl meinem drei Monate alten Retrieverwelpen derzeit. Aber irgendwann kommt es bei Kindern zu dem grossen Moment, den viele Eltern der jüngeren Generation mit Sehnsucht und Aufmerksamkeit erwarten. Dass nämlich ihr Baby sich selbst entdeckt. Was für ein magischer Augenblick: zum ersten Mal alles zu sehen und nicht nur Stücke von sich selbst. Und zu erkennen, dass dieses andere Baby eigentlich niemand anderes ist als man selbst.
Aber dieser erste Schritt zur Selbstwahrnehmung hat auch eine Kehrseite, wie alles im Leben. Weil es auch mit der grundlegenden Frage einhergeht: Wie sehen uns die anderen? Eine Situation, der sich auch meine amerikanische Freundin vor meinen vielen Spiegeln ausgesetzt sah. Dabei ist sie so schön!
Und ich?
* * *
Mutter hat mir sehr früh zu verstehen gegeben, dass ich ein sehr grosses Mädchen sei. Ich kann mich weniger erinnern, gehört zu haben: … was für ein schönes grosses Mädchen.
Oder vielleicht gar: … so schöne kastanienbraune Haare, die immer länger und seidiger wurden. Oder … wunderschöne bernsteinfarbene Augen. Denn das hätte alles AUCH der Wirklichkeit entsprochen. Aber nein – ich war nur einfach gross. Zu gross und zu dünn. So dünn, dass unser damaliger Hausarzt, ein Freund der Familie, zu meiner Mutter gesagt haben soll:
«Gerda, ihr beide seht aus, als würdest du deiner Tochter alles wegessen und nicht nur den letzten Bissen ...»
Ich stamme noch aus der ersten Nachkriegsgeneration, die ihre Kinder nicht viel gelobt hat. Nicht im deutschen Kulturkreis. Schon eher im Orient und im europäischen Mittelmeerraum. Und sicherlich bei Jungs mehr als bei Mädchen. Aber Gott-sei-Dank hat sich auch in unseren Breiten einiges zum Besseren gewandelt.
Zurück zum Phänomen Körpergrösse und Spiegel. Nicht zum Spiegelstadium, sondern zum Spiegeleffekt. Und zwar dem meiner Mutter.
Geboren 1929, war sie für die damaligen Verhältnisse mit ihren 175 cm sicherlich eine grosse Frau. Sie konnte sich selbst nicht als schön empfinden. Obwohl sie es war. Eine sogenannte «stolze Erscheinung». Aber wer freut sich schon über so ein plumpes Kompliment? Meine Mutter auf jeden Fall nicht; und so wuchs in ihr dieses kleine ungute Gefühl, das sie in mütterlicher Fürsorge, ganz natürlich, an ihre SO grosse Tochter weitergegeben hat. Ein ganz besonderes Geschenk. Weil es ganz persönlich war. Und von Herzen kam.
Dessen ich mich erst entledigen konnte, nachdem ich es ganz ausgepackt hatte. Und das dauerte viele Jahre; eigentlich Jahrzehnte.
* * *
Äusserlichkeiten, wie «Körpergrösse», spielen für uns Menschen oft eine grössere Rolle, als wir glauben. Warum wünschen sich bestimmte Männer kleine, grosse oder gleichgrosse Frauen? Aber umgekehrt Frauen sich selten kleinere Männer; mindestens gleichgrosse, und sehr oft ganz grosse ...
ICH suchte einen ganz grossen, ganz lieben, einfühlsamen, verständnisvollen, intelligenten, respektvollen, interessanten, souveränen, nicht ganz mittellosen, phantasievollen, herzlichen Menschen, der den Mut hätte, mit mir zu leben. Ob mit oder ohne Bart, ob blond, schwarz, rot oder ohne Haare, ob dick oder dünn. Ob europäisch oder afrikanisch, amerikanisch oder asiatisch … war mir egal!
Genau so
fing er also an,
der lange Weg zu Dir,
Chéri ...
und über wen ich da so alles
stolperte …
erzähl ich jetzt:
Ich selbst kann mich überhaupt nicht mehr daran erinnern. Wie sollte ich auch? In den Fünfzigern war es auch noch nicht so Usus, dass werdende Väter bei der Geburt ihrer Nachkommenschaft dabei sein konnten. Oder wollten ...
Bei mir traf bestimmt beides zu. Mein Fall ist nämlich ein etwas spezieller. Und da ich mich aus sehr schwerwiegenden Gründen an diese Zeit meines Lebens nicht mehr erinnern kann, wie so viele Menschen, denen dasselbe in ihrer Kindheit passierte, schliesse ich meinen Frieden damit und stelle sie mir einfach schöner vor, als sie in Wirklichkeit war.
Rudolf Willibald war also nicht das erste Lebewesen, das ich erblickte, als ich auf die Welt kam. Vielleicht war es ja der Arzt? Vielleicht die Krankenschwester oder Hebamme und dann hoffentlich endlich meine Mutter. Aber da ich in diesem Buch über Männer schreibe, musste ich wohl warten, bis Rudolf Willibald von der Arbeit kam. Ich glaube er hat sich sehr gefreut, mich zu sehen. Und ich strahlte ihn an. 34 Jahre lang.
* * *
Heute ist ein kalter, aber sonniger Sonntagnachmittag, irgendwo in Burgund. Gar nicht mal so weit weg von dem Ort, an dem vor fast 30 Jahren auf den Tag genau ein neues Leben begann:
In meiner saarländischen Heimat hatte ich, zusammen mit meiner damaligen Familie, Rudolf Willibald zu Grabe getragen. Es gibt keine schönen Beerdigungen, keinen guten Tag dafür und keine gute Saison. Aber fünf Tage vor Weihnachten ist besonders krass, der Winter im Saarland nicht so schön wie der in Burgund und überhaupt ist Sterben meist nichts Erfreuliches. Ich glaube, Rudolf Willibald hätte das auch so gesehen. Er hat so gerne gelebt.
Manchmal kann der Tod ja auch eine Erlösung von langem Leiden sein und man ersehnt ihn herbei. Nicht so Rudolf Willibald. Er hatte seit vielen Jahren eine ganz besondere, wie für ihn gemachte Krankheit. Wenn er von seinen Routine-Untersuchungen beim Hausarzt zurückkam, sagte er immer voller Zuversicht:
«... mit der Herzerweiterung kann ich steinalt werden ...».
Ich weiss nicht, wer wem was vormachen wollte, aber ich weiss, dass diese Krankheit zu Rudolf passte wie ein zweiter Name: er hatte wirklich und im wahrsten Sinne des Wortes ein grosses Herz. Ich dachte immer, ein Herz kann nicht zu gross sein; aber alles hat wohl seine Grenze, sogar das.
Die ersten Jahre merkten wir alle recht wenig von seiner Krankheit. Es ging ihm nur immer schneller die Puste aus. Bei der Gartenarbeit, beim Hundegang oder beim denkwürdigsten Gang: Dem zur Christmette, der echten, um Mitternacht in einem alten Kloster. Ein Fussweg von ca. 6km durch einen Tannenwald, bei Schnee oder Regen, mit Laterne oder Taschenlampe. Und solange noch genug Puste da war, sogar mit Gesang. Oh Du fröhliche ... und … Es ist ein Ros entsprungen, das waren seine Weihnachtsschlager. Als es zu Fuss nicht mehr ging, fuhren wir alle mit dem Auto, ob Schnee, Regen oder Glatteis, und sangen um die Wette: schlecht, aber laut, voller Lebensfreude und gutem Riesling.
Sein grosses Herz zeigte er an vielen Stellen, aber eine ist mir ganz besonders in Erinnerung geblieben. Immer, wenn es darum ging, einer Person ein Trinkgeld zu geben, die es in seinen Augen auch verdient hatte, war er der Erste und der Grosszügigste. Und oft waren andere Menschen dabei, die es sich viel eher hätten leisten können, zwei oder drei deutsche Mark draufzulegen, denn Rudolf Willibald verdiente nicht viel Geld in seinem Leben.
Ich erzähle hier von einer Zeit, in der es Tabu war, über Geld, Sex und Politik zu sprechen. Aber ich erinnere mich besonders an das kleine weissblaue Büchlein auf dem zu lesen stand: Woher kommen die kleinen Jungen und Mädchen? Und an den Gehaltszettel von Rudolf Willibald. Für mich waren 1275 DM viel Geld. Es muss auch viel Geld gewesen sein, weil Rudolf Willibald es allen in seinem Umfeld hat gut gehen lassen. Und er war grosszügig zu Freunden, Familie und Bekannten. Wie er mir auf einer gemeinsamen Ferienfahrt einmal erzählte, hat er oft selbst für gute Arbeit ein gutes Trinkgeld bekommen. Und davon konnte er uns allen das Leben noch etwas schöner machen, als es 1275 DM sonst zugelassen hätten.
Gott-sei-Dank ist er dann mit 63 Jahren in Vorruhestand gegangen. Zwar gab es dann kein Trinkgeld mehr, aber die Puste reichte einfach nicht mehr für den Fussweg vom Haus zur Arbeitsstelle. Warum er nicht mit dem Auto fahren konnte, werde ich erst später verraten, wenn ich von Hänns erzähle, oder nicht. Aber das mit dem Auto hätte es auch nicht mehr gebracht.
Irgendwann wurde aus der Atemnot Erstickungsangst und die Diagnose in der Uniklinik nicht mehr so positiv wie die vom Hausarzt.
«Vielleicht hätte man vor Jahren eine Herztransplantation versuchen können», meinten die Professoren im Herzzentrum.
«Aber dann hätte der Patient sicherlich nicht die Lebensqualität gehabt, wie er sie ohne diese Operation offensichtlich hatte».
Die Zeit zwischen Weihnachten und Ostern, wie ich gerne mal den Lebenszyklus von Menschen bezeichne, wurde für Rudolf Willibald auf zwischen mindestens drei Monate und maximal drei Jahre geschätzt. Wir hatten Glück. Es wurden drei Jahre! War es auch Glück für ihn? Die Erstickungsanfälle, die Todesangst, die zahlreichen Aufenthalte auf Intensivstationen, die Fahrten mit Blaulicht und die Gefahr im wahrsten Sinne des Wortes «auf der Strecke» zu bleiben - Glück?
Ja, doch. Ich habe ihn so gut gekannt, dass ich glaube sagen zu können, er hat sich über jeden Tag dieser drei Jahre maximaler Lebenszeit freuen können.
Denn: er wollte leben.
Ich danke Dir für so vieles, Rudolf Willibald:
Du hast mir die Gabe zur Lebensfreude geschenkt; Humor, auch wenn er schwarz ist; Menschenkenntnis; Mut und Tapferkeit, aber vor allem ein grosses Herz.
Was mir leid tut, ist, dass Du nicht viel gesprochen hast.
Du warst ein guter Zuhörer, auch das habe ich von Dir gelernt. Aber leider weiss ich so wenig aus Deinem Leben. Wie war Deine Jugend? Der jüngste Spross in einer Familie zu sein, in der die Mutter vom Führer das Eiserne Kreuz für sieben Kinder verliehen bekam und alle Geschwister mit wehenden Fahnen für genau diesen Ver-Führer ins Feld zogen: die Mädchen als Krankenschwestern, und die Jungs als Soldaten der verschiedensten Gattungen. Kein Wunder, dass in dieser Familie nicht mehr über Politik geredet werden durfte.
Was waren Deine Träume? Was waren das für schreckliche Dinge, von denen Du nie erzählen wolltest? Deine Geschichten waren so bruchstückhaft, dass ich mir kein Bild machen konnte. Aber das ist vielleicht auch gar nicht so wichtig.
Wichtig ist, dass ich Dich immer geliebt habe; dass ich es Dir zeigen konnte; Du es spüren und geniessen konntest.
* * *
Noch wichtiger aber ist, dass ich 50 Jahre gebraucht habe zu merken, dass du auch der Vater warst, der seine eigene Tochter angefasst hat und Dinge mit ihr gemacht hat, die sie eigentlich zuerst mit einem anderen Mann hätte erleben sollen.
Und auf keinen Fall im Alter von drei Jahren.
Das kann ich Dir nicht
verzeihen.
Am liebsten würde ich es
vergessen …
verdrängt war es viel zu lange!
Ich hab Dich so geliebt.
Und ich liebe Dich immer noch.
Nur anders.