Das Schaf-Komplott - Carine Bernard - E-Book
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Das Schaf-Komplott E-Book

Carine Bernard

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Beschreibung

Der neue Kriminalfall von Carine Bernards EU-Ermittlerin Molly Preston - in Yorkshire! Molly wollte eigentlich nur ein paar Tage in den Yorkshire Dales verbringen. Wirklich erholsam wird der Urlaub nicht, denn gleich am ersten Tag stolpert sie auf einer Schafweide über einen Toten. Haben die Schafdiebe etwas damit zu tun, die in dem idyllischen Tal ihr Unwesen treiben? Molly geht der Sache auf den Grund und findet in Cliff Harrison einen willkommenen Verbündeten. Aber auch er hat ein dunkles Geheimnis, das er vor ihr verbirgt. Zuletzt begibt sich Molly selbst in Gefahr, um die Verbrecher zu überführen. Wird Cliff sie retten, oder verfolgt er seine eigenen Ziele? Molly Preston löst ihre Fälle mit Intelligenz, Charme sowie den Mitteln modernster Technik und entführt den Leser ganz nebenbei zu den schönsten Plätzen Europas. So spielt ihr erster Fall, »Der Lavendel-Coup«, in einer der malerischsten Gegenden Frankreichs, in der sonnigen Provence. »Schaf-Komplott« von Carine Bernard ist ein eBook von Topkrimi – exciting eBooks. Das Zuhause für spannende, aufregende, nervenzerreißende Krimis und Thriller. Mehr eBooks findest du auf Facebook. Werde Teil unserer Community und entdecke jede Woche neue Fälle, Crime und Nervenkitzel zum Top-Preis!

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Carine Bernard

Das Schaf-Komplott

Ein Yorkshire-Krimi

Knaur e-books

Über dieses Buch

Molly Preston ist hochintelligent, bildhübsch und gebildet. Sie kann alles, weiß viel und hat einen spannenden Job als Ermittlerin in einer sehr geheimen Abteilung der EU.

Molly wollte eigentlich nur ein paar Tage in den Yorkshire Dales verbringen. Wirklich erholsam wird der Urlaub nicht, denn gleich am ersten Tag stolpert sie auf einer Schafweide über einen Toten. Haben die Schafdiebe etwas damit zu tun, die in dem idyllischen Tal ihr Unwesen treiben? Molly geht der Sache auf den Grund und findet in Cliff Harrison einen willkommenen Verbündeten. Aber auch er hat ein dunkles Geheimnis, das er vor ihr verbirgt. Zuletzt begibt sich Molly selbst in Gefahr, um die Verbrecher zu überführen. Wird Cliff sie retten, oder verfolgt er seine eigenen Ziele?

Inhaltsübersicht

KAPITEL 1KAPITEL 2KAPITEL 3KAPITEL 4KAPITEL 5KAPITEL 6KAPITEL 7KAPITEL 8KAPITEL 9KAPITEL 10KAPITEL 11KAPITEL 12KAPITEL 13KAPITEL 14KAPITEL 15KAPITEL 16Rezept für Shepherds PieDanksagungCosy Crime vom Feinsten
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KAPITEL 1

Molly Preston erwachte vom köstlichen Duft frisch aufgebrühten Kaffees, der ihre Nase kitzelte. Sie räkelte sich wohlig und blieb noch einen Moment liegen, voller Vorfreude auf den kommenden Tag.

Doch was war das? Die Matratze fühlte sich etwas zu weich und die Daunendecke ein wenig zu dick an. Sie blinzelte, als die Erinnerung zurückkehrte: Yorkshire, das winzige Cottage, das sie für eine Woche gemietet hatte, um hier ein paar Urlaubstage mit ihrem Freund Charles zu verbringen. War Charles in der Zwischenzeit angekommen und hatte Kaffee gekocht? Gestern Abend hatte er noch geschrieben, dass er es nicht schaffen würde, weil er beruflich verhindert sei; es ging um die Filmrechte für seinen letzten Roman, und das konnte er nicht verschieben. Wütend und traurig war sie zu Bett gegangen und hatte sich nicht zum ersten Mal gefragt, ob eine Partnerschaft, in der das Wort »fern« öfter vorkam als das Wort »Beziehung«, wirklich das Richtige für sie war.

Sie drehte sich um und öffnete die Augen. Die andere Hälfte des breiten Doppelbetts, das fast den gesamten Raum ausfüllte, war leer, das Kissen unberührt. Und der Kaffeeduft? Er verflüchtigte sich mit jedem Atemzug, der sie wacher machte. Molly setzte sich auf und schlug die Decke zurück. Sie schnupperte nochmals in der kalten Luft, doch sie nahm keine Spur davon mehr wahr. Sie hatte geträumt.

Doch der Traum hatte einen unbändigen Appetit auf Kaffee in ihr geweckt. Sie stand auf, zog dicke Socken und eine Jogginghose an und kletterte die steile Treppe nach unten. In dem schmalen Raum herrschte die übliche Leere einer Ferienhausküche: Das Notwendigste war vorhanden, aber eine Kaffeemaschine gehörte offenbar nicht dazu. Wie auch, in einem Land, das Tee zum Nationalgetränk erkoren hatte!

Eine genauere Untersuchung der wenigen Schränke förderte immerhin einen Filterhalter aus Plastik und ein angebrochenes Paket Filtertüten zutage. Hoffnungsfroh schaltete Molly den Wasserkocher ein – den gibt es in jeder englischen Küche – und öffnete die Packung Kaffee, die sie gestern im örtlichen Supermarkt erstanden hatte. Sie steckte einen Papierfilter in den Halter, setzte diesen auf eine Kanne – eine Teekanne, genau genommen – und löffelte den gemahlenen Kaffee in den Filter. Sie hatte so oft zugesehen, wenn ihre Großmutter Kaffee aufbrühte, dass sie sicher war, alles richtig zu machen. Sobald das Wasser kochte, übergoss sie das Pulver und ein aromatischer Duft breitete sich in der Küche aus. Sie goss noch etwas Wasser nach, dann eilte sie nach oben, um sich anzuziehen.

Als sie wieder zurückkam, war das Wasser durchgeflossen, und sie entsorgte den Filter mit dem Kaffeesatz in den Mülleimer. Sie fand eine dicke Henkeltasse und goss sich den ersten selbst aufgebrühten Filterkaffee ihres Lebens ein. Sie konnte natürlich Kaffee kochen: eine Padmaschine bedienen oder einen Knopf an einem Espressogerät drücken. Aber Filterkaffee von Hand aufbrühen, so wie früher, das hatte sie noch nie gemacht.

Der erste Schluck machte Molly klar, dass auch hierbei kein Meister vom Himmel fiel. Der Kaffee schmeckte bitter, und das feine Aroma, das sie zuvor gerochen hatte, war rasch verflogen. Ob der sonderbare Geschmack an ihrer Zubereitung oder doch am englischen Kaffee lag? Vielleicht ist das der Grund, dass man hier nur Tee trinkt, ging ihr beim ersten Schluck durch den Kopf.

Doch so schnell gab sie nicht auf. Sie goss etwas Milch in die Tasse, was den Kaffee zu einem verwaschenen Graubraun verfärbte, den Geschmack aber nicht wirklich verbesserte. Zucker, sie brauchte Zucker! Fieberhaft durchsuchte sie die Küche, doch sie wurde nicht fündig. Zum Glück wohnten die Vermieter ihres Cottage gleich nebenan. Molly schlüpfte in ihre Jacke und überquerte mit schnellen Schritten den Hof.

 

»Miss Preston, wie gut, dass Sie kommen!« Mary Ann Phinney ergriff Mollys Hände und zog sie regelrecht ins Haus. »Ich wollte gerade zu Ihnen hinübergehen, ich weiß nicht, was ich tun soll. Vielleicht können Sie mir raten?«

Die sonst so energische Mrs Phinney war völlig aufgelöst. Molly folgte ihr in die Küche und ließ zu, dass die Frau sie auf einen Stuhl drückte. Geduldig wartete sie, bis sich Mrs Phinney ebenfalls setzte. Es dauerte jedoch nur einen Moment, dann sprang sie wieder auf.

»Sie möchten sicher Tee, ja?«

Molly nickte gottergeben und bereitete sich auf einen längeren Aufenthalt vor. Als Mrs Phinney die dampfende Tasse vor ihr abstellte, schnupperte sie erfreut und blies gegen die Oberfläche, bevor sie vorsichtig probierte.

Mrs Phinney hatte inzwischen auf dem Stuhl gegenüber Platz genommen und umklammerte ihre eigene Tasse mit beiden Händen. Erst jetzt kam Molly dazu, sie genauer zu betrachten. Mrs Phinneys Augen waren gerötet, und die rotblonden Ringellocken, die ihr normalerweise ein lustiges Aussehen verliehen, standen wirr in alle Richtungen ab. Offenbar hatte sie sich in großer Eile angezogen: Die Bluse hing nachlässig aus dem Bund ihrer Hose, und sie trug zwei verschiedene Socken. Gestern Mittag hatte Mrs Phinney jedenfalls anders ausgesehen, als Molly den Schlüssel zu ihrem Cottage von ihr in Empfang genommen hatte.

»Was ist denn passiert, Mrs Phinney, kann ich Ihnen helfen?«

»Mary Ann, sagen Sie doch bitte Mary Ann zu mir!« Mrs Phinney riss die Augen auf. »Ach, Miss Preston! Oder darf ich Molly sagen?«

Molly nickte.

»Ach Molly! Mortimer, mein Mann, ist gestern nicht nach Hause gekommen, und ich mache mir die größten Sorgen!«

Molly zog die Augenbrauen hoch. »Kommt das öfter vor?«, fragte sie.

»Aber nein, nie!«, rief Mary Ann verzweifelt. »Er ist gestern Nachmittag mit dem Auto weggefahren, er wollte doch nur eine kleine Wanderung machen, und als er am Abend nicht zurückkam, dachte ich noch …« Mary Ann schluchzte laut auf. »Ich mache mir solche Sorgen!«

»Nun beruhigen Sie sich doch, Mary Ann.« Molly ergriff die Hand der älteren Frau und drückte sie. »Und erzählen Sie bitte, was haben Sie gedacht?«

»Ich dachte, er wäre nach seiner Wanderung noch im Blue Dragon eingekehrt. Ich bin dann schlafen gegangen und habe mir keine weiteren Gedanken mehr gemacht.« Mary Ann putzte sich geräuschvoll die Nase. »Wissen Sie, er hat doch oft abends im Pub noch ein Bier getrunken. Meistens schlief er dann im Wohnzimmer, weil er mich nicht aufwecken wollte.«

»Aber heute Morgen war er noch immer nicht hier?«, vermutete Molly.

»Nein, er ist die ganze Nacht nicht nach Hause gekommen.« Mary Ann begann schon wieder zu weinen. »Und ich weiß nicht, was ich tun soll! Wenn ich jetzt zur Polizei gehe, mache ich mich doch lächerlich, meinen Sie nicht?«

Molly schüttelte den Kopf. »Warum sollten Sie sich lächerlich machen?«

»Na, wenn er nun doch nur bei einem Freund übernachtet hat, oder am Ende gar bei einer Frau, dann mache ich mich doch zum Gespött der Leute!«

Molly nahm einen tiefen Schluck aus ihrer Tasse. Dabei fiel ihr auf, dass sie noch immer keinen Zucker hatte.

»Hat Ihr Mann ein Handy? Haben Sie versucht, ihn anzurufen?«

Mary Ann nickte mit glasigen Augen. »Ja, das habe ich vorhin versucht, aber er geht nicht ran. Allerdings gibt es hier in den Dales auch nicht überall Empfang.«

Molly seufzte resignierend. »Wissen Sie denn wenigstens, wohin er gestern wollte?«

»Nein, das ist es ja, das weiß ich nicht«, antwortete Mary Ann. »Wissen Sie, sein Arzt hat gesagt, er muss sich mehr bewegen, weil er seit seiner Pensionierung nur noch zu Hause herumgesessen hat – und das war gar nicht gut für ihn, auch wegen seines Blutzuckers.«

Pensionierung? Molly war der Altersunterschied zwischen Mr Phinney und seiner Frau bereits gestern Mittag aufgefallen, als sie angekommen war. Die hübsch zurechtgemachte Mary Ann in schwarzen Jeans und bunter Bluse hatte auf den ersten Blick wie die Tochter von Mortimer Phinney gewirkt. Erst aus der Nähe war der Altersunterschied etwas geschrumpft, und hinter dem jugendlichen Äußeren der Frau hatte Molly die ersten Anzeichen des Alters entdeckt. Sie hätte sie auf Mitte 40 geschätzt und Mr Phinney 15 Jahre älter, aber noch längst nicht alt genug, um pensioniert zu werden.

Mary Ann deutete ihren erstaunten Blick richtig. »Seine Firma musste Leute entlassen, und da haben sie ihn in Frührente geschickt. Das ist sehr schwer für ihn, denn er ist es ja nicht gewohnt, den ganzen Tag zu Hause zu sein, verstehen Sie?«

Molly nickte.

»Er hat dann irgendwann angefangen, ein Spiel mit einem GPS-Gerät zu spielen, so eine Art Schatzsuche.« Mary Ann schüttelte missbilligend den Kopf. »Schätze suchen! Ein erwachsener Mann, stellen Sie sich das vor! Das ist doch was für Kinder, meinen Sie nicht?«

Molly öffnete den Mund, aber Mary Ann wollte gar keine Antwort hören und redete einfach weiter.

»Gut, dass unsere Nachbarn das nicht wissen! Aber immerhin geht er dadurch wieder raus in die Natur und bewegt sich mehr, also hatte das Ganze doch etwas Gutes. Geocatching heißt das. Kennen Sie das?«

»Ja, ich kenne Geocaching«, antwortete Molly und unterdrückte ein Schmunzeln.

»Vor ein paar Tagen hat jemand hier in der Gegend wieder so ein Geocatch versteckt, aber diesmal handelte es sich um ein Rätsel, bei dem Mortimer erst herausfinden musste, wo der Schatz versteckt ist. Und er hat es auch herausbekommen«, erklärte Mary Ann. Nun klang doch ein gewisser Stolz in ihrer Stimme. »Gestern Nachmittag wollte er sich aufmachen und ihn suchen, aber er hat mir nichts weiter darüber erzählt, und ich habe keine Ahnung, wo das sein könnte.« Mary Ann schluchzte auf. »Oh Molly, ihm ist bestimmt etwas passiert, meinen Sie nicht auch?«

Molly dachte kurz nach. »Wenn Sie möchten, schreibe ich den Geocacher an, der den Cache versteckt hat. Dann wissen wir wenigstens, wohin Ihr Mann unterwegs war.«

»Ach Molly, das würden Sie tun?« Mary Ann sah sie mit großen tränenfeuchten Augen an. »Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie dankbar ich Ihnen bin, dass Sie mir helfen. Was für ein Glück, dass Sie gerade hier sind!«

Irgendwie hatte sich Molly ihren Urlaub anders vorgestellt. Doch Mary Ann war eine nette Person, und Rätsel löste sie ja eigentlich sehr gerne.

»Ich sehe mir auch das Geocache-Rätsel einmal an.« Sie stand auf. »Wenn ich bis heute Mittag nichts herausfinde, sollten Sie aber zur Polizei gehen.«

»Da haben Sie recht.« Mary Ann nickte. »Aber das Rätsel ist wohl sehr schwierig, denn mein Mann hat ziemlich lange dafür gebraucht. Ich weiß nicht, ob Sie …«

»Warum gehen Sie nicht in der Zwischenzeit zum Blue Dragon und sprechen mit dem Wirt?«, schlug Molly vor. »Vielleicht klärt sich die Sache ja auf.«

»Ja, vielleicht sollte ich das tun. Aber …«, Mary Ann stockte und schob die leere Teetasse auf dem Tisch hin und her. »Aber wenn er nun doch …«

»Tun Sie, was Sie für richtig halten, Mary Ann«, entgegnete Molly und wandte sich zur Tür. »Ach, bevor ich es vergesse. Hätten Sie vielleicht ein wenig Zucker für mich? Ich habe gestern vergessen, welchen zu kaufen.«

Mary Ann sprang auf, offenbar froh, etwas zu tun zu haben. »Aber natürlich, Molly, hier, bitte nehmen Sie!« Mit diesen Worten drückte sie Molly ein ganzes Paket in die Hand. »Sie müssen ihn mir nicht wiederbringen, behalten Sie ihn bitte, ich habe genug. Wissen Sie, Zucker kaufe ich immer auf Vorrat, der wird ja nicht schlecht. Und danke, dass Sie sich darum kümmern wollen!«

Molly floh aus der Küche, bevor ein neuerlicher Redeschwall sie daran hinderte.

 

In ihrem Cottage angekommen, holte Molly den Laptop aus dem Koffer im Schlafzimmer, schaltete ihn ein und rief die Geocaching-Webseite auf. Ein paar Mausklicks später öffnete sich eine Liste von Geocaches in der Umgebung. Sie scrollte die Liste durch und wurde schnell fündig: ein blaues Fragezeichen, ungefähr drei Kilometer entfernt, das mit einer kleinen grünen Aufschrift »NEW« gekennzeichnet war. Sie klickte den Rätselcache an und musste einen Moment warten, bis sich die Seite aufbaute.

»Eduard meets Ishida« stand oben als Seitentitel, das war der Name des Geocaches. »A cache by branfinnegan« stand direkt darunter. Auf der Seite waren zwei Quadrate zu sehen, das eine mit Buchstaben gefüllt, das andere leer, lediglich mit Ziffern am Rand. Sonst nichts, keine Erklärung, kein Hinweis.

EDUARD MEETS ISHIDAA cache by branfinnegan

Sie klickte den Namen »branfinnegan« an, um ihm – oder ihr? – eine Nachricht zu senden, doch plötzlich zögerte sie. Unter Geocachern war es verpönt, einfach um die Koordinaten zu bitten, ohne das Rätsel zu lösen. Ob der fremde Geocacher ihr die Geschichte überhaupt glauben würde?

Dann besann sie sich. Sie war heute in erster Linie Ermittlerin und nicht zum Spielen hier. Sie rief das Kontaktformular auf und erklärte in kurzen Worten die Situation. Sie schloss mit der Bitte, ihr die Koordinaten mitzuteilen, um gezielter nach dem Vermissten suchen zu können, und sandte die Nachricht ab.

Trotzdem wollte sie sich das Rätsel zumindest einmal ansehen. Vielleicht ließ es sich ja doch schneller lösen, als Mary Ann dachte. Und wer wusste schon, wann »branfinnegan« antwortete.

 

Molly nahm sich zuerst das Quadrat mit dem Buchstabensalat vor. Sie vertauschte anfangs nur die Buchstaben untereinander, dann ersetzte sie sie durch andere Buchstaben, wobei gleiche Buchstaben gleiche Ersetzungen bedeuteten. Sie tippte den Text ab und fütterte diverse Entschlüsselungsprogramme damit, doch er war einfach zu kurz; mit 36 Buchstaben ließ sich der Code nicht knacken. Der Geheimtext konnte alles sein.

Sie sortierte die Buchstaben nach der Häufigkeit ihres Vorkommens und erkannte, dass E und O zahlenmäßig deutlich vor den anderen lagen. Das war ein Hinweis darauf, dass die Buchstaben wahrscheinlich nicht ausgetauscht worden waren, sondern dass man nur ihre Reihenfolge verändert hatte. Die Anzahl der Zeichen war aber wiederum zu groß, um das Rätsel als einfaches Anagramm zu lösen.

Molly wandte sich schließlich dem anderen Quadrat zu; das erschien ihr vielversprechender. Die leeren Felder riefen geradezu danach, gefüllt zu werden, und die Ziffern am Rand sahen genau aus wie eine Anweisung dafür. Doch nach welchen Regeln? Sie hatte so etwas noch nie gesehen.

Nur kurz zögerte sie, dann schluckte sie ihren Unmut über Charles’ kurzfristige Absage hinunter und schickte ihm die beiden Bilder über ihren Messenger. Er hatte ein erstaunliches Gedächtnis für solche Dinge; vielleicht konnte er damit etwas anfangen.

Tatsächlich dauerte es keine fünf Minuten, bis Charles antwortete. Molly beendete gerade ihren zweiten Versuch, Kaffee aufzubrühen. Diesmal hatte sie weniger Pulver verwendet und darauf geachtet, dass das Wasser richtig kochte – das Ergebnis fiel deutlich besser aus. Mit ein wenig Milch und einem Löffel von Mary Anns Zucker vertrieb das heiße Getränk die letzten Spuren von Müdigkeit, während sie Charles’ Antwort las: »Das zweite Quadrat ist ein Nonogramm!«

Molly zog die Augenbrauen hoch. Sie kannte viele Rätsel, genau genommen war das sogar ein Hobby von ihr, doch davon hatte sie noch nie gehört. Sie öffnete den Browser und gab das Wort bei Wikipedia ein. Ah, es handelte sich um spezielle Rätsel, die eine japanische Designerin erfunden hatte. Dabei ging es darum, einige der Kästchen schwarz zu färben. Die Ziffern am Rand geben an, wie viele schwarze Kästchen in jeder Zeile oder Spalte vorkommen. Durch logisches Kombinieren kann man so auf eine eindeutige Lösung kommen.

Da Molly keinen Drucker hatte, um die Rätsel auszudrucken, malte sie das Raster kurzerhand ab. Dann versank die Welt um sie herum, während sie sich auf das Rätsel konzentrierte. Jede Zeile konnte eine beliebige Anzahl der schwarzen Felder mit den sie kreuzenden Spalten teilen. Der Trick war nun, anhand der Zahlen am Rand des Bildes eindeutige Positionen zu finden. Die Spalten und Zeilen mit den drei Einsen gaben ihr den ersten Hinweis zum Einstieg: Um drei schwarze Felder hier unterzubringen, musste es auch drei weiße Felder geben. An den Stellen, an denen diese Zeile eine Spalte mit einer Null kreuzte, war also mit Sicherheit ein weißes Feld. Dann stellte sie fest, dass es für die beiden Reihen mit der Zwei am Rand nur jeweils zwei Möglichkeiten gab, den Zweierblock zu positionieren. Diese vier Varianten spielte sie der Reihe nach durch, geriet in eine Sackgasse, zerknüllte den Zettel und begann von vorn, strich einen anderen wieder glatt und verwarf ihn erneut. Eine weitere Tasse Kaffee später hatte sie tatsächlich eine Lösung:

Und jetzt? Nachdenklich betrachtete sie das entstandene Muster und verfiel in tiefes Grübeln. Konnte das Blindenschrift sein? Eine Geheimschrift, die sie nicht kannte? Ein Spielfeld? Oder etwas ganz anderes?

Eine vage Erinnerung kam ihr, als sie das zweite Quadrat mit den Buchstaben betrachtete. Kurzerhand übertrug sie die Buchstaben in die Felder des gelösten Nonogramms.

ofoineveflou lieferten die ersten weißen Felder. Nein, das ergab keinen Sinn. Dann konzentrierte sie sich auf die schwarzen Felder, und hier sah es auch nicht besser aus: twoonezer.

Sie starrte verständnislos auf das Wort, dann erkannte sie: Das mussten englische Zahlwörter sein! Schnell verglich sie die Ziffern mit der GPS-Position des Caches im Listing auf der Geocaching-Seite: N54° 21.341’ lautete die Nord-Koordinate. Ja, die Minuten könnten passen! Und nun? Wie ging es weiter?

 

In diesem Augenblick plingte eine Nachricht in ihrem Handy auf. Es war eine neue E-Mail von Charles: »Das Nonogramm ergibt eine Fleißner-Schablone!«

Molly musste lachen. Wie machte er das nur immer? Charles war eine wahre Fundgrube von unerwartetem Wissen; wahrscheinlich lag darin auch ein Grund dafür, warum er Schriftsteller geworden war. Er behalte nur unwichtige Dinge im Gedächtnis, behauptete er gerne; das mache ihn für einen anderen Beruf schlichtweg nicht geeignet.

Seine Nachricht brachte Mollys Erinnerung zurück. Eine Fleißnersche Schablone oder Fleißnersche Tabelle ist ein Verschlüsselungsverfahren; dabei handelt es sich um ein Quadrat mit einem Raster, in dem einzelne Felder ausgeschnitten sind. Legt man nun diese Schablone über ein passendes Quadrat mit Buchstaben, lässt sich der Text in den Fenstern ablesen. Anschließend wird die Fleißnersche Schablone um 90 Grad gedreht, und die nächsten Buchstaben erscheinen. Dies wiederholt man, bis der gesamte Geheimtext entschlüsselt ist.

Molly drehte ihr Nonogramm, verglich die Buchstaben mit der Position der schwarzen Felder und notierte sie daneben auf einem Zettel. Noch zweimal wiederholte sie den Vorgang, dann stand die Lösung vor ihr:

two-one-zero-four-seven-eleven-two-five-five

Sie ergänzte die Längen- und Breitengrade, die waren für diese Gegend ja bekannt, und bildete daraus eine vollständige Koordinate:

N 54°21.047’ W 002°11.255’

Molly schloss die Augen und atmete tief durch. Sollte es wirklich so einfach gewesen sein? Sie betrachtete nochmals die Webseite mit der Rätselaufgabe und stutzte beim Anblick des Cachenamens, den sie bis jetzt noch gar nicht beachtet hatte. Eduard meets Ishida?

Schnell rief sie die Wikipedia-Seite mit der Nonogramm-Erklärung auf, die im Hintergrund noch geöffnet war. Tatsächlich, die Erfinderin dieser Art von Rätsel hieß Non Ishida. Mehr der Vollständigkeit halber gab sie noch das Wort »Fleißner« bei Wikipedia ein und bekam eine Seite mit einer Erklärung der Fleißnerschen Technik. Der Name des Erfinders lautete Eduard Fleißner von Wostrowitz. Wenn sie noch eine Bestätigung für die Richtigkeit ihrer Lösung bräuchte, dann hatte sie diese jetzt bekommen.

Molly öffnete als Nächstes die Kartendarstellung von Google Maps und fügte die ermittelten Koordinaten ins Suchfeld ein. Das Bild wurde kurz unscharf, dann war ein roter Pin zu sehen, mitten im Nirgendwo. Molly zoomte aus der Kartendarstellung heraus und orientierte sich. Da unten war Hardraw, wo sie sich gerade befand, und von hier aus führte eine Bergstraße über den Buttertubs-Pass nach Thwaite ins nächste Tal. Ein Stück östlich der Straße befand sich ihre Koordinate. Sie schaltete auf die Satellitendarstellung, doch auch so ließ sich keine Landmarke erkennen, lediglich die zerklüftete Oberfläche der Yorkshire Dales, die aus dem Weltall fremd und unwirtlich aussahen.

Molly wechselte die Kartendarstellung zu OpenStreetMap, einem anderen Kartendienst, und hier war sie erfolgreicher: »Lovely Seat, 675 m« stand direkt an der Koordinate. Molly maß die Entfernung: Das Cacheversteck befand sich ungefähr einen Kilometer vom Buttertubs-Pass entfernt. Es war kein Weg verzeichnet, aber erfahrungsgemäß fanden sich überall in den Pennines kleine Wegmarken, die auf den Gipfel führen würden. Sie gab den Namen des Gipfels bei Google ein und fand zahlreiche Fotos einer grünen Hügelkuppe mit steinernen Markierungen; einige zeigten bunt gekleidete Wandersleute im Vordergrund, andere brachten die Einsamkeit des Höhenrückens zum Ausdruck. Auf einem der Bilder war so etwas wie ein Pfad neben einem Zaun zu erkennen, der von der Straße abzweigte: Das schien der Aufstieg zu sein.

Der Anblick der Menschen erinnerte Molly an die Wanderkarte, die sie gestern in Hawes gekauft hatte, und sie breitete sie auf dem Küchentisch aus. Hier waren tatsächlich mehrere gepunktete Linien eingezeichnet, die hinauf zum Lovely Seat und noch weiter führten.

Nun war ihr Ehrgeiz geweckt. Molly sah auf die Uhr, es war kurz vor zehn. Wenn sie sich beeilte, konnte sie Mary Ann vielleicht noch vor dem Mittag etwas über den Verbleib ihres Ehemanns mitteilen. Ein kurzer Blick aus dem Fenster zeigte, dass eine blasse Sonne gerade begann, den morgendlichen Dunst zu vertreiben. Mit ein wenig Glück würde es ein schöner Tag werden, soweit das zeitige Frühjahr in Yorkshire dies zuließ: mit zartblauem Himmel und einer Sonne ohne wärmende Kraft, dafür mit Wind so frisch und klar wie eine kalte Dusche.

Molly lief die Treppe hoch und zog sich um. Sie wählte Jeans aus festem Stoff, einen warmen Fleecepullover und dicke Socken, dazu die rote Windjacke und ihre Wanderschuhe. Die langen schwarzen Haare band sie im Nacken zu einem Pferdeschwanz zusammen und zog ein buntes Schlauchtuch darüber. Das würde die Haare bändigen und zugleich ihre Ohren wärmen. Zuletzt kontrollierte sie den Akkustand ihres Handys – sie würde es brauchen, um den Geocache zu finden –, steckte noch eine Wasserflasche, die Wanderkarte und den Zettel mit der Koordinate in die Tasche und verließ das Haus.

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KAPITEL 2

Mortimer war mit dem Auto aufgebrochen, hatte Mary Ann gesagt, und das erleichterte Mollys Aufgabe. Alle Wanderwege zum Lovely Seat zweigten von der Cliff Gate Road ab, der kleinen Passstraße, die sich in engen Serpentinen zum Buttertubs-Pass hochschraubte. Sie musste also nur der Straße folgen und nach Mortimers Jeep Ausschau halten, der gestern Abend in der Einfahrt des Hauses geparkt hatte. Da, wo sie ihn stehen sah, würde auch sie ihr Auto abstellen und den Aufstieg zum Gipfel in Angriff nehmen.

Gedacht, getan. Molly folgte der Straße an Peterstone Hall vorbei, und beim Anblick des schönen Hotels überkam sie erneut die Enttäuschung. Hätte sie vorher gewusst, dass sie ihren Urlaub allein verbringen würde, hätte sie hier ein Hotelzimmer mit Vollpension gebucht und sich so richtig verwöhnen lassen. Es war Charles’ Idee gewesen, das kleine Cottage zu mieten und eine Woche in trauter Zweisamkeit zu verbringen. Nur sie beide, hatte er vorgeschlagen, weil sie sich im letzten Jahr so selten gesehen hatten, dass er schon gar nicht mehr wusste, wie sie aussah, und voller Vorfreude hatte Molly zugestimmt.

Und nun war sie doch wieder auf sich allein gestellt. Gestern Abend hätte sie am liebsten ein paar Teller zerschlagen vor Zorn. Aber die Selbstversorgung in den Yorkshire Dales bedeutete auch so schon eine Herausforderung für sie, auf die sie in ihrem Urlaub gerne verzichtet hätte, sie musste sich das Abenteuer nicht noch durch zerbrochenes Geschirr erschweren. Molly atmete tief durch und zwang ihre Gedanken in eine andere Richtung. Sie konnte es nicht ändern, und sie wollte sich ihren wohlverdienten Urlaub nicht durch sinnloses Bedauern verderben lassen. Sie hatte frei, sie befand sich inmitten einer zauberhaften Landschaft, und sie war fest entschlossen, die nächsten Tage auch ohne Charles zu genießen.

Als ihr kleiner Wagen die ersten Steigungen emporkletterte und sich hinter jeder Kurve neue fantastische Ausblicke auftaten, fiel ihr das auch nicht mehr schwer. Sanfte grasbedeckte Hügel beherrschten das Land, unterbrochen von scharf gezeichneten Abbrüchen im darunterliegenden Karstgestein, dazwischen die schwarzen Geröllfurchen der kleinen Bäche, die nach der Schneeschmelze hier zu Tal gestürzt waren. Die niedrigen Mauern aus Naturstein, die die Hänge rechts und links der Straße wie mit einem Zeichenstift gemalt durchzogen, reichten bis zum Horizont. Eine blasse Sonne kämpfte mit weißen Federwolken um den Platz am hellblauen Himmel. Mit jedem Höhenmeter schien Molly die Anspannung der letzten Wochen hinter sich zu lassen.

Nach ein paar Hundert Metern tauchte kurz hinter einer Brücke die erste Abzweigung eines Fußwegs auf, und Molly hielt in der Parkbucht am linken Straßenrand an. Hier wies ein hölzerner Wegweiser nach Sedbusk. Molly hatte auf der Karte gesehen, dass man von diesem Wanderweg aus zum Lovely Seat aufsteigen könnte. Aber es handelte sich nicht um einen Weg im eigentlichen Sinn, es war mehr ein wildes Queren von steilen Hängen mit eng beieinanderliegenden Höhenlinien, immer auf eine hohe Steinmarkierung zu, die die Westflanke des Gipfels markierte. Molly hätte es erstaunt, wenn Mortimers Wagen hier stehen würde, denn dies war der anstrengendste Aufstieg von allen.

Also weiter. Die sanften grünen Hänge neben der Straße wurden zunehmend zerklüfteter und die Straße immer kurviger und steiler. Seit dem letzten Viehgatter begleiteten auch keine Mauern mehr die Straße; nur noch aus Kunststoff geflochtene Zäune teilten die Weiden voneinander ab. An der nächsten Abzweigung nach rechts stellte Molly den Wagen ab und stieg aus. Sie breitete die Wanderkarte auf der Motorhaube aus und orientierte sich. »Willy Road End« hieß die tiefe Fahrspur, die an dieser Stelle in Richtung Osten abbog. War Mortimer hier mit dem Geländewagen hochgefahren?

Molly überquerte die Straße und musterte die Umgebung, konnte jedoch auf dem trockenen Boden keine Hinweise finden, dass hier vor Kurzem ein Auto gefahren war. Sie folgte dem Weg über die nächste Hügelkuppe, bis der steinige Untergrund in kurzes braunes Gras überging – und wirklich, da waren grobe Reifenabdrücke auszumachen. Sie ging in die Hocke und befühlte den Boden. Er war trocken und hart, und die Reifenspuren waren selbst für einen Geländewagen viel zu breit.

Von hier aus hatte sie einen weiten Blick auf die umliegenden Hänge. Sie sah sich um. Einige zottelige Schafe grasten in der Nähe und hoben überrascht die Köpfe, als sie sie bemerkten. Zehn Stück zählte Molly, und fast alle hatten ein kleines wolliges Jungtier an der Seite. Hoch oben auf dem Hang vor ihr erspähte sie weitere Schafe mit Lämmern, aber keine Menschenseele und auch keinen Jeep. Sie drehte um und kehrte zu ihrem Auto zurück.

Einige Serpentinen später wurde Molly fündig. Hier begann der Wanderweg, der auch in dem Bericht erwähnt war, den sie im Internet gefunden hatte. »Along the fence« lautete die Beschreibung, »den Zaun entlang«, und tatsächlich informierte hier sogar ein Schild, dass Hunde am Lovely Seat nicht erlaubt, dafür aber wochentags Jäger unterwegs wären. In der Parkbucht gegenüber, genau neben dem Viehgatter, stand der weiße Jeep der Phinneys. Molly stellte ihren Wagen daneben ab und stieg aus. Die Luft war klar und kalt, es wehte ein beständiger scharfer Wind über die Hänge der Fells. Das Gelände neben dem Zaun unterschied sich praktisch nicht vom Rest des Abhangs, und der Weg war tatsächlich kein Weg, nicht einmal ein Pfad, sondern nur eine vage Verfärbung im Gras, ausgetreten von einsamen Wanderern über viele lange Jahre hinweg.

 

Molly setzte ihre Schritte vorsichtig zwischen dicken braungrünen Graspolstern und losem Geröll. Zum Glück hatte es in letzter Zeit nicht geregnet, sonst wäre diese Strecke wohl vollständig im Schlamm versunken. So blieben ihre Füße trocken, und die festen Wanderschuhe brachten sie sicher über den rauen Untergrund. »Rough terrain« hatte in der Wegbeschreibung im Internet gestanden, und das war nicht übertrieben. Sie folgte dem Zaun ungefähr zehn Minuten lang stetig bergauf, immer den sanft gerundeten Gipfel des Lovely Seat vor sich im Blick. Dann kam sie an eine Stelle, an der eine zerklüftete Rinne einen Karstabbruch markierte. Sie war nicht so tief und steil wie die berühmten Buttertubs auf der Passhöhe, Karstkarren, die bis zu 27 Meter senkrecht in die Tiefe führten und dem Pass seinen Namen gegeben hatten. Aber es reichte aus, dass sie sich vorsichtig ihren Weg zwischen den großen Steinblöcken suchen musste. Unten am Grund des Abbruchs war es totenstill; selbst der Wind war hier verstummt. Sie wandte den Blick nach links. In dem Einschnitt der kleinen Schlucht erhaschte sie einen großartigen Ausblick auf den Great Shunner Fell, der sich auf der anderen Seite der Passstraße erhob. Nach rechts versperrte ein steiler Felsvorsprung die Sicht. Sie umrundete ihn auf der Suche nach einem einfacheren Ausstieg aus der Rinne und strauchelte unversehens bei dem verzweifelten Versuch, dem Körper auszuweichen, der direkt dahinter bäuchlings im Geröll lag. Um ein Haar wäre sie ihm auf den Fuß getreten, und das Herz schlug ihr bis zum Hals vor Schreck. Nach einem kurzen Moment fasste sie sich und ging neben dem Mann in die Hocke. Er war groß und kräftig, und die dunklen Haare am Hinterkopf waren mit viel Grau durchsetzt. Er trug einen dünnen grünen Anorak, hell genug, um in den Bergen aufzufallen; das hatte ihm aber nichts genützt, als er den Felsabbruch hinabgestürzt war. Molly legte vorsichtig zwei Finger an seinen Hals. Er war eiskalt, mehr noch, er schien eine Kälte auszustrahlen, die deutlicher als der fehlende Puls von seinem Schicksal kündete. Molly hob den Kopf des Toten ein wenig an, um einen Blick auf sein Gesicht zu erhaschen, und ihre Befürchtung wurde zur traurigen Gewissheit. Es war Mortimer Phinney.

 

Vorsichtig ließ sie ihn wieder zu Boden gleiten und hockte sich zurück auf die Fersen. Sie zog ihr Handy aus der Tasche ihrer Jacke und sah auf die Uhr. Es war fünf Minuten nach elf. Nur kurz überlegte sie, dann wählte sie die 999. Ihr Telefon schwieg, und sie warf einen Blick auf das Display: Hier unten hatte sie keinen Empfang. Also schob sie das Handy wieder in die Tasche und kletterte aus der Schlucht zurück auf den Hang, den sie zuvor heraufgekommen war. Hier wartete sie einige Augenblicke, dann zeigte das Telefon immerhin einen Strich der Empfangsstärke an. Erneut wählte sie die Notrufnummer, und nun wurde sie von einem regelmäßigen Läuten belohnt: tuuut-tuuut … tuuut-tuuut … tuuut-tuuut …

Als sich die unpersönliche Stimme der Telefonzentrale meldete, berichtete Molly in kurzen Worten von ihrem Fund und bat um eine Weiterleitung zur North Yorkshire Police in Richmond. Sie beschrieb die Stelle, an der sie den Toten gefunden hatte, so genau wie möglich und hinterließ ihre Telefonnummer für Rückfragen. Nach Beendigung des Gesprächs setzte sie sich ungeachtet der Kälte auf einen der größeren Felsblöcke und barg das Gesicht in den Händen. Sie hatte Mr Phinney nur einmal kurz gesehen, als er sie gestern als Gast in seinem Cottage willkommen hieß, aber dennoch ging ihr sein Tod nahe. Mary Ann hatte sie emotional eingebunden, indem sie sie um Hilfe bei der Suche nach ihrem Mann bat, und nun fühlte sich Molly schuldig, obwohl sie wusste, dass sie nichts für den Ausgang der Suche konnte.

Sie schloss die Augen und ließ die Gefühle zu. Sie spürte, wie die Tränen hinter den geschlossenen Lidern brannten, und unterdrückte sie nicht. Sie zogen heiße Spuren auf ihren Wangen, und Molly ließ sie laufen. Sie atmete tief und kämpfte nicht dagegen an, als die Trauer um Mortimer Phinney und das Mitgefühl mit Mary Ann auf sie einströmten. Fünf Minuten saß sie reglos auf dem Stein, dann seufzte sie einmal tief auf.

Sich solchen Gefühlen bewusst auszusetzen, um sie anschließend zu verbannen und mit der Arbeit weiterzumachen, war eine Technik, die ihr ein erfahrener Kriminalist ganz am Anfang ihrer Ausbildung beigebracht hatte. Und die Methode funktionierte.

Nach einer Weile öffnete sie ihre Augen wieder und wischte sich das Salz der getrockneten Tränen von den Wangen. Sie nahm ihr Schlauchtuch ab, rubbelte sich damit übers Gesicht und trocknete ihre Augen, bevor sie es ausschüttelte und als Haube über ihre Ohren zog. Ungeduldig sah sie auf die Uhr; es war gerade mal eine Viertelstunde vergangen, seit sie die Leiche entdeckt hatte. Bis die Polizei hier war, würde es noch einige Zeit dauern.