Der Lavendel-Coup - Carine Bernard - E-Book
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Der Lavendel-Coup E-Book

Carine Bernard

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Beschreibung

Urlaubs-Feeling mit Krimi-Spannung in einem kleinen Dorf in der Provence: EU-Ermittlerin Molly Preston löst ihren ersten Fall Molly Preston liebt ihren Job als EU-Ermittlerin, der sie an die schönsten Orte Europas führt: In einem idyllischen kleinen Dorf in der Provence soll sie einen Fall von Wirtschaftskriminalität aufdecken. Bei ihren Ermittlungen entdeckt Molly geheimnisvolle Zeichen an der Wand einer kleinen Kapelle, die auf einen alten Goldschatz hinzuweisen scheinen. Tatkräftig unterstützt von ihrem Freund Charles – seines Zeichens erfolgreicher Krimi-Autor – stellt Molly Nachforschungen an und stößt auf das Geheimnis um einen nie geklärten Bankraub in der Provence. Doch plötzlich gibt es einen Toten, und die Jagd nach dem hundert Jahre alten Goldschatz wird zum Schlüssel für Mollys aktuellen Fall … Molly Preston löst ihre Fälle mit Intelligenz, Charme und den Mitteln modernster Technik. Neben der Provence hat sie auch schon in Schottland, Wien und auf Mallorca ermittelt. Die Urlaubs-Krimis von Carine Bernard sind in folgender Reihenfolge erschienen: • Der Lavendel-Coup (Provence) • Das Schaf-Komplott (Schottland) • Die Schnitzel-Jagd (Wien) • Der Drachen-Klau (Mallorca)

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Seitenzahl: 305

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Carine Bernard

Der Lavendel-Coup

Ein Provence-Krimi

Knaur e-books

Über dieses Buch

Ein Fall für Molly Preston!

Molly Preston ist hochintelligent, bildhübsch und gebildet. Sie kann alles, weiß viel und hat einen spannenden Job als Ermittlerin in einer sehr geheimen Abteilung der EU.

Ihr neuer Fall führt Molly nach Südfrankreich, in ein kleines Dorf in der Provence zwischen alten Olivenbäumen und den ewig singenden Zikaden. Dort soll sie die dunklen Machenschaften eines angesehenen Bankiers aufdecken. Doch zunächst hilft sie bei der Restaurierung einer alten Kapelle und findet dabei geheimnisvolle Zeichen in der Wand. Zusammen mit ihrem Freund Charles entschlüsselt sie die Botschaft und stößt auf ein altes Geheimnis um einen nie geklärten Bankraub. Aber dann gibt es einen Toten und die Jagd nach dem hundert Jahre alten Schatz wird zum Schlüssel für ein hochaktuelles Verbrechen …

Inhaltsübersicht

Kapitel 1Kapitel 2Kapitel 3Kapitel 4Kapitel 5Kapitel 6Kapitel 7Kapitel 8Kapitel 9Kapitel 10Kapitel 11Kapitel 12NachsatzLeseprobe Der Drachen-Klau
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Kapitel 1

Molly Preston kniete auf den kalten Steinfliesen der Kapelle und schabte mit einem kleinen Spachtel geduldig die weiße Farbe von der Wand. Sehr weit war sie heute noch nicht gekommen, denn nach unten hin schienen die Farbschichten an der Wand immer dicker zu werden. Es war, als ob die Farbe über die Jahre nach unten geflossen wäre, wie bei einer alten Fensterscheibe.

Im mittleren Drittel der Wand hatte Molly bereits begonnen, das darunterliegende Fresko freizulegen. Vage ließen sich schon Gestalten und eine Bordüre erahnen, doch obwohl dieser Teil der spannendere ihrer Aufgabe war, arbeitete sie sich trotzdem geduldig nach unten vor.

Als sich ein größeres anhaftendes Stück Kalkfarbe im Ganzen von seinem Untergrund löste, nahm sie die darunterliegende Schicht genauer in Augenschein. Eigentlich war hier noch keine Wandmalerei zu erwarten, die weiße Farbe war noch zu dick aufgetragen, dennoch konnte sie dunkle Zeichen im weißen Kalk erkennen. Vorsichtig entfernte sie die Reste von Weiß und legte schließlich ein Muster aus Schlangenlinien und Strichen frei. Sie ließ sich auf die Fersen zurückfallen und betrachtete ihren Fund.

Mit den alten Fresken von weiter oben hatte das mit Sicherheit nichts zu tun, das konnte sogar sie als Laie sehen. Die Schicht, in der sie ihren Fund gemacht hatte, war eine ganz andere, viel oberflächlicher und jünger als die bunten Bilder, die im Lauf der Jahrhunderte mehrfach weiß überstrichen worden waren. Doch was hatte das zu bedeuten?

Molly beugte sich vor und untersuchte das schuppenförmige Stück weißer Farbe, das in einem Stück dem Druck ihres Spachtels nachgegeben hatte. Dann setzte sie das Werkzeug vorsichtig an der Kante an und spaltete die oberste Schicht ab. Noch mehr Striche. Wie ein Puzzle passte das lose Stück zum Rest, der noch an der Wand haftete, und bildete eine Pfeilspitze.

Sie legte es beiseite und begann, das Muster weiter zu verfolgen. Zweimal löste sie dabei weitere große Farbschuppen ab, die sie sorgfältig zu dem anderen legte. Am Ende hatte sie eine Fläche von vielleicht 10 Zentimetern in der Höhe und 40 Zentimetern in der Breite freigelegt. Hätte man zuvor noch eine zufällige Musterung oder eine Schmuckkante vermuten können, so wurde jetzt klar, dass hier jemand eine Botschaft hinterlassen hatte, denn am linken Ende des Zeichens waren sogar einige Zahlen zu sehen. Doch welche geheime Schrift, welche Sprache sollte das darstellen?

Molly durchforstete ihr Gedächtnis; das Muster schien ihr vage vertraut, aber eine konkrete Erinnerung wollte sich nicht einstellen. Am Ende fotografierte sie die Wand und die drei losen Teile mit der Kamera ihres Smartphones und verschob genauere Nachforschungen auf später.

Ihre Aufgabe war es, die Wand von den alten Farbschichten zu befreien und das darunterliegende mittelalterliche Wandgemälde freizulegen. Die Feinarbeit und die nachfolgende professionelle Restaurierung der Fresken würden später die Spezialisten übernehmen. Sie selbst sollte nur die grobe Vorarbeit leisten, dafür wurde sie bezahlt. Es war beileibe nicht die Art von Arbeit, die sie normalerweise verrichtete, doch es erschien ihr immer noch die einzige Möglichkeit, an Fondette heranzukommen und ihren eigentlichen Auftrag zu erfüllen.

 

Claude du Fondette war ein Pariser Geschäftsmann, der ein weit verzweigtes Imperium von kleinen Privatbanken kontrollierte. Sehr konservativ und gediegen war der äußere Eindruck, das Vertrauen seiner Kunden war sein größtes Kapital. Seine Angestellten waren handverlesen, und erst nach Jahren bestand für sie die Chance, in die höhere Führungsebene aufzusteigen und mit dem Maître persönlich zusammenzuarbeiten.

So viel Zeit hatte Molly nicht, und so hatte sie sich das neueste Projekt von Monsieur du Fondette zunutze gemacht: die Restaurierung einer winzigen Kapelle mitten in den provenzalischen Bergen, ein paar Kilometer außerhalb eines kleinen Dorfes namens Mirocène. Dies sollte ihm wohl den Ruf eines Kunstmäzens oder Förderers lokaler Geschichte eintragen, oder vielleicht auch beides.

Im Vertrauen in die Fähigkeit ihres Chefs, für sie einen wasserdichten Lebenslauf zu schaffen, hatte sich Molly als Marie Bonnieux, Studentin der Kunstgeschichte, ausgegeben und sich um einen Praktikumsplatz bei der Banque du Fondette beworben. Nach einem eingehenden Vorgespräch war sie angenommen worden, und wie erwartet hatte man sie zur Restaurierung der Kapelle abgestellt. Und tatsächlich war sie dem geheimnisvollen Monsieur du Fondette auch schon persönlich begegnet, er hatte ihr sogar die Hand gegeben und ihr versichert, dass diese Tätigkeit für ihr Studium von großem Nutzen sein werde. Weiter war sie allerdings nicht gekommen, und inzwischen zweifelte sie an der Sinnhaftigkeit ihrer Idee, auf diesem Wege etwas über die dunklen Geschäfte dieses Mannes herausfinden zu können.

Die Banque du Fondette stand in Verdacht, an einem florierenden Handel mit illegal erworbenem Wissen maßgeblich beteiligt zu sein. Genauer gesagt ging es um Wirtschafts- und Finanzspionage, die es Monsieur du Fondette und seinen Geschäftspartnern ermöglichte, im richtigen Moment Anlagen zu tätigen oder riskante Papiere zum bestmöglichen Zeitpunkt abzustoßen. Die investierten Beträge waren nicht hoch genug, um besonders aufzufallen, doch in der Summe waren die so erzielten Gewinne enorm. Und dank der schieren Anzahl seiner Filialen – allein in Frankreich waren es über vierzig Institute – war die genaue Größenordnung der dunklen Geschäfte nur schwer nachzuvollziehen.

Mollys Auftrag lautete, sich in Fondettes Firmennetzwerk einzuschleusen und von dieser Position aus nach Anhaltspunkten für diesen ungeheuerlichen Verdacht zu suchen. Sie musste Informationen zusammentragen und am Ende die nötigen Beweise finden, um den hoch angesehenen Finanzmann zu überführen.

Sie machte diese Art von Job nicht zum ersten Mal. Ihre Herkunft und ihre vielfältigen Fähigkeiten, zusammen mit ihrem Aussehen und ihrer Intelligenz, ermöglichten es ihr, fast jede Stelle in einem Unternehmen zu besetzen und sich schnell genug hochzuarbeiten, um an Insider-Informationen heranzukommen. Sie war mehrsprachig aufgewachsen und beherrschte Deutsch, Französisch und Englisch wie ihre Muttersprache. Dank ihres japanischen Großvaters kam sie sogar mit asiatischen Sprachen zurecht, doch sein Blut verriet sich nur in einer leichten Schrägstellung ihrer dunkelblauen Augen und dem fast schwarzen Haar.

Aber Claude du Fondette hatte Marie Bonnieux noch nicht einmal als Person wahrgenommen, zumindest war das bei ihrem Zusammentreffen ihr Eindruck gewesen. In ihren staubigen Jeans und mit dem Tuch über dem zurückgebundenen dunklen Haar, ungeschminkt, die Fingernägel schmutzig und abgebrochen, war es aber auch kein Wunder: Die Frauen, mit denen sich der Bankier normalerweise umgab, sahen anders aus.

Nein, für ihn war sie nur ein weiteres Paar Hände, das sich seinem Projekt widmete, so wie die einheimischen Bauern, die in der Hauptkapelle den Fußboden freilegten, oder die Zimmerleute, die letzte Woche unter dem Steindach die Balken erneuert hatten.

In ihrem winzigen Seitenschiff war sie tagsüber so gut wie allein mit den eher filigranen Tätigkeiten beschäftigt, und wenn sie ehrlich war, langweilte sie sich inzwischen zu Tode.

 

Molly fuhr zusammen, als ihr Matthieu auf die Schulter tippte und in seinem schwer verständlichen Französisch »Feierabend« sagte. Nichts und niemand hatte sie auf die Sprache vorbereitet, die die Menschen hier sprachen. Eigentlich beherrschte Molly Französisch fließend, hatte auch einige Jahre bei ihren Großeltern in Paris gelebt, doch diese Leute zu verstehen war im Lehrplan nicht vorgesehen gewesen.

Das Verhältnis zu ihnen war trotzdem sehr freundschaftlich. Matthieu und seine beiden Freunde behandelten sie mit der ausgesuchten Höflichkeit der älteren Landbevölkerung, und gleichzeitig war sie so etwas wie ihr Schützling, auf den es aufzupassen galt. Sie verbrachten die Pausen zusammen und teilten ihre Brotzeit mit ihr, die meist aus rundem weißem Brot, aromatischem Käse und rosafarbenem Wein bestand.

Und so wie eben machte Matthieu sie immer auf das Ende des Arbeitstages aufmerksam. Molly erhob sich und lächelte ihn an.

»Merci Matthieu! Seid ihr heute gut vorangekommen?«

»Ja, wir haben die hintere Ecke fertig gemacht«, antwortete er. »Der Chef wird zufrieden sein.«

Molly nickte zustimmend. Sie konnte inzwischen immer besser erraten, was er sagte, und zusammen mit seinen Handbewegungen und dem Arbeitsfortschritt vorne im Altarraum war klar, was er meinte.

Sie folgte Matthieu nach draußen und bewegte ihre verspannten Schultern. Offenbar hatte sie länger auf dem Boden gekauert und über den geheimnisvollen Zeichen sinniert, als ihr guttat, und nun protestierten die schmerzenden Muskeln.

Die Sonne stand tief über den umgebenden Berghängen und tauchte die Natursteinwand der Kapelle in ein warmes Licht. Das trutzige Gebäude war direkt an einen Abhang gebaut, und daneben befand sich eine kleine ebene Fläche, die an zwei Seiten von einer niedrigen Steinmauer umgeben war. Hinter der Mauer ging es unmittelbar drei oder vier Meter in die Tiefe, in der Ecke führten grob gemauerte Stufen nach unten zu einem Olivenhain. In der Mitte der so entstandenen Terrasse wuchs ein knorriger Olivenbaum, dessen gewundener Stamm sicherlich auch eine interessante Geschichte erzählen könnte. Einige niedrige Buchsbäume vervollständigten das Rund, und in ihrem Schatten stand eine gusseiserne Schwengelpumpe, die frisches Quellwasser spendete. Direkt an der Wand der Kapelle befand sich ein Mauervorsprung, fast schon eine kleine Bank. Darauf saßen Pierre und Colombin, Matthieus Freunde und Arbeitskollegen, und warteten auf sie. Alle drei waren sie Bauern aus der Umgebung, mit wettergegerbten Gesichtern und knorrig wie alte Bäume. Normalerweise verdienten sie ihr Geld mit dem Anbau von Oliven, Feigen und Lavendel, aber die Lavendelernte war schon lange vorbei, die Haupterntezeit der Feigen kam erst im Herbst, und die Oliven wuchsen ebenfalls von allein und brauchten außer zur Ernte im November nicht viel Aufmerksamkeit. So waren sie froh über jede Gelegenheitsarbeit, die ihnen zwischendurch angeboten wurde.

Als Molly aus der Kapelle trat, erhoben sich Pierre und Colombin und folgten ihr zu dem alten Landrover, der dreißig Meter weiter im Schatten unter ein paar Bäumen parkte. Am Vortag hatte es kurz geregnet, und auf dem geschotterten Zufahrtsweg stand noch eine große flache Pfütze. Als Molly daran vorbeiging, erhob sich ein Meer von kleinen lilafarbenen Schmetterlingen, die sich hier am seichten Wasser versammelt hatten. So legte sie die letzten Meter zum Geländewagen in einer Schmetterlingswolke zurück und setzte sich auf den Beifahrersitz. Colombin schloss schwungvoll die Tür, die er für sie aufgehalten hatte, und stieg mit Pierre hinten ein, während Matthieu den Motor anließ.

Zwanzig Minuten und einige Serpentinen später erreichten sie das Dorf Mirocène. Unterwegs hatten sie am Hof von Colombin angehalten, um ihn dort abzusetzen, und als der Wagen auf den Marktplatz einbog, brach schon die Dämmerung herein. Matthieu parkte den Landrover vor dem einzigen Café am Platz, das hier die Funktion von Hotel, Restaurant und Brasserie in einem erfüllte. Gemeinsam bahnten sie sich einen Weg durch die Tische und Stühle auf dem breiten Bürgersteig und betraten den eigentlichen Gastraum. Während Matthieu und Pierre winkend und grüßend nach hinten zur Theke gingen, eilte Molly die dunkle Holztreppe nach oben. Vier Gästezimmer hatte das Hotel zu bieten, nur für den Fall, dass sich doch einmal ein Tourist hierher verirren und ein Bett für die Nacht suchen sollte. Trotz der Nähe zum Mont Ventoux war Mirocène noch nicht dem Tourismus verfallen. Es lag zu weit entfernt von den größeren Zentren der Region wie Carpentras oder Vaison la Romaine, und die schmale Straße nach Sault war zwar fast ebenso kurvenreich wie die berühmtere Strecke durch die Gorges de la Nesque auf der anderen Seite des Tals, bot aber nicht die grandiosen Ausblicke und dramatischen Felsabstürze wie diese. Der Anfahrtsweg zum Mont Ventoux war selbst für motivierte Fahrradfahrer zu weit, und auch für einen Campingplatz schien es hier nicht genügend ebene Fläche zu geben.

Doch Molly war das ganz recht. Sie hatte schon immer lieber mit den Einheimischen gelebt, als sich in touristischen Zentren aufzuhalten.

Sie legte ihre Leinentasche aufs Bett, zog sich das staubige T-Shirt über den Kopf und verschwand unter der Dusche. Fünfzehn Minuten später fühlte sie sich wie ein neuer Mensch. Sie schlüpfte in eine karierte Bluse und frische Jeans, bürstete ihre noch feuchten Haare aus und band sie lose im Nacken zusammen. Kurz musterte sie ihr Gesicht im Spiegel. Die zwei Wochen unter der südfranzösischen Sonne ließen die Sommersprossen auf ihrer Nase stärker hervortreten, und ihr normalerweise fast schwarzes Haar zeigte einen deutlichen braunen Schimmer. Die leichte Schrägstellung der Augen, die sie dem japanischen Zweig ihrer Familie verdankte und die sie normalerweise durch hoch ausgezupfte Augenbrauen und etwas Schminke betonte, fiel dagegen kaum noch auf.

Molly nahm ihre Tasche und begab sich nach unten. Sie mied den Gastraum, der sich inzwischen mit den Männern aus dem Dorf gefüllt hatte, obwohl sie dort sicher willkommen gewesen wäre. Sie wollte an die frische Luft, nicht nur, weil der laue Sommerabend und das abendliche Treiben auf dem Hauptplatz des Dorfes zum Sitzen im Freien einluden, sondern auch, weil die Tische vor Jacques Hotel einer der wenigen Punkte waren, wo man mit dem Handy genügend Empfang hatte, um eine stabile Internetverbindung zu bekommen.

Jacques Frau brachte ihr ohne nachzufragen eine Karaffe mit gut gekühltem Roséwein und eine Flasche Wasser. »Bonsoir Marie«, begrüßte sie sie. »Wir haben heute Soup au Pistou, ist das in Ordnung?«

Molly strahlte die Wirtin an und nickte zustimmend. Es blieb ihr auch nicht viel anderes übrig; die Alternative wären Brot und Käse gewesen, was allerdings auch nicht zu verachten war. Doch Margot war eine hervorragende Köchin, und ihre Suppen waren im weiten Umkreis berühmt.

Molly zog ihr Smartphone aus der Tasche und schaltete es ein. Sie hielt ihr Gesicht in die Erfassung der Kamera und wartete auf die Verbindung zur Außenwelt. Zum Glück fiel das Handy nicht auf ihre veränderte Frisur herein, und so erhielt sie schnell das Entsperrsignal der Gesichtserkennung. Ohne Netzverbindung war es nicht sinnvoll, das Telefon tagsüber einzuschalten, aber nun vibrierte es in ihrer Hand, als die verpassten E-Mails eintrafen. Schnell ging sie die Liste durch, fand jedoch nichts Dringendes oder Wichtiges, nur die E-Mail von Charles öffnete sie.

Sie begann mit »Ma chère Marie«, und schmunzelnd las Molly seine ersten Zeilen. Er schrieb so gut wie nie Privates oder Persönliches in seinen Mails oder Briefen; diese Angewohnheit war ihrem Job geschuldet, in dem ein Abhören oder Ausspionieren ihrer Post niemals ganz auszuschließen war. Seine Mailadresse würde keine Rückschlüsse auf den Absender zulassen, genauso wie ihre eigene Adresse die der Pariser Universität war und zu ihrer Legende gehörte. Diese Vorsicht war eigentlich übertrieben, denn sie befand sich hier in keiner Position, in der sie Verdacht erwecken könnte. Und selbst wenn jemand ihre Korrespondenz vom Server der Universität aus überwachen sollte, wäre der Mailverkehr mit ihrem Freund harmlos genug. Doch sie pflegten diese Art des Umgangs nun schon zu lange, um dies auf einmal zu ändern.

Dann kam schon ihre Suppe, und dazu wurden ein Korb mit frischem Weißbrot sowie ein Teller mit Butter aufgetragen. Während sie aß, war sie nur halb bei der Sache und grübelte über den heutigen Fund nach, die krausen Zeichen, die sie unter, nein eher in der weißen Wandfarbe gefunden hatte. Sie öffnete den Browser ihres Handys und lud das Foto der geheimnisvollen Kritzelei in die Bildersuche von Google hoch. Es dauerte ziemlich lange. Die Netzverbindung war zwar vorhanden, aber nicht sehr schnell, und das Ergebnis war enttäuschend. Moderne Kunst, Tuschezeichnungen, Fotos von Schriftstücken, aber nichts, was ihr weiterhalf.

Dabei kamen ihr die Symbole vage bekannt vor, sie konnte sie nur nicht zuordnen. Vielleicht lag es aber auch an ihrer Müdigkeit und dem Glas Wein, das sie inzwischen getrunken hatte.

Sie öffnete ihren Messenger und wählte Charles’ Avatar. Sie lud das Foto aus dem Album und schrieb darunter: »Fällt dir dazu etwas ein? Das habe ich heute in der Kapelle gefunden.«

Das Risiko, dass ein Außenstehender die Nachricht abfangen und das Bild sehen könnte, war gleich null, denn ihr Handy versendete und empfing alle Nachrichten nur verschlüsselt. Genau genommen waren alle Daten auf dem Telefon verschlüsselt, sodass niemand etwas mit dem Inhalt anfangen konnte, falls ihm das Gerät in die Hände fiel. Jede Kommunikation lief über den Server ihrer Abteilung in Brüssel, wo die Nachricht entschlüsselt und dann erst dem Empfänger zugestellt wurde.

Molly schob den leer gegessenen Teller von sich und bestrich das letzte Stück Brot mit Butter. Während sie daran herumknabberte, beobachtete sie das Treiben auf dem Platz. Es war erstaunlich, wie viele Menschen hier abends unterwegs waren, vor allem wenn man berücksichtigte, wie klein das Dorf war. Am Brunnen hatte sich die Dorfjugend versammelt, schlaksige Jungen und schlanke Mädchen, die auf der steinernen Brüstung hockten wie die Spatzen auf einem Dach und sich angeregt unterhielten.

Die Mitte des Platzes wurde von einem Boulefeld dominiert, dem die umstehenden Platanen auch in der schlimmsten Mittagshitze ausreichend Schatten spendeten. Hier trafen sich jeden Abend und manchmal auch schon mittags die älteren Männer des Dorfes. Auch heute schallte das Klacken und Knallen der Metallkugeln durch den Abend, und Molly verfolgte mit müßigem Interesse den Fortgang des Spiels. Der alte Jules lag wie fast immer in Führung; er war der Einzige, der das Spiel in seiner Jugend quasi professionell gespielt und es immerhin bis in die provenzalische Landesliga geschafft hatte.

Ein Brummen des Telefons riss sie aus ihren Gedanken. Es war die Antwort von Charles, der das Foto, das sie ihm zuvor geschickt hatte, offenbar besser zuordnen konnte: »Das sieht aus wie ein Gaunerzinken, links steht ein Datum, den Rest muss ich noch recherchieren!«

Molly rief erneut das Zeichen auf, das sie fotografiert hatte. Wenn das stimmte, was Charles schrieb, und es gab eigentlich keinen Grund, daran zu zweifeln, dann musste es am 23. Mai 1912 angebracht worden sein.

Molly rief nochmals Google auf und gab »Gaunerzinken« ein, doch die ersten Ergebnisse halfen ihr nicht weiter. Die Darstellung auf dem Telefon war eigentlich zu klein, um die Zeichen zuordnen zu können, und das langsame Netz machte eine Recherche im Internet ohnehin zum Geduldsspiel. Schließlich schaltete sie frustriert den Bildschirm wieder aus und ging hoch in ihr Zimmer. Sie beschloss, sich gleich schlafen zu legen, denn morgen früh um acht Uhr würde sie mit Matthieu und Pierre wieder zur Kapelle fahren und ihre Arbeit fortsetzen.

Morgen war Freitag, da machten sie schon mittags Schluss, und sie wollte das Wochenende nutzen, um nach Avignon zu fahren. Zwei Nächte in einem Hotel, ein Bummel durch die Altstadt, Straßenmusikanten und vielleicht ein Besuch im Theater – das hatte sie sich nach der staubigen Arbeit in der Kapelle verdient.

Charles war leider nicht abkömmlich, er recherchierte gerade für sein neues Buch und hielt sich in Italien auf. Er war ein höchst erfolgreicher Autor von Kriminalromanen und konnte sich die Schauplätze seiner Geschichten und damit seine Arbeitsstätten selbst aussuchen. Und üblicherweise spielten diese an den schönsten Plätzen Europas.

Mit dem Gedanken an Charles, der gerade an einem Strand am Mittelmeer saß, und einem leisen Anflug von Neid schlief sie ein.

[home]

Kapitel 2

Am nächsten Morgen wurde Molly von den melodischen Klängen der Alarmfunktion ihres Smartphones geweckt. Sie wusch sich das Gesicht, bürstete ihre Haare und band sie im Nacken zu einem hohen Pferdeschwanz zusammen, der sie sofort um fünf Jahre jünger aussehen ließ. Ein buntes Schaltuch darüber, um sie vor dem schlimmsten Staub zu schützen, alte Jeans und eine frisch gewaschene Bluse vervollständigten ihre Arbeitskleidung.

Im Hauptraum des Cafés wünschte sie Margot »Bonjour« und nahm an einem Tisch am Fenster Platz. Margot brachte sofort ein rundes Tablett mit einer Kanne Kaffee, einem Kännchen heißer Milch und einer Tasse, dazu zwei Croissants in einem Körbchen und einen kleinen Extrateller mit Butter. Ein Glas Feigenmarmelade und ein Töpfchen mit Lavendelhonig standen schon auf dem Tisch.

Molly hatte gerade ihr Frühstück beendet, als Matthieu draußen hupte. Sie stand auf, winkte Margot im Hinausgehen zu und stieg zu ihm in den Wagen. Auf der Rückbank saß schon Pierre und begrüßte sie freundlich. Hinten im Kofferraum rumpelten Werkzeug und Wasserflaschen, als sie die schmale Straße hoch zur Kapelle fuhren. Colombin kam heute nicht mit, so dauerte die Fahrt nicht einmal zehn Minuten.

 

Molly hatte sich vorgenommen, heute den Bereich um ihren gestern gefundenen »Gaunerzinken« großflächig von Farbe zu befreien, in der Hoffnung, dass weitere ähnlich geartete Zeichen auftauchten. Das Arbeiten erforderte große Sorgfalt, denn diese Zeichen waren nicht unter den weißen Farbschichten aufgetaucht, sondern sozusagen dazwischen, und wenn die Farbe nicht zufällig am Stück abgeblättert wäre, hätte sie das Gekritzel wahrscheinlich übersehen.

Drei Stunden später hatte Molly den gesamten Bereich der rechten unteren Ecke bis auf den Verputz freigelegt und sah bereits die farbigen Fresken, die vor sechshundert Jahren direkt in den feuchten Kalkputz gemalt worden waren. Nur die Stelle mit »ihrem« Gaunerzinken war noch von weißer Farbe bedeckt. In den anderen Farbschichten hatte sie keine weiteren Zeichnungen mehr gefunden, obwohl sie sich akribisch durch die einzelnen Schichten gearbeitete hatte.

Als nächster Schritt blieb ihr nur noch, auch den Gaunerzinken zu entfernen, denn ihre Aufgabe bestand natürlich immer noch darin, die alte Farbe abzutragen und die Fresken freizulegen.

Vorsichtig klopfte sie also die restlichen Bruchstücke ab und legte sie zusammen mit den Teilen von gestern wie ein Puzzle auf dem Boden aus. Das Zeichen war nun besser zu erkennen, die Ziffern auf der linken Seite, ein lang gezogener Pfeil mit einer Schlangenlinie, dessen Spitze nach rechts in die Ecke der Seitenkapelle wies, unterbrochen von zwei diagonalen Strichen und darum herum angeordnete kleine Kreise.

Molly machte noch weitere Fotos von der kompletten Darstellung; diese wollte sie später an Charles schicken, vielleicht halfen sie ihm weiter.

Als Nächstes ging Molly zu der Ecke, in die der Pfeil wies, und trug auch dort die Farbschicht bis in den Winkel hinein ab. Doch falls der Pfeil wirklich eine Richtungsangabe darstellen sollte, konnte sie an dieser Stelle jedenfalls nichts entdecken. Außerdem wurde die Farbe zum Rand hin auch dünner, so als ob die Maler in den Ecken nachlässig gearbeitet hätten; dementsprechend stieß sie schnell auf die Schicht aus Feinkalk, die hier zum Rand der Wand hin aber keine Bemalung mehr aufwies.

Molly sah auf die Uhr und stellte fest, dass es bereits kurz vor zwölf war. Die Geräusche aus dem Hauptschiff der Kapelle waren schon seit einiger Zeit verstummt, demnach hatten Matthieu und Pierre ihre Arbeit beendet und waren wohl bereits dabei, das Werkzeug zu reinigen, aufzuräumen und den Raum sauberzumachen.

Molly stand auf und suchte ihre Spachtel zusammen. Sie brachte sie nach draußen und wusch sie in dem kleinen Steintrog, der von der gusseisernen Pumpe gespeist wurde. Anschließend legte sie sie zum Trocknen auf die Steinbank und flüchtete schnell wieder in die dämmrige Kühle der Kapelle.

Sie nahm den Besen, der neben der Türe stand, und fegte die Farbreste in ihrem Arbeitsbereich auf einen Haufen. Sie war gerade fertig, als sie Matthieu und Pierre vom Auto zurückkommen hörte. Pierre betrat das Seitenschiff mit einer Metallschaufel, und sie half ihm, die Farbe und den Schmutz auf das Blech zu kehren.

Pierres Blick fiel auf die Bruchstücke des Gaunerzinkens, die noch dort lagen, wo Molly sie aufgereiht hatte. »Qu’est-ce que c’est?«, fragte er.

»Je ne sais pas«, antwortete Molly, »Ich weiß es nicht. Das habe ich in der Wand unter der Farbe entdeckt.«

Pierre hockte sich hin und betrachtete das Zeichen genauer. Mit dem Finger fuhr er den Pfeil und die Schlangenlinie entlang.

»Wo genau hast du das gefunden?«, wollte er wissen.

Molly deutete mit dem Finger auf den Wandabschnitt. Pierres Blick folgte der Wand in die Richtung des Pfeiles und er zuckte mit den Schultern.

»Weißt du, was das ist?«, fragte Molly.

»Nein«, antwortete Pierre. »Es sieht aus, als hätte jemand etwas an die Wand gemalt. Vielleicht ein Maler oder ein Maurer?«

»Ja vielleicht«, meinte Molly.

Pierre hatte offenbar das Interesse verloren. Er erhob sich und trug die Schaufel hinaus, Molly folgte ihm mit dem Besen und stellte ihn wieder hinter die Tür. Pierre kippte den Schmutz in den großen Schuttsack, der hinten an der Wand stand, und folgte ihr nach draußen. Matthieu wartete schon auf sie und schloss die Kirchentüre mit einem großen altmodischen Bartschlüssel ab, den er danach hinter einen losen Stein in der Kirchenwand schob.

Gemeinsam gingen sie zum Auto. Molly holte noch eine Flasche Wasser aus dem Kofferraum, dann nahm sie auf dem Beifahrersitz Platz und trank die halbe Flasche in einem Zug leer. Matthieu grinste ihr zu, startete den Motor und ließ den Wagen über den steilen Weg zur Straße rollen.

»Was hast du am Wochenende vor?«, fragte Matthieu.

»Ich werde nach Avignon fahren, ich möchte mal wieder in die Stadt!«, antwortete Molly mit einem Augenzwinkern.

»Das ist gut«, stimmte Matthieu ihr zu. »Ein junges Mädchen wie du langweilt sich bestimmt in unserem Dorf.«

Molly musste lachen. In ihrer Rolle war sie 23 Jahre alt, in Wahrheit jedoch ein wenig älter, aber für Matthieu, der aussah, als hätte er noch den letzten Weltkrieg miterlebt, mochte sie wirklich so jung erscheinen.

 

Zurück in Mirocène verabschiedete sich Molly von Matthieu und Pierre und winkte ihnen hinterher, als sie wendeten und wieder in die Richtung davonfuhren, aus der sie gekommen waren. Schwungvoll betrat sie das Bar-Restaurant-Hotel-Café und lief die Treppe zu ihrem Zimmer hoch. Eine schnelle Dusche, umziehen, ein paar Sachen packen – schon nach einer halben Stunde saß sie in ihrem kleinen Auto und war auf dem Weg nach Avignon.

Zwei Stunden später war es immer noch sehr heiß, als sie vor dem Hotel Le Corbert parkte und aus dem Auto stieg. Sie nahm ihre Reisetasche vom Beifahrersitz und betrat den Empfangsraum. Es dauerte nur ein paar Sekunden, bis eine rundliche Dame aus dem hinteren Bereich des Hotels kam und sie freundlich begrüßte.

»Mademoiselle Henriche, n’est-ce pas?«

Molly lächelte freundlich zurück und holte ihren deutschen Pass aus der Handtasche. Er lautete auf Marie Heinrich, 24 Jahre alt, wohnhaft in Düsseldorf.

Sie hatte hier vor drei Tagen reserviert und Glück gehabt, noch ein Zimmer in diesem gemütlichen kleinen Hotel direkt in der Altstadt zu bekommen. Aber es war Ende August, das berühmte Theaterfestival war vorbei und damit auch die Zeit der exorbitanten Preise in den Hotels und Restaurantpreise.

Molly nahm den Zimmerschlüssel in Empfang und stieg die Treppe hinauf. Das Zimmer war nicht groß, aber sehr gemütlich eingerichtet. Die Teppiche, Vorhänge und der Bettüberwurf in Rot und Orange gaben ihm einen leicht orientalischen Anstrich.

Molly streckte sich kurz auf dem breiten Bett aus und genoss die weiche Matratze, doch es hielt sie nicht lange. Sie hatte noch etwas vor, und das duldete keinen Aufschub. So kämmte sie sich nur kurz die Haare, schlang sie im Nacken zu einem Knoten, setzte ihre Sonnenbrille auf und verließ das Hotel.

 

Auf der Fahrt nach Avignon hatte Molly spontan beschlossen, eine der dortigen Stadtbibliotheken aufzusuchen. Die Médiathèque Ceccano war nur ein paar Straßen entfernt und erschien ihr als der richtige Ort, um zu dem Datum zu recherchieren, das sie auf dem Zeichen in der Kapelle gefunden hatte.

Am Eingang zeigte sie ihren französischen Studentenausweis und bekam einen Computerarbeitsplatz zugewiesen. Der Zugang zum Internet erforderte keine weiteren Zugangsdaten und war nicht verschlüsselt; das war ihr hier aber egal, sie hatte nichts zu verbergen.

Gespannt gab sie das Datum bei Google ein: 23.05.1912.

Sofort spuckte die Suchmaschine jede Menge Ergebnisse aus: Wikipedia-Einträge zu Geburts- und Todesdaten, Kricket- und Fußballergebnisse, aber nichts, was auf den ersten Blick brauchbar erschien.

Interessantere Ergebnisse kamen erst, als sie das Datumsformat anpasste und »23-05-1912« zusammen mit »Carpentras« eingab, der Hauptstadt der Region. Eine Sammlung von Zeitungsausschnitten, die man online bestellen konnte, ergab schließlich einen Hinweis auf einen Banküberfall an diesem Datum in Carpentras, nur 24 Kilometer von Mirocène entfernt. Die winzigen Vorschaubilder der Zeitung »Le Petit Journal« waren im Internet nicht lesbar, für 18 Euro könnte man die Ausgabe jedoch bestellen oder für 9 Euro herunterladen.

Sie notierte sich die Ausgabe und die Schlagzeile »Braquage de la Banque du Fondette« und stutzte. Das war ja ein interessanter Zufall, der Name der Bank war auch der Name ihres Auftraggebers. Aus alter Gewohnheit löschte sie den Browserverlauf und fuhr den Rechner herunter.

Sie ging zurück in den großen Eingangsbereich.

»Où est l’archiv des journeaux?«, fragte sie die Dame am Informationstresen nach dem Zeitungsarchiv.

»Là-bas, la porte à droite«, antwortete diese und deutete in die entsprechende Richtung.

Molly folgte der Handbewegung und betrat einen langen dunklen Saal mit zahllosen Schränken und Schubfächern. Kurz musste sie sich orientieren, dann folgte sie dem Gang nach hinten, bis sie zu der Beschriftung »1912« kam. Im richtigen Regal angekommen, zog sie das Fach vom 24. Mai auf. Auf Mikrofilm lagen hier die Ausgaben mehrerer Zeitungen, und sie nahm die zwei obersten an sich. Sie schloss das Schubfach wieder, ging zurück in den vorderen Bereich und setzte sich an eines der Lesegeräte.

Schon die erste Zeitung war ein Treffer.

»Verwegener Überfall auf das Bankhaus Fondette« lautete die etwas reißerische Überschrift.

Der Artikel berichtete von einem einzelnen maskierten Täter, der am späten Nachmittag des Vortags kurz vor der Schließung der Bank den Schalterraum betrat. Mit vorgehaltener Waffe zwang er den Direktor der Bank, Jerôme du Fondette, ihn in sein Büro zu führen. Er drohte, ihn auf der Stelle zu erschießen, wenn er nicht den Wandtresor öffnete. So konnte der Räuber ungefähr 200.000 Franc in Münzen erbeuten, die er in einer großen Rückentrage davontrug.

Die andere Zeitung erwähnte den Überfall nur kurz und vertiefte sich mehr in die Geschichte des privaten Bankhauses Fondette, das von Jerôme du Fondette im Jahr 1872 gegründet worden war, einem Einwohner von Carpentras, dem die einfachen Leute aus der Umgebung ihr Vertrauen geschenkt hatten. Der Autor spekulierte wortreich über das untergrabene Vertrauen in Banken im Allgemeinen und das Bankhaus Fondette im Besonderen, falls das Geld nicht wieder auftauchen sollte.

Molly druckte die Artikel aus, brachte die beiden Mikrofilme zurück und holte die entsprechenden Ausgaben der beiden Zeitungen von den Tagen danach aus ihren Fächern.

Und siehe da, am 25. Mai berichtete »Le Petit Journal« davon, dass der Täter gestellt und in einer Kapelle oberhalb von Mirocène von zwei Landpolizisten erschossen worden war. Er hatte sich seiner Festnahme so heftig widersetzt, dass es zu einem Schusswechsel gekommen war, der einem der beiden Polizisten einen Schuss in die Schulter eintrug und den Bankräuber das Leben kostete.

Der Täter wurde als Gerard Depuis identifiziert, ein dreiundzwanzigjähriger Student der Wirtschaftswissenschaften aus Mirocène, der zuvor nie durch kriminelle Anwandlungen aufgefallen war.

Molly sah auf die Uhr. Es war kurz vor sechs, und die Bibliothek würde gleich schließen. Sie betätigte die Druck-Taste und wartete darauf, dass der große Laserdrucker die Seiten ausspuckte. Dann schaltete sie das Gerät aus und verließ die Bibliothek.

 

Molly trat auf die Straße hinaus, wandte sich nach rechts in Richtung Altstadt und bog in eine kleine Gasse ein. Zwei Häuserblocks weiter fand sie, was sie suchte: ein Bistro. Sie ergatterte einen freien Tisch draußen direkt an der Hauswand und ließ sich dankbar nieder. Sie hatte kein Mittagessen gehabt, während der Fahrt lediglich einen Apfel gegessen und eine Flasche Wasser getrunken und war mittlerweile rechtschaffen hungrig. Die Menüauswahl war übersichtlich, aber trotzdem vielfältig, um allen Arten von Touristen gerecht zu werden. Molly bestellte Moules frites, in Gemüsebrühe gegarte Miesmuscheln mit Pommes frites, die nach zwanzig Minuten in einem dunkelblau emaillierten Topf serviert wurden. Die Pommes frites waren aus frischen Kartoffeln gemacht und schmeckten himmlisch, doch bald wandte sie sich den Muscheln zu. Die erste Muschel puhlte sie noch mit der Gabel aus ihrer Schale, dann legte sie das Besteck zur Seite. Für die weiteren verwendete sie die Schale der ersten als Werkzeug, so wie die Franzosen es immer machten, und war bald auf dem Grund des Topfes angekommen. Nun nahm sie den Löffel zur Hand und löffelte den Rest der Suppe mit den Fenchel- und Möhrenstreifen aus. Mit einem Stück Baguette tunkte sie den Rest auf und lehnte sich danach satt und zufrieden zurück. Sie war wirklich hungrig gewesen!

Während Molly an ihrem Weißwein nippte, beobachtete sie die Menschen, die an ihrem Tisch vorbeiflanierten. Die Gasse war eng und belebt, aber doch nicht so überfüllt wie im Juli, wenn das jährliche Kunstfestival stattfand. Trotzdem konnte sie Besucher aus aller Welt erkennen, Studenten aus Japan, blasse Briten, beschwipste Skandinavier, amerikanische See-Europe-in-two-weeks-Touristen und immer wieder Franzosen, Einheimische und Touristen aus dem Norden.

Das Handy vibrierte in ihrer Tasche, und sie zog es heraus. Eine Messenger-Nachricht von Charles, doch eher von der Sorte »mir geht es gut, ich lebe noch«. Sie antwortete genauso kurz und beendete den Satz mit »später mehr«.

Dann nahm sie die Ausdrucke von der Bibliothek aus ihrer Umhängetasche und las sich die Ergebnisse ihrer heutigen Recherche nochmals durch.

Sie öffnete erneut den Messenger und tippte eine kurze Zusammenfassung der Informationen für Charles. Nach dem Absenden der Nachricht stellte sie erst fest, dass direkt neben ihr an der Fensterscheibe des Bistros ein Aufkleber mit dem WiFi-Symbol klebte. Sie fotografierte die ausgedruckten Seiten mit ihrer Handy-Kamera in höchster Auflösung, dann verband sie sich mit dem WLAN-Netz des Bistros und lud die Fotos in den verschlüsselten Cloud-Ordner hoch, den sie mit Charles teilte. Das dauerte etwas länger als erwartet, das WLAN des Bistros war offenbar nicht das schnellste. Vielleicht war es auch nur überlastet von den vielen Gästen, die drinnen und draußen saßen – fast an jedem Tisch hatte mindestens eine Person ein Smartphone oder ein Tablet oder sogar einen Laptop in Betrieb. Molly schaltete den Bildschirm aus und bestellte noch ein Glas Wein. Als der Upload endlich fertig war, hatte sie es fast ausgetrunken.

In der Zwischenzeit hatte sich das Publikum im Bistro verändert. Wo zuvor Leute unterschiedlichen Alters allein oder zu zweit beim Abendessen gesessen hatten, waren nun alle Tische von schnell anwachsenden Gruppen junger Leute besetzt, die sich lautstark unterhielten. Auch die bis jetzt leise Hintergrundmusik war lauter geworden, und Molly winkte den Kellner heran, um zu bezahlen.

Als sie aufstand und ihre Tasche schulterte, pfiff ihr einer der jungen Männer hinterher. Sie musste lächeln, wandte sich aber nicht um und ging mit schnellen Schritten die Gasse hinunter.

 

Zurück im Hotel fand Molly die Rezeption noch besetzt und ließ sich ihren Schlüssel geben. Der Concierge sperrte hinter ihr ab, und sie sah auf die Uhr. Kurz nach zehn; sie musste daran denken, morgen einen Schlüssel mitzunehmen, da die Theatervorstellung wahrscheinlich länger dauern würde.

Langsam stieg sie die Treppe hinauf und ging den mit dicken Teppichen belegten Flur entlang. In ihrem Zimmer angekommen, warf sie die Tasche aufs Bett und öffnete das Fenster. Das Nachtleben von Avignon war auch hier noch leise zu hören. Die dumpfe Mischung aus Stimmen, Musik und undefinierbaren Geräuschen erzeugte eine Symphonie, die Molly schon seit Jahren mit dem nächtlichen Leben in den Städten Südfrankreichs verband – zumindest im Sommer. Tief atmete sie die warme Nachtluft ein und freute sich auf den morgigen Tag: Ausschlafen, Abstand gewinnen von dem Kalk- und Modergeruch ihrer Kapelle, durch die Einkaufsstraßen Avignons bummeln, abends ins Theater gehen mit elegant gekleideten Menschen … Sie war keine Frau, die übertriebenen Wert auf ihr Aussehen legte. Wahrscheinlich weil sie sowieso immer gut aussah, egal was sie trug, zumindest hätte Charles das gesagt, wenn man ihn gefragt hätte. Aber nach zwei Wochen in staubiger Arbeitskleidung freute sie sich ehrlich auf das Kontrastprogramm in Form eines Seidenkleides und zierlicher Sandalen.

Und vielleicht hatte Charles bis morgen auch schon neue Informationen für sie, denn wie sie ihn kannte, fesselte ihn das Geheimnis des Gaunerzinkens genauso wie sie.

Die Geschichte mit dem Bankraub hatte ihrem Fund eine neue Ernsthaftigkeit verliehen. Bis jetzt war es ein Spaß gewesen, ein Zufallsfund, der alles oder nichts bedeuten konnte, und wenn ihr Pierre heute Morgen erzählt hätte, dass hier jemand seine Verlobung verewigt habe, hätte sie das bereitwillig geglaubt. Der Raubüberfall aber warf ein anderes Licht auf die Sache, und der Wunsch, das Rätsel zu lösen, hatte eine neue Dimension angenommen.

Schließlich schloss sie das Fenster und schob die Spekulationen beiseite. Es war zu früh, sie befand sich noch im Recherchestadium, und solange sie keine weiteren Hinweise hatte, konnte sie auch nicht viel tun. Mit diesem Gedanken ging sie zu Bett und schlief tief und traumlos bis zum nächsten Morgen.

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Kapitel 3

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