Der leere Thron des Fortschritts - Lothar-Rüdiger Lütge - E-Book

Der leere Thron des Fortschritts E-Book

Lothar-Rüdiger Lütge

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Beschreibung

Fünfhundert Jahre europäischer Geschichte - erzählt durch fünfzehn Frauenleben. Vom Kloster des Mittelalters bis zum gläsernen Büro der digitalen Gegenwart entfaltet sich in persönlichen Monologen ein eindrucksvolles Panorama kultureller Umbrüche, spiritueller Verluste und gesellschaftlicher Transformation. Diese Frauen sind mehr als Einzelschicksale. Sie stehen - in ihrer jeweiligen Zeit - für das, was Menschen trägt, was sie prägt, was sie entbehren. Ihre Stimmen offenbaren, was es heißt, Heimat, Glaube, Familie oder Sinn zu verlieren - oder neu zu finden. Ein literarisch verdichteter Gang durch die europäische Seele - nachdenklich, berührend, klar. Und eine leise, aber eindringliche Frage an den Leser: Was haben wir gewonnen - und was verloren?

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Seitenzahl: 84

Veröffentlichungsjahr: 2025

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„Der Glaube an den Fortschritt ist eine Form weltlicher Religion, eine Utopie, die uns für die Realitäten der menschlichen Natur blind macht."

Bertrand Russell

Inhalt

Einleitung

Hildegard von Aachen

(

Abtei Burtscheid, ca. 1480)

Klara Wittenberg

(

Erfurt, ca. 1525)

Isabella de Medici

(

Florenz, ca. 1555)

Louise de Montespan

(

Versailles, ca. 1680)

Marie Dubois

(

Paris, ca. 1750)

Jeanne Ledere

(

Vendée, 1790er Jahre)

Sophie Müller

(

Leipzig, 1850er Jahre)

Clara Dupont

(

Paris, 1900er Jahre)

Mary Johnson

(

Shelton, 1940er/50er Jahre)

Anna Kowalska

(

Krakau, 1970)

Marina Rossi

(

Rom 1980)

Sofia Mendes

(

Lissabon, 2009)

Elisabeth Berger

(

Ulm, ca. 2020)

Agnes Ziegler

(

Regensburg, 2020)

Lena Weber

(

Berlin, 2025)

Epilog – Was bleibt?

Einleitung

Fünfzehn Frauen – fünf Jahrhunderte. Ein gemeinsames Thema.

Was ist ein erfülltes Leben?

Was bleibt am Ende eines Tages – eines Jahrzehnts – eines ganzen Lebens?

Was gibt dem Dasein Tiefe, Bedeutung, Halt?

Diese Fragen stellen sich uns nicht in Momenten des äußeren Erfolgs oder der technischen Errungenschaften. Sie treten leise auf, oft im Rückblick, oft in der Stille. Und sie stellen sich heute ebenso wie vor hundert oder fünfhundert Jahren – denn das menschliche Herz hat sich nicht verändert, so sehr sich auch die Welt darum gewandelt hat.

Die fünfzehn Stimmen, die in diesem Buch zu Wort kommen, gehören Frauen aus verschiedenen Jahrhunderten, verschiedenen sozialen Schichten und kulturellen Kontexten – doch sie alle sprechen von innen. Ihre Sprache ist individuell, ihre Lebenswege unterschiedlich, aber was sie erzählen, folgt einem tieferen Rhythmus. Sie zeigen uns, wie sich äußere Umstände ändern – Kleidung, Technik, Rollenbilder, Weltbilder –, aber auch, wie innere Erfahrungen sich wiederholen: Liebe, Zweifel, Pflicht, Schmerz, Hoffnung, Entfremdung, Glaube.

Es sind Frauen, die hier sprechen – nicht, weil Männer schweigen müssten, sondern weil Frauen oft über die feineren Antennen für innere Spannungen verfügen. Sie spüren früher, was aus dem Gleichgewicht gerät, und sind in besonderer Weise fähig, den Wandel der Zeit in ihre Worte zu fassen. Ihre Perspektiven stehen exemplarisch für das menschliche Erleben an sich –für Männer wie Frauen, für alle, die sich der Frage stellen, was den Menschen im Innersten trägt.

Oft wird gesagt, dass unsere Zeit die beste sei, die es je gab. Dass die moderne Welt freier, gerechter, reicher sei als je zuvor. Und gewiss – wir leben heute unter Bedingungen, die unseren Vorfahren unvorstellbar gewesen wären. Doch was, wenn Fortschritt nicht automatisch zu innerer Erfüllung führt? Was, wenn der Preis der äußeren Freiheit die innere Orientierungslosigkeit ist? Was, wenn es – bei allem Wandel – doch Konstanten im menschlichen Dasein gibt, die sich nicht durch Technik, Bildung oder gesellschaftliche Reformen ersetzen lassen?

Dieses Buch will keine Thesen aufstellen und keine Urteile fällen. Es will erzählen. Zuhören. Raum geben.

Die Stimmen der Frauen, die hier sprechen, sind fiktiv – und doch wahr. Denn sie verdichten Erfahrungen, wie sie über Generationen hinweg gemacht wurden. Sie sind Monologe - aber sie laden zum Dialog ein. Mit uns selbst, mit der Geschichte, mit dem Leben.

Vielleicht zeigen uns diese Stimmen etwas, das uns verloren gegangen ist. Vielleicht sagen sie etwas, das heute nicht mehr laut gesagt werden darf. Vielleicht erinnern sie uns an etwas, das wir schon zu lange vergessen haben.

Am Ende muss jeder Leser selbst entscheiden, was diese fünfzehn Stimmen ihm sagen. Aber vielleicht – und das ist unsere stille Hoffnung – bleibt etwas zurück, das nicht nur verstanden, sondern gespürt wird.

Hinweis zur Struktur

Die Kapitel dieses Buches bestehen jeweils aus zwei Teilen: einem zeithistorischen Einordnungstext und einem persönlichen Monolog. Die Einordnung soll dem Leser helfen, den gesellschaftlichen, kulturellen und geistigen Hintergrund der jeweiligen Zeit besser zu verstehen – der Monolog hingegen gibt einer einzelnen Frau aus dieser Epoche eine Stimme, durch die das Erlebte lebendig und spürbar wird.

Aus didaktischen und dramaturgischen Gründen haben wir die Reihenfolge dieser beiden Elemente variabel gestaltet:

In manchen Kapiteln steht die historische Einordnung vordem Monolog, um einen notwendigen Orientierungsrahmen zu bieten. In anderen Fällen beginnt das Kapitel direkt mit der Stimme der Frau – besonders dann, wenn die emotionale Kraft und Unmittelbarkeit der Erfahrung zuerst wirken soll, bevor der Kontext erklärt wird.

Diese Entscheidung folgt keinem festen Schema, sondern dient der inneren Dynamik des Buches. Der Leser ist eingeladen, sich auf diesen Wechsel einzulassen – als Teil einer größeren Erzählbewegung, die sich über fünf Jahrhunderte erstreckt und von der Stille klösterlicher Höfe bis in die gläsernen Türme moderner Metropolen reicht.

Hildegard von Aachen (Reichsabtei Burtscheid, ca. 1480)

Historische Einordnung

Kontext: Kloster im Heiligen Römischen Reich, Geistlicher Stand, Schutz durch die Kirche, spirituelle Stärke.

Wir schreiben das späte 15. Jahrhundert. Europa lebt noch im geistigen Atem des Mittelalters – eine Zeit, die in der Rückschau oft als dunkel und rückständig gilt, in Wahrheit aber von tiefer Ordnung, kosmischer Durchdringung und spiritueller Zielgerichtetheit geprägt ist. Das Heilige Römische Reich Deutscher Nation ist kein moderner Nationalstaat, sondern ein vielgestaltiges Gefüge aus Fürstentümern, freien Städten, kirchlichen Territorien und Landgütern, die durch die gemeinsame Sprache des Glaubens verbunden sind.

Der Mensch jener Zeit versteht sich nicht als autonomes Individuum, sondern als Geschöpfe Gottes, als Teil eines göttlichen Ganzen. Die Welt ist durchdrungen von Symbolen, Gleichnissen und Sinnbildern. Der Alltag ist eingebettet in ein festes Gefüge aus Familie, Stand, Glaube und Ort. Der Lebensweg wird nicht frei gewählt, sondern angenommen – als Berufung, nicht als Projekt. Das moderne Denken in „Selbstverwirklichung" ist noch nicht geboren. Der Einzelne fragt nicht: „Was will ich?" – sondern: „Was ist mein Platz im göttlichen Plan?"

Für Frauen aus gebildetem oder adeligem Haus bietet das Klosterleben eine ernsthafte und anerkannte Alternative zur Ehe. Es ist kein Rückzug aus der Welt, sondern ein Weg in tiefere Ordnung. Die klösterlichen Gemeinschaften folgen einem klar strukturierten Tageslauf aus Ora et labora – Beten und Arbeiten. Hier wird nicht nur gebetet, sondern auch geschrieben, komponiert, gepflegt und gelehrt. Die Klöster sind geistige Leuchttürme einer Zeit, in der das Licht nicht vom Individuum, sondern von Gott her kommt.

Die Kirche ist allgegenwärtig – als moralische Instanz, als soziale Ordnungskraft und als Hüterin des Heils. Der Glaube an Himmel, Hölle, Sünde und Erlösung prägt jede Lebensentscheidung. Die Eucharistie ist kein Symbol, sondern Realität. Die Priester sprechen lateinisch – aber alle verstehen, worum es geht.

In diesem kulturellen und spirituellen Kosmos wächst Hildegard von Aachen auf. Sie lebt in einer Welt, in der Gott das Zentrum ist, der Mensch ein staunender Pilger – und das Leben ein Dienst an etwas Höherem. Noch ist Luther nicht geboren, der Buchdruck in den Anfängen, der Humanismus eine zarte Knospe. Alles steht kurz vor einem Bruch – doch Hildegards Leben gehört noch ganz dem geordneten Ganzen an.

Hildegard von Aachen

Die Glocken von Sankt Adelheid rufen zur Laudes(Morgengebet), und ich erhebe mich vom Strohlager, das mir lieb geworden ist. Die Kälte, die durch das Mauerwerk kriecht, ist nichts gegen die Wärme, die mir das Kreuz schenkt. Ich bin Hildegard, Tochter Heinrichs von Aachen, und seit meinem zehnten Lebensjahr bin ich eine Braut Christi. Der Weg hierher war nicht mein Wille, doch inzwischen weiß ich: Nicht alles, was schwer beginnt, ist ohne Segen.

Als Vater mich dem Kloster übergab, weinte ich, so sehr ich es vermochte. Meine Mutter streichelte mein Haar und sagte: „Du wirst geborgen sein, Kind, näher bei Gott als wir." Damals verstand ich ihre Worte nicht. Heute weiß ich: Die Welt da draußen verlangt den Leib – doch hier verlangt Gott die Seele. Und das ist leichter, weil es reiner ist.

Meine Schwester Mechthild schrieb mir vor zwei Wintern: Ihr drittes Kind kam tot zur Welt. Ihr Mann, Ritter Konrad, sei hart geworden. Sie bat um mein Gebet. Ich fastete drei Tage für sie, legte ihr Leid vor den Altar, und seither blieb es still, Ich weiß nicht, ob sie noch lebt. Aber ich bete für sie, Jeden Abend, dass ihr Kreuz nicht zu schwer werde.

Unsere Tage folgen dem Rhythmus des Himmels. Matutin, Laudes, Prim, Terz. Wir singen, wir schweigen, wir kopieren die Schriften mit zitternden Händen. Ich durfte Latein lernen – ein großes Geschenk-, und manchmal, wenn ich die Psalmen abschreibe, überkommt mich eine Freude, die ich nicht benennen kann. Es ist, als würde Gott in der Tinte wohnen.

Manchmal frage ich mich, wie es dort draußen ist. Die Händler erzählen von Krieg und Pest, von Herren, die um Land streiten, und von Hungersnöten. Ich höre es und erschrecke nicht. Was dort draußen geschieht, ist von der Welt. Was hier geschieht, ist vom Himmel. Und wenn wir auch wenig haben – grobes Brot, klares Wasser, ein hartes Lager -, so ist unsere Armut reich an Gnade.

Einmal, im Frühjahr, als die Mandelbäume blühten, sah ich in der Kapelle ein Licht – nicht von dieser Welt. Es ging von der Statue der Jungfrau aus, und ich hörte eine Stimme: „Bleibe." Nicht mehr, nicht weniger. Seitdem habe ich keine Zweifel mehr. Der Herr will mich hier. Und wenn mein Herz manchmal schwer wird, weil ich Mechthild vermisse oder weil Schwester Gertruds Husten nicht enden will, so denke ich an diese Stimme.

Gertrud starb im letzten Winter. Ich hielt ihre Hand. Sie sagte nur: „Er kommt." Und ich wusste, wen sie meinte. Ich fürchte den Tod nicht. Wer in Christus lebt, der stirbt nicht, sondern geht heim. Ich bete, dass ich eines Tages ebenso ruhig gehen darf.

Die Welt ist laut, hat man mir gesagt. Und voller Versuchung. Hier aber ist es still. Nur das Herz redet – mit Gott. Es gibt Tage, an denen ich fast vergesse, dass es draußen noch etwas anderes gibt. Und dann kommt ein Brief von Mechthild, oder ein neues Kind wird gebracht, das lernen soll, zu dienen, und ich erinnere mich: Es ist Gnade, hier zu sein. Nicht Flucht, sondern Berufung.