Tote Hunde bellen nicht - Carine Bernard - E-Book

Tote Hunde bellen nicht E-Book

Carine Bernard

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Beschreibung

Frau Dr. Maus ermittelt weiter! Ein neuer spannender Regio-Krimi von Carine Bernard. Mitten im Wald stößt Tierärztin Katja Maus auf einen Toten, der scheinbar bei einem Fahrradunfall ums Leben kam. Kurz darauf ist auch seine Identität geklärt: Es handelt sich um den Nachbarn von Katjas Freundin Angela, den erfolgreichen Buchautor Christopher Witte. Sein kürzlich erschienener Roman über die Geschichte einer Ratinger Unternehmerfamilie führte zum Streit mit den Nachfahren, und Katja befürchtet, dass hinter seinem Unfalltod mehr steckt, als es den Anschein hat. Und tatsächlich: Polizist Blum – Katjas Freund – nimmt die Ermittlungen auf. Sein Hund Pitter entdeckt Hinweise, die auf ein Verbrechen deuten, und Katjas Ahnung bestätigt sich: Die Spur führt zu Wittes letztem Buch. Doch sie muss »Die Herren von Cromford« bis zum Ende lesen, ehe sie alle Zusammenhänge erkennt ... »Tote Hunde bellen nicht« Carine Bernard ist ein eBook von Topkrimi – exciting eBooks. Das Zuhause für spannende, aufregende, nervenzerreißende Krimis und Thriller. Mehr eBooks findest du auf Facebook. Werde Teil unserer Community und entdecke jede Woche neue Fälle, Crime und Nervenkitzel zum Top-Preis!

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Carine Bernard

Tote Hunde bellen nicht

Kriminalroman

Knaur e-books

Über dieses Buch

Frau Dr. Maus ermittelt weiter! Ein neuer spannender Regio-Krimi von Carine Bernard.

Mitten im Wald stößt Tierärztin Katja Maus auf einen Toten, der scheinbar bei einem Fahrradunfall ums Leben kam. Kurz darauf ist auch seine Identität geklärt: Es handelt sich um den Nachbarn von Katjas Freundin Angela, den erfolgreichen Buchautor Christopher Witte. Sein kürzlich erschienener Roman über die Geschichte einer Ratinger Unternehmerfamilie führte zum Streit mit den Nachfahren, und Katja befürchtet, dass hinter seinem Unfalltod mehr steckt, als es den Anschein hat.

Und tatsächlich: Polizist Blum – Katjas Freund – nimmt die Ermittlungen auf. Sein Hund Pitter entdeckt Hinweise, die auf ein Verbrechen deuten, und Katjas Ahnung bestätigt sich: Die Spur führt zu Wittes letztem Buch. Doch sie muss »Die Herren von Cromford« bis zum Ende lesen, ehe sie alle Zusammenhänge erkennt ...

Inhaltsübersicht

Kapitel 1Kapitel 2Kapitel 3Kapitel 4Kapitel 5Kapitel 6Kapitel 7Kapitel 8Kapitel 9Kapitel 10Kapitel 11Kapitel 12Kapitel 13Kapitel 14Kapitel 15Kapitel 16Kapitel 17DANKSAGUNG
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Geduckt schleicht er an der dunklen Backsteinmauer entlang. Mondlos ist die Nacht, zum Glück, und ausnahmsweise regnet es nicht in diesem immer nassen Land. Ihn fröstelt dennoch, und er zieht die Jacke fest über der Brust zusammen. Sie ist ihm zu weit, aber sie verbirgt seine Beute: das große eiserne Zahnrad, das er heute Mittag heimlich beiseiteschaffen konnte. Das Rauschen des Wassers übertönt sein Keuchen, das riesige Mühlrad kommt in Sicht. Des Nachts stehen die Spinnräder still, doch das leise Klappern des Mühlrads skandiert noch immer den Takt der Maschinen: To-des-stra-fe ... To-des-stra-fe ...

Da, ein Lichtschein! Der Wachmann auf seiner Runde. Er drückt sich in den Schatten eines Durchgangs, hinter ihm das Tor zur Fabrik, vollkommen schwarz. Er hält den Atem an. Warten. Die schweren Schritte verklingen auf der Brücke, To-des-stra-fe ... To-des-stra-fe.

Er huscht hinterher, wird selbst zum Schatten. Nur die Brücke noch, dann ist er drüben und in Sicherheit.

Am Ufer des Derwent wartet sein Freund, fast unsichtbar lehnt er am Stamm eines Baumes. »Carl!« Sie fallen sich in die Arme.

»Mein Gott, Johann, ist es gelungen?«

Er nickt und zieht das Zahnrad hervor. So vieles hat er schon aus den Cromford Mills getragen, aber nichts bisher war so groß, so wichtig. Das Zahnrad ist das Herzstück der Spinnmaschine, deshalb die nächtliche Tour.

Carl hält ihm die Jacke entgegen, er zieht sich aus und gibt dem Freund die seine zurück. Die Kälte der Nacht kann ihm nichts mehr anhaben, sein Blut glüht ob des geglückten Coups. Bald ist das Ziel erreicht, nur wenige Tage noch. Er umarmt Carl zum Abschied, dann trennen sie sich. Er kehrt zurück in das kahle Heim, in dem er mit den anderen Arbeitern wohnt, während sein Freund den Gasthof aufsucht, wo er Quartier genommen hat.

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Kapitel 1

Draußen auf der Straße hielt ein Auto mit quietschenden Bremsen. Eine Tür krachte blechern ins Schloss, dann folgten schwere Schritte. Katja schrak hoch, im gleichen Moment klingelte es. Das Buch rutschte ihr aus der Hand und fiel zu Boden.

Sie warf einen Blick auf die Uhr, es war Viertel vor acht. Sie brauchte einen Augenblick, um wieder im Hier und Jetzt anzukommen, so sehr hatte sie die Geschichte gefesselt. Morgens beim ersten Kaffee ein Buch zu lesen, das hatte sie lange nicht mehr getan. Doch sie hatte sich gestern Abend schon zwingen müssen, es beiseitezulegen und das Licht zu löschen. Die Handlung war aber auch zu spannend, und dass sie auf historischen Ereignissen basierte, machte sie nur noch faszinierender. Es klingelte erneut. Der erste Patient? Nun hämmerte er auch noch gegen die Eingangstür. Warum war Bianca, ihre Helferin, noch nicht da?

Sie riss sich zusammen, sprang auf und lief nach unten. Sie schloss die Tür auf und konnte gerade noch einen Schritt zur Seite treten, sonst hätte der Mann sie umgerannt. Er war nicht sehr groß und sah gar nicht so kräftig aus, doch in seinen Armen trug er eine englische Bulldogge, die gut und gerne 25 Kilogramm wog. Von der rechten Vorderpfote des Hundes tropfte Blut und hinterließ eine leuchtend rote Spur auf dem Fußboden des Wartezimmers.

Katja schloss die Tür hinter ihm und deutete auf das Behandlungszimmer. »Kommen Sie rein. Was ist denn passiert?«

Die Bulldogge schnaufte geräuschvoll und rang nach Luft. Die meisten heutigen Vertreter dieser alten Rasse hatten schon im Normalzustand Probleme mit der Atmung. Die Aufregung konnte schnell zu einem lebensbedrohlichen Zustand führen, der Katja gerade mehr Sorgen bereitete als die verletzte Pfote.

»Wir waren im Wald spazieren«, erklärte der Mann und setzte die Bulldogge auf dem Untersuchungstisch ab. Der Kunststoffgriff einer Rollleine klapperte zu Boden. »Oben auf dem Hügel, wo die Picknicktische stehen. Da muss er sich an einer Glasscherbe geschnitten haben.«

Katja legte einen Stapel Zellstoff unter die blutende Pfote, zog sich einen Arztkittel über und nahm das Stethoskop vom Haken. »Wie heißt er?«, fragte sie.

»Newton«, antwortete der Mann. Er ließ sich erschöpft auf den Stuhl in der Ecke fallen und wischte sich mit dem Ärmel seiner Jacke den Schweiß von der Stirn. »Der Hund gehört meiner Frau. Ich weiß jetzt schon, was sie sagen wird.«

»Halten Sie bitte den Hund fest«, wies Katja ihn an. »Ich muss ihn abhören.«

Der Mann gab sich einen Ruck und stand auf. »Ja, klar.«

Er stellte sich an den Tisch und legte die Arme um Newton. Seine helle Jacke sah aus, als hätte er einmal sehr viel Geld dafür bezahlt. Jetzt war sie voller Blutflecken, die an den Rändern bereits bräunlich trockneten.

Katja setzte Newton das Stethoskop auf die Brust und lauschte auf den Herzschlag, der sich beruhigend kräftig anhörte. Sie legte das Stethoskop beiseite, griff nach weiterem Zellstoff und begann, das Blut abzutupfen.

»Der Schnitt ist sehr tief«, sagte sie. »Kein Wunder, dass das so stark blutet. Armer Kerl.«

Sie tätschelte Newtons muskulösen Po. »Ich muss das mit einer kleinen Naht versorgen. Er bekommt einen Verband, und wenn es keine Komplikationen gibt, ist die Pfote in zwei Wochen wieder wie neu.«

Der Mann nickte und drehte den Kopf zur Seite. »Verzeihen Sie. Ich bin zwar selber Arzt, aber bei Tieren bin ich völlig hilflos.«

»Das ist schon in Ordnung.« Katja lächelte ihm aufmunternd zu.

Von draußen ertönten Stimmen, und Bianca steckte ihren hellblonden Schopf zur Tür herein. Mit einem Blick erfasste sie die Situation. »Hallo Katja«, sagte sie. »Ich ziehe mich schnell um, dann bin ich sofort da.«

 

Katja ließ Newtons Besitzer die Einverständniserklärung zur Narkose unterschreiben und bat ihn, draußen zu warten. Inzwischen saßen schon weitere Patienten im Wartezimmer, doch die mussten sich gedulden. Die Versorgung von Newtons Pfote ging vor.

Bianca betrat das Behandlungszimmer und übernahm die Fixierung des Hundes. Katja legte einen Venenzugang, dann holte sie einen passenden Tubus aus dem Nebenraum. Für den kleinen Eingriff war nur eine Kurznarkose erforderlich, aber Newtons platt gezüchtete Schnauze behinderte seine Nasenatmung, deshalb war bei ihm eine Betäubung ohne den Schlauch, der die Luftröhre frei hielt, viel zu riskant.

Katja injizierte das Narkosemittel; es dauerte nur Sekunden, bis Newton schlaff in sich zusammensank. Jetzt musste es schnell gehen. Bianca streckte den massigen Kopf des Hundes nach hinten, und Katja führte mithilfe eines beleuchteten Metallspatels den Tubus ein. Newton ließ einen tiefen Seufzer vernehmen.

»So viel Luft hat der arme Kerl sein ganzes Leben noch nicht bekommen«, murmelte Bianca. »Ich verstehe nicht, wie man so eine Zucht als schön empfinden kann.«

Katja sagte nichts dazu, aber im Stillen gab sie ihrer Helferin recht. Sie wusch sich die Hände, zog Latexhandschuhe an und begann mit der Reinigung der Wunde. Der Schnitt war zwar tief, doch zum Glück waren die Wundränder glatt. Die Wunde selbst war erstaunlich sauber, was wahrscheinlich dem Schnee zu verdanken war, der letzte Nacht gefallen war. Während Katja nähte, traf endlich auch Jenna, ihre neue Praktikantin, ein und entschuldigte sich wortreich für ihr Zuspätkommen. Katja sagte nichts dazu, es passierte nicht zum ersten Mal.

Jenna war Anfang 20, eine auffallend hübsche junge Frau mit Sommersprossen auf der Nase und einem breiten, immer lachenden Mund, die die Blicke aller Männer auf sich zog. Alles an ihr war groß und kräftig, sie hatte eine laute Stimme, und der geflochtene Zopf ihrer weizenblonden Haare war fast so dick wie Katjas Unterarm. Sie konnte ordentlich zupacken und stellte sich mit den Tieren gar nicht ungeschickt an. Doch was Zuverlässigkeit und Pünktlichkeit betraf, hatte sie noch viel zu lernen.

Katja wusste, dass Jenna bereits mehrmals ihre Lehrstellen gewechselt und praktisch keine Aussicht mehr auf einen Ausbildungsplatz hatte. Dieses vom Arbeitsamt vermittelte Praktikum war somit ihre letzte Chance. Wenn sie es durchhielt und eine gute Bewertung erreichte, würde man sie in eine geförderte Ausbildungsmaßnahme eingliedern. Ansonsten würde sich die junge Frau ohne abgeschlossene Ausbildung einen Job suchen müssen.

Katja hatte diesem Praktikum nur zugestimmt, weil Jenna die Nichte ihrer Freundin Angela war und diese sie darum gebeten hatte. Inzwischen bereute sie diesen Entschluss, denn bis jetzt war ihr die Praktikantin nicht die erhoffte Hilfe, ganz im Gegenteil. Doch Jenna mitsamt ihrer Vorgeschichte wieder auf die Straße zu setzen, brachte sie auch nicht übers Herz.

So nickte sie nur und bat Jenna, in der Zwischenzeit die Daten von Newton und seinem Besitzer für die Kartei aufzunehmen.

Zwanzig Minuten später war alles erledigt. Bianca klebte noch einige Pflasterstreifen auf den dick gepolsterten Verband, und Katja rief Newtons Besitzer herein. Jenna warf den blutigen Zellstoff in den Mülleimer und brachte die Instrumente in den Nebenraum. Das Klemmbrett mit den Patientendaten hatte sie auf Katjas Schreibtisch gelegt. Katja setzte sich, schaltete den Computer ein und überflog Jennas Einträge. Das Mädchen hatte eine schlampige, fast unleserliche Schrift; sie runzelte die Stirn.

»Wie ist Ihr Name?«, fragte sie und rief das Praxisprogramm auf. »Traubenburg?«

»Dr. Teubenberg«, korrigierte sie der Mann. »Ich denke, Sie haben meine Frau im Computer, Professor Heike Dietz-Teubenberg.«

»Ah.« Katja nickte zustimmend. »Sie war schon länger nicht mehr hier.«

»Das ist richtig.« Herr Teubenberg sah verlegen zur Decke. »Meine Frau geht normalerweise in die Pfoten-Klinik in Düsseldorf.«

Katja rief die Patientenakte auf. Tatsächlich war Newton nur einmal bei ihr gewesen, kurz nachdem sie die Praxis eröffnet hatte. Mit Heike Dietz war Katja vor 30 Jahren zur Schule gegangen, sie waren sogar befreundet gewesen, aber sie hatten sich im Laufe der Jahre aus den Augen verloren. Offenbar hatte ihre kleine Praxis den Ansprüchen von Frau Professor Dietz-Teubenberg nicht genügt, und so war sie zu den Kollegen in Düsseldorf abgewandert, die eine moderne Tierklinik mit mehreren Angestellten führten. Damit musste sie leben.

Sie trug die Behandlung von Newton in die Patientenkartei ein und hielt dabei ein wachsames Auge auf den Hund gerichtet, der noch immer selig schlummerte. Es gab die Theorie, dass kurznasige Hunderassen nie richtig tief schliefen, weil sie sonst ersticken würden. Vielleicht war das phlegmatische Wesen dieser Hunde in Wahrheit nur Ausdruck ihrer permanenten Übermüdung? Wer wusste das schon. Jedenfalls schien der Hund den fehlenden Schlaf der letzten Jahre nun auf einmal nachholen zu wollen. Katja würde den Tubus erst entfernen, wenn Newton wieder völlig wach war, und so wie es aussah, konnte das noch dauern.

Bianca und Jenna trugen die Bulldogge auf einer Decke in den Laborraum und betteten sie in den Aufwachkäfig unter dem Fenster. Katja bat Dr. Teubenberg, sich neben den Hund zu setzen und bei den ersten Anzeichen von Erwachen Bescheid zu geben, dann rief sie den ersten Patienten herein.

 

Vier Stunden später zog Katja endlich ihren Kittel aus, warf ihn die Kellertreppe hinunter, wo die Waschmaschine stand, und stieg die Treppe hoch zu ihrer Wohnung. Direkt über der Praxis zu wohnen, war ein zweischneidiges Schwert. Für Dr. Teubenberg und Newton war es heute von Vorteil gewesen, aber dass die Patientenbesitzer sie zu jeder Tages- und Nachtzeit herausklingeln konnten, war für Katja eindeutig ein Nachteil, den sie jedoch aus verschiedenen Gründen in Kauf nahm. Einer davon war das Geld: Die Miete für das kleine Reihenhaus könnte sie sich nicht leisten, wenn sie das Erdgeschoss nicht gleichzeitig für ihre Praxisräume nutzen würde.

Oben angelangt, ging Katja direkt in die Küche, öffnete den Kühlschrank und inspizierte den Inhalt. Kiri und Samantha, die beiden Katzen, hatten sie kommen gehört und strichen schnurrend um ihre Beine. Samantha hatte sich gut erholt. Dass sie vor einigen Wochen um ein Haar an einem Milzriss gestorben wäre, sah man ihr nicht mehr an. Einzig ihr ständiger Hunger zeugte davon, dass sie sich noch immer im Stadium der Genesung befand.

Katja füllte die Schüssel mit dem Trockenfutter auf. Samantha machte sich sofort darüber her, während Kiri abwartend danebenstand. Katja nahm sich einen Becher Joghurt aus dem Kühlschrank und ging damit ins Wohnzimmer. Kiri folgte ihr, und kaum dass sie sich auf das Sofa gesetzt hatte, sprang sie ihr auf den Schoß. Das Buch, in dem sie gelesen hatte, als sie heute Morgen durch Newtons Ankunft unterbrochen worden war, lag noch auf dem Boden. Sie hob es auf und legte es auf den Wohnzimmertisch.

Auf dem Cover war Haus Cromford in Ratingen abgebildet, eine historische Spinnfabrik aus der Frühzeit der Industrialisierung, in der sich heute ein Museum befand. Doch »Die Herren von Cromford« war keineswegs die langweilige Biografie des Gründers. Der Autor hatte es geschafft, den jungen Johann Gottfried Brügelmann in Fleisch und Blut auferstehen zu lassen, indem er sein bewegtes Leben in Form eines Romans erzählte. Die Grenzen zwischen Dichtung und Wahrheit ließ er geschickt verschwimmen, und Katja war von der ersten Seite an gefesselt gewesen.

Ihr Handy lag ebenfalls auf dem Tisch und ließ in diesem Augenblick zwei kurze Vibrationen hören. Jetzt erst registrierte sie das Blinken von verpassten Nachrichten. Sie drückte auf den Knopf, und eine WhatsApp von Lena poppte auf:

»Ich kann heute nicht mitkommen zur Bio-AG, ich muss nachsitzen.« Dahinter fünf zornig rote Smileys.

Nachsitzen? Was waren denn das für vorsintflutliche Methoden?

Katja schickte ein Fragezeichen.

»Ich habe die Mathe-Hausaufgaben vergessen, und Herr Thieme will, dass ich sie unter seiner Aufsicht mache.«

Katja seufzte. Ganz offensichtlich hatte ihre Tochter die Begeisterung für Mathematik von ihr geerbt, besser gesagt, deren Fehlen. Sie konnte ihr bei diesem Thema nicht wirklich helfen, auch wenn sie es immer wieder versuchte. Doch alles, was über die Grundrechenarten hinausging, war für Katja ein Buch mit sieben Siegeln, und nur das Wohlwollen ihres Mathematiklehrers vor 25 Jahren hatte ihr damals das Abitur gerettet. Leider hatte Lena mit Herrn Thieme nicht so viel Glück.

Eigentlich bräuchte ihre Tochter Nachhilfestunden, das war ihr vollkommen klar, aber die würden ihr ohnehin knapp bemessenes Budget sprengen. Zwar finanzierte sich Lena ihren Traum von Reitstunden durch kleine Nebenjobs selbst, aber damit war es ja nicht getan. Reitstiefel, Helm und Rückenprotektor zum Beispiel hatte Katja bezahlen müssen, und das Geld dafür fehlte nun an anderer Stelle.

Natürlich könnte sie Harro um Geld bitten, aber sie wusste jetzt schon, was er sagen würde. Ihr Ex-Mann war immer noch der Meinung, dass Lena bei ihm besser aufgehoben wäre als bei einer Mutter, die rund um die Uhr arbeiten musste. Das tat er zwar auch, aber er hatte eine neue Freundin, die viel Zeit für Lena hätte, und seine Mutter sei schließlich auch noch da und würde sich gern um ihre Enkelin kümmern. Das bezweifelte Katja, denn sie kannte ihre Ex-Schwiegermutter. Aber trotzdem würde Harro nichts unterstützen, was ihr das Leben, das sie sich hier aufgebaut hatte, erleichtern könnte. Und wenn sie ehrlich war, wollte sie das auch gar nicht.

Sie schloss einen Moment die Augen. Ihre kleine Praxis lief nicht schlecht, und inzwischen konnte sie mit Lena ganz gut davon leben. Sie hatte keinen Grund, sich zu beklagen. Und in knapp drei Jahren war der erste Kredit abbezahlt, dann würde es um einiges einfacher werden. So lange musste sie durchhalten.

»Sieh es als Chance«, schrieb sie ihrer Tochter zurück. »Wenn du Herrn Thieme darum bittest, erklärt er dir die Aufgaben bestimmt noch einmal.«

Lena antwortete mit einem erhobenen Daumen und ging offline.

Die zweite Nachricht war von Cornelius. Ein warmes Gefühl durchflutete Katja, als sie seine Nachricht las: »Sehen wir uns heute Abend? Ich habe Spätschicht«, gefolgt von drei Herzen.

Spätschicht hieß, dass er bis 21.00 Uhr Dienst hatte, aber danach würde er herkommen und die Nacht mit ihr verbringen. Ihr Herz begann zu klopfen, und sie antwortete genau wie ihre Tochter mit einem erhobenen Daumen.

Katja sah auf die Uhr. Um 14.00 Uhr musste sie am Waldeingang am Noldenkothen sein, wo sie sich mit den Kindern der Bio-AG treffen würde. Bis dahin blieb ihr noch genügend Zeit für eine weitere Tasse Kaffee.

Auch wenn sie die Leitung der AG nach den Herbstferien nur widerwillig übernommen hatte – Lenas Klassenlehrer hatte sie mehr oder weniger dazu gezwungen –, machte ihr die Arbeit mit den Schülern überraschenderweise sogar Spaß. So nutzte sie das kleine Budget, das ihr die Schule zur Verfügung stellte, gerne für Ausflüge in die nähere Umgebung. Einmal waren sie sogar im Zoo in Duisburg gewesen und hatten eine Führung hinter den Kulissen mitgemacht. Heute Nachmittag wollte Katja mit den Kindern durchs Angertal wandern, und die Aussicht auf den Spaziergang durch den Schnee, der in Ratingen selten genug fiel und noch viel seltener liegen blieb, stimmte sie fröhlich.

Mit ihrer Kaffeetasse setzte sie sich ins Wohnzimmer und widmete sich noch eine halbe Stunde lang den »Herren von Cromford«.

 

»Diese alten Buchen sind typisch für das Angertal«, erklärte Katja eine Stunde später und deutete auf die riesigen Bäume, die sich mit ihren Wurzeln in dem steilen Hang festhielten. »Sie können bis zu 300 Jahre alt werden.«

Sie hielt an und wartete, bis sich alle um sie versammelt hatten. Die Gruppe bestand normalerweise aus zehn Kindern zwischen 12 und 14 Jahren. Heute waren es jedoch nur acht, denn Lena und ein weiteres Mädchen fehlten.

»Cool«, antwortete Pia, ein Mädchen aus Lenas Klasse.

Obwohl Katja die Kinder gebeten hatte, zweckmäßige Kleidung und feste Schuhe anzuziehen, trug Pia einen kurzen Rock zu dicken Strumpfhosen und dünne Stiefel aus weichem Leder mit glatter Sohle. Der Waldweg war gefroren und mit einer dünnen Schneeschicht bedeckt, aber dort, wo die blassen Sonnenstrahlen den Boden erreichten, taute der Schnee zu matschigen Pfützen und zwang das Mädchen immer wieder zu Ausweichmanövern. Doch Katja hatte beschlossen, darauf keine Rücksicht zu nehmen.

»Woran kann man sehen, wie alt so ein Baum ist?«, fragte Fabian und schob die Brille auf der Nase hoch. Er ging in eine Klasse unter Lena und war jünger als die anderen, aber immer sehr wissbegierig.

»Dazu musst du ihn fällen«, antwortete Darius, ebenfalls aus Lenas Klasse. »Dann kannst du die Jahresringe zählen. Nicht wahr, Frau Maus?«

»Nicht unbedingt«, entgegnete Katja. »Im Gegensatz zu anderen Bäumen sind die Jahresringe bei Buchen nur schwach ausgeprägt. Aber es gibt eine andere Methode.« Sie zog ein Maßband aus der Tasche. »Man misst den Stammumfang einer Buche in einem Meter Höhe in Zentimetern und multipliziert diesen Wert mit 0,6. Das ergibt das ungefähre Alter des Baumes.«

»Echt wahr?« Darius streckte die Hand aus. »Darf ich das versuchen?«

»Ja, klar, ihr dürft das alle machen.«

Katja besaß nur ein Maßband, deshalb hatte sie eine Rolle fester Paketschnur und eine Schere mitgebracht. Sie schnitt einige Stücke von mehreren Metern Länge ab und verteilte sie an die Kinder. Das Maßband gab sie Darius.

»Dort vorne führt ein kleiner Weg nach oben, da stehen einige dicke alte Buchen, die ihr vermessen könnt. Bitte geht nicht quer über den Hang, sondern bleibt auf dem Weg.«

Die Kinder liefen voraus, kletterten den steilen Pfad nach oben und verteilten sich zwischen den silbergrauen Stämmen der alten Bäume, die an dieser Stelle nahe am Weg wuchsen. Katja folgte ihnen etwas langsamer. Von oben hörte sie sie lachen und schwatzen.

Fabian mühte sich alleine an einem dicken Baumstamm ab, und sie kletterte zu ihm hoch, um ihm zu helfen. Sie hielt die Schnur fest, während der Junge einmal um den Baum herumging und die Schnur stramm zog.

Plötzlich ertönte ein paar Meter unter ihr ein schriller Schrei. »Frau Maus, Frau Maus, kommen Sie schnell!«

Fabian ließ erschrocken die Schnur fallen. Katja rannte los, die letzten Meter schlitterte sie den verschneiten Weg hinab und hatte Mühe, sich auf den Beinen zu halten. Die Kinder drängten sich am Wegesrand zusammen. Darius stand neben einer auffallend dicken Buche, die ein paar Meter neben dem Weg in die Höhe ragte. Pia stolperte ihr entgegen, kreidebleich im Gesicht.

»Was ist los?«

Darius deutete mit aufgerissenen Augen nach vorne. Katja erhaschte den Blick auf etwas Rotes.

»Lasst mich durch!«

Die Kinder wichen zur Seite. Neben dem Baum, teilweise verdeckt von einem dichten Gestrüpp aus jungen Buchen, lag ein schlammbespritztes, ehemals weißes Mountainbike. Katja trat näher und sog scharf die Luft zwischen den Zähnen ein. Am Fuße des mächtigen Baumstamms lag bäuchlings eine Gestalt in einer roten Sportjacke. Der Mann war mittleren Alters, und er trug keinen Helm, nur eine Kapuze, die nach hinten gerutscht war. Sein Kopf war zur Seite gedreht, die Wange mit dunkler Erde verschmiert, in der Stirn klaffte eine große Wunde, und die offenen Augen starrten blicklos in die Ferne. Katja ging in die Hocke und legte dem Mann den Handrücken an den Hals. Seine Haut fühlte sich eisig kalt an, er musste bereits seit Stunden tot sein.

Sie richtete sich auf. »Geht zurück zum Weg«, wies sie die Kinder an. »Ich rufe die Polizei.«

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Kapitel 2

Von dem fröhlichen Geplapper zu Beginn ihrer Wanderung war nun nichts mehr zu hören. Die Stimmung unter den Kindern war gedrückt, die unerwartete Begegnung mit dem Tod hatte niemanden kaltgelassen. Pia, die den Toten gefunden hatte, weinte leise, ihre Augen waren gerötet. Darius hatte die Mütze abgenommen und fuhr sich ständig mit den Fingern durch die Haare.

Sie hatte Cornelius auf dem Handy angerufen, deshalb war es nicht verwunderlich, dass der Streifenwagen schon nach zehn Minuten eintraf. Erstaunlich war allerdings die Tatsache, dass er, ohne anzuhalten, den matschigen Fußweg entlang des Homberger Bachs befuhr und genau an der Abzweigung des steilen Pfades hielt, wo Katja mit der Gruppe wartete. Blum stieg aus. Ihr Freund war in Begleitung eines jüngeren Kollegen, den Katja noch nicht kannte.

»Ich bin Polizeikommissar Dierke«, stellte er sich vor. »Was ist passiert?«

Blum kam ebenfalls heran und nickte ihr beiläufig zu. »Hallo Katja.«

Im Dienst verzichtete er aus Prinzip auf eine private Begrüßung, das wusste Katja, und das war ihr nur recht. Ihr lag nichts daran, ihre Beziehung öffentlich auszuleben, und schon gar nicht vor den Kindern, für die sie die Verantwortung hatte.

Mit kurzen Worten setzte sie Blum und Dierke ins Bild. Anschließend kletterte sie vor den beiden Polizisten den steilen Hang hoch und wies auf das niedrige Gebüsch, in dem das Fahrrad lag.

»Hier ist es.«

Dierke bedeutete ihr zurückzubleiben. Er stieg den Weg weiter hoch und sah sich um. Blum näherte sich dem Toten und ging neben ihm in die Hocke.

»Hast du etwas angefasst?«, fragte er.

»Nein, natürlich nicht«, erwiderte Katja. »Ich habe nur nach seinem Puls getastet.«

»Verzeih, ich muss das fragen.« Er lächelte ihr zu, aber seine Augen blieben ernst. Er zog das Handy aus der Tasche. »Ich rufe den Notarzt und die Kollegen von der Spurensicherung«, erklärte er. »Du wartest am besten mit den Kindern unten beim Wagen.«

»Ich fürchte, die Spurensicherung wird nicht mehr viel finden«, meinte Katja und wies auf den schmalen Pfad. »Die Kinder sind hier hin und her gelaufen, als wir die Bäume ausgemessen haben.«

Blum zog die Augenbrauen hoch. »Bäume ausgemessen?«

»Das ist meine Bio-AG, du weißt doch.« Katja zog die Paketschnur aus der Tasche und deutete auf die Bäume oberhalb des Weges. »Ich habe den Kindern gezeigt, wie man das Alter von Buchen bestimmt, indem man den Umfang misst.«

»Ach so.« Er zuckte mit den Schultern. »Ich werde es den Kollegen von der Spurensicherung sagen.«

Katja nickte und machte sich an den Abstieg. Sie versammelte die Kinder um sich und erklärte ihnen, dass sie noch bleiben mussten. Im Talgrund war es kühl, die blasse Wintersonne verschwand gerade hinter dem Hügel. Katja ging mit der Gruppe ein paar Schritte den Bach entlang, um die Blutzirkulation in ihren Beinen wieder in Gang zu setzen.

»Wie lange wird das dauern?«, fragte Fabian. »Meine Mutter holt mich in einer halben Stunde ab.«

»Am besten sagt ihr zu Hause Bescheid, dass es später wird«, schlug Katja vor.

Normalerweise erlaubte sie den Kindern die Benutzung ihrer Handys während der AG-Stunden nicht, doch das war schließlich ein Notfall. Sie schickte selbst eine WhatsApp an Lena, die sich sonst bestimmt wunderte, wenn sie von der Schule nach Hause kam und niemand da war.

Der junge Polizist kam mehr rutschend als gehend den Hang herunter. Er ging zum Streifenwagen, holte Absperrband und eine Kamera heraus und verschwand wieder nach oben. Katja wickelte sich fester in ihre Jacke. Die Kälte wurde langsam unangenehm.

Es dauerte weitere fünfzehn Minuten, dann sah sie, wie sich ein Kleinbus näherte, gefolgt von einem Pkw. Der Bus hielt in etwa sechzig Metern Entfernung, wo ein kleiner Bach, mehr ein Rinnsal, den Weg kreuzte und den Untergrund in eine schlammige Pfütze verwandelt hatte. Offenbar wollte der Fahrer das Risiko nicht eingehen, in der sumpfigen Walderde stecken zu bleiben. Drei Männer kletterten heraus und luden einiges an Equipment aus.

Aus dem hinteren Wagen stiegen zwei Männer. Den Größeren der beiden kannte Katja, es war Kriminalhauptkommissar Friedemann von der Düsseldorfer Kriminalwache. Er näherte sich mit schnellen Schritten. Sie ging ihm entgegen, und er begrüßte sie mit Handschlag.

»Frau Dr. Maus, Sie schon wieder«, sagte er und grinste schief.

»Ich suche mir das nicht aus«, gab Katja zurück. Ihr war nicht nach Witzen zumute.

»Verzeihung, natürlich nicht«, murmelte Friedemann. »Wo liegt er?«, fragte er und sah sich suchend um.

In dem Augenblick tauchte Blum oben an dem Trampelpfad auf. »Hier oben«, rief er und winkte.

Friedemann nickte ihr noch einmal zu und machte sich an den Aufstieg, gefolgt von seinem Kollegen, der Katja und die Kinder nicht weiter beachtete.

 

Nach weiteren zwanzig Minuten wurde es Katja zu bunt. Sie bat die Kinder, auf sie zu warten, und kletterte erneut den steilen Pfad nach oben.

Die Fundstelle des Toten war mittlerweile großräumig abgesperrt. Sie erblickte Blum im Gespräch mit Friedemann und einem weiteren Mann, der eine rote Jacke trug. Als er sich von den beiden abwandte und den schmalen Pfad weiter hochstieg, sah sie die Aufschrift »Notarzt« auf seinem Rücken. Er musste von oben gekommen sein, sie hatte kein weiteres Auto gesehen.

Katja hob die Hand und winkte, Blum wurde auf sie aufmerksam und kam ihr entgegen.

»Entschuldige, Katja, ich habe gar nicht mehr an dich und die Kinder gedacht«, sagte er. »Aber du siehst ja, was hier los ist.«

Seine Worte versetzten Katja einen Stich, doch gleichzeitig schalt sie sich dafür. Das hier war schließlich seine Arbeit, und die ging beim Fund eines Toten definitiv vor. Trotzdem, die Kinder waren immerhin Zeugen, die noch befragt werden mussten, und seit die Sonne hinter dem Hang verschwunden war, wurde es immer kälter.

»Mir ist kalt, und die Kinder müssen irgendwann nach Hause«, sagte sie. »Wie lange, denkst du, wird das noch dauern?«

Blum sah sich um. »Dierke, kommst du mal?«, rief er. »Nimm doch schon mal die Personalien der Kinder auf.«

Der junge Kollege tauchte hinter der dicken Buche auf, die die Leiche verbarg. »In Ordnung«, antwortete er.

Katja folgte ihm nach unten und blieb etwas abseits stehen, während Dierke ein Kind nach dem anderen nach seinem Namen, seiner Adresse und der Telefonnummer fragte. Zuletzt blieb nur noch sie übrig. Sie war in Versuchung, ihm zu sagen, dass Blum ihre Daten schon längst kannte, aber sie verkniff es sich und beantwortete seine Fragen: Name Katja Maus, Adresse Kopernikusring 25, Alter 42, Beruf Tierärztin.

Endlich waren sie fertig. Die Kinder sprangen auf und ab und stampften mit den Füßen. Die Stimmung war mindestens so unterkühlt wie ihre Zehen. Hoffentlich erkältete sich niemand, schoss es Katja durch den Kopf.

»Können wir jetzt gehen?«, fragte sie in eisigem Tonfall.

»Ich denke schon«, erwiderte der junge Polizist. »Aber ich frage zur Sicherheit noch mal nach.«

Er machte sich wieder auf den Weg nach oben, und Katja sah, wie er mit Friedemann einige Worte wechselte. Der schüttelte erst den Kopf, dann nickte er und machte eine zustimmende Geste in ihre Richtung.

Katja wartete die Rückkehr von Dierke nicht ab. Sie winkte die Kinder heran und machte sich auf den Rückweg.

 

Cornelius kam nicht um zehn und auch nicht um halb elf. Kurz vor elf überlegte Katja erneut und diesmal ernsthaft, schlafen zu gehen, da hörte sie Schritte auf dem Bürgersteig vor dem Haus. Jemand klopfte leise unten an die Tür. Das musste Cornelius sein, er würde so spät nicht mehr klingeln, um Lena nicht zu wecken. Sie eilte nach unten und schloss ihm auf.

Er nahm sie in die Arme und drückte sie an sich. »Entschuldige bitte«, flüsterte er in ihr Haar. »Ich hatte bis eben auf der Wache zu tun.«

Sein großer Deutscher Schäferhund drängte sich hinter ihm durch die Tür, wobei sein Schwanz klopfend gegen das Treppengeländer wedelte. Katja beugte sich zu ihm hinunter, um ihn zu streicheln.

»Du hast Pitter mitgebracht«, stellte sie fest.

»Ich musste ja mit ihm noch raus«, antwortete Cornelius. »Er war heute praktisch den ganzen Tag alleine, deshalb dachte ich, ich bringe ihn mit. Stört es dich?«

»Aber nein.« Pitter war ein netter Hund, natürlich störte er sie nicht.

Katja unterdrückte ein Gähnen, der lange anstrengende Tag forderte seinen Tribut. Bis sie die Kinder zurückgebracht und den Eltern alles erklärt hatte, war es nach sechs gewesen. Sie hatte ein schnelles Abendessen für Lena zubereitet, Schinken-Käse-Toasts, von denen sie selbst fast nichts herunterbekam, und ihrer Tochter zugehört, die ihrem Ärger über Thieme, den Mathematiklehrer, lautstark Luft machte. Doch Katja war nicht recht bei der Sache gewesen. Immer wieder tauchte vor ihrem inneren Auge der Anblick des toten Radfahrers auf. Am liebsten wäre sie früh schlafen gegangen, hätte sich die Decke über den Kopf gezogen und an nichts mehr gedacht. Aber das ging nicht, denn sie musste ja auf Cornelius warten, und gleichzeitig hasste sie sich dafür, dass sie auf ihn wartete und ihm nicht einfach abgesagt hatte.

Sie wandte sich ab und stieg vor ihm die Treppe hoch. Pitter folgte ihnen, seine großen Pfoten schabten über das Holz. Nicht zum ersten Mal nahm sie sich vor, einen Treppenschutz anzubringen, bevor er mit seinen Krallen den Lack zerkratzte und sie Ärger mit ihrem Vermieter bekam.

Oben angekommen, ergriff Cornelius ihre Schulter und drehte sie zu sich. »Was ist los, Katja?«, fragte er und sah ihr ins Gesicht.

Sie schlug die Augen nieder. »Nichts«, gab sie zurück. »Ich bin einfach müde.«

Er zog sie an sich und drückte einen Kuss in ihre Haare.

»Hätte ich einen Haustürschlüssel, müsstest du nicht jedes Mal auf mich warten«, murmelte er. »Ich könnte dann einfach leise zu dir ins Bett kriechen, würde meine Arme um dich legen und ...«

Katjas Magen wurde zu einem Eisklumpen. Ruckartig machte sie sich los. »Du weißt, dass ich das nicht möchte.«

Er zuckte mit den Schultern. »Es wäre einfach nur praktisch.«

»Vielleicht.« Katja wich seinem Blick aus. »Möchtest du ein Glas Wein?«

Er schaute ihr einen Moment in die Augen, als wolle er darin etwas lesen, dann wandte er sich ab und zog seine Jacke und seine Schuhe aus. »Ja, gerne.«

Als Katja mit zwei Weingläsern ins Wohnzimmer kam, saß er auf dem Sofa und hatte die Beine auf den niedrigen Tisch gelegt. Pitter lag zu seinen Füßen und wedelte mit dem Schwanz. Von Kiri und Samantha war nichts zu sehen. Obwohl Pitter die Katzen geflissentlich ignorierte, gingen ihm die beiden im Allgemeinen aus dem Weg.

Cornelius hielt das Buch in der Hand, in dem sie zuvor gelesen hatte.

»Du wirst nicht erraten, wer der Tote von heute Nachmittag ist«, sagte er und deutete auf das Cover.

»Du meinst ...« Sie stellte die Gläser ab und ließ sich neben ihm in die Polster fallen.

Er nickte. »Christopher Witte«, erklärte er. »Er war Journalist beim Rheinischen Boten und schrieb darüber hinaus historische Biografien.«

»Ach du meine Güte!« Katja sah ihn erschrocken an.

»Hast du ihn denn nicht erkannt?«

»Nein.« Katja schüttelte den Kopf. »Ich kenne ihn ja nur von dem Foto auf dem Buchrücken.«

»Er wohnt zwei Häuser weiter von deiner Freundin Angela«, sagte Blum. »Bist du sicher, dass du ihn da nicht mal gesehen hast?«

»Falls das so sein sollte, weiß ich es nicht mehr.« Sie richtete sich auf, plötzlich genervt. »Was wird das, ein Verhör?«

»Nein, natürlich nicht, entschuldige bitte.« Cornelius beugte sich zu ihr und gab ihr einen Kuss auf die Wange. »Ich bin mit dem Kopf noch bei der Arbeit.«

»Schon gut«, lenkte Katja ein. »Mir geht es ja oft genauso.« Sie lehnte sich wieder an ihn. »Wisst ihr schon Genaueres über den Hergang?«

»Der Arzt meint, es ist heute früh am Morgen zwischen sieben und acht Uhr passiert«, antwortete er. »Witte muss mit sehr hoher Geschwindigkeit den Weg heruntergekommen sein. In der Kurve hat er die Kontrolle über das Fahrrad verloren, ist gestürzt und mit dem Kopf voran gegen den Baum geprallt. Wir haben entsprechende Spuren gefunden, und der Kopfverletzung nach zu schließen, scheint er wirklich sehr schnell gewesen zu sein. Und da er keinen Helm trug, war er auf der Stelle tot.«

»Das ist nicht das erste Mal, dass da ein Mountainbikefahrer wie ein Irrer herunterbrettert«, sagte Katja und schnaubte verärgert durch die Nase. »Einer hat mich an genau dieser Stelle schon mal fast über den Haufen gefahren. Dabei befindet sich der Weg im Naturschutzgebiet, die sollten da eigentlich gar nicht fahren.«

»Jemand hat den Weg auf Openstreetmap als Mountainbike-Strecke eingetragen, und in den einschlägigen Foren wird er als anspruchsvolle Abfahrt empfohlen.« Cornelius verzog das Gesicht. »Leider kann man dagegen nichts tun, das Fahrradfahren im Wald ist nicht verboten. Auch wenn es an dieser Stelle wirklich unverantwortlich ist, so schnell zu fahren.«

Katja nickte. »Es war also ein Unfall?«, fragte sie.

»So sieht es aus.« Blum musterte sie erstaunt. »Was dachtest du denn?«

»Ach, ich dachte nur, weil Friedemann dazukam, dass vielleicht doch mehr dahintersteckt.«

»Wenn wir ein Fremdverschulden nicht zu hundert Prozent ausschließen können, ermittelt immer die Kriminalpolizei. Schließlich muss auch ein Unfall untersucht werden.«

»Ach so.« Katja nahm einen Schluck von ihrem Wein. »Das Buch von ihm ist übrigens wirklich gut«, sagte sie. »Ich konnte es gestern Abend kaum aus der Hand legen.«

Cornelius schob es zurück auf den Tisch. »Ich weiß. Ich lese immer seine Kolumnen in der Zeitung.« Er legte den Arm um sie und zog sie an sich. »Aber jetzt lass uns von etwas anderem reden.«

 

Zu Lenas Begeisterung war Cornelius am Morgen noch da und frühstückte sogar mit ihnen zusammen – etwas, das selten genug vorkam. Katja beobachtete die beiden unauffällig, während sie Lenas Pausenbrot mit Schinken und Käse belegte und einen Apfel aufschnitt. Cornelius unterhielt sich mit Lena über die Schule, sie antwortete ernsthaft und sah immer wieder zu ihm hoch. Die Linke hielt sie unter dem Tisch verborgen; vermutlich streichelte sie Pitter, der es sich zu ihren Füßen bequem gemacht hatte.

Unwillkürlich fühlte sich Katja an die Anfangszeit ihrer Ehe mit Harro erinnert, als ihre kleine Welt zu dritt noch in Ordnung war. Ihr Magen krampfte sich zusammen, und urplötzlich war sie überzeugt, dass es ein Fehler gewesen war, sich auf Cornelius einzulassen. Rasch wandte sie den Blick ab. Sie stand auf, nahm ihre Kaffeetasse und ging in die Küche. Während die Kaffeemaschine schnalzend und klickend ihre Arbeit tat, atmete sie tief durch. Cornelius war nicht Harro. Ihn mit ihrem Ex-Mann zu vergleichen, war ihm gegenüber nicht fair. Aber woher kam dann immer wieder diese Angst, ihn zu sehr in ihr Leben zu lassen? Besonders wenn sie spürte, dass er genau das wollte? Sie nahm die Milchpackung aus dem Kühlschrank und drückte sie gegen ihre heiße Wange.

Als sie zurückkam, fragte Lena gerade: »Soll ich heute Nachmittag mit Pitter rausgehen?«

»Darum wollte ich dich gerade bitten«, erwiderte Cornelius und zwinkerte ihr zu.

Das war Lenas Nebenjob: Zweimal die Woche führte sie Cornelius’ Hund spazieren. Cornelius zahlte ihr dafür ein kleines Taschengeld, das sie in ihre wöchentlichen Reitstunden investierte.

»Schön!« Lena schob den Stuhl zurück und erhob sich. »Ich muss los.«

»Wasch dir noch die Hände«, rief Katja ihr hinterher.