Lavendel-Sturm - Carine Bernard - E-Book

Lavendel-Sturm E-Book

Carine Bernard

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Beschreibung

Jetzt das eBook zum Einführungspreis sichern! Leuchtender Lavendel und ein totes Schneewittchen in der Provence. »Lavendel-Sturm« ist der 6. Band der Provence-Krimi-Reihe »Die Lavendel-Morde« von Carine Bernard und bietet wieder ganz viel Frankreich-Flair und Cosy Crime zum Miträtseln. Aufgebahrt wie Schneewittchen, so wird Angeline Cravasse gefunden, im Drogenrausch erstickt in einer geheimnisumwitterten Höhle am Rocher du Rocalinaud. Für die junge Kommissarin Lilou Braque bekommt der Fall besondere Brisanz: Bei der Toten handelt es sich um die Schwester ihrer Kollegin Valerie – und obwohl alles auf einen Unfall hindeutet, sucht Valerie die Schuld bei Angelines Freund Pascale. Tatsächlich scheint der aufstrebende Musiker in dunkle Geschäfte verstrickt. Als der Mann aber selbst erschossen aufgefunden wird, geht Lilous Verdacht auf einmal in eine gänzlich andere Richtung. Doch gibt es wirklich einen Zusammenhang zwischen seinem Tod und dem von Angeline? Spannende Unterhaltung zum Wohlfühlen, untermalt vom Duft der Provence und gespickt mit kulinarischen Köstlichkeiten – Carine Bernards Krimi-Reihe ist Südfrankreich-Urlaub im Kopf. Die Cosy Crime Provence-Krimis um die sympathische Kommissarin Lilou Braque aus Carpentras sind in folgender Reihenfolge erschienen: - Lavendel-Tod - Lavendel-Gift - Lavendel-Fluch - Lavendel-Grab - Lavendel-Zorn - Lavendel-Sturm

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Carine Bernard

Lavendel-Sturm

Ein Provence-Krimi

Knaur eBooks

Über dieses Buch

»Aufgebahrt wie Schneewittchen«, sagt der Gendarme, der die tote Angeline in einer Sandsteinhöhle findet. Offenbar ist sie an den Folgen einer Droge gestorben, die die Atmung beeinträchtigt. Für die junge Kommissarin Lilou Braque bekommt der Fall besondere Brisanz, denn die Tote ist die Schwester ihrer Kollegin Valerie – und die gibt dem Musiker und Drogenhändler Pascale Bech die Schuld, der wenig später erschossen aufgefunden wird …

 

Weitere Informationen finden Sie unter: www.droemer-knaur.de

Inhaltsübersicht

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Epilog

Danksagung

Leseprobe »Lavendel-Zorn«

Kapitel 1

Putain de merde!«

Eine Tasse schepperte zu Boden, schlagartig verstummten die Gespräche. Lilou fuhr herum. Lieutenant Cravasse war kreidebleich geworden unter ihrem feuerroten Haar und starrte mit weit aufgerissenen Augen auf ihren Bildschirm. Mit einem Schritt war Lilou bei ihr. »Valerie, was ist los?«

Die anderen redeten wild durcheinander. Bashir war aufgesprungen, der alte Cropardin trat zu ihnen. Roguenot eilte mit Lappen und Eimer heran und bückte sich nach den Scherben.

Auf dem Monitor der Kollegin war ein Foto zu sehen: eine junge Frau in einem weißen Kleid, dunkles Haar umrahmte ein schmales, blasses Gesicht. Sie lag auf dem Rücken und hatte die Augen geschlossen, als ob sie schliefe, doch Valerie Cravasses Reaktion nach zu urteilen war das ganz und gar nicht der Fall.

»Wer ist das?«, fragte Lilou leise.

Cravasse wies ruckartig zum Bildschirm. »Das ist meine Schwester!«

»Mon dieu!« Bashir war ebenfalls herangekommen, er riss die Augen auf. »Valerie, was ist da passiert?«

»Ich habe keine Ahnung.« Valeries Stimme klang heiser. »Ich habe doch keine Ahnung.«

 

Lilou hatte Lieutenant Cravasse in ihr eigenes Büro geführt, fort von den aufgeregten Stimmen der Kollegen. Sie hatte ihr frischen Kaffee geholt und sie auf dem Sofa platziert, dem hellblauen Ledersofa, das sie von ihrem ersten Gehalt als Commissaire aus eigener Tasche bezahlt hatte. Genau für solche Situationen war es gedacht – auch wenn sie wünschte, es wäre nicht ausgerechnet so ein schrecklicher Anlass gewesen, bei dem sie es zum ersten Mal wirklich benötigte. Jedenfalls war es richtig gewesen, nicht erst auf die Zustimmung der Zentrale in Paris zu warten, ging ihr durch den Kopf, als sie sich zu Valerie setzte. »Erzähl mir von ihr«, bat sie.

Inzwischen hatte Lilou die Rundmail der Gendarmerie ebenfalls gelesen, mit der das Foto gekommen war: Gestern Nachmittag hatten Wanderer in der Nähe von Beaumes-de-Venise eine Frauenleiche entdeckt. Da die Tote keinen Ausweis bei sich trug, konnte die herbeigerufene Gendarmerie sie nicht identifizieren, weshalb heute routinemäßige Anfragen an Police nationale und Police municipale gestellt worden waren. Nichts ahnend hatte Lieutenant Cravasse die E-Mail geöffnet und so vom Tod ihrer Schwester erfahren.

Valerie Cravasse räusperte sich. Sie war immer noch blass, schien sich aber ein wenig gefangen zu haben. »Angeline ist meine jüngere Schwester«, begann sie. »Sie studiert Kunstgeschichte in Avignon, aber ich fürchte, sie ist nicht sehr fleißig.« Unwillig schüttelte Cravasse den Kopf. »War nicht sehr fleißig, muss ich jetzt wohl sagen.« Sie nahm die Dienstkappe ab und fuhr sich durch die kurzen roten Haare. »Wir hatten kaum noch Kontakt, seit sie nicht mehr bei unseren Eltern wohnte. Sie arbeitete in einem Café an der Place de la Juiverie und hat da auch ein Zimmer.«

»Verstehe.« Lilou wusste nicht, was sie sagen sollte, sie fühlte sich hilflos. Sie hatte keine Geschwister, und was in Valerie Cravasse gerade vorging, konnte und wollte sie sich gar nicht vorstellen. Ihre Kollegin war sonst so taff, doch jetzt war von ihrer üblichen burschikosen Art nichts zu bemerken. »Möchtest du dir den Nachmittag freinehmen?«

Lieutenant Cravasse atmete tief durch. »Das würde ich tatsächlich gern. Ich muss vermutlich in die Rechtsmedizin, um sie zu identifizieren, oder nicht?« Sie schüttelte den Kopf. »Dass ich einmal auf dieser Seite einer Ermittlung stehen würde …«

»Bis jetzt wissen wir ja noch nicht einmal, ob es überhaupt eine Ermittlung gibt«, entgegnete Lilou. »Es kann auch ein Unfall gewesen sein. Außerdem ist die Gendarmerie zuständig und nicht wir.«

»Das weiß ich doch.« Cravasse zog die Brauen zusammen. »Aber meine Eltern werden das nicht verstehen. Sie werden mich fragen, was passiert ist. Und natürlich würde ich das auch gern wissen.«

Lilou nickte. Das wiederum konnte sie gut nachvollziehen. »Wenn du möchtest, rufe ich Capitaine Soual von der Gendarmerie an. Er weiß bestimmt mehr, als in dieser E-Mail stand. Außerdem kann ich ihm dann gleich sagen, dass … nun, wer die Tote ist.«

Valerie Cravasses Gesicht hellte sich ein wenig auf. »Das ist eine gute Idee.« Sie straffte die Schultern. »Ja, bitte mach das.«

Lilou erhob sich und ging zu ihrem Schreibtisch. Davide Souals Nummer hatte sie in ihrem Telefon gespeichert, denn er war einer der wenigen Gendarmen, die die Zusammenarbeit mit der Police nationale nicht aus Prinzip ablehnten. Lilou hatte zwar den Verdacht, dass das mehr mit ihr als mit seiner grundsätzlichen Einstellung zu tun hatte, aber in dieser Situation war ihr das egal. Valerie hatte ein Recht darauf, zu erfahren, was geschehen war.

 

Capitaine Soual notierte sich die Informationen, die Lilou ihm weitergab: den Namen und die Adresse der Toten, ihr Geburtsdatum sowie die Anschrift ihrer Eltern. Wenigstens diese Aufgabe konnte Lilou ihrer Kollegin abnehmen. Natürlich würde die Gendarmerie Valerie Cravasse noch ausführlich befragen, aber das musste nicht heute geschehen, da stimmte Davide Soual Lilou zu. Nur die Identifizierung der Leiche, das solle ihre Kollegin bitte zeitnah erledigen.

Allerdings wusste er über den Fall auch nicht viel mehr als das, was in der E-Mail gestanden hatte. Die Tote war am Sonntagnachmittag in einer Höhle am Rocher de Rocalinaud gefunden worden, ein ziemlich eindrucksvolles Sandsteinmassiv und im Sommer ein beliebtes Ausflugsziel für Touristen. Jetzt im Winter wurde der Felsen deutlich seltener besucht, sodass die Leiche womöglich bereits seit einigen Tagen in der Höhle gelegen hatte – Genaueres würde erst die Obduktion ergeben. Die Spurensicherung war gestern Abend noch am Felsen gewesen und hatte sichergestellt, was sicherzustellen war. Wenig genug, wie es schien. Fußspuren waren im Sand des Höhleneingangs nicht mehr zuzuordnen, nachdem die Wanderer, die die Tote gefunden hatten, mehrmals hin und her gelaufen waren. Fingerabdrücke durfte man auf dem rauen Sandstein ohnehin nicht erwarten. Und die zahlreichen Kerzenstummel, die die Kollegen in der Höhle gefunden hatten, mochten schon vor wer weiß wie langer Zeit abgebrannt worden sein. Im Grunde genommen gab es nichts. Nichts, außer einer jungen Frau, die ohne Anzeichen von äußeren Verletzungen tot auf dem Boden dieser Höhle lag. Gewandet in ein langes, weißes Kleid und aufgebahrt wie Schneewittchen in seinem Sarg, hatte Davide Soual gesagt. Mit dem Unterschied, dass Schneewittchen wach geküsst worden war, während für dieses Mädchen jede Hilfe zu spät kam.

Lilou verabschiedete sich mit dem Versprechen, dass Lieutenant Cravasse noch heute Docteur Bonaventure in der Rechtsmedizin aufsuchen würde, um die Tote zu identifizieren. In kurzen Worten berichtete sie Valerie das wenige, was sie erfahren hatte.

»Weißt du, ob sie einen Freund hatte?«, fragte sie zuletzt. »Oder kennst du jemanden aus ihrem Freundeskreis? Wer könnte wissen, was sie in dieser Höhle wollte?«

Valerie Cravasse schüttelte den Kopf. »Wir waren nicht so eng miteinander«, sagte sie leise. »Angeline war ja einige Jahre jünger als ich. Sie war erst zwölf, als ich bei der Polizei anfing. Und seit sie von zu Hause ausgezogen ist, habe ich sie nur noch selten gesehen.« Sie rieb sich übers Gesicht. »Man glaubt immer, man hat noch ganz viel Zeit. Und in Wahrheit …«

»So darfst du nicht denken, Valerie.« Lilou setzte sich wieder zu ihr. »Du konntest doch nicht ahnen, dass sie …«

»Sie war meine kleine Schwester. Ich hätte auf sie aufpassen müssen.« Erneut traten Tränen in die Augen der Polizistin. Mit einer unwirschen Handbewegung wischte sie sie weg. »Ich sah ja, dass sie nicht vorankam. Ich hab immer vermutet, dass sie mit den falschen Leuten in Kontakt war. Mit Leuten, denen eine solide Ausbildung, ein geregeltes Leben nichts bedeutet.«

»Du denkst an die Drogenszene?« Lilou sah sie aufmerksam an. »Das sollten die Kollegen von der Gendarmerie erfahren.«

»Ach, ich weiß es doch nicht.« Cravasse hob die Schultern. »Bestimmt hat sie mal Gras geraucht, das tun inzwischen doch alle. Aber ob sie auch noch was anderes genommen hat? Ich hab keine Ahnung, ich habe nichts bemerkt.«

Lilou wusste, was ihre Kollegin meinte. Gerade der unregelmäßige Konsum von Partydrogen fiel Angehörigen oder Kollegen oft gar nicht auf. Aber vorausgesetzt, ihr Verdacht traf zu, würde sich Valerie trotzdem Vorwürfe machen.

Ihre Kollegin rieb sich die Hände am rauen Stoff ihrer Hosenbeine ab und erhob sich. »Ich sollte dann wohl zum centre hôpital fahren.« Sie war blass, ihre Augen waren gerötet, ihre Bewegungen wirkten fahrig.

Lilou stand ebenfalls auf. »Soll ich mitkommen?«, bot sie an. Sie warf einen Blick auf die Uhr, die über der Tür hing. »Ich habe heute Nachmittag keine Termine mehr.«

Die Polizistin sah sie überrascht an. »Das würdest du tun?«

»Natürlich.« Lilou nickte bekräftigend. »So etwas sollte niemand allein durchstehen müssen.«

Cravasse machte eine abwehrende Geste. »Ich schaffe das schon.«

»Außerdem interessiere ich mich selbst für den Fall«, fuhr Lilou schnell fort. »Ich muss nur Commissaire Demoireau Bescheid sagen.«

»Na dann.« Valerie Cravasse zuckte mit den Schultern und wandte sich zur Tür. »Wenn du unbedingt willst …«

 

Vermutlich würde sie es nie zugeben, aber Lilou hatte den Eindruck, Valerie Cravasse war tatsächlich ein wenig erleichtert, als sie sich auf den Beifahrersitz von Lilous Dienstwagen fallen ließ. Bis zu Lilous Eintritt war sie die einzige Polizistin in der Dienststelle gewesen, und Lilou hatte immer vermutet, dass hinter ihrem burschikosen Auftreten in Wahrheit das Gefühl steckte, sich als vollwertiges Mitglied der Truppe beweisen zu müssen. Dabei stimmte das gar nicht – Lilous Eindruck nach war Commandant Pouffin der Einzige unter den Kollegen gewesen, der ernsthaft an der Befähigung von Frauen für den Polizeidienst gezweifelt hatte. Und seit seinem Ausscheiden hatten sich die Zeiten entscheidend geändert – immerhin hatte sie nun Pouffs Stelle übernommen, und dies war schließlich der beste Beweis dafür, dass diese überkommenen Vorurteile nicht gerechtfertigt waren.

Die Fahrt zum centre hôpital, in dessen Kellerräumen die Rechtsmedizin untergebracht war, dauerte nicht lang. Docteur Bonaventure erwartete sie schon, offenbar hatte Capitaine Soual ihr Kommen bereits angekündigt. Er begrüßte sie im Flur und führte sie anstatt in den Sektionssaal in einen kleineren Raum, der daran angrenzte. Hier gab es nur eine Bahre auf Rollen, auf der ein zugedeckter Körper lag.

Bonaventure musterte Valerie Cravasse unter seinen buschigen Brauen. »Sie war Ihre Schwester?«

Cravasse hatte die Lippen zusammengepresst, ihr Gesicht war eine starre Maske. Sie nickte knapp.

»Das wissen wir erst mit Sicherheit, wenn wir die Tote gesehen haben«, sagte Lilou leise.

»Schon klar.« Bonaventure wandte sich der Bahre zu. »Ich will nur nicht, dass sie gleich umkippt.«

Cravasse ließ ein Schnauben hören, aber sie sagte nichts.

Lilou verbiss sich die scharfe Bemerkung, die ihr auf der Zunge lag. Bonaventures ruppige Art war allgemein bekannt, er nahm nie ein Blatt vor den Mund. Aber sie hätte trotzdem ein etwas einfühlsameres Verhalten gegenüber einer Angehörigen erwartet. Nun, offenbar nicht von Docteur Bonaventure.

Er schlug das Tuch zurück, das den Kopf der Toten bedeckte. Cravasse atmete tief ein und trat einen Schritt nach vorn. Sekundenlang betrachtete sie das Gesicht, dann griff sie nach dem Laken. Bonaventure machte noch eine abwehrende Handbewegung, aber er war zu langsam. Mit einer raschen Bewegung riss Cravasse das Tuch herunter.

Der Körper der Toten war nackt, das bläuliche Ypsilon der Sektion, mit groben Stichen vernäht, prangte auf ihrem Oberkörper. Sonst war keine Verletzung zu sehen, wie Lilou mit schnellem Blick feststellte. Auffallend war nur die wächserne Blässe der Haut, die auch schon auf dem Foto zu erkennen gewesen war. Haare schwarz wie Ebenholz, die Haut weiß wie Schnee, die Zeile aus dem Märchen von blanche-neige drängte sich unwillkürlich auf. Und hatte nicht auch Capitaine Soual von Schneewittchen gesprochen?

Cravasse hielt das Tuch vor ihrer Brust umklammert, Bonaventure wand es ihr vorsichtig aus den Fingern und deckte die Leiche wieder zu.

»Ist sie es?«, fragte er mit rauer Stimme.

»Ja.« Cravasse sprach so leise, dass man sie kaum verstehen konnte. »Ja, das ist Angeline.« Sie schloss die Augen und schwankte. Einen Augenblick befürchtete Lilou, die Kollegin würde doch noch ohnmächtig. Aber nein. Cravasse straffte die Schultern und schob das Kinn vor. »Wie ist es passiert? Wissen Sie schon etwas?«

»Gehen wir in mein Büro«, sagte Bonaventure und öffnete die Tür. »Lassen wir sie schlafen.«

 

Bonaventures Büro war groß, noch deutlich größer als das von Commissaire Demoireau, und sein Schreibtischstuhl hatte geradezu titanische Ausmaße. Anders hätte der Rechtsmediziner darin auch keinen Platz gefunden, bemerkte Lilou, als sich Bonaventure darauf niederließ. Bonaventure war nicht nur groß, er war auch breit gebaut mit schweren Schultern und einem respektablen Bauchumfang. Dass er mit seinen ungeschlachten Händen selbst feinste Veränderungen an einer Leiche aufspüren konnte, war erstaunlich. Doch Lilou wusste, dass er ein überaus fähiger Fachmann auf seinem Gebiet war, der sich nicht so leicht etwas vormachen ließ.

Mit einer vagen Geste deutete er zu einem Besprechungstisch in der Ecke, der unter Stapeln aus Zeitschriften, Büchern und Ausdrucken fast verschwand. »Ich komme einfach nicht zum Lesen«, erklärte Bonaventure. »Suchen Sie sich einen Platz.«

Lilou zog zwei Stühle hervor, Cravasse setzte sich, sie ließ sich ebenfalls nieder. »Wann ist es passiert?«, fragte sie.

»Vorgestern, in der Nacht von Samstag auf Sonntag«, antwortete Bonaventure. »Irgendwann nach Mitternacht. Genauer kann ich es nicht sagen, da ich die Temperatur in dieser Höhle nur schätzen kann. Offenbar haben da sehr viele Kerzen gebrannt, die haben den Raum erwärmt.«

Lilou nickte. »Haben Sie eine Todesursache gefunden?«

Der Rechtsmediziner hob die schweren Schultern. »Die Obduktion hat nichts ergeben. Keine Anzeichen von Gewalt, keine Verletzungen. Auch an den inneren Organen war nichts Außergewöhnliches festzustellen.« Er warf Cravasse einen Blick zu. »Sie war nicht schwanger und wurde auch nicht vergewaltigt.«

»Was war es dann?« Die Stimme von Valerie Cravasse klang heiser. »Wieso ist sie dann tot?«

Bonaventure neigte den Kopf. »Die Blutgasanalyse hat einen erhöhten Gehalt an Kohlendioxid ergeben«, sagte er. »Sie ist erstickt.«

»Aber das …«

»Wie kann …«

Lilou verstummte, sie hatte gleichzeitig mit Cravasse gesprochen. Ihre Kollegin atmete tief durch. »Das heißt, sie wurde ermordet?«

»Das habe ich nicht gesagt.« Bonaventure schüttelte den Kopf. »Es gibt keine Erstickungszeichen, keine Würgemale. Es war ein inneres Ersticken, zu wenig Sauerstoff in der Atemluft.«

»Sie meinen, es war ein Unfall? In dieser Höhle hatte sich Kohlendioxid angesammelt?« Lilou hatte von so etwas schon gehört. Immer wieder berichteten die Medien von Unfällen bei Höhlenbegehungen.

»Nicht von allein«, brummte Bonaventure. »Das ist eine künstlich angelegte Kammer im Sandstein, die noch dazu eine Fensteröffnung hat.«

»Aber dann …« Cravasse verstummte, als der Rechtsmediziner sie mit einer Handbewegung unterbrach.

»So wurde sie aufgefunden«, sagte er und öffnete ein Foto auf seinem Monitor. Es war das Bild, das Lilou schon kannte: die junge Frau im weißen Kleid, die mit geschlossenen Augen auf dem Rücken lag. Ihre Hände waren über der Brust verschränkt, sie wirkte wie aufgebahrt.

Bonaventure klickte mit der Maus, das Bild wechselte und zeigte die Höhle. Ein kleiner Raum mit einer niedrigen Decke, krumme Wände, ein steinerner Vorsprung, der sich die Wand entlangzog, eine winzige Fensteröffnung, hell überstrahlt von der Belichtung, sodass man draußen kaum etwas ausmachen konnte. Das nächste Bild zeigte den Höhleneingang von draußen, nicht mehr als ein schmaler Durchgang im Gestein, eingebettet in den Felsen, der sich dahinter auftürmte.

»Können Sie noch mal zurückgehen bitte?«, fragte Lilou und deutete auf den Bildschirm.

Bonaventure tat es.

Lilou wies auf das Foto, auf dem die nackten Beine der Frau zu sehen waren. »War sie wirklich barfuß, als man sie fand?«

»Ja.« Der Rechtsmediziner nickte. »Tatsächlich waren da auch Abschürfungen und Sand an ihren Fußsohlen, als ob sie ohne Schuhe über diese Felsen geklettert wäre.« Er verzog das Gesicht.

»Ihr Kleid sieht aber nicht so aus, als ob man damit wandern gehen würde«, bemerkte Lilou. »Vor allem ist es doch zurzeit viel zu kalt, um ohne Schuhe und Jacke herumzulaufen. Haben die Kollegen von der Gendarmerie denn sonst nichts gefunden?«

»Nein.« Bonaventure schnaubte verächtlich. »Genau das habe ich denen auch gesagt. Das Kleid war viel zu sauber, als dass sie damit durch das Gestrüpp gekrochen sein kann. Aber angeblich war da nichts.«

Lilou verkniff sich ein Schmunzeln. Eine nicht übereinstimmende Spurenlage war nach Bonaventures Meinung immer erst einmal der schlampigen Arbeit der ermittelnden Beamten anzulasten. Das hatte Lilou schon mehr als einmal erlebt. Allerdings war wirklich kaum vorstellbar, wie man in dieser winzigen Höhle etwas übersehen konnte.

»Ganz abgesehen davon, dass Angeline nie so etwas getragen hat«, ließ sich Cravasse vernehmen und unterbrach Lilous Gedanken. »Sie mochte bunte Klamotten. In so einem Kleid hab ich sie noch nie gesehen.«

»Du denkst, das war eine Verkleidung?« Lilou schaute Cravasse fragend an. »Als ob sie da etwas … dargestellt hätte? Vielleicht eine Art Rollenspiel?«

»Das ist kein Kostüm«, widersprach Bonaventure. »Das ist ein ganz normales weißes Kleid.«

Cravasse schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht, dass sie bei so was mitgemacht hat.« Sie hob die Schultern. »Aber ich weiß es nicht. Ich weiß verdammt wenig über meine Schwester, wie es scheint.«

Bonaventure stand auf, die Audienz war offenbar beendet. Er reichte ihnen die Hand. »Die chemische Analyse läuft noch«, sagte er. »Ich mache auch ein Drogenscreening. Vielleicht sind wir anschließend schlauer.«

Lilou erwiderte den Händedruck. »Sagen Sie mir Bescheid, wenn Sie etwas finden?«, bat sie.

»Klar.« Mit einem endgültigen Klicken schloss der Rechtsmediziner das Foto auf seinem Bildschirm. Lilou wandte sich ab und folgte Cravasse nach draußen.

 

Auf dem Rückweg zum Auto schwiegen sie. Cravasse war in Gedanken versunken, und Lilou ahnte, was in ihr vorging. Falls ihre Schwester wirklich etwas mit Drogen zu tun gehabt hatte, machte sie sich bestimmt Vorwürfe, weil ihr nichts aufgefallen war. Polizisten wurden darauf geschult, solche Anzeichen wahrzunehmen. Aber wer rechnete denn in der eigenen Familie damit?

Im Auto warf sie Cravasse einen prüfenden Seitenblick zu, während sie den Motor anließ. Ihre Kollegin wirkte gefasst, aber um ihre Mundwinkel hatte sie einen verbissenen Zug. »Willst du zurück zur Dienststelle?«, fragte sie. »Oder soll ich dich lieber nach Hause fahren?«

Cravasse hob den Kopf und sah sich stirnrunzelnd um. »Am liebsten würde ich …« Sie zögerte. »Diese Höhle auf dem Foto. Ich glaube, ich würde sie gern sehen.«

»Du möchtest zum Rocalinaud?« Lilou sah sie mitfühlend an.

Cravasse nickte. »Allerdings steht mein Auto an der Dienststelle. Und ich würde jetzt lieber nicht mit den Kollegen reden müssen.«

»Das verstehe ich.« Lilou dachte nach. Den Ort aufzusuchen, an dem ihre Schwester zu Tode gekommen war, half Valerie Cravasse vielleicht besser als alles andere, diese Situation zu verarbeiten. »Ich fahre dich hin, wenn du möchtest«, bot sie an. Nicht ganz uneigennützig, wie sie sich eingestand. Tatsächlich hatten die Bilder, die Bonaventure ihnen gezeigt hatte, auch ihre Neugierde geweckt.

Cravasse brachte ein halbes Lächeln zustande. »Danke, Lilou. Das ist wirklich sehr nett von dir.«

 

Beaumes-de-Venise war ein kleines Dorf, das etwa zehn Kilometer von Carpentras entfernt am Fuß einer Klippe der Dentelles de Montmirail lag. Ein Stück abseits der Ortschaft gab es mehrere Sandsteinformationen, deren größte aufgrund ihres auffallenden Aussehens den Namen »Roccaluna«, Mondfelsen, erhalten hatte. Im Französischen hatte sich das provenzalische Wort zu »Rocalinaud« verschliffen, und der Fels war als »Rocher de Rocalinaud« als pittoreskes Ausflugsziel bekannt.

Lilou war noch nie dort gewesen, hatte sich nur immer vorgenommen, ihn einmal zusammen mit ihrem Freund Simon zu besuchen. Doch der hatte nur wenig Zeit für gemeinsame Ausflüge, und seit er mit den Renovierungsarbeiten in der Wohnung seines verstorbenen Onkels begonnen hatte, war es nicht einfacher geworden. Und wenn sich Lilou hundertmal sagte, dass er diesen Aufwand letztendlich für sie beide betrieb, weil sie da gemeinsam einziehen wollten – manchmal fragte sie sich, ob es wirklich rechtfertigte, dass sie Simon kaum noch zu Gesicht bekam.

Sie seufzte und setzte den Blinker, um von der Hauptstraße in den schmalen asphaltierten Weg einzubiegen, der sie an den Fuß des Rocalinaud bringen würde. Nach einer Kurve kam die markante Felsspitze in Sicht, die die umgebenden Weinberge wie der Schnabel eines Raubvogels überragte. Lilou bremste und deutete nach vorn. »Wir sind da.«

Cravasse schreckte aus ihren Gedanken auf. Sie hatte die ganze Zeit geschwiegen, und Lilou hatte sie in Ruhe gelassen. Nun richtete sich ihre Kollegin auf und blickte aus dem Fenster. »Das sieht sehr beeindruckend aus«, sagte sie. »Weißt du, wo diese Höhle ist?«

»Nein.« Lilou fuhr den Wagen an den Straßenrand und hielt in der Zufahrt zu einem Weinberg an. Sie spähte durch die Windschutzscheibe nach oben. »Ich glaube, da drüben beginnt ein Weg«, sagte sie. »Ist es okay, wenn ich mitkomme?«

»Klar.« Cravasse öffnete die Beifahrertür.

Lilou legte zur Sicherheit das Schild mit dem Wappen der Police nationale ins Fenster, dann stieg sie aus und deutete auf die andere Straßenseite. »Sieh mal, er scheint tatsächlich nach oben zu führen.«

Cravasse atmete tief durch. »Dann los.«

Der Weg war kaum mehr als ein Pfad, der sich zwischen dornigen Sträuchern und niedrigen Bäumen emporwand. Der anfangs noch lose, laubbedeckte Untergrund wurde zunehmend fester, das Gestein trat immer öfter an die Oberfläche. An einer besonders steilen Stelle hatten sich Vertiefungen gebildet, die ihnen den Aufstieg erleichterten. Wenig später ließen sie das raschelnde Buschwerk hinter sich und standen auf nacktem Stein. Ein Stück vor ihnen war der Gipfel des Rocalinaud zu sehen, zu dem ein deutlich ausgetretener Steig quer über die Felsen führte. Rechter Hand fiel der Sandstein fast senkrecht zur Straße hin ab, doch das Gestein war rau, und sie fanden guten Halt. Lilou vermied den Blick nach unten, schweigend legten sie den letzten Anstieg zurück. Einige Male mussten sie klettern, doch an keiner Stelle stellte sie der Weg vor größere Herausforderungen.

Schließlich waren sie oben angelangt. Der Gipfel war in Wahrheit ein kleines Plateau, eine vorgelagerte Steinplatte, von der aus man eine grandiose Rundumsicht hatte. Im Norden ging der Blick bis zu den hoch aufragenden Felsnadeln der Dentelles de Montmirail, im Osten erhob sich weithin sichtbar der Mont Ventoux mit seinen schneebedeckten Hängen, während sich im Süden die fruchtbare Ebene bis nach Carpentras erstreckte, das im Dunst des diesigen Spätnachmittags kaum auszumachen war. Nur nach Westen war die Aussicht begrenzt durch einen mit dornigem Gestrüpp bedeckten Hügelzug, auf dessen anderer Seite sich, wie Lilou wusste, die Ortschaft Beaumes-de-Venise befand. Zu ihren Füßen erstreckten sich abgeerntete Weinfelder bis zu den Hängen der umgebenden Hügel. Ein einsamer Traktor holperte in einiger Entfernung über einen Feldweg, der Klang des Motors war bis hierher zu vernehmen und übertönte das Tschilpen der Spatzen in den Büschen. Hier oben war es wunderschön.

Einen Moment lang vergaß Lilou beinahe den traurigen Anlass ihres Besuchs. Als sie sich wieder umwandte, erschrak sie. Cravasse würdigte die Aussicht keines Blickes, sie hielt die Augen auf den Sandstein gerichtet und näherte sich gefährlich der vorderen Kante.

»Valerie, pass auf!«, rief Lilou und eilte zu ihrer Kollegin. Sie legte ihr die Hand auf die Schulter.

»Wenn man sie hätte umbringen wollen, wäre es von hier aus einfacher gewesen«, bemerkte Cravasse trocken und deutete nach unten.

Lilou folgte ihrem Blick. Die Straße lag gut fünfzig Meter unter ihnen. Ein Sturz von dieser Klippe endete mit Sicherheit tödlich. »Und es hätte noch dazu wie ein Unfall ausgesehen«, stellte sie fest.

»Genau.« Cravasse wandte sich ab. »Lass uns diese Höhle suchen.«

Sie kletterten von dem Plateau wieder herunter, und Lilou wies auf einen Pfad, der sich im Sandstein abzeichnete, ein schmaler Sims, der um den Gipfel herumzuführen schien. Cravasse nickte. Tatsächlich war es kaum mehr als eine sandige Spur, ausgetreten von den Menschen, die hier den Fels überquert hatten. Loser Sand hatte sich in den Vertiefungen angesammelt, was den Untergrund trügerisch und rutschig machte, und Lilou suchte Halt an dem rauen Felsen, der sich links von ihr erhob. Zahlreiche Besucher hatten sich hier verewigt, hatten Namen und Symbole in den weichen Stein graviert, die unter ihren darübergleitenden Fingern Gestalt annahmen.

Abrupt endete der Sims an einer Art Kanzel, und Lilou blieb stehen.

Cravasse rückte auf. »Was ist los?«

Lilou machte einen weiteren Schritt nach vorn. Das musste der »Schnabel« sein, den sie von unten gesehen hatte. Von hier aus war keine Ähnlichkeit mit einem Raubvogel mehr erkennbar. Sie standen auf einem engen Felsvorsprung, hinter dem es senkrecht in die Tiefe ging. Die Steinplatte des Gipfels überwölbte ihn wie ein Baldachin und bildete einen anmutigen Rundbogen, der einem steinernen Fenster gleich die Aussicht umrahmte. Im Fels neben ihnen klaffte ein dunkler Spalt: der Höhleneingang. Mit angehaltenem Atem trat Lilou ein.

Schwaches Licht war von vorn erkennbar, doch es reichte nicht aus, den Boden oder die Wände zu erhellen. Nur ihre Finger spürten weitere Formen, Buchstaben und Muster, als sie sich den engen Gang entlangtastete. Einen Moment lang hörte sie lediglich ihre eigenen Atemzüge, dann die scharrenden Schritte von Cravasse, die ihr folgte.

Nach wenigen Metern wurde es heller, der Schluf weitete sich zu einer quadratischen Kammer mit niedriger Decke, die beinahe Lilous kurze blonde Haare berührte. Eindeutig war diese Höhle von Menschenhand geschaffen oder zumindest erweitert worden. Durch eine kleine Fensteröffnung, an der ebenfalls Spuren von Bearbeitung zu erkennen waren, fiel Licht in den Raum, der in Wahrheit noch kleiner war, als sie nach Bonaventures Foto erwartet hatte: keine drei mal drei Meter im Quadrat, schätzte Lilou. Der steinerne Vorsprung, der sich die Wände entlangzog, mochte einmal als Sitzgelegenheit gedient haben, doch zu welchem Zweck die Höhle einst angelegt worden war – Lilou vermochte es nicht zu erkennen.

Die Wände, die Decke und der Boden der Kammer waren über und über mit eingravierten Zeichnungen bedeckt: Namen, geometrische Muster, Ornamente und Tiere, manche klar erkennbar, andere unscharf und verwaschen, zigfach überschrieben und überzeichnet von immer neuen Besuchern. Unwillkürlich zuckte Lilous Hand zu ihrer Gürteltasche, in der sie ein Taschenmesser bei sich trug. Ihren Namen hier in den weichen Stein zu ritzen, wie kam sie nur auf so eine Idee? Das war ein Tatort, und eigentlich hatten sie hier überhaupt nichts zu suchen.

»Warum ist hier nicht abgesperrt?«, fragte Cravasse auch schon. »Das ist doch ein Tatort.«

»Vielleicht haben die Kollegen von der Gendarmerie ihre Untersuchungen schon abgeschlossen.« Lilou hob die Schultern.

»Könnte man meinen«, ertönte eine tiefe Stimme vom Eingang der Kammer her.

Lilou fuhr erschrocken herum, sie hatte niemanden kommen gehört.

»Darf ich fragen, was Sie hier tun?« Ein Mann betrat die Kammer. Er war groß, musste den Kopf einziehen, um nicht an die niedrige Decke zu stoßen, und er trug die Uniform der Gendarmerie. Unfreundlich sah er Lilou und Cravasse an.

Cravasse ruckte mit dem Kinn, ihre Augen verengten sich, sie holte Luft zu einer vermutlich unfreundlichen Antwort.

Lilou machte einen Schritt nach vorn und streckte dem Mann die Hand hin. »Ich bin Commissaire Braque von der Police nationale«, sagte sie schnell. »Auch wenn es nicht so aussieht, wir sind privat hier.«

Cravasse ließ geräuschvoll den Atem entweichen. »Lieutenant Cravasse«, murmelte sie.

Die schwarzen Augenbrauen des Gendarmen hoben sich, sein Blick glitt über ihre dunkelblauen Uniformen und blieb an Lilous Schulterklappen mit dem silbernen Eichenzweig hängen. »Privat, soso.« Er erwiderte Lilous Händedruck eine Spur zu kräftig. »Ich bin Commandant Grissan von der Gendarmerie Carpentras. Sie wissen von unserem Fall?«

Lilou deutete auf Valerie. »Meine Kollegin hat die Tote vorhin identifiziert. Hat Docteur Bonaventure Sie nicht informiert?«

Der Gendarm blickte zu Cravasse. »Sie sind die Schwester?«

Cravasse nickte. »Ich wollte mir ansehen, wo es passiert ist, bevor ich zu meinen Eltern fahre.« Sie schaute ihn geradeheraus an. »Das ist wohl nicht verboten.«

»Natürlich nicht.« Commandant Grissan deutete ein Lächeln an, dann wies er zum Eingang der Höhle. »Ich muss Sie trotzdem bitten, den Ort nun zu räumen. Ein Hundeführer wird gleich hier sein und alles nochmals absuchen. Da können wir keine Fremdpersonen gebrauchen, das verstehen Sie sicher.«

»Aber wir …« Cravasse runzelte die Brauen.

»Komm, Valerie.« Lilou schob sie in Richtung Ausgang. »Monsieur le commandant macht hier nur seine Arbeit. Das ist doch auch in deinem Sinn.«

»Genauso ist es.« Grissans Stimme klang nicht unfreundlich, aber bestimmt. »Die Police nationale ist hier nicht zuständig. Und Sie als Angehörige schon überhaupt nicht.«

»Er hat recht. Wir können hier nichts tun.«

Cravasse schnaufte empört, aber sie widersetzte sich nicht mehr.

»Würden Sie uns bitte auf dem Laufenden halten, mon commandant?«, wandte sich Lilou an den Gendarmen.

»Mhm«, brummte er und wedelte sie hinaus. »Sorgen Sie bitte dafür, dass Ihre Kollegin gleich morgen früh am Gendarmerieposten ist und ihre Aussage macht.«

Lilou hatte nicht den Eindruck, als wäre der Kollege bereit, irgendwelche Informationen mit ihr zu teilen. Vermutlich musste sie sich an Capitaine Soual wenden, wenn sie wirklich etwas erfahren wollte. Mit einem unterdrückten Seufzer wandte sie sich ab und verließ die Höhle.

Kapitel 2

Im letzten Licht des Tages überquerten Lilou und Valerie Cravasse das Felsmassiv. Der fleckige Sandstein irritierte das Auge, und mehr als einmal stolperte Lilou, weil sie eine Verfärbung im Stein für den Schatten einer Vertiefung hielt. Einmal konnte nur der beherzte Griff von Cravasse einen Sturz verhindern, und sie bedankte sich bei ihr mit einem Lächeln.

Am Saum der niedrigen Bäume kam ihnen ein uniformierter Beamter entgegen, der einen Hund an der Leine führte. Bestimmt hatte Bonaventure der Gendarmerie Beine gemacht, doch noch einmal alles abzusuchen. Der Schäferhund hechelte aufgeregt, würdigte die beiden Frauen aber keines Blickes. Der Mann nickte ihnen grüßend zu – warum auch immer schien er über die Anwesenheit zweier Kolleginnen der Police nationale weniger verwundert zu sein als Commandant Grissan vorhin in der Höhle.

Cravasse blieb stehen. »Ich hoffe wirklich, dass der Hund ihre Sachen findet«, brummte sie mit finsterer Miene und sah dem Hundeführer hinterher.

»Wieso hoffst du das?«, fragte Lilou und sah sie erstaunt an.

»Wenn er nichts findet, dann heißt das doch, dass Angeline nicht allein hier oben war. Dass jemand anders ihr Zeug mitgenommen hat. Weil barfuß und in diesem Kleid ist sie bestimmt nicht hier heraufgeklettert.« Cravasse ballte die Fäuste. »Dann hat jemand Schuld an ihrem Tod. Und wenn ich den erwische, der ihr das angetan hat, dann …«

Lilou hob die Schultern. »Es kann auch eine ganz andere Erklärung geben.«

Cravasse wandte sich ab, ihr Gesicht war verschlossen. »Hoffen wir es.«

Schweigend legten sie die letzten Meter zum Auto zurück. Hinter ihrem Wagen parkte ein Fahrzeug der Gendarmerie mit zwei Reifen halb im Straßengraben, vermutlich das Auto von Commandant Grissan. Sie öffnete die Fahrertür ihres Wagens und stieg ein, Cravasse ließ sich auf den Beifahrersitz fallen, sie wendete und fuhr zurück zur Hauptstraße. An der Kreuzung verbreiterte sich die schmale Straße zu einem geschotterten Platz, auf dem ein weiteres dunkelblaues Fahrzeug stand, ein geschlossener Kleintransporter mit vergitterten Luken und dem Emblem der Gendarmerie auf den Türen. Bestimmt war damit der Hundeführer gekommen. Lilou setzte den Blinker und folgte der Straße nach Beaumes-de-Venise, wo sie auf die Hauptstraße nach Carpentras einbog.

 

Als sie zurück zur Dienststelle kamen, war die Dunkelheit endgültig hereingebrochen. Lilou stellte den Wagen auf dem Parkplatz ab und sah zu, wie Cravasse in ihrem roten Golf zur Ausfahrt fuhr. Es war kühl geworden, ein böiger Wind zerzauste ihre kurzen Haare, fuhr kalt unter ihre Uniformjacke und ließ sie frösteln. Einen Augenblick lang überlegte sie, ebenfalls den Wagen für den Heimweg zu nehmen, doch beim Gedanken an die verstopfte Ringstraße, die sie gerade aufatmend verlassen hatte, erschien ihr der Fußweg durch die Altstadt als das kleinere Übel.

Die Straßen wirkten seltsam nackt ohne die bunten Kunstdrucke des Straßenkunstfestivals, die im Sommer an Schnüren über den Straßen hingen und das Bild der Altstadt prägten. Der Winter in Südfrankreich war gewöhnungsbedürftig, stellte Lilou zum wiederholten Mal fest. Es wurde nicht richtig kalt, aber warm war es auch nicht, dafür aber windig und oft regnerisch. Entsprechend wenige Menschen waren in den Gassen der Altstadt unterwegs, nur die Straßenlaternen schufen bleiche Seen auf dem alten Pflaster, und Lilou beeilte sich, nach Hause zu kommen.

Als sie die Haustür an der Place de l’Horloge aufschloss, hörte sie lautes Hämmern und Klopfen von oben. Sie warf einen Blick auf die Uhr. Es war kurz nach sieben, und nicht zum ersten Mal bemitleidete Lilou ihre Nachbarn, die diesen Lärm nun schon seit einigen Wochen ertragen mussten. Heute war Montag, Ruhetag in Simons Restaurant, aber nicht auf seiner Baustelle, im Gegenteil: Simon hatte vermutlich den ganzen Tag über gehämmert und gelärmt. Sie nahm sich vor, Claire und ihren Mann Alfonse demnächst in Simons Restaurant zum Essen einzuladen – als kleine Entschuldigung für diese Unannehmlichkeiten. Nicht dass Claire sich beschwert hätte, dazu war sie viel zu nett und zu verständnisvoll, aber es war das Mindeste, was sie tun konnten.

Claire war eine Freundin von Lilous Tante Margot, dank deren Vermittlung sie zu der kleinen Einzimmerwohnung unter dem Dach gekommen war. Eine Wohnung, in der sie eigentlich nur für ihr zweimonatiges Praktikum bleiben wollte. Nach dessen Abschluss hatte sie vorgehabt, nach Paris zur Police judiciaire zu gehen, doch dann war es anders gekommen als geplant: Sie hatte Simon kennengelernt, den jungen Koch aus Kanada. Frisch verliebt und voller großer Pläne waren sie ein Paar geworden. Und wie unkompliziert erschienen ihr im Rückblick die ersten Wochen mit ihm! Inzwischen war ihr Praktikum längst beendet. Sie war fertig ausgebildete Commissaire und hatte ihren ersten Posten als stellvertretende Leiterin der Polizeidienststelle hier in Carpentras angetreten, während er das Restaurant seiner Urgroßeltern im Erdgeschoss des Hauses wiedereröffnet hatte, das er von seinem Onkel geerbt hatte. Und seitdem fand er immer weniger Zeit für sie, auch wenn ihn das Restaurant nicht mehr so beanspruchte wie ganz am Anfang. Jetzt war es die Wohnung des Onkels, in der er jede freie Minute mit der Renovierung verbrachte, und eigentlich sollte sie glücklich darüber sein. Denn schließlich tat er das ja für sie beide.

Sie seufzte, schüttelte die trüben Gedanken ab und lief die Treppe nach oben.

 

Simon hörte sie nicht kommen. Er trug eine Schutzbrille, Gehörschutz auf den Ohren und eine Staubmaske vor Mund und Nase, während er mit kräftigen Hammerschlägen auf die Überreste der Wand zwischen der ehemaligen Küche und dem Wohnzimmer einschlug. Staub lag in der Luft, Lilou musste husten. Eilig durchquerte sie das Zimmer und stieß ein Fenster auf. Den Luftzug spürte auch Simon, er ließ den Vorschlaghammer sinken und drehte sich um.

»Ah, Honey, schön, dass du da bist.« Er nahm den Gehörschutz ab, zog sich Maske und Brille vom Gesicht und sah ein bisschen aus wie ein Pandabär, als er sich vorbeugte, um ihr einen Kuss zu geben.

Lilou lachte. »Weißt du eigentlich, wie spät es ist?«

»Nein, wieso?« Er fuhr sich durchs sandbraune Haar, Staub rieselte herab.

»Es ist nach sieben. Unsere Nachbarn hätten ein wenig Ruhe verdient, findest du nicht?«

»Ganz abgesehen von mir.« Er sah schuldbewusst drein. »Ich wollte unbedingt diese Wand heute noch wegbekommen.«

Lilou schaute sich um. Gestern hatten sich hier noch eine schmale Küche und ein geräumiges Wohnzimmer befunden. Bis auf ein paar Überreste an den Seiten und an der Decke war von der Zwischenwand nichts mehr übrig, die beiden Räume waren zu einem einzigen geworden. Hier sollte das Herzstück der Wohnung entstehen, eine großzügige Küche mit gemütlichem Essbereich und einem langen Tisch, an dem bis zu zehn Leute Platz finden konnten. Das erschien Lilou immer noch ein wenig übertrieben angesichts des Restaurants im Erdgeschoss, wo man ja ebenfalls Freunde bewirten konnte, doch Simon hatte sich das in den Kopf gesetzt. Vor allem, weil er das von zu Hause in Kanada so kannte, wo er mit drei Geschwistern und drei Generationen unter einem Dach aufgewachsen war. Diese Art von Großfamilie war Lilou völlig fremd, doch sie hatte ihm nicht widersprochen.

Das alte Schlafzimmer des Onkels nebenan sollte nach Simons Plänen zum neuen Wohnzimmer werden, und durch geschicktes Versetzen der Wände würden aus den restlichen Räumen, die der Onkel zuletzt gar nicht mehr genutzt hatte, ein Schlafzimmer, ein neues Badezimmer und zwei weitere Zimmer entstehen, die Simon vage als Büros bezeichnete. Lilou befürchtete, dass er damit für die Zukunft ganz andere Pläne hatte: Es war mehr als offensichtlich, dass er sich ebenfalls eine große Familie wünschte. Und sie war sich ganz und gar nicht sicher, ob sie die richtige Frau für diese Art von Planung war.

Aber noch konnte sie sich das alles ohnehin nicht so recht vorstellen. Was auf dem Papier so logisch und klar ausgesehen hatte, die Zusammenlegung von Küche und Wohnzimmer sowie die Einbeziehung des Hausflurs zu einem neuen Badezimmer – all das zwischen Ziegelstaub und abgerissenen Tapeten zu erkennen, dafür fehlte es ihr an Fantasie.

»Du bist ja fast fertig«, meinte sie und deutete auf die Mauerreste.

»Ja.« Simon schwang noch einmal den Hammer, und die letzten Ziegel, die noch aus der Wand ragten, polterten zu Boden. »Morgen früh kommt Monsieur Moritz, der Ofenbauer, um mit uns über den Kamin zu sprechen. Deshalb wollte ich das heute noch zu Ende bringen.« Er deutete auf die Wand gegenüber der Küche. Ein Umriss zeichnete sich im Mauerwerk ab – hinter der Regalwand, die hier früher gestanden hatte, war ein nach beiden Seiten offener Kamin zum Vorschein gekommen. Irgendwann hatte man ihn zugemauert, die Verkleidung entfernt und das Bücherregal davorgestellt. Simon war begeistert gewesen und wollte ihn unbedingt wieder in Betrieb nehmen.

Auch Lilou stellte sich das sehr gemütlich vor, besonders auf der anderen Seite der Wand im Wohnzimmer. Doch dazu musste erst der Schornstein saniert und der Feuerraum des alten Kamins wiederhergestellt werden. »Schön, dass er so schnell Zeit findet«, sagte sie.

Simon nickte. »Der Installateur wollte auch diese Woche noch anfangen.«

»Was, jetzt schon?« Sie drehte sich einmal im Kreis. »Ich dachte, du musst vorher alles entkernen.«

»Das muss ich auch.« Simon zog sich die Arbeitshandschuhe aus. »Aber während ich in den hinteren Zimmern weitermache, kann er schon mit dem Verlegen der Leitungen in der Küche beginnen. Das war sein Vorschlag, und damit können wir um einiges früher fertig sein als ursprünglich geplant.« Er legte ihr die Arme auf die Schultern und sah lächelnd auf sie herab. »Das ist doch auch in deinem Sinn, Hon, oder nicht?«

»Aber ja, natürlich.« Lilou erwiderte sein Lächeln, dann machte sie sich los. »Hast du keinen Hunger?«

»Doch, klar.« Er warf die Handschuhe in die Ecke, wo er den Vorschlaghammer abgestellt hatte. »Ich habe heute Nachmittag Ratatouille gemacht, das steht im Ofen.«

»Wunderbar.« Lilous Freude war ehrlich. Simons Ratatouille mit gegrilltem Gemüse und Lavendel war ein Gedicht und erfreute sich auch in seinem Restaurant großer Beliebtheit. »Komm, lass uns nach oben gehen. Ich decke den Tisch, während du duschst. Dann erzähle ich dir, was heute bei uns los war.«

 

Cravasse erschien am nächsten Tag nicht zum Dienst. Als Lilou bei Roseanne, der Sekretärin der Dienststelle, nachfragte, erfuhr sie, dass sie sich den Tag freigenommen hatte. Lilou konnte nur hoffen, dass sie wie vereinbart zur Gendarmerie gefahren war, um ihre Aussage zu machen. Wenn nicht, wäre das ein weiterer Punkt auf der langen Liste der negativen Vorkommnisse, der die Zusammenarbeit der beiden Polizeikörper künftig erschweren würde. Solange die räumliche Zuständigkeit – Police nationale innerhalb der Stadtgrenzen und Gendarmerie auf dem Land – eindeutig war, ergaben sich daraus nur selten Probleme. Aber immer wieder überschnitten sich die Fälle, und dann behinderten sich die Ermittlungen gegenseitig, weil niemand bereit war, von seiner Verantwortung abzurücken. Außer vielleicht Capitaine Soual, der mit Anfang dreißig nur wenig älter war als Lilou und offenbar nicht ganz so festgefahren in alten Vorurteilen verharrte.

Neben Roseannes Zimmer lag das Büro von Commissaire Demoireau, und als Lilou auf dem Weg zu ihrem eigenen Büro daran vorbeiging, öffnete sich die Tür.

»Ah, Mademoiselle Braque, kommen Sie doch herein.«

Ihr Chef winkte sie zu dem alten, abgewetzten Ledersofa, das an der Wand stand. Sein Büro war noch eine Spur größer als ihr eigenes und beherbergte einen großen Aktenschrank, dessen Inhalt Lilou noch nie gesehen hatte. Früher hatte sie gar nicht darauf geachtet, doch nun hatte sie selbst tagtäglich mit Akten zu tun, die eigentlich schon längst digital verwaltet werden könnten, wenn nur die Zentrale der Police nationale etwas moderner eingestellt wäre und nicht darauf bestünde, jeden einzelnen Vorgang auch in Papierform zu archivieren. Lilou verdrängte die unnützen Gedanken, sie konnte es ohnehin nicht ändern, drehte dem Aktenmonster den Rücken zu und ließ sich auf dem Sofa nieder.

»Haben Sie gestern noch etwas zum Tod von Cravasses Schwester erfahren?«, fragte Demoireau.

Lilou war nicht verwundert – auch wenn der Commissaire in ihren Augen manchmal etwas zu bedächtig und vor allem sehr altmodisch war, gab es wenig, was ihm innerhalb der Dienststelle entging. »Nicht wirklich«, antwortete sie. »Ich war mit Cravasse noch am Rocalinaud. Ein Gendarm hat uns da angetroffen und weggeschickt. Kennen Sie ihn? Er heißt Grissan. Commandant Grissan.«

Demoireau nickte. »Natürlich. Er ist der chef d’escadron. Eigentlich ein guter Mann.«

»Eigentlich?« Lilou verbiss sich ein Grinsen. Der Commissaire würde sich niemals negativ über die Kollegen von der Gendarmerie äußern, aber sein Tonfall sprach Bände.

»Er hat seine Erfolge«, gab Demoireau zurück und zog die buschigen Brauen zusammen. »Aber er hält nicht viel von einer Zusammenarbeit mit uns.« Er ließ sich auf seinen Schreibtischstuhl fallen, der vernehmlich ächzte. »Also gibt es noch nichts Neues.«

»Nein.« Lilou schüttelte den Kopf. »Ein Spürhund kam gerade, als wir gingen, er sollte nochmals alles absuchen. Ich wollte gleich Capitaine Soual anrufen und ihn fragen, ob dabei etwas herausgekommen ist. Commandant Grissan wird vermutlich nicht daran denken.« Sie verzog das Gesicht.

»Ja, tun Sie das.«

Lilou sah ihn überrascht an. »Möchten Sie, dass wir uns an den Ermittlungen beteiligen?«

»Natürlich nicht.« Demoireau machte eine entschiedene Geste. »Commandant Grissan würde das niemals zulassen. Aber es ist im Interesse von Lieutenant Cravasse, dass wir über den Stand informiert sind. Solange der Fall nicht geklärt ist, wird sie sich kaum auf ihre Arbeit konzentrieren können.«

»Da könnten Sie recht haben. Sie war gestern sehr betroffen und macht sich große Vorwürfe.«

»Eben.« Demoireau erhob sich, ein Zeichen, dass das Gespräch beendet war. »Rufen Sie Soual an, und sprechen Sie auch noch einmal mit Bonaventure. Er wird es verstehen und …«

»… und den Mund halten«, beendete Lilou den Satz. »Ja, das denke ich auch.« Sie stand auf.

»Halten Sie mich auf dem Laufenden.«

»Mache ich.«

 

Zurück in ihrem Büro, wählte Lilou als Erstes die Nummer von Capitaine Soual. Er ging sofort ans Telefon. »Bonjour, Lilou, was gibt’s?«

»Bonjour, Davide. Ich habe gehofft, dass du mir das sagen kannst«, erwiderte Lilou und lächelte. Das konnte er zwar nicht sehen, aber vermutlich hörte man es in ihrer Stimme.

»Du rufst bestimmt wegen des toten Mädchens vom Rocalinaud an.«

»Genau. War Valerie Cravasse schon bei euch?«

»Moment.« Sie hörte, wie eine Maus klickte. »Ja, sieht so aus. Zumindest wurden hier die Angaben zu den Personalien von Angeline Cravasse ergänzt.«

»Sehr gut.« Immerhin hatte Valerie das erledigt. »Sie hat sich heute freigenommen, und ich war nicht sicher, ob sie …«

»Aber das ist doch nicht der Grund, warum du anrufst«, unterbrach sie Davide. »Hab ich recht?«

»Ja«, gab Lilou zu. »Ich wollte dich fragen, ob euer Suchhund gestern etwas gefunden hat.«

»Woher weißt du denn das schon wieder?« Seine Stimme klang überrascht.

»Wir waren gestern Abend noch am Rocalinaud. Valerie wollte sehen, wo ihre Schwester zu Tode gekommen ist. Dabei hat uns Commandant Grissan in der Höhle überrascht.«

»Ah.« Soual lachte verhalten. »Wir nennen ihn ›Monsieur le règlement‹. Und er hat euch da erwischt?«

»Was heißt erwischt.« Lilou schnaubte. »Es ist ja nicht verboten, sich da aufzuhalten.«

»Nein, natürlich nicht. Aber er war bestimmt nicht begeistert, dass ihr da herumgeschnüffelt habt.«

»So könnte man es sagen.« Sie schmunzelte. »Was war nun mit dem Suchhund? Hat er etwas gefunden?«

»Allerdings.« Soual senkte die Stimme. »Kleidung, ein Paar Schuhe und ein Rucksack waren ein Stück abseits hinter einem Felsen versteckt. Das Gebüsch da ist ziemlich dornig, deshalb haben die Kollegen das wohl beim ersten Mal übersehen.«

»Verstehe.« Diesmal hatte Bonaventure also doch recht behalten. »Und die Sachen gehören bestimmt Angeline Cravasse? Ist das gesichert?«

»Bonaventure überprüft das noch, aber es sieht ganz so aus. Damit geht der Fall zu den Akten.«

»Was, so schnell?« Damit hatte sie nicht gerechnet.

»Offenbar waren Drogen im Spiel«, antwortete Soual. Die Maus klickte erneut. »Ja, hier steht es. Ein mit Amphetaminen aufgepepptes Phencyclidin-Derivat. Das ist dieses neue Zeug, mit dem wir im Moment gerade überschwemmt werden. Sie nennen es Angel Storm.«

»Bonaventure sprach doch von innerem Ersticken?« Lilou war verwundert. Sollte sich der Rechtsmediziner ausgerechnet hierbei getäuscht haben?

»Aber ja.« Soual klang jetzt ungeduldig. »Er hat Spuren von Paraffin und Ruß in ihren Atemwegen gefunden. Durch die vielen brennenden Kerzen in dieser Höhle kam es zu einer Abnahme des Sauerstoffgehalts, und das Kohlendioxid, das bei der Verbrennung entstand, hat sich auf dem Boden gesammelt, wo sie lag. Dazu eine Atemdepression durch die Wirkung der Drogen, und schon ist es passiert. Wenn man nicht genau weiß, was man da nimmt, sollte man es besser lassen.« Er schnaufte. »Es gibt jedenfalls keinen Hinweis auf Fremdeinwirkung. Es war ein Unfall. Ein Unfall unter Drogeneinfluss. Sie hätte genauso gut von diesem Felsen stürzen können. Damit ist der Fall abgeschlossen.«