Der letzte Palast von Prag - Norman Eisen - E-Book

Der letzte Palast von Prag E-Book

Norman Eisen

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Beschreibung

Norman Eisen war US-Botschafter in Prag. Und liebte das Palais, das er bewohnen und in dem er arbeiten durfte. Der jüdische Industrielle Otto Petschek ließ sich Anfang des 20. Jahrhunderts ein Palais in Prag bauen – nicht ahnend, welch unterschiedliche Menschen es später noch bewohnen würden. Etwa die mondäne Shirley Temple, die in ihrer zweiten Karriere als Botschafterin in die Tschechoslowakei entsandt wurde. Oder Rudolf Touissant, der als Statthalter von Nazideutschland während des Zweiten Weltkriegs in diesen Mauern mit sich rang, als er die Order erhielt, angesichts der herannahenden Roten Armee die Stadt zu zerstören. Norman Eisen erzählt mit viel Charme die Geschichte dieses Hauses, das den Ersten und Zweiten Weltkrieg ebenso überdauerte wie die Ära des Kommunismus, den Prager Frühling und die Rückkehr der Demokratie – deren Bestand heute wieder gefährdet ist. Die großartige Erzählung eines Gebäudes, in der sich die die Geschichte dieser einzigartigen Stadt und ganz Europas im 20. Jahrhundert spiegelt.

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EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2020

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Das Buch

Gebaut von einem jüdischen Industriellen aus Böhmen; durch einen Wehrmachtsgeneral vor der Zerstörung bewahrt; schließlich von Shirley Temple und anderen US-Botschaftern mit neuem Glanz versehen – das ist die Geschichte des Petschek-Palais, eines der berühmtesten Gebäude der Stadt Prag. Norman Eisen erzählt mit viel Charme die spannende Geschichte dieses Hauses, das den Ersten und Zweiten Weltkrieg ebenso überdauerte wie die Ära des Kommunismus und den Prager Frühling und schließlich die Rückkehr der Demokratie erlebte.

Der Autor

Norman Eisen, geboren 1960 als Sohn einer Holocaust-Überlebenden, studierte u. a. an der Harvard Law School. 2009 wurde er von Barack Obama zum Special Counsel for Ethics and Government Reform in the White House ernannt. Von 2011 bis 2015 war er US-Botschafter in Prag. Er arbeitet als Kommentator für CNN und schreibt u.a. für die New York Times, die Washington Post und The Atlantic.

Nikolaus de Palézieux studierte Musik- und Kunstgeschichte. Er arbeitete lange für den Rundfunk, veröffentlichte eigene Bücher zur Musikgeschichte und gewann den Hamburger Übersetzerpreis 2007.

Propyläen wurde 1919 durch die Verlegerfamilie Ullstein als Verlag für hochwertige Editionen gegründet. Der Verlagsname geht zurück auf den monumentalen Torbau zum heiligen Bezirk der Athener Akropolis aus dem 5. Jh. v. Chr. Heute steht der Propyläen-Verlag für anspruchsvolle und fundierte Bücher aus Geschichte, Zeitgeschichte, Politik und Kultur.

Norman Eisen

Der letzte Palast von Prag

Ein legendäres Haus und die Stürme des 20. Jahrhunderts

Aus dem Englischen von Nikolaus de Palézieux

Propyläen

Die amerikanische Originalausgabe des Buches erschien 2019 unter dem Titel The Last Palace bei Crown, an imprint of the Crown Publishing Group, a division of Penguin Random House LLC, New York.

Der Autor dankt für die Verwendung folgender Quellen:

Otto and Martha Petschek, Briefe, Marc Robinson and Eva Petschek Goldmann Collections, Petschek Family Archives

Dulcie Ann Steinhardt Sherlock, unveröffentlichte Erinnerungen und andere Quellen, Steinhardt Familien-Archiv

Ausschnitte aus The Journey. An Autobiography von Cecilia Countess Sternberg, © 1977 by Cecilia Sternberg. Used by permission of The Dial Press, an imprint of Random House, a division of Penguin Random House LLC

They Broke the Mold. The Memoirs of Walter Birge, © 2007 by Virginia N. Birge

Resistance and Revolution von Rob McRae. Montreal: McGill-Queen’s University Press, 1997. Print. www.mqup.ca/resistance-and-revolution-products-9780886293161.php

The Velvet Revolution and Me, © 2014 by Robert Kiene

Prague Diary von Shirley Temple Black, McCall’s, Januar 1969, S. 74 f., 91, 93 ff. (zuerst veröffentlicht in McCall’s® magazine)

Shirley Temple Blacks Autobiografie und andere Quellen, Black Familien-Archiv

Bildnachweis: Alexander Toussaint: 7; Archiv der Tschechischen Nationalbank: 1; Arnold Newman/Arnold Newman Collection/Getty Images: 13; Autor: 8, 12, 15; CTK—Photo 2018: 5, 6; Eva Petschek Goldmann und Marc Robinson Sammlung, Petschek Familien-Archiv: 2, 3; Fernando Rondon, Black Familien-Archiv: 14; Jan Hájek and Miroslav Hájek: 11; Ján Semka: 4; Laura Hartmann Maestro 2018: Karte Prague 1918-2018; Nat Farbmann/The LIFE Picture Collection/Getty Images: 9, 10

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ISBN 978-3-8437-2261-2

© für die deutsche Ausgabe Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2020

© 2018 by Norman L. Eisen

Umschlaggestaltung: Morian & Bayer-Eynck, Coesfeld nach einer Vorlage von Elena Giavaldi

Titelbild: © Nat Farbman/The LIFE Picture Collection/

Getty Images; figures from top left (Laurence A. Steinhardt) Nat Farbman/The LIFE Picture Collection/Getty Images; (Frieda Eisen) courtesy of the author; (soldiers) CTK; (Otto and Martha Petschek) Marc Robinson Collection, Petschek Family Archives; (Shirley Temple) Ron Galella, Ltd./Getty Images

E-Book: LVD GmbH, Berlin

Alle Rechte vorbehalten.

Inhaltsverzeichnis
Über das Buch / Über den Autor
Titel
Impressum
Widmung
Zitat
Vorbemerkung des Verfassers
Prague 1918-2018
Prolog
Teil I
Kapitel 1: Der Goldene Sohn der Goldenen Stadt
Kapitel 2: Der König der Kohle
Kapitel 3: Der endlose Palast
Kapitel 4: Das letzte Kind
Teil II
Kapitel 5: Ein Kriegskünstler
Kapitel 6: Der gefährlichste Mann im Reich
Kapitel 7: Brennt Prag?
Kapitel 8: »Wenn du durch die Hölle gehst, geh immer weiter«
Teil III
Kapitel 9: »Wer Böhmen beherrscht, beherrscht Europa«
Kapitel 10: Ein üppiges Leben
Kapitel 11: Kleine Rettungsanker
Kapitel 12: »Gib niemals auf! Nie, nie, nie!«
Teil IV
Kapitel 13: »Nichts zerstört die Freiheit so sehr wie ein Panzer«
Kapitel 14: Eine revolutionäre Produktion
Kapitel 15: Wahrheit siegt
Kapitel 16: »Die Vergangenheit ist niemals tot. Sie ist nicht einmal vergangen.«
Dank
Anmerkungen
Abkürzungen
Endnoten
Bibliografie
Literatur
Feedback an den Verlag
Empfehlungen

Für meine Mutter Frieda, meine Frau Lindsay und meine Tochter Tamar, die mir dabei geholfen haben, mich in Prag zurechtzufinden – und in allem anderen auch.

Man hat die Residenz des amerikanischen Botschafters in Prag den letzten in Europa errichteten Palast genannt. Jetzt wusste er, warum er den Botschafter und dessen Frau so liebte, sich in der Residenz so sicher fühlte und sich unterschwellig weigerte, zu gehen. Er hatte Angst vor Europa.

John Updike, »Bech in Czech«, The New Yorker, 20. April 1987

Vorbemerkung des Verfassers

Die in diesem Buch erzählte Geschichte beruht vor allem auf Tagebüchern, Briefen und anderen Schriftstücken der wichtigsten Protagonisten; viele dieser Quellen sind bisher unveröffentlicht. Weitere Details konnte ich beisteuern durch Interviews mit den direkten Nachfahren der Protagonisten oder anderen Zeitzeugen, die sie kannten, sowie durch zusätzliche historische Nachforschungen. Zitate, die in Dialogform erscheinen, entstammen, wie in den Anmerkungen angeführt, Korrespondenzen oder anderen Materialien. Hierbei gibt es eine Ausnahme: Die Geschichte meiner Mutter beruht hauptsächlich auf Gesprächen, die ich über einen Zeitraum von mehr als einem halben Jahrhundert mit ihr führte und die ich, einschließlich der ihr darin zugeschriebenen Zitate, aus der Erinnerung rekonstruiert habe.

Ich danke den Familien der Menschen, die in diesem Palast gelebt haben, für ihre außerordentliche Hilfe. Ohne ihr Entgegenkommen hätte ich die Geschichte von Otto Petscheks Palast – die so lange unbekannt war – niemals erzählen können.

Prolog

Über dem Atlantischen Ozean

10. April 2010

Ich nahm den schweren weißen Hörer von dem Telefon neben meinem Sitz und bat die Vermittlung, einen Anruf an meine Mutter zu tätigen. Ich hörte, wie der Telefonist die Verbindung herstellte und wählte.

»Hallo«, meinte sie in ihrem deutlich osteuropäischen Tonfall.

»Frieda Eisen?«

»Am Apparat.«

»Möchten Sie ein Gespräch aus der Air Force One* annehmen?«

* Die Air Force One ist das Flugzeug des amerikanischen Präsidenten. (A. d. Ü.)

»Ja«, antwortete sie. Sie klang dabei aufgeregt und skeptisch zugleich.

»Hallo, Mom«, sagte ich.

»Oh, Nachman«, rief sie, wobei sie mich mit meinem jiddischen Namen anredete. »Ich dachte schon, es sei Präsident Obama!«

»Nein, ich bin es nur.«

»Das ist auch gut«, meinte sie lachend. »Was tust du in der Air Force One?«

»Ich reise mit dem Präsidenten. Nach Prag.«

»Was? Wieso?«

»Er hat mich gefragt, ob ich dort als Botschafter arbeiten möchte.«

»Wessen Botschafter?«

»Als unserer natürlich. Der Vereinigten Staaten.«

Ich erwartete einen Schrei des Entzückens. Meine Mutter war in der ehemaligen Tschechoslowakei geboren worden und emigrierte von dort in die USA. Manche meiner ersten Schlaflieder hat sie mir auf Tschechisch und Slowakisch vorgesungen. Den Vater des Landes und dessen ersten Präsidenten, Tomáš Masaryk, verehrte sie, wie auch seinen Nachfolger und Schützling Edvard Beneš sowie den brillantesten der späteren Amtsinhaber, Václav Havel. Und sie war sehr stolz auf meine Errungenschaften als tschechischer Amerikaner der ersten Generation1, zuletzt auf meinen Job als Jurist im Weißen Haus. Ich dachte, sie würde vor Freude, dass ich die Vereinigten Staaten in der heutigen Tschechischen Republik vertreten sollte, außer sich geraten.

Stattdessen blieb die Leitung ruhig.

»Maminka?«, fragte ich, die tschechische Verkleinerungsform für Mutter benutzend. »Bist du noch da?«

»Ja«, antwortete sie. Ihre Stimme klang abgehackt und wirkte sehr flach.

»Was ist los?«

»Nichts.«

»Du klingst nicht gerade begeistert.«

»Hmm.«

»Mom, was ist los?«

Wieder Stille.

Endlich redete sie.

»Ich habe Angst.«

»Wovor?«

»Dass sie dich umbringen.«

Ich war fassungslos.

»Wer wird mich umbringen?«

Sie machte eine längere Pause, ehe sie sprach.

»Du weißt doch, was uns damals dort zugestoßen ist.«

1944 deportierten die Nazis meine Mutter und ihre Familie aus der kleinen Stadt Sobrance in ein Ghetto und danach nach Auschwitz. Dort wurden ihre Eltern, der Großteil ihrer Familie und fast alle, die sie aus ihrem Dorf kannte, ermordet. Sie überlebte und schaffte es in die USA, wo sie ein neues Leben begann.

Ich wusste, dass diese Narben nie vollständig verheilt waren. Doch meine Mutter liebte alle, die sie verloren hatte, und sehnte sich nach ihnen, und ich war mir sicher, dass sie das Angebot des Präsidenten genauso begreifen würde wie ich: als Rehabilitation. Der Kreis schließt sich. Eine amerikanische Erfolgsgeschichte.

So etwas Ähnliches sagte ich ihr.

»Ich könnte es nicht ertragen, wenn dir etwas zustoßen würde«, flüsterte sie.

Im Stillen verwünschte ich mich. Ich hätte das kommen sehen müssen. Aber ich war derart in meiner eigenen Aufregung gefangen gewesen, dass mir eine solche Reaktion nicht in den Sinn gekommen war.

Aus unserer gemeinsam verbrachten Lebenszeit – nicht gerade ein Spaziergang – hatte ich gelernt, dass es zwecklos war, mit meiner Mutter zu streiten, wenn sie von Ängsten überwältigt war. Ich hatte eine andere Idee.

»Mom, rate mal, wo der Botschafter wohnt.«

»Wo?«

»In Otto Petscheks Palast.«

»Oh!« Sie rang nach Luft. »Wirklich?«

Meine Mutter war womöglich die ärmste tschechoslowakische Jüdin gewesen, Otto Petschek hingegen der reichste Jude. Otto und seine Familie waren unter Tschechen sehr bekannt – die örtliche Entsprechung der Rothschilds oder der Rockefellers. Ihr Wohnsitz in Prag war ein Meisterwerk der Beaux-Arts-Architektur, das mit seinen mehr als hundert Räumen2 – so viele waren es, dass man sich scheinbar auf keine exakte Zählung verständigen konnte – an Versailles erinnerte. Es war vollgestopft mit Antiquitäten, Gemälden alter Meister, seltenen Büchern und weiteren kostbaren Dingen, die Otto Petschek gesammelt hatte und die dort verblieben waren. Das Bauwerk lag in einem üppigen Gartengrundstück, das der Größe eines Häuserblocks in amerikanischen Großstädten entsprach. Nach dem Ersten Weltkrieg erbaut, wurde es »der letzte Palast, der in Europa errichtet wurde« genannt – letztes Zeugnis eines Goldenen Zeitalters, das 1938 endgültig unterging.

Meine Mutter taute ein wenig auf, als wir über den Palast sprachen, und ich ergriff die Gelegenheit beim Schopf.

»Mom«, sagte ich zu ihr, »wir fänden es wundervoll, wenn du mit uns kämest.« Meine Frau Lindsay und ich waren übereingekommen, dass wir es gern sehen würden, wenn Frieda uns nach Prag begleitete.

»Ich soll mit euch kommen?«

»Warum nicht? Es gibt dort Platz genug. Wir würden dich bedienen. Du müsstest keinen Finger krümmen. Du würdest nach Hause zurückkehren.«

Wieder schwieg sie.

»Ich werde drüber nachdenken«, meinte sie schließlich. »Aber sag mal, wie ist denn eigentlich das Essen in der Air Force One?«

NACHDEM ICH IN DIE STAATEN zurückgekehrt war, flog ich nach Los Angeles, um Maminka zu besuchen. Ich wollte ihr von meiner Reise berichten, sie beruhigen und davon überzeugen, mit uns zu kommen.

Sie umarmte mich fest und presste dabei ihren Kopf an meine Brust. Ihre Umarmung war immer noch kraftvoll, obwohl sie bereits auf die Neunzig zuging. Sie war nie größer als 1,50 Meter gewesen und jetzt – vielleicht sogar seit meinem letzten Besuch, der nur wenige Monate zurücklag – schien sie fast noch kleiner geworden. In ihrem Gesicht sah ich jedoch stets das schöne junge Mädchen, das auf den verbliebenen Fotos aus der Tschechoslowakei im Jahr 1945 den Betrachter anlächelt. Ihr Teint war immer noch klar und schön, wenn auch von feinen Falten durchzogen. Statt des früheren Brünetts, das sie abgelegt hatte, als sie hoch in ihren Siebzigern gewesen war, trug sie jetzt Weißblond und strich ihr Haar in Form, als sie mich schließlich losließ.

Wir saßen gemeinsam auf dem Sofa und sie hielt meine Hand. Ihre war fein geädert und der Handrücken mit Altersflecken übersät, doch die Innenseite war immer noch so weich wie damals, als ich ein Kind war. Ich erzählte ihr, dass Prag wunderschön sei, so wie sie selbst es immer beschrieben hatte. Ich war mit Barack Obama in der Prager Burg gewesen, und er hatte mich dem damaligen tschechischen Präsidenten vorgestellt, Václav Klaus. Ich hatte sogar einen Blick auf das Petschek-Haus werfen können, obwohl ich es nicht bis ins Innere geschafft hatte – es wurde nicht gern gesehen, wenn Botschafter in spe das Gebäude erkundeten. Mit den Erkern, Türmen, Balkons und Putten, die überall am Haus zu sehen waren, schien die Fassade der Villa sämtlichen Superlativen gerecht zu werden.

Dieses Mal konnte die Erwähnung des Palastes sie nicht ablenken. »Nachman, du bist so gut in deinem Job im Weißen Haus. Warum musst du den aufgeben?« Sie führte meine Visitenkarte in einer kleinen Plastikhülle mit sich, damit sie nicht abgenutzt würde, und zeigte sie jedem, dem sie begegnete. Sie mochte auch den Spitznamen, den mir die Presse verpasst hatte: den »Ethics Tzar« – den »Ethik-Zaren«.* Gern erzählte sie den Leuten: »Das ist das einzige Mal, dass ein Zar eine gute Sache für die Juden ist!«

* Norman L. Eisen ist Begründer der NGO Citizens for Responsibility and Ethics in Washington (CREW). (A. d. Ü.)

»Ich muss diesen Job nicht aufgeben. Es ist eine Beförderung«, antwortete ich.

»Was weißt du schon von Diplomatie?«

»Mom, der Präsident sagt, dass ich ein sehr guter Botschafter sein werde.«

»Nun«, meinte sie, »falls du mir diese Worte nicht übel nimmst: Es ist jetzt nicht die Zeit, um einen Amateur hinüberzuschicken.« Europa, so glaubte sie, sei in einer Krise. Rechter Nationalismus mit seinem Hass auf die Juden und andere Minderheiten war aufgekommen, was auch für den russischen Bären* galt. Meine Mutter, immer noch geschädigt durch die großen Umwälzungen des Jahrhunderts, sah alles durch diese Brille.

* Der »russische Bär« stellt eine Personifikation Russlands dar. (A. d. Ü.)

Ihr Argwohn erstreckte sich auch auf den damals amtierenden tschechischen Präsidenten. Havel hatte sie geliebt, seinen extrem konservativen Nachfolger beachtete sie hingegen kaum. Klaus war ein Leugner des Klimawandels, der sich zudem mit Russland verbündet hatte.* Er hatte Havels Motto »Wahrheit und Liebe werden über Lügen und Hass siegen«3 ins Lächerliche gezogen und verspottete Havel und dessen Gefolgsleute als »Pravdolaskari«, als Götzendiener von »Wahrheit und Liebe«.4 Meine Mutter hatte das Gefühl, die Beziehungen zwischen den USA und Tschechien hätten sich während der Klaus-Jahre deutlich verschlechtert, und sie machte, wie auch viele andere, ihn dafür verantwortlich.

* Klaus hatte sich anlässlich der Ukraine-Krise für Russland und gegen den Westen geäußert. (A. d. Ü.)

All das hatte nichts mit der Realität zu tun, die ich soeben mit eigenen Augen gesehen hatte. Die Tschechen hatten Obama begeistert begrüßt. Der amerikanische Präsident und die Russen hatten gerade erneut das START-Abkommen zur Waffenkontrolle in der Prager Burg unterzeichnet. Man pflegte gute Beziehungen, und Präsident Klaus hatte mich herzlich willkommen geheißen. In ganz Prag blühte wieder jüdisches Leben auf, und ich stellte keinerlei Anzeichen für Antisemitismus fest. Diese Einschätzungen teilte ich meiner Mutter mit.

»Nachman, hör mir gut zu«, erwiderte sie. »Du warst 24 Stunden lang mit dem Präsidenten der Vereinigten Staaten in Prag. Du kennst Europa nicht so wie ich. Es hat sich nicht sehr verändert.«

Grimmig verteidigte sie ihre Position. Noch in ihren späten Achtzigern war sie eine ausgezeichnete Streiterin und stand an Gewitztheit niemandem nach. Ihre Wohnung quoll von Büchern und Zeitschriften über, sie suchte regelmäßig die Bücherei auf. Sie zog ein Bündel mit markierten und unterstrichenen Zeitungsausschnitten aus ihrer Handtasche und drückte sie mir in die Hand.

Ich sagte ihr, wenn es so schlecht stünde, wie sie sagte, sollte sie doch froh sein, dass ich in ihr Heimatland zurückkehren würde, um zu helfen.

»Mein Heimatland? Gibt es meine Heimat überhaupt noch, Nachman?« Meine Mutter hatte die 1993 erfolgte Teilung der Tschechoslowakei in zwei Nationen schwer getroffen. Sie war im östlichen Teil des Landes geboren worden, der heutigen Slowakei, hatte aber auch im Westteil gelebt, der heutigen Tschechischen Republik, wo ich Dienst tun sollte. Sie war mit beiden Landesteilen emotional tief verbunden und bezeichnete sich immer noch als Tschechoslowakin.

»Komm schon, Mom. Während meiner Kindheit hast du immer nur von deiner Heimat geredet. Du liebst dieses Land doch!«

»Nachman, es ist falsch, ein Land zu lieben. Man wird nicht zurückgeliebt.«

»Schau doch. Wir ziehen nach Prag. Alles ist vorbereitet. Wir möchten, dass du mitkommst.«

Sie blinzelte mich an und war außer sich.

»Mom, es ist ein Triumph für unsere Familie«, setzte ich nach.

»Nein, unmöglich. Diese Tür ist zu. Ich bin fortgegangen, und ich werde nicht zurückkehren.«

»Nicht mal für einen Besuch?«

»Meine Ärzte würden das nicht erlauben.«

»Hast du sie denn gefragt?«

Sie seufzte laut. Ich wusste, dass ich einen Punkt gutgemacht hatte.

»Wir werden sehen.«

FAST ACHT MONATE VERGINGEN, BIS ich im Januar 2011 das Weiße Haus für meine Aufgabe in Prag tatsächlich verließ. Fast alle, denen ich in meiner Vorbereitungszeit begegnete, erwähnten den Palast, in dem ich wohnen würde, und meinten mit wohlwollendem Neid, dies sei der schönste Botschaftersitz, den die Vereinigten Staaten besäßen. Oft erzählten sie absonderliche, mit dem Palast verbundene Legenden, die davon handelten, dass Otto Petschek ihn mit geheimen Räumen und Gängen versehen und in einem davon ein Vermögen in Gold verborgen habe. Oder davon, dass dieses Haus zur Bühne wilder Militärorgien geworden sei, nachdem die Deutschen in Prag eingedrungen waren, wobei die Offiziere und ihre Liebhaberinnen in einem Innenschwimmbecken von olympischem Ausmaß herumgetollt seien. Oder dass die USA nach dem Krieg dieses außerordentlich wertvolle Anwesen kostenlos erhalten hätten, als Geschenk eines tschechischen Generals und seiner zukünftigen amerikanischen Schwiegertochter; dass man immer noch Abhöranlagen aus der Zeit des Kalten Krieges hinter den Wandverkleidungen und in den Kronleuchtern finden könne.

Neugierig geworden, stellte ich Nachforschungen an, doch wirklich nachprüfbare Fakten erwiesen sich als überraschend rar. Ich konnte die grundsätzliche Chronologie der jüdisch-tschechischen Eigentümerschaft bestätigen, der die deutsche Besatzung und danach der lang anhaltende amerikanische Besitz folgten. Ich erhielt einen knapp gehaltenen Führer für den Palast, der einige grundlegende historische Informationen enthielt, zumeist darüber, wie Otto Petschek und seine Familie diesen Ort genutzt hatten, und stieß auf ein paar weitere Dokumente desselben Inhalts. Abgesehen davon gab es nur spärliche Einzelheiten, und ich konnte keines der wilden Gerüchte bestätigen.

Je weniger ich fand, desto mehr wollte ich wissen. Wer waren die Menschen, die in meinem zukünftigen Haus gewohnt hatten? Welche Erfahrungen hatten sie in dem vergangenen turbulenten Jahrhundert gesammelt? Diese Geschichte bezog sich ja nicht nur auf den Palast, es war auch die Geschichte meiner Familie. Die Menschen, die dort gelebt hatten, waren von großen und kleinen Mächten getrieben worden, die sie zum Teil selbst verkörpert hatten; Mächte, die der Heimat meiner Mutter sowie dem ersten Teil ihres Lebens Gestalt verliehen – und sie vielleicht sogar schließlich in die Vereinigten Staaten geführt hatten. Und nun brachte der Zeitgeist unsere Familie zurück nach Prag.

Es gibt ein jiddisches Sprichwort, das ich oft von meiner Mutter gehört hatte: »Az men est chazzer, zol rinnen uber den bort.« – »Wenn du Schweinefleisch essen willst, lass es dir durch den Bart rinnen.« Genau das beschloss ich während meiner Zeit in Prag zu tun: die Geschichte dieses Palastes zu erforschen.

DASS SICH DER ANTRITT MEINES Postens um acht Monate verzögerte, verschaffte mir viele Gelegenheiten, meine Mutter zu bearbeiten, damit sie sich an meine neue Aufgabe gewöhnen konnte. Ich sah, dass ich darin Fortschritte machte, als ich zufällig mitbekam, dass sie anderen Leuten erzählt hatte: »Sie haben uns auf einem Viehwagen herausgebracht, und mein Sohn ist mit der Air Force One zurückgekehrt!«

Ein weiteres vielversprechendes Anzeichen fiel mir auf: Sie fing an, mir Ratschläge für den Job zu erteilen. Sie hatte mit meinem verstorbenen Vater in unserem Familiengeschäft (einem Laden, in dem sie Hamburger verkauften) einen strengen Moralkodex befolgt. Als ich sie ein letztes Mal besuchte, ehe ich nach Europa aufbrach, bat sie mich, ihre drei Regeln nicht zu vergessen, auch wenn ich jetzt ein Herrenhaus bezöge. »Tu immer das Richtige, Nachman. Sei immer loyal.« »Und«, fiel ich ein, wobei wir beide in Vorwegnahme des nun Kommenden zu lachen anfingen, »serviere immer den besten Hamburger, der dir möglich ist.« Als ich mit Lindsay und unserer Tochter Tamar am Montag, dem 17. Januar 2011, in Prag gelandet war, hatte Maminka zumindest versprochen, uns zu besuchen, nachdem wir uns eingerichtet hätten.

Dann beging ich den Fehler, ihr von dem Hakenkreuz zu berichten.

Ich telefonierte mit ihr am Ende meines ersten vollen Arbeitstages in der tschechischen Hauptstadt, von der Bibliothek in Otto Petscheks Palast aus. Flammen knisterten im Kamin, als ich in Los Angeles anrief.

Meine Mutter wollte alles wissen. Ich berichtete vom Flug und davon, wie die motorisierte Eskorte uns vom Flughafen in die Stadt gebracht hatte. Ich beschrieb, wie Prags glänzende, ultramoderne Glas- und Chrom-Bürogebäude mit den großen, klobigen Wohnblocks aus der Zeit des Eisernen Vorhangs zusammenprallten. Mittelalterliche Klöster fanden sich neben Bauhaus-Villen, reich verzierte Jugendstil-Häuser schmiegten sich zwischen üppig dekorierten Rokoko-Kirchen aneinander.

»Und das Petschek-Haus?«, fragte sie.

Wir hatten uns dem Palast auf einer langen Allee genähert. Aus der Ferne sahen wir eine rosafarbene Außenmauer, vor der schwarz gekleidete Polizisten patrouillierten. Als wir näherkamen, trat auch das Haus in unser Sichtfeld. Von Bäumen geschützt, erhob sich das einen Bogen beschreibende Gemäuer aus Alabaster auf einer grünen Wiese. Runde Fenster schienen hinter dem Zaun emporzuwachsen, um unseren Blick einzufangen; unablässig schauten sie uns von ihrem Platz unter einem Mansardendach an, das aus grünem, oxidiertem Kupfer und schwarzem Schiefer bestand.

Wir bogen auf das Grundstück ein und passierten ein verziertes eisernes Tor, dessen schwarze Flügel goldene Granatäpfel in zwei Hälften teilten, bevor der Wagen die mit Kies belegte Zufahrt erreichte. Am Ende dieses Weges, zirka achtzig Meter vom Eingang entfernt, stand der Palast. Seine ausgedehnte Fassade und die leicht vorstehenden, im rechten Winkel angeordneten Flügel waren reich mit rustiziertem Stein, Ziergittern und Statuen geschmückt. Während die Eskorte langsam den Weg entlangfuhr, veränderte sich der Umriss des Gebäudes stetig; irgendwie sah es nun ganz anders aus, als es von der Straße aus der Fall gewesen war. Als wir an der Säulenhalle anhielten – einem großen, von toskanischen Säulen getragenen Vorbau –, konnten wir keines der beiden Enden unseres neuen Hauses sehen.

Vor den Säulen stand, wie festgewachsen, Miroslav Černik, der Majordomus, und strahlte. Hochgewachsen, von sehr schlanker Statur und silbernen Haaren, sah er mit Anfang sechzig eher wie ein Botschafter aus als ich. Er begrüßte uns und geleitete uns ins Haus. Kühle Steinwände und warme, fein gearbeitete Holzverkleidungen waren zu sehen, dazu strahlendes Silber sowie farbenprächtige Tapeten und Orientteppiche. Wir traten hinaus auf eine Terrasse, von der man weitläufige, gepflegte Gartenanlagen überblickte; danach gingen wir zurück in den Palast. Ich bemerkte erst jetzt, dass er kurvenförmig angelegt war, wobei das gesamte wuchtige, neobarocke Gebilde als deutlich konkaver Bogen ausgebildet war. Daher schien sich das Haus zu bewegen, als wir die Zufahrt entlanggekommen waren.

Maminka wollte nur allzu gern jedes Detail hören. »Nachman, stell dir nur vor – Otto Petscheks Palast ist dein erstes Haus!« (Das stimmte; ich war in Wohnungen aufgewachsen und hatte später nie in etwas anderem gelebt.)

In meiner Begeisterung machte ich mich sogleich daran, ihr vom dramatischsten Moment des Tages zu berichten. Im ovalen Empfangszimmer an der Stirnseite des Hauses, vor einem der deckenhohen Fenster, stand ein antiker französischer Tisch. Herr Černik hielt davor an. Wie alles Übrige in diesem Palast war auch dieser Tisch luxuriös: Die aus Kirschholz gefertigte Oberfläche verlief am Rand wellenartig; die rotbraune Maserung der Einlegearbeiten bestand aus dunklerem Holz. Geschwungene Beine verjüngten sich zu Punkten, jedes einzelne beschlagen mit einem metallenen Huf, der zu der glänzenden Messingleiste passte, die um die Tischkante verlief.

»Bitte schauen Sie doch einmal hier unten hin, Herr Botschafter«, meinte Herr Černik und zeigte auf die Unterseite des Tisches. Ich kauerte mich auf alle viere und tauchte ab unter den Tisch. Als ich meinen Hals reckte und nach oben blickte, sah ich ein altes Etikett aus Papier. Es hatte in etwa die Abmessungen einer großen Gedächtnis-Briefmarke. Seine Oberfläche war vergilbt und verblichen, dazu leicht verzogen und wellig geworden durch die Paste, die man vor Jahren benutzt hatte, um es anzukleben. Es trug eine Seriennummer und eine unleserliche Unterschrift, die in alter Handschrift und mit Tinte hingekritzelt worden war. Und da war auch noch ein aufgestempeltes Symbol, das aber kaum zu erkennen war.

Ich beugte mich noch weiter vor und blinzelte in dem gedämpften Licht. Jetzt sprang mir das Bild ins Auge: Es war ein stilisierter schwarzer Adler mit ausgebreiteten Flügeln, den Kopf nach links gewandt. Er umklammerte mit seinen Klauen einen Kranz. Diese Girlande umfasste wiederum ein winziges, scharf konturiertes Hakenkreuz.

Černik wies mich darauf hin, dass im gesamten Palast ähnliche Spuren der Nazi-Besatzung zu finden seien.

»Kannst du dir das vorstellen, Mom? Und jetzt leben wir hier. Wie unglaublich ist das doch!«

Frostiges Schweigen am anderen Ende der Leitung.

»Mom?«

»Es gibt Hakenkreuze in dem Haus?«

Oh nein.

Ich versuchte alles, um den Schaden wiedergutzumachen. »Mutter, denk doch nicht daran.« Ich rief ihr in Erinnerung, dass wir den Palast in ein jüdisches Haus umwandeln würden. Dass wir uns weiterhin koscher ernähren, den Sabbat beachten und Schriftkapseln, Mesusas, an den Türpfosten anbringen würden. Konnte es denn eine bessere Rache an Hitler geben? Mutter musste selbst hierherkommen, um sich das anzuschauen.

»Wieso sollte ich den Wunsch haben, einen Ort aufzusuchen, den die Nazis mochten?«

»Komm schon, Ma, sag nicht so etwas – es ist ein schönes Haus.«

»Was ist, wenn ich in meinem Zimmer ein Hakenkreuz finden würde?«

»Ich werde dein Zimmer durchkämmen. Himmel noch mal, ich werde den ganzen Palast durchsuchen, ehe du kommst.«

Doch sie blieb ungerührt.

Für mich war das Hakenkreuz ein finsterer Beweis für den Triumph unserer Familie und zugleich ein faszinierendes historisches Artefakt – ein Wegweiser in die Vergangenheit. Wieder machte ich mir über meine Vorgänger Gedanken: Wer waren sie? Wie sind sie hierhergekommen? Wie hatte das vergangene Jahrhundert – der Wirbelsturm historischer Kräfte, der das Heimatland meiner Mutter verheert hatte – für jeden meiner Vorgänger mit dem Blick durch die Fenster ebendieses Palastes ausgesehen?

Für meine Mutter war das Nazisymbol jedoch kein interessantes Relikt. Es erregte keine Neugier. Es rief ein tief in den Eingeweiden sitzendes Trauma wach, eine düstere Last, die sie für immer mit sich tragen würde. Je mehr ich versuchte, sie von etwas anderem zu überzeugen, desto unerbittlicher wurde sie.

Es war das Beste, das Thema zu wechseln. Verzweifelt sah ich mich um, betrachtete die Bibliothek des Palastes mit ihren Tausenden von Bänden, die dem ursprünglichen Eigentümer gehörten; ihre Buchrücken warfen den Feuerschein zurück, und ich stellte ihr die erste Frage, die mir in den Sinn kam. »Was weißt du über Otto Petschek, Mom?«

»Ach«, seufzte sie. »Otto Petschek! Die Tschechoslowaken waren die schlauesten Menschen in Europa – und die Juden waren das klügste Volk in der Tschechoslowakei. Und Otto? Er war der Beste von allen. Er hatte alles: Talent, Geld, Erziehung. Aber er war Optimist wie du, Nachman, und Optimismus kann in Prag sehr gefährlich sein …«

Teil I

Otto (stehend) und Familie im Palastgarten

Kapitel 1

Der Goldene Sohn der Goldenen Stadt

Prag, Tschechoslowakei, Frühjahr 1924

Es war kurz vor Sonnenaufgang auf einem Hügel mit Blick über die Altstadt, etwas nördlich der Prager Burg, als ein einundvierzig Jahre alter Mann1 in seinem kleinen, aber eleganten Haus erwachte. Es war eine der kleinen Villen, die im Vorort Bubeneč verstreut lagen; vor nicht allzu langer Zeit noch ganz ländlich, war dieses Viertel nun zu einem der vornehmsten der Stadt geworden. Der Mann glitt mit seinen Füßen in die Hausschuhe, steckte seine Arme in einen Morgenrock und band den Gürtel zu. Er bewegte sich vorsichtig, um seine Frau nicht zu wecken, deren schlanke Gestalt sich unter der Bettdecke abzeichnete. Behutsam öffnete er die Terrassentür und trat ins Freie.

Otto Petschek begrüßte jeden Morgen die aufgehende Sonne, die jetzt den Horizont noch nicht durchbrochen hatte. Sein Butler, der einen Frack mit gestreifter Weste trug, würde sich im weichen blauen Licht zu ihm gesellen und mit seinen weiß behandschuhten Händen Kaffee servieren. Auch heute füllte er mit geübter Hand eine Tasse, reichte sie Otto und ging wieder ins Haus. Otto spürte die Hitze des Kaffees durch das feine Meissner Porzellan mit seinem komplizierten Muster aus rosa Blüten und goldenen Blättern. Dieses Service war ein Geschenk an seine Frau Martha gewesen. Nach elf Jahren Ehe2 und vier gemeinsamen Kindern liebte es Otto noch immer, ihr Gesicht aufleuchten zu sehen, wenn er ihr schöne Dinge mitbrachte.

Otto nippte an seinem Kaffee und genoss den Ausblick. Obwohl er nahe dem Zentrum von Prag wohnte – eine über ein ganzes Jahrtausend hinweg gewachsene Stadt, in der ständig neue Bauten eingefügt und übereinandergeschichtet worden waren –, hatte sich direkt hinter seinem Haus ein Stück Wildnis3 erhalten. Über Jahrzehnte hinweg hatten seine Eltern und dann er selbst unzählige Grundstücke aufgekauft und sie zu einer einzigen weitläufigen, fünf Morgen (ca. 20 000 Quadratmeter) großen Parzelle zusammengefügt.4

Otto vertiefte sich in das Profil des Geländes. Zum Teil war es von der Dunkelheit verschleiert, die noch den Boden erfasste, doch er kannte es auswendig, praktisch bis zum letzten Blatt. Jahre hatte er damit verbracht5, jeden einzelnen Bereich abzuschreiten; hatte den Besitz an Wochenenden besucht, Familienfeiern abgehalten, sogar Martha dort den Heiratsantrag gemacht. Alte Bäume ragten in die Höhe, hoch und wild gewachsen. Hecken verliefen zwischen ihnen, dazu Blumenständer und Rasenstreifen. In der Ferne hörte Otto das Geklapper der Pferdehufe; die ersten Fuhrwerke lieferten ihre Waren aus – Eis und Milch für die Nachbarn.

In seinem Rücken, hinter diesem noch ungestalteten Land, lag in östlicher Richtung das Herz von Prag: das Stadtzentrum, in dem Otto geboren worden war; die Synagoge, in der er seine Bar Mitzwa erhalten hatte; die Schulen, in denen er ausgebildet wurde; das Geschäft, das er mit aufgebaut hatte. Er war ein typischer Bürger6 der tschechoslowakischen Hauptstadt, dennoch blickte er allmorgendlich auch in Richtung Westen: nach Deutschland, der Sprache und Kultur wegen; nach Frankreich, der Kunst und Architektur wegen; nach England, dessen geschäftlichen Scharfsinn er bewunderte; und über den Atlantik hinweg zu den Vereinigten Staaten, deren Energie er begrüßte. Er war dankbar für die Rolle, die die USA bei der Erschaffung des gerade flügge werdenden tschechoslowakischen Staates und bei der Verankerung einer neuen europäischen Nachkriegsordnung eingenommen hatte. Im Dunst vor der Morgendämmerung konnte er sich, wenn er die Augen zusammenkniff, die Krümmung der Erde unterhalb seines weitläufigen Landbesitzes vorstellen und diesen Bogen nachzeichnen, der ihn mit allen Nationen verband, die er bewunderte.

Wie gewöhnlich hörte Otto innerlich Musik7. Musik war seine erste große Leidenschaft8, und er blieb stets ein großer Anhänger klassischer Werke. Er war einer der Förderer der Deutschen Oper in Prag, dazu glühender Wagnerianer, der die Helden dieses Komponisten sowie deren Begierde nach großen Herausforderungen bewunderte. An diesem Morgen hörte er in Gedanken vielleicht den tiefen Klang der Streicher, der das Rheingold eröffnete; der Tag rührte sich gerade so wie die Instrumente in der Oper, die Töne wurden, wie die aufsteigende Sonne, immer mächtiger.

Während Otto Tag für Tag seinem unsichtbaren Orchester lauschte und zusah, wie die Morgendämmerung sich über seinem ausgedehnten, wild bewachsenen Grundstück ausbreitete, nahm eine Idee in ihm Gestalt an, was er mit diesem Land anfangen könnte. Er würde dort einen Palast errichten – einen, der es mit jedem anderen in der Stadt aufnehmen könnte. Er würde riesig sein, mehr als hundert Räume haben9 und die Länge eines ganzen Straßenblocks einnehmen. Die Fassade würde die mathematisch eleganten Säulen des alten Griechenlands mit den kraftvollen Formen römischer Skulpturen vereinen, die klassischen Zahlenverhältnisse der italienischen Renaissance-Architektur mit der Majestät des französischen Barock verbinden. Er, Otto, würde den Gang der westlichen Zivilisation in Stein, Marmor und Ziegeln bis in die Gegenwart fortführen – wobei die Fassade des Palasts in einer scharfen, ultramodernen Kurve auslaufen würde; eine dramatische, zeitgenössische Wendung, die seine Schöpfung von allen anderen Palästen in einer Stadt unterscheiden würde, die vor Palästen nur so strotzte.

Es würde eine Residenz werden, die seinem Status10 als führender Bankier und Industrieller in der neuen Demokratie entspräche, ein perfektes Heim für seine geliebte Martha und die gemeinsamen Kinder. Und es würde die wunderbare Zukunft des 20. Jahrhunderts verkörpern11 – ein neues Zeitalter des Friedens und des Wohlstands, das nun, nach diesem Krieg zur Beendigung aller Kriege, aufkommen würde.

Ottos Träume wurden vom Treiben in der Villa hinter ihm unterbrochen. Die Sonne war inzwischen vollständig aufgegangen. Martha und die Kinder erhoben sich gerade, und das Personal nahm sein Tagwerk in Angriff.

Als er dem sonnenbeschienenen Grundstück den Rücken zukehrte und sein Haus betrat, summte er vor sich hin, und innerlich entwickelte er bereits raffinierte Pläne für seinen Palast.

OTTO WAR IMMER ALLES ZUGEFALLEN. 1882 wurde er als Sohn seiner Eltern Isidor Petschek und Camilla Robitschek geboren12, Abkömmlinge von zwei der wohlhabendsten jüdischen Familien in den österreichisch-ungarischen Ländern Böhmen und Mähren. Er war das erste Kind seiner Generation, und die Petscheks erwarteten seine Ankunft nicht weniger sehnlich, als eine Nation die Geburt eines Mitglieds der Königsfamilie erwarten mag. Am 17. Oktober war das musikalische Schreien des molligen Babys im Stadthaus der Familie zum ersten Mal zu hören. Otto, der zu Hause zur Welt kam, wurde von der Hebamme gewaschen und der Mutter präsentiert. Isidor und sein Bruder, Ottos Onkel Julius, nahmen das Kind in Camillas Armen unter die Lupe. Hinter ihren ernsten Mienen zeichnete sich die Zuneigung ab, die sie verspürten, als sie die Petschek-Merkmale des kleinen Otto studierten: einen großen Schädel, eine breite Stirn und eine knubbelige Nase.

Drei Generationen hatten in dem robusten Haus gewohnt, dessen Stockwerke übereinandergeschichtet waren wie bei einem Schichtkuchen à la Petschek. Hier wurde Otto, ein natürlicherweise selbstbewusstes Kind, bis zum Alter von sechs Jahren von einem Privatlehrer unterrichtet. In kurzen Hosen, einer Jacke und einer lockeren schwarzen Krawatte wurde er vor Isidor und Julius gebracht, um dort die Ergebnisse seiner Bemühungen zu präsentieren. Stramm stand er im Wohnzimmer, und die Zahlen strömten nur so aus ihm heraus. Otto kam nach Isidor, hatte einen quadratischen Schädel und war gut aussehend, wenn auch ohne den üppigen Kinnbart des Vaters. Julius’ Schädel dagegen war eher birnenförmig mit beginnender Glatze, dazu trug er einen großen, herabhängenden Schnauzbart, und oft ließ er seinen massigen Körper in eines der prallen Sofas im Wohnzimmer sinken. Die beiden Brüder waren über Ottos Fähigkeiten erfreut. Sie waren Finanziers, gaben Kredite, kauften und verkauften Anteile an Kohleminen und anderen Firmen, und sie erwarteten Großes von Otto, der auf demselben Gebiet arbeiten sollte. Otto war ein geborener Schausteller, womöglich liebte er diese Vorführungen deshalb so sehr. Auch wenn er vielleicht ein wenig zu stark vom Rampenlicht angezogen war – nun, die Brüder waren der Meinung, das würde sich zu gegebener Zeit erledigen.

Für die musikalischen Talente des jungen Ottos war bestens gesorgt: Musik gab es in Prag überall. Liederabende, Konzerte, Sinfonien, Opern – Melodien drangen auf die Straßen und strömten so frei durch die Stadt wie die Moldau. Auch im Hause Petschek wurde gesungen: Wenn sich die große Familie versammelte, zogen oft Pferdekutschen zur Stadtparkstraße, die voll mit Musikern waren, die man angeheuert hatte. Die Familienmitglieder waren aufs Festlichste gekleidet, die Männer trugen Fräcke, die Frauen hochgeschlossene Kleider über ihren Korsetts. Obgleich jüdisch, war auch die Hochkultur der österreichisch-ungarischen Monarchie und des benachbarten Deutschen Reichs nicht minder die Religion der Familie, und etliche der Petscheks musizierten gemeinsam mit den Berufsmusikern und sangen oder spielten Klavier.

Einige der Kinder, das Gesicht geschrubbt, das Haar gestriegelt, zappelten auf der Couch herum. Doch der junge Otto war wie gebannt. Er bettelte um Klavierstunden und wurde schon bald an die Tasten herangeführt, auf denen seine Finger die vollkommenen Werke von Schubert, Chopin und Schumann meisterten. Gemeinsam mit seinen Eltern besuchte er das neue Deutsche Opernhaus, das 1888 eröffnet wurde. Eingeweiht mit Wagners Meistersinger, gab das Haus in den kommenden Spielzeiten weitere Werke des Komponisten. Otto starrte auf die Verzierungen der neobarocken Decke, während die Klänge über ihn hinströmten und eine lebenslange Verehrung für Wagner bewirkten. Otto liebte auch Mozart und Beethoven, die beide in Prag gearbeitet und dirigiert hatten – er liebte alle deutschsprachigen Komponisten. Er verblüffte seine Familie, wenn er von musikalischen Aufführungen nach Hause zurückkehrte, mit seinen Fingern über die Elfenbeintasten glitt und dabei aus dem Gedächtnis Werke aus dem Konzert spielte, das er soeben gehört hatte.

Überall fand Otto Schönheit. Mit Beginn des Schulbesuchs von den Beschränkungen des Familienwohnsitzes befreit, streifte er mit großen Augen durch die Stadt und studierte die Abfolge von Stuck, Stein und Gips entlang der Straßen der Stadt, ein Amalgam aus Jahrhunderten europäischer Baukunst. »Musik ist flüssige Architektur; Architektur ist gefrorene Musik«, so lautet ein unter anderem Goethe zugeschriebener Ausspruch, der in Ottos Deutsch sprechendem Elternhaus eine verehrte Größe war. Die Altneu-Synagoge sowie die anderen mittelalterlichen Gebäude bildeten gleichsam den Bariton, fest erbaut aus solidem Stein. Renaissance-Bauwerke wie der Königliche Sommerpalast gaben den strahlenden Sopran, die St.-Nikolaus-Kirche und der Garten des Wallenstein-Palais, beides barocke Monumentalwerke, die Tenöre. Für manche Menschen mochte dieses Nebeneinander von Stilen wie ein Missklang wirken. Otto aber nahm das Stadtbild als einen harmonischen Chor wahr.

Prags Bewunderer schätzten die eigentümlichen Fassaden der Stadt und kannten sie wie ihr eigenes Gesicht. Sie wussten um die Details, die weniger geübten Augen entgingen: hier ein obszönes Fresko, dort ein geheimer Gang zu einer alten Grotte. Seit Langem hatten Prags Bewohner einen Kult entwickelt, um der Schönheit der Stadt zu huldigen. Sie bewahrten die Geschichte, die den Fassaden erst Leben einhauchte: eigenwillige Legenden, ungeschriebene Geheimnisse, Hinterlassenschaften von Sehern und Sonderlingen. Eltern und Großeltern flüsterten ihren Kindern Geschichten über die kluge und weitsichtige Gründerin der Stadt zu, über Prinzessin Libuše; über den Wunder bewirkenden Priester Nepomuk; über Rabbi Löw und seinen Golem und Tausenderlei anderes – und zeigten auf die Gebäude, in denen die Genannten (wie auch das Geschöpf des Rabbi) gelebt hatten und umhergewandert waren. Alle großen Städte hatten ihre Beschützer, doch diejenigen Prags waren besonders hingebungsvoll. Sie, die Prager, die niemals vergaßen, die immer beobachteten und die Kunde der Stadt von Generation zu Generation weiterreichten, waren die »Prag-Wächter«.13

Otto war einer von ihnen. Mit der bloßen Beobachtung war er allerdings nicht zufrieden. Noch wusste er nicht wie, aber den Opernhelden ähnlich, die er bewunderte, hatte er die klare Absicht, sein eigenes heroisches Zeichen in der Stadt zu hinterlassen, die er so liebte.

1892, MIT ZEHN JAHREN, BESTAND Otto die Aufnahmeprüfung für das Gymnasium, wo er die nächsten acht Jahre verbrachte, eingespannt in den Lehrplan der klassischen freien Künste. Von den Wurzeln Europas, Latein und Griechisch, drang er bis zu den Wipfeln vor: der zeitgenössischen Literatur, Wissenschaft und der Mathematik. Der Lehrplan war darauf angelegt, die Schüler mit dem Glauben der Aufklärung an Vernunft und Fortschritt zu impfen, was in Ottos Fall auch gelang. Doch Isidor und Julius sorgten dafür, dass Ottos Auseinandersetzung mit Athen und Rom, Paris und Wien nicht auf Kosten Jerusalems geschah. Beide waren in einem orthodoxen Haushalt erzogen, und wenn sie auch zu eher liberalen Juden geworden waren, hielten sie Otto in täglich verabfolgten Lektionen dennoch an, sich mit jüdischem Recht, jüdischer Überlieferung und Geschichte auseinanderzusetzen.

* Mit der Bar Mitzwa wird die religiöse Volljährigkeit gefeiert. Otto liest hier aus den Prophetenbüchern und hält einen Yad, einen Zeigestock, an dessen Ende eine Hand mit ausgetrecktem Zeigefinger ist; hiermit wird beim Vortrag auf die vorzulesende Zeile aus der Thora gedeutet. (A. d. Ü.)

1895 erklang seine klare Stimme in der Altneu-Synagoge, als er in wohl einstudiertem Hebräisch seine Lesung im Rahmen seiner Bar Mitzwa vortrug, wodurch er seinen Aufstieg ins Erwachsenenleben kenntlich machte. Tief beugte er den Kopf und las die winzige Kalligrafie aus der Thorarolle vor; seine Hand führte dabei, von rechts nach links, einen silbernen Yad über die alte hebräische Schriftrolle.* Sein Sprechgesang strömte hoch hinauf in das gedämpfte Licht des fünfrippigen gotischen Gewölbes (die fünfte Rippe war rein dekorativ; sie sollte vermeiden, dass durch die Gewölberippen ein Kreuz gebildet würde). Oben im Dachboden schlief, wie die Legende besagte, der Golem – bereit, wieder zu erwachen, wenn er die Prager jüdische Gemeinde beschützen müsste. Unten leisteten die neuesten Gemeindeglieder voller Zuversicht ihren Dienst. Otto war größer geworden, er war schlank, hatte aber immer noch sein markantes Familienaussehen, eine Welle seines schwarzen Haares hing über der Stirn. Sein Vater und sein Onkel, massigere Versionen des jungen Otto, standen ihm auf der Bima** zur Seite, während seine Mutter und ihre Schwester Berta, die mittlerweile Julius geheiratet hatte, durch Schlitze in den fußdicken Wänden, welche die Frauen von den Männern trennten, zusahen.

** Lesepult, an dem die Thora-Abschnitte verlesen werden. (A. d. Ü.)

In den Jahren nach seiner Bar Mitzwa14 merkte Otto, dass nicht jeder in der Stadt und dem umliegenden Land in gleichem Maße von seiner Herkunft begeistert war. Der sich seit Mitte des neunzehnten Jahrhunderts ausbildende tschechische Nationalismus und die Wiederbehauptung der tschechischen Sprache und Identität wurden, fast drei Jahrhunderte, nachdem die slawischen Böhmen und Mähren von den Österreichern erobert worden waren, stärker. Begeistert unterstützte die Familie Petschek den gegenwärtigen Herrscher Österreich-Ungarns, den gütigen und lange dienenden Kaiser Franz Joseph I. Er war bekannt für sein herzliches Verhältnis zu seinen jüdischen Untertanen, die über das ganze Reich verstreut lebten, das Dutzende Nationalitäten in ganz Europa zusammenführte. Onkel Julius diente ihm als Oberfinanzrat des Reiches.

Doch die ethnischen Tschechen und viele andere Gemeinschaften missbilligten die jahrhundertelange Habsburger Herrschaft über Prag und die umliegenden Gebiete. Die mit ihrer nur bruchstückhaften Repräsentation in Franz Josephs Parlament unzufriedenen Nationalisten wollten Selbstbestimmung und Unabhängigkeit. Als das neue Jahrhundert sich näherte, begann eine lautstarke Minderheit slawischer Nationalisten, ihren Zorn auf die kulturell führenden deutschen Bewohner Prags zu richten, wobei die Juden ihre prominentesten Opfer wurden. Antisemitische Pamphlete15 mit dem Titel »Pro Lid« (»Für das Volk«) wurden verbreitet und verleumdeten die Juden wegen ihrer Assimilation an die deutsche Sprache und Kultur. Fanatiker rotteten sich zusammen und forderten den Boykott jüdischer Geschäfte; sie marschierten die Straßen entlang und skandierten »svůj k svému« (»Jedem das Seine«), was dazu führte, dass viele jüdische Geschäfte schließen mussten.

Am schlimmsten aber war, dass einige Nationalisten die alte Verleumdung wieder aufgriffen, wonach die Juden Christen getötet hätten, um deren Blut als geheime Zutat für die Matzen beim Passahfest zu benutzen. Ein fahrender Jude, der Handelsreisende Leopold Hilsner16, wurde fälschlich angeklagt, eine nichtjüdische Frau rituell ermordet zu haben. Während der gesamten Zeit gab es antideutsche und antisemitische Aufstände und Straßenkämpfe in Prag, wobei Juden geschlagen, ihre Schaufenster zertrümmert und ihre Ware geplündert wurde. Jüdische Häuser und Synagogen wurden gleichfalls angegriffen und zerstört, bis Franz Joseph seine Armee schickte, die in den mit Glasscherben übersäten Straßen patrouillierte, um die Ordnung wiederherzustellen.

Diese antisemitischen Wellen am Jahrhundertende17 machten Ottos Vater und auch seinen Onkel nervös. Sie waren nach Prag geflohen, um einem Pogrom zu entgehen, das sie nun erneut verfolgte. Aufgewachsen waren die beiden in Kolín, wo ihr Vater von den Stadtbewohnern billig Land aufgekauft hatte, um es später mit großem Gewinn der Regierung für den Eisenbahnbau zu verkaufen. 1876 sammelte sich ein wütender Mob vor ihrem Haus. Vorsichtig blickte die Familie hinter den Vorhängen hinaus auf die Straße und fragte sich, ob sie wirklich angegriffen würde. Man beschloss zu fliehen18, sich in Prag als passive Investoren niederzulassen, die außerhalb der öffentlichen Beobachtung standen. Die Petscheks waren nicht begierig darauf, noch einmal ihre Zelte abbrechen zu müssen.

Mit dem ganzen Idealismus eines Siebzehnjährigen nahm Otto eine eher optimistische Haltung ein.19 Die Petscheks waren nicht nur Juden; sie waren auch Austro-Ungarn, Böhmen und zudem Deutsch sprechende Prager. Sicherlich würde der Antisemitismus vergehen – eine periodische Aufwallung an den Rändern der Gesellschaft. Schließlich hatte sich ein Nichtjude, der tschechische Nationalist und führende Verteidiger Hilsners, Tomáš Masaryk, gegen die Verleumdung gewandt, die die Verwendung des Blutes betraf. Als Philosoph, Schriftsteller und Herausgeber einer liberalen Zeitung war der neunundvierzigjährige Masaryk mit seinem wild entschlossenen Blick hinter dem Kneifer ein eindrucksvoller Streiter für die Juden. Zu den Nationalisten zählten auch viele, die die Juden willkommen hießen – einige tschechische Juden gehörten sogar selbst dazu (auch wenn Otto nicht unter diesen war). Otto war der Meinung, das Reich werde das Reich bleiben und die Petscheks wären dort sicher aufgehoben. Franz Joseph hatte sogar angeboten, die Familie in den Adelsstand zu erheben, auch wenn Julius und Isidor dies abgelehnt hatten. Sie zogen einen niedrigeren Status vor, geleitet durch die umsichtige jüdische Philosophie des »sha shtil« – »bleib still«.

Otto verspürte keine derartigen Bedenken. Ein neues Jahrhundert brach an, und zu dessen Beginn im Jahre 1900 sollte er das Gymnasium abschließen und seine Ausbildung fortsetzen. Er wollte sich zum Dirigenten ausbilden lassen.20 Er war musikalisch begabt und auch vom Temperament her für diese Aufgabe geeignet; er war gebieterisch und auf freudvolle Weise ohne Hemmungen. Die großen europäischen Dirigenten hatte er selbst erlebt, und die meisten von ihnen bewunderte er. Eines Tages schrieb er seinen Eltern: »Zehn Tage Wien und kein Wagner, nur Mist! Als ob Mahler das macht, um mich zu ärgern!«21 Wäre er selbst ein Dirigent, könnte er Programme ansetzen, wie immer und wann immer er wollte.

Julius und Isidor verboten ihm jedoch diesen Weg. Musik war ein Hobby, kein Beruf. Sie hatten andere Pläne für den ältesten Petschek-Sohn: Otto sollte Jura studieren wie sie selbst und danach ins Familiengeschäft eintreten. Ottos Überschwang sorgte bei seinem Vater und seinem Onkel für Unbehagen, und sie hofften, das Studium würde ihn bändigen. Vielleicht hatten sie ihn zu nachsichtig behandelt. Eines der größten Vermögen in Prag zu beaufsichtigen war schließlich keine romantische Angelegenheit; niemand sollte die Kohlegruben und -schächte mit einer Opernloge verwechseln. Mochte Otto das Jurastudium trocken finden, umso besser.

Wenn Otto den beiden dieses Diktat übel nahm – und er musste es getan haben –, so behielt er seine Gefühle für sich. Es gibt kein Anzeichen dafür, dass er sich beklagte oder versuchte, sie von ihrem Entschluss abzubringen. Er entstammte einer Kultur und einem Haus, die sehr hierarchisch waren; er war ein pflichtbewusster Sohn und Neffe und fügte sich den Wünschen der Älteren. Sie schickten ihn22 auf ihre Alma Mater, auf den deutschsprachigen Zweig der Prager Karls-Universität. 1348 gegründet, war sie eine der ältesten Institutionen für höhere Ausbildung in Europa, dazu eine der profiliertesten. Die Karls-Universität zog Gelehrte aus der gesamten deutschsprachigen Welt an (1911 schloss sich Einstein der Philosophischen Fakultät dieser Universität an, wenige Jahre nachdem Otto sich immatrikuliert hatte).

Doch die juristische Ausbildung konnte Otto nicht in Schach halten. Die schwarzen Umschläge seiner Lehrbücher trugen furchterregende Titel wie Verwaltungslehre und Oesterreichisches Verwaltungsrecht, allgemeiner Theil; Deutsche Reichs- und Rechtsgeschichte; Sammlung von Civilrechtlichen Entscheidungen des k. k. obersten Gerichtshofes. Unter den düsteren Einbänden jedoch ließen Ottos Unterstreichungen und Randbemerkungen die Seiten aufleuchten. Eine Explosion in roter, blauer und grüner Tinte blendete das Auge. Das Recht war eben ein weiteres komplexes System – wie Mathematik, Musik oder Prags Architektur-Mischung –, und Ottos Imagination nahm seine Muster wahr; ungreifbar waren sie, aber allgegenwärtig. Dieses System untermauerte Franz Josephs Herrschaft, die ihrerseits Otto, seine Familie und alle Juden sowie sämtliche Untertanen beschützte und ernährte. Es war dies das Instrument der aufgeklärten Vision einer geordneten, rationalen Gesellschaft, die er schon im Gymnasium aufgesogen hatte. Otto war verzaubert.

Doch seine Begeisterung wurde nicht von allen Kollegen geteilt. Einer seiner Bekannten beschrieb den juristischen Lehrplan in dem Sinne, als hätte er sich »geistig förmlich von Holzmehl genährt, das mir überdies von Tausenden Mäulern vorgekaut war«23. Dieser pessimistische Jurastudent war Franz Kafka. Franz und Otto legten das Grundstudium an der Karls-Universität ab und schrieben sich dann parallel in die weiterführenden Studien ein, um zu promovieren. Wie wild kritzelte Otto, über die Seite gebeugt, seine Notizen hin und versuchte, jedes Detail zu erfassen, als würde er eine Sinfonie transkribieren. Franz dagegen hörte voller Zweifel zu; seine engen, scharfen Gesichtszüge waren voller Sorge. Für ihn bedeutete das österreichisch-ungarische Rechtssystem den Schrecken ungerechter, ja unverständlicher Anklage, Schuld und Bestrafung. Dieses dunkle Bild war wiederum Otto vollkommen fremd.

Ottos juristische Ausbildung hatte allerdings keine erkennbare Auswirkung auf seinen extravaganten Überschwang. Anlässlich des fünfundzwanzigsten Hochzeitstages seiner Eltern beorderte er 1906 die Familienmitglieder der jüngeren Generation in den üppig bewachsenen Bubeneč-Garten der Petscheks. Er nötigte alle, sich im Stile Mozarts in prachtvolle Gewänder aus der Zeit der Klassik zu kleiden und eine musikalische Auswahl darzubieten. Ottos jüngere Geschwister, Cousins und Freunde wurden dienstverpflichtet, (nach einigen Einwänden) verkleidet und mussten ein Orchester bilden. Otto war der Dirigent, strahlend hell in hautengen Kniebundhosen; seinen langen weißen Frack schmückte schwerer Goldbesatz. Gekrönt wurde das Ensemble durch eine gewaltige gepuderte Perücke, die im Nacken mit einem schwarzen Band zusammengefasst war. Alle anderen Gesichter auf dem Jubiläumsfoto strahlen wenig Freude aus. Doch Otto, die Füße fest auf das Podium gestellt, liebte diese Darbietung.

* Doktor des weltlichen Rechts und des kanonischen Kirchenrechts. (A. d. Ü.)

SEIN JURASTUDIUM SCHLOSS OTTO 1909 als Doktor beider Rechte* ab. Isidor und Julius schickten ihn anschließend in ein längeres Referendariat in die Kanzlei eines ihrer Freunde, Dr. iur. Julius Popper. Dort genoss der frisch gebackene Doktor der Rechte als offenkundiger Erbe keine besonderen Privilegien. Trotz seiner fortgeschrittenen Ausbildung war Otto Lehrling, und die Arbeit war wenig aufregend: rechtskundliche Recherche, Schreibarbeiten, außerdem musste er den Schreibtisch seines Chefs in Ordnung halten. Nachdem diese demütigende Initiation vollbracht war, schloss Otto sich formell dem Familienunternehmen an. Isidor und Julius führten ihn in die am wenigsten glamourösen Aspekte ihrer Arbeit ein: Buchhaltung, Korrespondenz und Personalangelegenheiten; sie übertrugen ihm die unterirdischen Bereiche ihres Investments, das Gewirr der Kohleminen in Nordböhmen und Schlesien, damit er dort die Arbeit lerne. Sie nahmen ihn als stillen Beobachter zu ihren geschäftlichen Treffen mit, was für ihn äußerst strapaziös war: »Ich musste am Montag und Dienstag mit Papa und Onkel Julius mitgehen. Noch nie habe ich eine Woche als derart verwirrend empfunden wie die letzte. Und ich war so schrecklich müde, dass ich das Unmögliche schaffte und auf dem Rückweg mit dem Wagen aus Aussig eine ganze Stunde fest schlief – wir waren nicht rechtzeitig genug fertig geworden, um noch den Zug zu erreichen, und fuhren mit dem Wagen um 9.30 Uhr ab. Bedenkt man, dass die Straße schlecht und voller Pfützen war und der Chauffeur ganz richtig vor jeder Kurve die Hupe betätigte, wird man begreifen, dass diese Leistung hoch eingeschätzt werden muss.«24

Seine Mentoren testeten ihn, um zu sehen, ob er täte, was man ihm aufgetragen hatte. Zumindest an der Oberfläche schien Otto sich zu fügen. Er legte den gleichen teilnahmslosen Ausdruck, die gleiche steife Haltung an den Tag und trug wie Vater und Onkel dunkle dreiteilige Anzüge.

Doch ein Gebiet gab es, auf dem Otto sich ihrem Diktat widersetzte: das der Ehe. Während seiner gesamten Zwanziger hatten Vater und Onkel wie auch Mutter und Tante zur Ehe gedrängt. Er zögerte; er wollte sich erst verlieben. (Zu viel Oper, grummelten sie.) Doch als er bei Popper in die Lehre ging, stach ihm schließlich jemand ins Auge: Martha, die Tochter seines Chefs. Auch sie sprach Deutsch und war eine in Prag geborene Jüdin. Lange Zeit war ihr Vater in Petscheks Firma gewesen und hatte in deren gesellschaftlichen Kreisen verkehrt. Otto, der fünf Jahre älter als Martha war, hatte sie nur undeutlich wahrgenommen, als sie heranwuchs.

1911 war sie dreiundzwanzig Jahre alt und reizend: anmutig, mit einem sanften, runden Gesicht und langen, eleganten Gliedmaßen. Sie war von einer Freundlichkeit25, die viele Menschen dazu brachte, ihr Geheimnisse anzuvertrauen; jedermann, egal ob Großmutter oder Kind, suchte sie auf, um Probleme mit ihr zu besprechen. Otto sah Martha jeden Tag, wenn sie in die Kanzlei kam, um ihren Vater zu einem Spaziergang abzuholen. Sie ging zart und liebevoll mit dem alternden Anwalt um. Eines Tages überkam es Otto: »Warum nicht Martha heiraten?«26

Den größten Teil des Jahres versuchte Otto, sie in Gespräche zu verwickeln – um Kontakt herzustellen. Sie war höflich, entzog sich aber immer wieder, um den zugeflüsterten Geheimnissen ihrer bedürftigen Vertrauten zuzuhören. In Wirklichkeit fand Martha Ottos Extravaganz abschreckend. Und er beging den Fehler, ihr zu offenbaren, dass er fünfundvierzig Hüte besäße – eine lachhaft große Anzahl. Doch sie war an Menschen interessiert, nicht an Gegenständen.

Otto, der stets beharrlich blieb, ließ jedoch bis 1912 nicht locker – und eines Abends, als sie vor dem Kamin in ihrem Elternhaus saßen und Schatten auf ihrem taubengrauen Kleid tanzten, gab Martha nach. Sie entdeckte, dass sie die gleichen Leidenschaften teilten: Musik, Kunst und Literatur. Beide stachelten sich gegenseitig in ihrer Begeisterung an, und fortan verbrachten sie viel Zeit miteinander. Marthas Humor, mit sanfter, melodischer Stimme vorgebracht, hatte etwas Neckisches, was andere zuweilen reizte. Sie nannte Otto Dumme und brachte ihn damit zum Lachen. Dieses Wort benutzte er auch für sie, und so wurde es zu beider privatem Kosenamen.

Martha machte sich auch dezent über Ottos Judentum lustig. Seine Familie war gerade einmal vor einer Generation aus dem Ghetto von Kolín fortgezogen, in dem sein Vater und sein Onkel geboren und jiddisch sprechend aufgewachsen waren. Otto behauptete Martha gegenüber, er sei ein »großer Realist und »ungläubiger Thomas«27 – Ergebnis seiner langen säkularen Erziehung. Doch er würzte ihrer beider klugen Gespräche mit jiddischen Worten, beging die jüdischen Feiertage und hielt eigens an, um ein Gebet zu sprechen, nachdem sie knapp einem Autounfall entgangen waren. »Das hätte schlecht ausgehen können«, sagte er zu ihr. »In solchen Momenten28, wo das Glück so schrecklich schwankend zu sein scheint, habe ich immer das starke Bedürfnis, jemandem zu danken – Gott, dem Schicksal … Auch gestern habe ich aus tiefem Herzen ›Gott sei Dank‹ gesagt29, als es vorbei war. Lachst du mich etwa deswegen aus?« Genau das tat sie – merkte aber bald, dass auch sie »Gott sei Dank« in ihre eigene Rede einstreute.

Trotz ihres besseren Geschmacks ließ sie sich auch auf seine Ästhetik ein. Er berief sie als einen seiner Prag-Wächter und führte sie durch die malerischen Straßen der Stadt. Sie bummelten an den Schaufenstern entlang, und er ließ sie erröten angesichts seiner sinnenfrohen Urteile über das kurvenreiche mährische Porzellan, das feine böhmische Glas und die kostbaren importierten Stoffe. Früher war die Stadt ein Zentrum der Alchemie gewesen – das »magische Prag« –, doch für Otto war die Erschaffung prächtiger Gegenstände durch menschliche Hände die wahre Alchemie. Er versuchte, Martha zu umwerben, indem er ihr wunderschöne Dinge kaufte. Sie schimpfte mit ihm, weil er so viel Geld dafür ausgab. Zuweilen schickte sie sie sogar zurück. Doch einige behielt sie auch.

Otto und Martha, um 1913

Als sie tiefer in Ottos Reich eindrang, kaufte Martha ihm ein Geschenk: seinen sechsundvierzigsten Hut. Er neckte sie, dass dieser »vielleicht ein wenig zu modisch« sei, fügte aber hinzu: »Übrigens würde es mir nichts ausmachen, wenn du dich auch um den Rest meiner ›Toilette‹ kümmern würdest. Dann könnte zumindest mein Budget kleiner werden.«30 Diese Neckerei täuschte darüber hinweg, wie entzückt er war. Vielleicht war Martha mit ihrer eigenen Geste zufriedener, als er ihr kurz danach eine weitere Notiz zukommen ließ, worin er verkündete, dass ihr Geschenk einen weiteren Gefährten erhalten habe:

Durch dein bestes Geschenk ermutigt, habe ich mir gestern einen neuen grünen Hut gekauft – eigentlich müsste man ›haaayut‹ sagen, weil er so tirolerisch aussieht. Nummer 47. Ich sehe einfach entzückend darin aus – wie die Mädels in Ischl! Wenn ich die Straße entlanggehe, habe ich immer Angst, dass ein Polizist mich wegen ungebührlichen Benehmens festnimmt. Aber ich riskiere es. Beiliegend ist meine neueste Fotografie. Bitte mit Vorsicht genießen! … Die kleinen Kinder auf der Straße fangen an zu schreien, wenn sie mich sehen. Ich glaube, du wirst das auch tun.31

Die Atempause, die ihr das gewährte, war angesichts des nächsten Missgeschicks ihres unbedachten Verehrers äußerst kurz. Otto war auf Geschäftsreise und bemerkte, dass er ein Dokument, das er brauchte, bei ihr zu Hause gelassen hatte. Also schickte er einen Kollegen, um die Papiere zu besorgen. Der Mann schob sich an Marthas Dienstmädchen vorbei, ging in ihr Zimmer und durchwühlte ihren Schreibtisch. Als Martha nach Hause kam, fand sie ihr Dienstmädchen in Tränen aufgelöst vor und schickte einen Brief, in dem sie ihn scharf kritisierte. Otto schrieb zurück und entschuldigte sich übermäßig: »Meine Mutter sagt immer: ›Dumm geboren, nichts dazugelernt.‹ Wenn du mir verzeihen willst, hast du das Recht, dasselbe zu sagen.«32 Trotz all seines Genialität bei der Analyse von Systemen konnte Otto plump sein, wenn es um zwischenmenschliche Beziehungen ging. Martha beruhigte sich, doch ihre Wachsamkeit war geweckt.

Otto aber blieb geduldig. Gemeinsam besuchten sie einen dicht bewachsenen Garten neben dem Sommerhaus, das Ottos Eltern in Bubeneč gekauft hatten. Die beiden verließen die Altstadt Richtung Norden, überquerten die Svatopluk-Čech-Brücke, die im Jugendstil errichtet worden war und die Moldau überspannte. Dann gingen sie den Letná-Park hinauf, hielten oben auf dem Hügel an und blickten auf die atemberaubende Ansicht der Stadt unter ihnen. An jeder Ecke des Weges trafen sie Freunde und Verwandte, nickten ihnen zu, grüßten sie und plauderten mit ihnen.

Prags wohlhabende Juden33 hatten zu diesem Zeitpunkt bereits begonnen, aus dem Stadtzentrum wegzuziehen, und die weitläufige Familie Petschek hatte sich Geländestücke in der gesamten Nachbarschaft des Hügelkamms zusammengekauft. Ottos Eltern gehörten mehrere Parzellen innerhalb eines großen Stückes Land im besten Teil von Bubeneč. Ihr Sommerhaus lag am Rand des riesigen Besitzes, doch das Landstück blieb weitgehend unbebaut. Die ganze Anlage war ein natürlicher Garten, der der gesamten Nachbarschaft offen stand. Wildblumen, hier und da purpurfarben und gelb, leuchteten zwischen den Hecken und Wiesen auf. Otto und Martha, Arm in Arm, hielten auf ihrem Spaziergang inne und schauten die Blüten an, jede ein kleines Meisterwerk.

Regelmäßig kamen sie an diesen Ort, sahen zu, wie das Laub die Farbe wechselte, und stimmten sich auf die subtilen Veränderungen im Lauf der Jahreszeiten ein. Als die Blätter fielen, schwanden auch Marthas Vorbehalte. Trotz Ottos Marotten, seiner Schwächen und seiner Ungeschicklichkeit konnte sie sich ein Leben ohne ihn nicht mehr vorstellen. Im Oktober waren die Bäume kahl. Am 25. Oktober 1925 lud Otto Martha in den Garten ein. Sein Redefluss war besonders energiegeladen; im Gegenzug blitzte ihre Schlagfertigkeit noch geschliffener als gewöhnlich auf. Nach ihrem gewohnten Bummel ging er vor ihr auf die Knie und fragte sie mit einem Augenzwinkern und in dem neckenden Tonfall, den sie stets benutzten: »Gnädige Frau, möchten Sie eine Petschek werden?«34

1913 heirateten sie und verbrachten die Hochzeitsreise in Italien. Otto war schon früher durch dieses Land gereist und brannte nun darauf, Martha seine Lieblingsorte zu zeigen – verfallene Ruinen, hoch aufragende Kathedralen und Renaissance-Arkaden –, als hätte er alles eigens für sie bestellt. Er hielt Bilder dieser Reise als Erinnerung fest: Martha vor den architektonischen Wunderwerken, die sie besuchten, jede dieser Momentaufnahmen erleuchtet im rosigen Schein seiner Leidenschaft für die Braut. Mit den Ladenbesitzern, den Hoteliers und untereinander sprachen sie Italienisch – sie sollten für den Rest ihres Lebens immer wieder darauf zurückkommen, wenn sie nicht wollten, dass andere Familienmitglieder ihre Geheimnisse erführen.

Zurück in Prag, wohnten sie bei Marthas Familie, und Otto nahm seine Arbeit als vollgültiger Partner innerhalb der Firma auf. Nachdem nun seine Lehrzeit vorüber war, begeisterte er sich für The Romance and Tragedy of Banking (Romantik und Tragödie des Bankwesens), wie es der Titel eines seiner amerikanischen Bücher ausdrückte. Doch er war bemüht, seine Begeisterung nicht offen zu zeigen, vielmehr nahm er das seriöse Gebaren seiner Mentoren an und begann sogar, wie sie ein wenig Masse zuzulegen. Sie lohnten es ihm, indem sie ihn in den Jahren 1913 und 1914 damit beauftragten, Geschäftspartner aufzusuchen und Investments im ganzen Kontinent zu prüfen. In diesem letzten Aufleuchten des Friedens konnte ein Kind Europas auf jedem Flecken dieses Kontinents frei umherstreifen, von St. Petersburg bis nach Schottland, von Aachen bis nach Athen. Otto machte eine Reise nach der anderen, durchquerte den Kontinent und lebte aus dem Koffer. Als Reisegefährten erwarb er eine ganze Sammlung dicker purpurfarbener Baedeker-Reiseführer. Zwischen den geschäftlichen Treffen, im Zug und in seinen Hotelzimmern studierte Otto die glänzenden Seiten der Bücher und zog dann los, um sich die Werke im Original anzuschauen. Wann immer er eine Minute Zeit hatte, stahl er sich davon und stürzte sich auf die Kultur; den Bauschmuck der Paläste, Kirchen und Theater, die er aufsuchte, verschlang er geradezu; alles prägte er sich ein, um in Zukunft daran anzuknüpfen.