Lavendel-Wut - Carine Bernard - E-Book

Lavendel-Wut E-Book

Carine Bernard

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Beschreibung

Duftender Lavendel, ein Mann ohne Vergangenheit und ein Mord am Mont Ventoux Im Provence-Krimi »Lavendel-Wut« löst die junge Kommissarin Lilou Braque ihren 7. Fall: Cosy Crime zum Wohlfühlen mit jeder Menge Südfrankreich-Flair! Der Lavendel blüht, und die örtliche Rennrad-Community von Carpentras ist in Aufruhr: Das berühmte Gipfelschild des Mont Ventoux ist verschwunden! Anstatt auf das gestohlene Schild stößt ein Suchtrupp auf die Leiche eines Radfahrers – offenbar ist dieser schon vor Tagen im unwegsamen Gelände des Berghangs zu Tode gekommen. Die junge Kommissarin Lilou Braque nimmt die Ermittlungen auf und erlebt eine Überraschung: Der Tote lebte in der Nähe von Carpentras, aber bis vor zwei Jahren scheint dieser Mann überhaupt nicht existiert zu haben. Wurde er womöglich deshalb von niemandem vermisst? Urlaubszeit ist Krimi-Zeit: Die Provence-Krimi-Reihe von Carine Bernard ist die perfekte Urlaubslektüre für alle Frankreich-Fans Spannende Fälle zum Miträtseln, malerische Landschaften und provenzalische Köstlichkeiten machen die cosy Krimis um die liebenswerte junge Kommissarin Lilou Braque zum Lesevergnügen.   Die Provence-Krimis von Carine Bernard sind in folgender Reihenfolge erschienen: - Lavendel-Tod - Lavendel-Gift - Lavendel-Fluch - Lavendel-Grab - Lavendel-Zorn - Lavendel-Sturm - Lavendel-Wut

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Seitenzahl: 347

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Carine Bernard

Lavendel-Wut

Ein Provence-Krimi

Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG.

Über dieses Buch

Der Lavendel blüht, und die örtliche Rennrad-Community von Carpentras ist in Aufruhr: Das berühmte Gipfelschild des Mont Ventoux ist verschwunden! Anstatt auf das gestohlene Schild stößt ein Suchtrupp auf die Leiche eines Radfahrers – offenbar ist dieser schon vor Tagen im unwegsamen Gelände des Berghangs zu Tode gekommen. Die junge Kommissarin Lilou Braque nimmt die Ermittlungen auf und erlebt eine Überraschung: Der Tote lebte in der Nähe von Carpentras, aber bis vor zwei Jahren scheint dieser Mann überhaupt nicht existiert zu haben. Wurde er womöglich deshalb von niemandem vermisst?

 

 

Weitere Informationen finden Sie unter: www.droemer-knaur.de

Inhaltsübersicht

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Leseprobe »Madame le Commissaire und der verschwundene Engländer«

Kapitel 1

Touche pas à mon Ventoux!«

Die Hauswände an der Porte d’Orange schienen den blechernen Klang noch zu verstärken. Ein klappriger Kleinwagen mit einem Lautsprecher auf dem Dach näherte sich der Unfallstelle, wich dem Polizeiwagen aus, der in zweiter Spur parkte, und bog um die Ecke. Lilou hielt sich die Ohren zu, bis er im dunklen Torbogen des Stadttors verschwand.

»Finger weg von meinem Mont Ventoux!«

Die Stimme entfernte sich im Gassengewirr der Altstadt, und erleichtert nahm Lilou die Hände von den Ohren. »Was war das denn?«

Technicien Mistral machte gerade Fotos von der demolierten Stoßstange eines der Unfallfahrzeuge. Mit der Kamera in der Hand richtete er sich auf und wandte sich ihr zu. »Ach, das Schild wurde mal wieder gestohlen.«

»Was für ein Schild denn?«, fragte Lilou. »Ich habe keine Ahnung, wovon du sprichst, Guillaume.«

»Du bist offenbar keine Radfahrerin«, antwortete er und grinste. »Es geht um das Gipfelschild des Mont Ventoux. Es ist letzte Nacht verschwunden. Sie haben es vorhin im Radio gemeldet.« Er schüttelte den Kopf. »Was für Idioten!«

Lilou sah ihn verwundert an. »Okay, das ist natürlich Diebstahl«, sagte sie. »Aber was ist daran so schlimm, dass sie es sogar im Radio bringen?«

»Es ist das Gipfelschild! Für die Rennradfahrer ist das so etwas wie …« Er brach ab, hob die Schultern. »Man muss vermutlich zu diesen Verrückten gehören, um es zu verstehen.«

»Offensichtlich.« Lilou grinste. »Ich verstehe es jedenfalls nicht. Warum kann man nicht einfach ein neues Schild aufstellen?«

»Der Mont Ventoux ist so etwas wie der heilige Berg für die Fahrradfahrer.« Commandant Hiroux war ebenfalls herangekommen und klappte sein Tablet zu, auf dem er die Personendaten der Unfallbeteiligten notiert hatte. »Jedes Jahr kommen Hunderttausende Radfahrer hierher«, fuhr er fort, »nur um diesen Gipfel mit ihrem Fahrrad zu bezwingen. Und als Beweis für ihre Leistung hinterlassen sie einen Aufkleber ihres Clubs auf dem Gipfelschild.« Seine Miene hatte sich verdunkelt, die Brauen waren finster zusammengezogen. »Es ist also viel mehr als einfach nur ein Schild, und es zu stehlen, ist sozusagen ein Sakrileg.« Er zog sein Smartphone aus der Tasche, tippte darauf herum und hielt es Lilou entgegen. »Sieh es dir an!«

Das Foto zeigte einen behelmten Fahrradfahrer in buntem Dress neben seinem Rennrad, und Lilou musste zweimal hinschauen, bis sie ihren Kollegen erkannte. Der kargen Berglandschaft im Hintergrund nach zu schließen stand Miquèl Hiroux auf dem Gipfel des Mont Ventoux. Das Schild hinter ihm war tatsächlich über und über mit bunten Stickern beklebt, so dicht an dicht, dass man den Namen des Bergs und seine Höhe kaum noch erahnen konnte.

»Würden sie das hier bei uns in der Stadt tun, wäre es Vandalismus«, meinte Lilou.

»Natürlich.« Hiroux grinste schief. »Aber das sind eingeritzte Initialen in Bäumen und Felsen am Ende auch. Und die kann man nicht so einfach wieder entfernen.«

»Da hast du auch wieder recht.« Lilou reichte ihm das Telefon zurück und schaute sich um. »Sind wir hier fertig?«

Es war der Unterbesetzung ihrer Dienststelle geschuldet, dass Lilou als stellvertretende Leiterin des Reviers mit Commandant Miquèl Hiroux auf Streife fuhr und ihn zur Aufnahme dieses Verkehrsunfalls begleitet hatte. Seit der Versetzung von Valerie Cravasse und der Suspendierung von Noa Roguenot waren sie einfach zu wenige Leute im Hôtel de police, und sie hoffte dringend, dass sie bald Verstärkung bekamen. Aber die Mühlen in Paris mahlten langsam, das hatte sie schon oft erfahren müssen. Vermutlich würde es noch einige Wochen dauern, bis die Zentrale ihnen Ersatz zuteilte und die Wache der Police nationale in Carpentras wieder in Vollbesetzung arbeiten konnte.

»So gut wie.« Guillaume packte die Kamera zurück in seinen Koffer und sammelte seine Hütchen ein. »Der Hergang ist ziemlich eindeutig, oder?«

»Sehe ich auch so.« Lilou deutete auf den blauen Toyota, der am Straßenrand stand. Aus dem eingedrückten Kühler tropfte Flüssigkeit. »Die Fahrerin hat zu spät gebremst und ist auf das an der Ampel stehende Fahrzeug aufgefahren. Der Rest ist Sache der Versicherungen.«

»Die Feuerwehr muss nur noch diese Schweinerei beseitigen«, meinte Guillaume.

»Ich habe sie schon angerufen. Sie kommen, sobald das Auto abtransportiert ist.« Hiroux schaute zu dem Krankenwagen hinüber, der am Straßenrand parkte. In der geöffneten Hecktür saß eine dunkelhaarige Frau, ein Sanitäter legte gerade letzte Hand an ihren Kopfverband. »Außer der Fahrerin ist niemand verletzt, und ich habe ihre Daten.« Er klopfte auf das Tablet. »Sie heißt Mercedes Bayes und kommt aus London.«

Wie aufs Stichwort erhob sich die Frau und kam zu ihnen herüber. Sie war groß gewachsen und schlank, ihre Gesichtszüge unter dem leuchtend weißen Kopfverband waren ebenmäßig wie die einer antiken Statue. Sie war ausgesprochen attraktiv, fand Lilou, und Miquèl Hiroux schien ihrer Meinung zu sein.

»Geht es Ihnen gut, Madame?«, fragte er und ging ihr entgegen. Besorgt musterte er ihr Gesicht. »Möchten Sie nicht lieber ins Krankenhaus?«

»Aber nein«, antwortete die Frau. »Das ist doch nur ein Kratzer.« Sie fasste mit schlanken Fingern an ihren Kopfverband und lächelte ihn an. »Es ist sehr nett, dass Sie sich Sorgen um mich machen.« Sie sprach gutes Französisch, doch mit einem leichten Akzent, der ihre fremdländische Herkunft nicht verleugnen konnte.

»Aber das ist doch selbstverständlich, Madame Bayes.« Miquèl Hiroux schnurrte regelrecht, sein hageres Gesicht leuchtete, als er sie ansah.

Lilou unterdrückte ein Grinsen. Flirtete ihr Kollege etwa?

»Ich brauche nur ein Taxi, um zu meinem Hotel zu kommen«, fuhr die Frau fort. »Wenn Sie mir vielleicht eines herbeirufen könnten? Mein mobile phone ist bei dem Unfall zerbrochen.« Sie schnitt eine komische Grimasse. »Man soll nicht glauben, wie hilflos man sich ohne sein Telefon fühlt.«

»Das kann ich mir gut vorstellen.« Hiroux lächelte sie warm an. »Wenn Commissaire Braque einverstanden ist, können wir Sie zu Ihrem Hotel fahren.« Er drehte sich zu Lilou um. »Das können wir doch, Lilou, oder?«

»Von mir aus kannst du das gern tun.« Lilou zuckte mit den Schultern. »Ich werde mit Guillaume zurückfahren und schon mal das Protokoll schreiben. Du musst dann nur noch die Personendaten eintragen.«

»Danke, Chef.« Hiroux blinzelte ihr zu. »Hast was gut bei mir.«

Lilou blinzelte zurück. »Bleib nicht zu lange weg«, sagte sie. »Du weißt ja, wir haben zu wenige Leute.«

»Versprochen.« Der Commandant wandte sich der Frau zu. »Darf ich bitten? Unser Wagen steht da drüben.«

Lilou sah ihm hinterher, dann wandte sie sich an Guillaume. »Hoffen wir, dass er sich nicht die Finger verbrennt«, sagte sie.

»Sie ist natürlich viel zu hübsch für ihn«, konstatierte Guillaume. »Aber vielleicht steht sie ja auf Männer mit Glatze.« Mit übertriebener Geste fuhr er sich durch seine kurzen mausbraunen Haare. »Mich hat sie jedenfalls mit dem Arsch nicht angesehen.«

»Die Frau hat einfach keinen Geschmack.« Lilou stieß ihn spielerisch in die Rippen. »Davon abgesehen ist sie ohnehin zu alt für dich.«

 

Es war kurz vor Dienstschluss, als Miquèl Hiroux endlich wieder in der Dienststelle erschien. Er entschuldigte sich wortreich. »Ich war noch bei den Kollegen von der Gendarmerie«, erklärte er. »Ich wollte wissen, ob sie nähere Informationen zum Diebstahl des Schilds haben.«

»Ach ja, das Gipfelschild.« Lilou hatte überhaupt nicht mehr daran gedacht – schließlich war die Police nationale gar nicht zuständig für Diebstähle außerhalb der Stadt. Aber Miquèl war selbst Rennradfahrer, weswegen ihn diese Tat offensichtlich aus ganz anderen Gründen interessierte. »Und, haben sie dir etwas gesagt?«

»Natürlich.« Miquèl nickte ernsthaft. »Grissan fährt ja selbst, und wir sind im gleichen Club. Aber leider wissen sie auch nicht viel mehr als das, was sie im Radio gesagt haben.«

»Commandant Grissan?« Lilou hob die Brauen. Der Leiter der Gendarmerie in Carpentras hielt normalerweise nicht viel davon, mit der Police nationale zusammenzuarbeiten. Aber offenbar war die Clubfreundschaft stärker als seine Vorbehalte gegenüber den Kollegen vom Hôtel de police.

»Der Diebstahl wurde heute Morgen angezeigt«, fuhr Miquèl fort. »Die Leute von der Wetterstation haben bemerkt, dass das Schild fehlt, aber sie haben niemanden gesehen. Wir können nur hoffen, dass sich noch ein Augenzeuge meldet.«

»Was macht man denn mit so einem Schild?«, fragte Lilou. »Gibt es für so etwas einen Markt? Oder hängt man sich das dann ins Wohnzimmer?«

»Verkaufen kann man es jedenfalls nicht. Der Verkäufer wäre ja sofort überführt.« Miquèl schüttelte den Kopf. »Ehrlich gestanden hoffen wir, dass es nur ein dummer Streich ist. Dann taucht das Schild irgendwo wieder auf. Beim letzten Mal hat man es in einem Straßengraben gefunden.«

»Ach, das kommt öfter vor?« Lilou schmunzelte. »Vielleicht sollte man es einfach besser sichern.«

»Darüber haben wir wirklich schon nachgedacht.« Er grinste freudlos. »Aber wenn das Schild seine Funktion behalten soll, muss es frei zugänglich auf dem Gipfel stehen. Damit ist es eben auch Vandalen und Dieben ausgesetzt. Man kann das nicht verhindern.« Er hob die Schultern. »Jedenfalls werden wir heute Abend noch Suchtrupps losschicken, die die Wanderwege rund um den Gipfel absuchen. Vielleicht haben wir ja Glück.«

»Dann wünsche ich euch viel Erfolg.« Lilou erhob sich. »Ich mache jetzt Feierabend.«

»Hast du vielleicht Zeit und Lust, uns zu helfen?« Er sah sie bittend an. »Je mehr wir sind, desto besser sind unsere Chancen.«

Lilou zögerte. Eigentlich hatte sie sich auf einen ruhigen Abend in ihrer neuen Wohnung gefreut. Doch andererseits – ihr Freund Simon war in seinem Restaurant, er hatte heute viel zu tun und würde kaum vor Mitternacht nach Hause kommen. Und der ruhige Abend würde in Wahrheit eher ein langweiliger Abend werden, mit irgendeiner Spieleshow im Fernsehen, bis sie auf dem Sofa einnickte. Während ein abendlicher Ausflug zum Mont Ventoux und die Suche nach diesem Gipfelschild mit Hiroux’ verrückten Freunden durchaus mehr Abwechslung versprach.

»In Ordnung, wo muss ich hinkommen?«

»Das ist großartig, Lilou.« Sein Gesicht hellte sich auf, er lächelte erfreut. »Wir treffen uns um halb sieben in Carroux. Schaffst du das?«

Lilou sah auf die Uhr. »Aber ja, das ist kein Problem. Bis nachher!«

 

Gleichmäßig setzte Lilou einen Schritt vor den anderen. So gut es auf dem unebenen Pfad überhaupt möglich war, der sich entlang der bewaldeten Bergflanke nach oben zog. Inzwischen war die Sonne untergegangen, die Dämmerung zwischen den Bäumen nahm gefühlt mit jedem Meter zu, den sie an Höhe gewannen. Es war vollkommen still, kein Rauschen in den Baumkronen, kein Vogelgezwitscher war zu hören, selbst die Grillen waren verstummt. Die hagere Gestalt von Miquèl Hiroux wenige Schritte vor ihr war das Einzige, was sich außer ihr in diesem dunklen Wald zu bewegen schien.

Vor über zwei Stunden hatten sie sich auf dem Platz vor der Kirche in Carroux getroffen. Zu Lilous Überraschung waren an die dreißig Leute zusammengekommen, um bei der Suche nach diesem besonderen Schild zu helfen. Auch Grissan, der Commandant der Gendarmerie in Carpentras, war unter ihnen. Er hatte überrascht die Augenbrauen gehoben, als er sie erblickte, ihr jedoch nur grüßend zugenickt, während der Leiter der Suchaktion, ein drahtiger älterer Mann, sie in Zweierteams aufteilte. Was durchaus sinnvoll war, wenn man die schiere Anzahl von Wanderwegen bedachte, die auf und um den Mont Ventoux herumführten.

Nun waren sie schon etwa eine Stunde lang unterwegs, in mäßigem Tempo, ständig rechts und links ins Unterholz und zwischen die Bäume spähend. Ein Stück über ihnen am Hang wand sich die Straße, die von Carroux kam, in weiten Serpentinen zum Gipfel. Manchmal hörten sie das entfernte Brummen eines Autos, und Scheinwerfer geisterten kurz durch die Bäume, bevor alles wieder im Schatten versank.

Miquèl blieb stehen und wartete auf sie. Der Weg umrundete hier einen Felsvorsprung, niedrige Kiefern klammerten sich an brüchiges Gestein. Ganz so dunkel war es noch gar nicht, stellte Lilou überrascht fest. Der Himmel im Westen leuchtete in hellen Orangetönen zwischen den Bäumen. Der Blick nach Süden war frei und bot Aussicht auf die vorgelagerten Hügelketten, die im letzten Licht der Abendsonne erstrahlten.

»Wir sollten jetzt besser die Taschenlampen benutzen«, sagte Miquèl. Er öffnete seinen Rucksack und zog zwei Stabtaschenlampen heraus. »Unter den Bäumen ist sonst nicht mehr viel zu erkennen.« Er knipste eine der Lampen an und reichte sie Lilou. Der Lichtkegel war kräftig und schnitt wie ein Messer durch das Dämmerlicht am Hang, tauchte bemooste Baumstümpfe und kalkweiße Felsen in plötzliches Licht. Wenn das vermisste Schild wirklich hier zwischen den Bäumen lag, würden sie es zweifellos finden.

Hinter der Biegung wurde der Weg schmaler und das Gelände noch steiler. Es gab kaum noch Unterholz zu beiden Seiten des Wegs, nur die rauen Stämme der Kiefern krallten sich in den Berg. Geisterhaft leuchteten sie auf im vorübergleitenden Licht ihrer Lampen und täuschten Bewegung vor, wo keine war. Die Straße lag nun hoch über ihnen und war nicht mehr auszumachen. Die beiden hellen Lichtkegel ließen den Wald um sie noch finsterer erscheinen, und Lilou setzte ihre Schritte noch vorsichtiger als zuvor. Der Pfad wand sich durch eine steinige Senke, die von einem alten Felssturz stammen mochte, und stieg dahinter wieder an. Lilou blieb stehen und ließ ihre Lampe zwischen den Bäumen kreisen. Da war ein dichtes Gebüsch – und war das nicht eine metallische Reflexion? »Miquèl«, rief sie. »Ich glaube, da ist etwas!«

»Was ist los?« Miquèl Hiroux blieb stehen und wandte sich zu ihr um.

»Schau mal da drüben.« Sie ließ den Lichtkegel auf dem Strauch verharren. Ganz eindeutig war hier etwas zwischen den Zweigen, was da nicht hingehörte.

Miquèl steckte seine Taschenlampe weg und benutzte beide Hände, um nach oben zu klettern. Lilou vernahm sein unterdrücktes Fluchen. »Merde, das ist ein Fahrrad!«

Sie hörte Blätter rascheln und Äste knacken, dann zog er ein blaues Rennrad am Sattel aus dem Gebüsch. Lose Steinchen und Erde kullerten den Hang herab. Als er mit ihrem Fund wieder neben ihr stand, war seine Miene besorgt. »Da muss ein Unfall passiert sein«, meinte er. »Schau mal, wie das Rad aussieht.« Er zeigte auf den Rahmen, der deutliche Schrammen aufwies. »Komisch, ich habe gar nichts davon gehört.«

»Hier ist auch die Gendarmerie zuständig und nicht wir«, gab Lilou zurück.

»Ja, klar. Trotzdem bekommen wir das normalerweise mit.« Er grinste schief. »Nicht ›wir‹, die Polizei, sondern ›wir‹, die Fahrradfahrer vom Mont Ventoux.«

Lilou hob die Schultern. »Das kann aber auch schon vor längerer Zeit geschehen sein, oder nicht?«

Er schüttelte den Kopf. »Das glaube ich nicht. Schau mal, diese Kratzer hier sind recht frisch. Wenn das Rad schon länger hier liegen würde, sähe das anders aus. Außerdem lässt niemand so ein Fahrrad im Wald zurück. Dafür sind die Teile zu teuer.«

»Hm.« Lilou runzelte die Stirn. »Denkst du, der Fahrer liegt hier irgendwo tot oder verletzt in einem Gebüsch?« Sie trat an die andere Seite des Wegs und leuchtete mit der Taschenlampe nach unten.

»Sei vorsichtig, hier ist es …«

Seine Worte gingen in lautem Gepolter unter, als der Stein unter Lilous Fuß plötzlich nachgab. Sie ruderte mit den Armen, versuchte, ihr Gleichgewicht zu halten, doch der Boden war lose, und unsanft landete sie auf dem Hinterteil. Weitere Steine lösten sich unter ihr, sie fand keinen Halt und rutschte den Hang nach unten, bis ein Baumstamm ihre Talfahrt bremste. Ächzend hielt sie sich an ihm fest und richtete sich vorsichtig auf.

»Bist du okay?« Hiroux war nur als dunkle Silhouette gut zehn Meter über ihr zu erkennen. Das Licht seiner Lampe irrlichterte über ihr in den Blättern der Buche, unter der sie gelandet war, dann traf sie der Lichtstrahl und blendete sie.

»Ich glaube schon«, rief sie zurück. Sie tastete zwischen Ästen und Steinen nach ihrer eigenen Taschenlampe, die ihr beim Sturz aus der Hand gefallen war. Ihre Finger erspürten etwas Rundes, Glattes, doch als sie danach griff, war es nicht das Ende der Taschenlampe, sondern … Sie schrie auf. Was sie in der Hand hielt, war die dünne Gummisohle eines Schuhs, und in dem Schuh steckte ein Fuß.

 

»Lilou, ist alles in Ordnung?« Miquèl Hiroux klang alarmiert.

Lilou ließ den Schuh fahren, biss die Zähne zusammen und versuchte, ihren rebellierenden Magen unter Kontrolle zu bekommen. »Hier …« Sie schluckte, räusperte sich. »Hier liegt ein Mensch«, sagte sie mit heiserer Stimme.

»Was sagst du da?« Der grelle Strahl der Taschenlampe traf ihre Augen, unwillkürlich hob sie die Hand. Steinchen polterten herab, die Erde geriet erneut in Bewegung.

»Bleib bloß oben«, rief Lilou ihrem Kollegen zu. »Hat dein Telefon Empfang? Dann ruf bitte einen Krankenwagen und verständige die Bergrettung und die Spurensicherung.«

»D’accord.« Das Licht von Hiroux’ Taschenlampe glitt über den abschüssigen Boden, und Lilou erhaschte aus dem Augenwinkel ihre eigene Lampe. Sie griff danach und schaltete sie ein – nichts. Verärgert schlug sie auf den Schaft und schüttelte sie, sie flackerte einen Moment, dann brannte sie wieder in stetigem, hellem Licht. Sie holte tief Luft, bevor sie den Reflektor auf die vor ihr liegende Gestalt richtete.

Es war ein Mann in einem eng anliegenden, blau-roten Fahrraddress, der zusammengekrümmt neben einem schartigen Felsen lag. Der Stein hatte seinen Sturz gebremst, doch offenbar hatte er trotz seines Fahrradhelms weniger Glück gehabt als Lilou: Sein Hals war in einem merkwürdigen Winkel verdreht, und bräunliche Flecken auf dem hellen Gestein sprachen eine deutliche Sprache. Erneut tastete Lilou nach seinem Fuß, ließ diesmal die Finger oberhalb des Schuhs über seine Knöchel gleiten – die Haut war kühl und fühlte sich wächsern an. Der Mann war nicht mehr am Leben, und vermutlich war er bereits seit Stunden tot.

Schwankend kam sie auf die Beine und hielt sich an der Buche fest, die sich in den steilen Abhang krallte und sie mit Sicherheit vor Schlimmerem bewahrt hatte: Unmittelbar hinter dem Stamm brach die Felskante ab, und das Licht ihrer Taschenlampe enthüllte nackten Fels und Geröll tief unter ihr.

»Sag den Kollegen bitte, sie sollen Seilzeug und Sicherungsmaterial mitbringen«, rief sie nach oben. »Anders werden wir den Mann nicht bergen können.«

Sie musterte den Hang über ihr und ließ das Licht der Taschenlampe über die Baumstämme wandern. Die Stelle, an der sie abgerutscht war, war deutlich als dunkle Furche im Boden zu erkennen. Wo der unglückliche Fahrradfahrer herabgestürzt war, war dagegen nicht mehr auszumachen – wahrscheinlich hatte sie bei ihrem Sturz sämtliche Spuren vernichtet. Sie warf einen letzten Blick auf den Verunglückten, verzichtete aber auf eine genauere Untersuchung, sondern steckte die Taschenlampe in die Hosentasche und machte sich an den Aufstieg. Sie musste ihre Hände zu Hilfe nehmen, hielt sich an Wurzeln fest und zog sich an den Stämmen der Kiefern und ihren überhängenden Ästen hoch, kroch mehr, als sie stieg, bis sie endlich wieder oben war. Hiroux streckte ihr die Hand entgegen und half ihr zurück auf den Weg. Sie dankte ihm mit einem Lächeln und klopfte sich die Walderde von den Knien. »Merci, Miquèl«, sagte sie. »Für den Mann kommt leider jede Hilfe zu spät.«

Hiroux verzog schmerzlich das Gesicht. »Das habe ich schon befürchtet.«

»Hast du jemanden erreicht?«

»Ja.« Er nickte. »Ich habe die Leitstelle angerufen, die Kollegen sind bereits unterwegs.«

»Sehr gut.« Sie leuchtete den Weg entlang. »Vielleicht sollten wir ihnen ein Stück entgegengehen, meinst du nicht? Sonst finden sie die Stelle nie.«

»Ich habe ihnen die Koordinaten durchgegeben, sie sollten uns eigentlich nicht verfehlen«, meinte Hiroux. »Und sie können oben an der Straße halten, da ist ein Parkplatz.«

»Du kennst dich hier aber gut aus«, stellte Lilou fest. »Wie kommt das?«

Er hob die Schultern. »Ich bin häufig am Mont Ventoux unterwegs«, sagte er. »Nicht nur mit dem Fahrrad, sondern auch zu Fuß. Man kann hier wunderbar wandern.« Er grinste. »Ich gehöre zu den Verrückten, die das wirklich gern tun.«

Lilou erwiderte sein Grinsen. »Klingt gar nicht so verrückt. Ich wandere auch gern, ich komme nur viel zu selten dazu.«

»Vermutlich besteht die Verrücktheit darin, sich die Zeit dafür unter allen Umständen zu nehmen.« Er lächelte wehmütig. »Meine Frau hat das auch nicht verstanden. Aber mir bedeutet dieser Berg wirklich viel.« Er deutete nach oben, wo sich irgendwo die Straße befinden musste. »Wenn man ihn bezwungen hat, egal, ob zu Fuß oder mit dem Rad, dieses Gefühl lässt sich mit nichts vergleichen.«

»Hast du dich auch schon auf diesem Schild verewigt?«, fragte Lilou. Jetzt erst hatte sie sich wieder an den eigentlichen Grund ihrer Anwesenheit erinnert.

»Natürlich.« Hiroux nickte ernsthaft. »Jedes Mal, wenn es ein neues Schild gab, bin ich sofort zum Gipfel gefahren und habe einen Sticker unseres Clubs aufgeklebt. Beim letzten Mal habe ich es sogar geschafft, der Erste zu sein.« Er klang stolz, aber auch ein wenig wehmütig. »Ich hoffe wirklich, dieses Schild taucht wieder auf.«

Sein Telefon klingelte, er zog es aus der Tasche und nahm das Gespräch an. »Oui?« Lilou sah, dass er die Stirn runzelte. »Ich habe sie zum Parking du Belvedere geschickt. Wir sind im Hang unterhalb von Kilometer 48, auf dem Wanderweg, der zur Combe de Malaval führt.« Er lauschte. »Ja, natürlich. Dann bis gleich.« Er steckte das Telefon wieder weg und wandte sich an Lilou. »Das war Grissan. Die Leitstelle hat ihn informiert, und er wies darauf hin, dass der Unfall in seine Zuständigkeit fällt. Aber es ist okay, wenn sie jemanden von unserer Kriminaltechnik schicken.«

Lilou verzog das Gesicht. »Das war ja klar. Unsere Unterstützung nimmt er gern in Anspruch, aber sobald es um Zusammenarbeit geht …«

»Er kommt eben aus einer anderen Zeit.« Hiroux schmunzelte. »Früher haben sich die Polizisten doch wirklich überlegen gefühlt und auf die Gendarmen vom Land herabgesehen. Das hat sich erst in den letzten Jahren geändert.«

»Dabei verfolgen doch Polizei und Gendarmerie dieselben Interessen.« Lilou schüttelte den Kopf. »Und oft genug gibt es Überschneidungen bei der Zuständigkeit.«

»So ist es.« Miquèl Hiroux nickte. »Wobei es hier ja eindeutig ist: Ein Unfall auf der Straße zum Mont Ventoux ist Sache der Gendarmerie.«

Erneut läutete sein Telefon. Er hörte zu, dann beendete er das Gespräch. »Sie sind da.« Er deutete den Weg entlang nach oben. »Sie kommen aus dieser Richtung, da gibt es einen Abstieg vom Parkplatz.« Ein Blick auf die Uhr. »In zwanzig Minuten müssten sie hier sein.«

Kapitel 2

Lilou hatte sich auf den Wanderweg etwas oberhalb der Unfallstelle zurückgezogen, um die Bergungsarbeiten nicht zu behindern, und beobachtete aufmerksam das Geschehen. Inzwischen war es stockfinster zwischen den Bäumen, doch der Bereich um die Unfallstelle war taghell ausgeleuchtet. Gebannt sah sie zu, wie die Gendarmen von der Bergwacht Seilsicherungen anbrachten und ein Flaschenzug für eine Trage installiert wurde. Ein Rettungssanitäter hatte sich zu dem Verunglückten abgeseilt und Lilous Vermutung inzwischen bestätigt: Der Mann war bereits seit Stunden, wenn nicht seit Tagen tot.

Commandant Grissan war ebenfalls eingetroffen und erteilte Anweisungen. Zwei Gendarmen aus seiner Dienststelle leuchteten mit Taschenlampen in die Büsche neben dem Weg, ein dritter hatte das Fahrrad des Verunglückten gesichert und sich damit auf den Rückweg gemacht. Ebrahim Karimi von ihrer eigenen kriminaltechnischen Abteilung hatte das Gebüsch, in dem sie das Fahrrad gefunden hatten, mit rot-weißem Flatterband markiert und montierte gerade eine Kamera auf einem Stativ. Im Licht der starken Scheinwerfer begann er, die Umgebung des Wegs zu fotografieren. Lilou spähte den Hang zur Straße hinauf, von wo das Opfer der Spurenlage nach heruntergekommen sein musste, musterte mit zusammengekniffenen Augen die dunklen Kiefernstämme und den nadelbedeckten, abschüssigen Boden, doch sie konnte beim besten Willen nichts erkennen, was darauf hindeutete, dass hier ein Mensch in den Tod gestürzt war.

Miquèl Hiroux stapfte den Weg herauf und gesellte sich zu Lilou. »Traurige Sache«, sagte er. »Der Mann hat einen Genickbruch erlitten und war vermutlich sofort tot. Sie bringen ihn nach Carpentras zu Bonaventure in die Rechtsmedizin.«

»Das ist gut.« Lilou nickte und wies den Hang nach oben. »Wie sieht die Straße da oben aus? Ist das eine besonders gefährliche Stelle?«

»Eigentlich nicht.« Hiroux folgte Lilous Blick und rieb sich den Nacken. »Die Straße verläuft da oben ziemlich gerade. Allerdings hat sie hier über zwölf Prozent Gefälle, man wird also ziemlich schnell. Und bei den dünnen Reifen reicht schon ein Stein auf der Straße, um die Kontrolle über das Rad zu verlieren.« Er runzelte die Stirn. »Ich kann mir nur nicht so recht erklären, warum er von der Straße abgekommen ist.«

»Vielleicht hat ihn ein Autofahrer abgedrängt?«

»Ja, vielleicht.« Hiroux hob die Schultern. »Dann müssten die Kriminaltechniker ja entsprechende Spuren finden.« Er deutete nach oben. »Wenn nicht hier, dann vielleicht an der Straße.«

»Oder Bonaventure findet etwas heraus«, ergänzte Lilou.

Von weiter unten ertönten Rufe, und Lilou wandte sich wieder um. Zwei uniformierte Bergretter waren bei dem Verunglückten und hatten den Körper des Mannes inzwischen auf die Trage geschnallt. Der Seilzug knarrte, der Mechanismus setzte sich in Bewegung, und langsam hob sich die Last nach oben.

Hiroux trat zu der Gruppe von Gendarmen am Wegrand, Lilou schloss sich ihm an und versuchte, einen Blick auf das Gesicht des Mannes zu erhaschen. »Ist das Opfer schon identifiziert?«, fragte Grissan laut in die Runde.

»Ja.« Der Sanitäter, der als Erster bei dem Verunglückten gewesen war, reichte dem Commandant einen Ausweis. »Er hatte eine carte d’identité bei sich.«

Grissan kniff die Augen zusammen. »Yves Grenouille«, las er vor, »wohnhaft in Mirocène. Kennt ihn jemand von euch? Nein?« Kopfschütteln bei den Kollegen. »Wir fahren auf dem Rückweg gleich bei seiner Adresse vorbei.« Erst jetzt schien er Lilou und Miquèl Hiroux zu bemerken. »Dann ist ja alles geklärt.«

»Zumindest, was die Personalien betrifft«, antwortete Lilou. »Zum Hergang wird es doch eine Untersuchung geben, oder nicht?«

»Aber sicher.« Finster zog der Commandant die Augenbrauen zusammen. »Die Leiche geht nach Carpentras in die Rechtsmedizin, und Ihre Kriminaltechniker werden Ihnen sicher alles erzählen, was Sie wissen wollen.«

Lilou hob beschwichtigend die Hände. »Natürlich ist es Ihr Fall«, sagte sie. »Es ist nur …«

»… persönliches Interesse«, half Hiroux aus. »Weil wir ihn doch gefunden haben.«

»Klar«, brummte Grissan. »Ich sag euch schon Bescheid, wenn es was Neues gibt.«

»Danke.« Lilou schenkte ihm ein Lächeln. Ob sich der Commandant wirklich an sein Versprechen halten würde? Sie hatte Zweifel, allerdings war Hiroux ein Clubkollege, wenn sie das richtig verstanden hatte, und immerhin war der Verunglückte ebenfalls Rennradfahrer gewesen. Vielleicht wog das ja schwerer als Grissans Vorbehalte gegen eine Zusammenarbeit mit der Police nationale.

Ihr Magen machte sich mit einem deutlichen Knurren bemerkbar. Sie hatte zwar ein schnelles Abendessen im Chez Amande, dem Restaurant ihres Freundes Simon, eingenommen, bevor sie sich umgezogen hatte und nach Carroux aufgebrochen war, aber das war inzwischen Stunden her. Sie warf einen Blick auf die Uhr. »Sollten wir nicht langsam aufbrechen?«, fragte sie. »Wir können hier doch nichts mehr tun, oder?«

»Stimmt«, antwortete ihr Kollege und sah Commandant Grissan hinterher, der nun selbst zur Unfallstelle hinabkletterte. »Allerdings würde ich ungern im Dunkeln zurückgehen. Was hältst du davon, wenn wir warten, bis Karimi fertig ist? Wir können bestimmt mit ihm zurückfahren.« Er wandte sich zu dem Kriminaltechniker um. »Ebrahim, du nimmst uns doch nachher mit nach Carroux, ja?«

 

Es war fast Mitternacht, als Lilou den Wagen im Hinterhof des Chez Amande parkte. Simons Restaurant war immer noch hell erleuchtet, warmer Lampenschein fiel durch die Fenster in den Hof, das Klirren von Geschirr und das Klappern von Töpfen waren zu hören. Die Ereignisse am Hang des dunklen Bergmassivs erschienen Lilou auf einmal unwirklich, eine Erinnerung wie aus einem Traum, die ihr in dem Augenblick zu entgleiten drohte, als sie in die helle Welt der Wirklichkeit zurückkehrte. Sie blieb noch einen Moment im Wagen sitzen und ließ die vergangenen Stunden Revue passieren: Die abendliche Wanderung, die beinahe vergnüglich begonnen hatte – es fiel ihr immer noch schwer, den Diebstahl des zigfach überklebten Gipfelschilds ernst zu nehmen. Dann der Schrecken über ihren Beinahe-Unfall und der unverhoffte Fund des zu Tode gekommenen Radfahrers. Das Warten auf die Helfer. Und seltsam irreal die geschäftige Betriebsamkeit im Licht der starken Scheinwerfer, während sie selbst den Geschehnissen entrückt und nur beobachtend auf dem dunklen Waldweg gestanden hatte.

Auf der Rückfahrt mit Karimi hatte sie nur mit halbem Ohr zugehört, als Miquèl Hiroux über ungeübte Fahrradfahrer lamentierte, die sich selbst über- und die Geschwindigkeit am Hang unterschätzten und dann die Bergretter zu riskanten Unternehmungen zwangen. »Und das mitten in der Nacht!«, hatte er immer wieder betont. Als ob das die Schuld des Verunglückten gewesen wäre, dass sie zu ihrer Suchaktion aufgebrochen waren. Aber vermutlich hatte Hiroux als passionierter Rennradfahrer schon einiges an vermeidbaren Unfällen miterlebt. Unfälle, die aus genau solchen Situationen erwachsen waren, wenn sich ungeübte Radfahrer mit dem Mont Ventoux messen wollten und – scheiterten. Wobei die meisten Unfälle wohl glimpflicher ausgingen als der Todessturz von Yves Grenouille, der eigentlich recht gut trainiert gewirkt hatte in seinem eng anliegenden Dress.

Sie schrak zusammen, als auf einmal ein heller Lichtschein durch das Autofenster fiel. Die Küchentür hatte sich geöffnet, und Mersoud Aligot, der Koch, trat in den Hof. Er zündete sich eine Zigarette an, dann erst bemerkte er den roten Kangoo und hob erstaunt die buschigen Augenbrauen. Rasch zog Lilou den Schlüssel ab und stieg aus.

»Bonsoir, Mersoud«, sagte sie. »Ist Simon noch da?«

»Ja, klar, er ist drinnen«, antwortete der Koch. »Die letzten Gäste gehen gerade.« Er musterte aufmerksam ihr Gesicht. »Was ist los? Du siehst aus, als hättest du ein Gespenst gesehen.«

»Nein, zum Glück nicht.« Lilou tat seine Frage leichthin ab. Aber in Wahrheit fühlte sie sich genau so: Sie hatte bei ihrem Sturz riesiges Glück gehabt. Wie leicht hätte sie selbst gegen diesen Felsen prallen oder gar über die Kante hinausstürzen können? Dann hätte sie heute Nacht das Schicksal des unglücklichen Radfahrers geteilt. Noch nachträglich bekam sie Gänsehaut. Rasch wandte sie sich ab und trat durch die Tür in die Küche.

Es war, als gelangte sie in eine andere Welt. Alles war hell, warm und freundlich, Simon kam ihr entgegen, er umarmte sie und küsste sie auf die Wangen. »Hallo, Honey«, sagte er. »Ich dachte nicht, dass du so spät kommst.«

»Das hatte ich auch nicht vor«, antwortete sie. »Uns ist sozusagen etwas dazwischengekommen.«

Simon sah sie fragend an. »Ach ja?«

»Ein verunglückter Radfahrer am Mont Ventoux. Leider kam für ihn jede Hilfe zu spät. Aber wir mussten natürlich warten, bis …« Sie verstummte.

Simon drückte sie an sich. »Verstehe. Möchtest du noch einen Kaffee?«

»Nein danke.« Sie schüttelte den Kopf. »Ich würde lieber gleich nach oben gehen. Ich brauche eine Dusche.«

»Dann viel Spaß.« Er lächelte auf sie hinab. »Ich räume hier nur noch schnell auf, dann komme ich auch.«

Sie erwiderte sein Lächeln, gab ihm noch einen Kuss und wandte sich zur Schwingtür, die in die Gaststube führte. »Bis gleich!«

 

Natürlich war es nicht Lilous Fall, sondern die Gendarmerie war zuständig für den verunglückten Fahrradfahrer vom Mont Ventoux. Aber dennoch war sie neugierig, was es mit dem Mann auf sich hatte. Yves Grenouille, sie hatte sich seinen Namen gemerkt, und so war ihre erste Amtshandlung – oder vielmehr nicht amtliche Handlung – am nächsten Morgen, diesen Namen in die polizeiliche Datenbank einzugeben.

Anders als in den meisten anderen Ländern in Europa existierte in Frankreich keine zentrale Meldebehörde. Aber es gab eine Führerscheindatenbank, auf die Lilou über ihren Computer Zugriff hatte, und natürlich das Strafregister, in dem alle Straftäter der letzten Jahre gespeichert waren. Was das betraf, war Yves Grenouille allerdings ein unbeschriebenes Blatt – straffällig war der Mann nie geworden. Bei seinem Führerschein war Lilou dagegen erfolgreich: Das Dokument war vor zwei Jahren in Carpentras ausgestellt worden, ein Duplikat nach Verlust, wie hier vermerkt war. Sie musterte das hinterlegte Foto. Es zeigte das hagere Gesicht eines älteren Mannes mit sonnengebräuntem Teint und kurzem, eisengrauem Haar. Ja, es handelte sich eindeutig um den Toten – warum auch immer sie das einen Moment lang bezweifelt hatte. Irritiert schüttelte sie den Kopf und rief die Fahrzeughalterdatenbank auf. Auch hier wurde sie fündig, ein alter Citroën C6 war seit zwei Jahren auf Grenouilles Namen unter einer Adresse in Mirocène zugelassen. Nichts war hier verdächtig oder außergewöhnlich. Und dennoch – aus irgendeinem Grund hatte Lilou bei dem Mann ein eigenartiges Gefühl.

Noch einmal warf sie einen Blick auf den Eintrag und stutzte. Die Adresse, Venetie 844, sagte ihr überhaupt nichts. Dabei war ihr Mirocène von Kindesbeinen an vertraut, lebte doch dort ihre Tante Margot, die Schwester ihrer Mutter. Zusammen mit ihrem Mann führte sie ein Lokal, das bei Einheimischen und Touristen gleichermaßen beliebt war und in dem sie während ihres Studiums regelmäßig als Kellnerin gejobbt hatte. Rasch rief sie Google Maps auf und gab die Adresse ein, doch auch die Suchmaschine kannte sie nicht. Das war nun wirklich eigenartig. Sie runzelte die Stirn. Auch der Name Grenouille war ihr in Mirocène nie begegnet, doch das war wiederum nicht verwunderlich – seit ihrer Ausbildung zur Polizistin war sie nur noch sporadisch da gewesen und hatte praktisch keinen Kontakt mehr zu den Dorfbewohnern gehabt. Außer mit Jules Demoireau, dem Vater von Commissaire Demoireau, dem Leiter der Dienststelle der Police nationale in Carpentras. Kurz entschlossen erhob sie sich von ihrem Stuhl und ging hinüber zum Zimmer ihres Chefs.

»Oui?«, ertönte die brummige Stimme von Demoireau, als sie an die Tür klopfte. »Ah, Mademoiselle Braque!« Er stand auf und kam ihr ein paar Schritte entgegen. »Was gibt es denn?«

»Guten Morgen, mon commissaire«, antwortete sie. »Haben Sie den Fund des Toten gestern Abend mitbekommen? Commandant Hiroux und ich waren noch am Mont Ventoux und …«

Der Commissaire winkte ab. »Natürlich.«

Natürlich. Lilou verbiss sich ein Grinsen. Es gab wenig, was Demoireau in seiner Dienststelle verborgen blieb, egal, ob dienstlich oder privat.

»Abgesehen davon stand es heute Morgen schon in der Zeitung.« Er setzte sich wieder und schob ihr die heutige Ausgabe des Provence-Matin hin. Sie war aufgeschlagen, und es gab nur einen kleinen Absatz am Ende der Seite: Ein verunglückter Fahrradfahrer war in der Nacht von Rettungskräften der Gebirgseinheit der Gendarmerie tot geborgen worden. Der Mont Ventoux hatte einmal mehr ein Opfer gefordert. Und offenbar wollte man die Sache nicht unnötig aufblähen, es war einfach ein tragischer Unfall, wie sie jedes Jahr zu Tausenden auf Frankreichs Straßen passierten. Dass es einen Radfahrer am »heiligen Berg« der Tour de France getroffen hatte, war dabei offenbar nicht von Belang.

Lilou klappte die Zeitung zu und gab sie Demoireau zurück. »Keine Schlagzeile, immerhin.«

Ihr Chef nickte. »Der Tod eines Menschen sollte immer mit Respekt behandelt werden.« Er sah sie an. »Warum interessieren Sie sich dafür?«

»Ich habe gestern die Identifizierung des Mannes mitbekommen«, begann sie. »Er heißt Yves Grenouille und lebte in Mirocène. Ich wollte Sie fragen, ob Sie ihn vielleicht kennen.«

Demoireau hob die buschigen Augenbrauen. Die Frage war naheliegend, stammte er doch selbst aus diesem Dorf, in dem seine Eltern heute noch lebten. Gemeinsam mit seinem Vater bewirtschaftete er in seiner Freizeit einen kleinen Weinberg ein paar Kilometer außerhalb des Dorfs an den Hängen des Mont Ventoux, und Lilou vermutete, dass er über die Geschehnisse im Dorf mindestens so gut informiert war wie über die in seiner Dienststelle.

»Yves Grenouille. Hm.« Der Commissaire runzelte die Stirn. »Nein, der Name sagt mir gar nichts.« Er schüttelte den Kopf. »Er muss zugezogen sein, es gibt keine Familie Grenouille im Dorf. Haben Sie eine Adresse?«

»Ja, aber die findet nicht einmal Google. Sie lautet Venetie 844.«

Demoireau lachte auf. »Dass Google die nicht kennt, wundert mich nicht. Außerhalb der Dörfer gibt es keine Straßen oder Hausnummern, nur noch Flurbezeichnungen. La Venetie ist eine Ansammlung von kleinen Gehöften und Häusern nordwestlich von Mirocène. Die Gebäude sind über den halben Berg verstreut, da muss man sich durchfragen, bis man das richtige findet. Oder den Postboten abpassen.«

»Merde.« Lilou seufzte. »Ich habe gehofft …« Verärgert biss sie sich auf die Lippen. Was hatte sie eigentlich gehofft?

Der Commissaire musterte sie scharf. »Wieso interessieren Sie sich für diesen Mann?«

Sie hob die Schultern. »Ich weiß auch nicht. Ich habe das Gefühl, irgendetwas stimmt da nicht.«

Er lachte. »Sie und Ihre Gefühle.« Aber es war ein freundliches Lachen, und er blinzelte ihr verschwörerisch zu. Anfangs, als sie noch Praktikantin unter seiner Anleitung gewesen war, hatte er sie jedes Mal gerügt, wenn sie mit – in seinen Augen – vorgefasster Meinung an eine Ermittlung herangegangen war. Inzwischen hatte er jedoch gelernt, auf ihre Intuition zu hören. Manchmal hatte sie eben »so ein Gefühl«, empfand vages Misstrauen angesichts scheinbar klarer Fakten, das sie meist gar nicht begründen konnte. Kaum mehr als ein kleiner Misston in einer Melodie, den sonst niemand bemerkte, eine schwache Ahnung, vielleicht wie das Zucken eines Muskels, den außer ihr niemand besaß. Und dieses Gefühl, dass etwas nicht in Ordnung war, hatte sich schon zu oft bewahrheitet, als dass Demoireau es einfach ignorieren würde. Er blickte auf die Uhr. »Sie haben doch ebenfalls Familie in Mirocène. Was halten Sie davon, wenn Sie den Vormittag freinehmen und Ihre Tante besuchen? Hier liegt sonst nichts an.«

»Danke, mon commissaire«, antwortete Lilou erfreut. Damit hatte sie nicht gerechnet.

»Wenn Sie sich beeilen, treffen Sie sogar noch meinen Vater. Er trinkt vormittags immer seinen Café au Lait bei Jacques und Margot. Er kennt diesen Grenouille bestimmt, und vielleicht weiß er sogar, wo er wohnt. Wenn er ihn nicht kennt, dann kennt ihn niemand.«

 

Der Weg nach Mirocène fühlte sich für Lilou ein bisschen wie eine Reise in die Vergangenheit an. Kaum dass sie die Stadtgrenze hinter sich gelassen hatte, öffnete sie die Fenster weit und sog den Duft der vorbeiziehenden Landschaft ein. Pinien, Thymian und Lavendel vereinten sich zum typischen Bouquet dieser Region, immer wieder unterbrochen vom Geruch nach feuchter Erde und üppigem Grün, wann immer sie eine der Schleifen der Mède überquerte, des kleinen Flusses, der selbst im Hochsommer Wasser führte und die Ebene rund um Carpentras so fruchtbar machte.

Wie oft war sie früher diese Strecke gefahren: anfangs noch mit ihren Eltern, die jeden Sommer Tante Margot und Onkel Jacques besuchten, immer voller Vorfreude auf die Ferien in dem hübschen Dorf und das Wiedersehen mit ihren Freunden dort. Später, als Studentin, in ihrem alten blauen Kangoo, kaum dass das Sommersemester zu Ende war, jedes Mal froh über die Gelegenheit, sich in der Bar ihrer Tante ein willkommenes Taschengeld zu verdienen. Wie jung sie damals gewesen war! Dabei war es erst wenige Jahre her, als sie sich entschlossen hatte, nach ihrem Studium eine Ausbildung zur Commissaire der Police nationale zu machen. Dass man sie am Ende ihrer Zeit an der Polizeischule für ihr letztes Praktikum ausgerechnet nach Carpentras geschickt hatte, war vielleicht genau dieser Tatsache geschuldet: Sie hatte einen Bezug zur Region, kannte Land und Leute schon ein wenig. Wobei natürlich nicht geplant gewesen war, dass sie im Anschluss an ihr Praktikum den Posten als stellvertretende Dienststellenleiterin übernahm. Das hatte sich ergeben, als ihr Vorgänger, Commandant Pouffin, bei einem Einsatz schwer verletzt worden war und man rasch einen Ersatz für ihn benötigte. So hatte sie ihren Traum, bei der Kriminalpolizei in Paris zu arbeiten, begraben und war in Carpentras geblieben – eine Entscheidung, die sie bis heute nicht bereut hatte.

Sie war so tief in ihre Gedanken versunken, dass sie beinahe die Abzweigung nach Mirocène verpasst hätte. Sie setzte den Blinker und trat scharf auf die Bremse, der Fahrer hinter ihr hupte erbost und überholte sie in einer halsbrecherischen Aktion. Sie sah ihm kopfschüttelnd hinterher, bevor sie in die schmale Straße einbog, die sich in vielen engen Kurven über eine bewaldete Hügelkuppe ihrem Ziel entgegenschwang.

 

Tante Margot war höchst erfreut über Lilous Besuch. Sie schloss ihre Nichte in die Arme und drückte sie an sich, dann hielt sie sie an den Schultern ein Stückchen von sich weg und musterte ihr Gesicht. »Du bist dünn geworden, Lilou«, stellte sie fest. »Isst du denn genug?«

»Aber ja.« Lilou lachte. »Simon bekocht mich jeden Abend. Ich habe nur nicht immer Zeit zum Essen.«

»Du nimmst dir nicht die Zeit dafür«, stellte Margot richtig. »Bist immer noch ungeduldig, genau wie früher.«

Lilou fuhr sich durch das kurze blonde Haar und nickte zustimmend. »Vermutlich hast du recht. Wenn viel zu tun ist, vergesse ich schon mal das Essen.«

Margot grinste. »Dann ist es doch gut, dass du hier bist. Setz dich nach draußen, Jacques macht dir eine Omelette. Genau wie früher.«

Lilou ließ sich noch einmal drücken, dann durchquerte sie die dämmrige Gaststube und trat hinaus auf die Terrasse. Eine grün-weiße Markise beschattete den Außenbereich des Lokals, der genau genommen nichts anderes war als der Bürgersteig am Marktplatz, der sich vor Margots Bar zu einem kleinen Rondell verbreiterte und Raum für sechs Tische und immer genauso viele Stühle bot, wie gerade Gäste anwesend waren.

Dankbar ließ sie sich an einem Tisch am Rand nieder und nickte grüßend zu einer Gruppe von älteren Männern am Nachbartisch hinüber. Bauern aus der Umgebung, die beiläufig ihren Gruß erwiderten. Sie kannte die meisten vom Sehen, doch offenbar erkannten sie sie nicht wieder. Kein Wunder, trug sie doch ihre Uniform, und nichts an ihr erinnerte noch an das junge Mädchen mit dem blonden Pferdeschwanz von damals.

Einer der Männer, der ihr bis jetzt den Rücken zugewandt hatte, drehte sich um und lächelte erfreut, als er sie erblickte. Es war Jules Demoireau, der Vater ihres Chefs. Er stand auf, kam herüber und schüttelte ihr die Hand. »Lilou, schön, dich wieder einmal zu sehen.«

Sie erwiderte seinen Händedruck. »Monsieur Jules, ich freue mich ebenfalls.«

Jules Demoireau war vor seiner Pensionierung Lehrer gewesen und hatte im Lauf seines Lebens praktisch jeden im Dorf unterrichtet, weshalb er vom Pfarrer bis zum Bürgermeister alle duzte und auch bei Zugewanderten und Besuchern keine Ausnahme machte.