Der letzte Tanz der Debütantin - Julia Kelly - E-Book

Der letzte Tanz der Debütantin E-Book

Julia Kelly

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Beschreibung

Prächtige Kleider, rauschende Bälle, aufgeregte junge Damen - und die Suche nach dem, was im Leben zählt


1958 soll das letzte Jahr sein, in dem junge Damen als Debütantinnen am Hof der jungen Queen Elizabeth präsentiert werden können. Deshalb bemühen sich Hunderte ehrgeiziger Mütter und hoffnungsvoller Töchter um eine der begehrten Einladungen. Ihrer verwitweten Mutter zuliebe stürzt sich auch Lily ins bunte Treiben. Als Außenseiterin tut sie sich anfangs schwer, Kontakte zu knüpfen. Doch bald findet sie Freundinnen, echte und solche, vor denen sie sich besser in Acht nehmen sollte. Und noch etwas beschäftigt Lily, während von mehreren Seiten um sie geworben wird: Es scheint ein Familiengeheimnis zu geben, das ihre Mutter erpressbar macht und Lilys eigene Identität und Stellung infrage stellt ...

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Seitenzahl: 527

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Inhalt

Cover

Über das Buch

Über die Autorin

Titel

Impressum

Widmung

Prolog

1. Teil

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

2. Teil

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

3. Teil

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

4. Teil

27. Kapitel

28. Kapitel

29. Kapitel

30. Kapitel

31. Kapitel

32. Kapitel

33. Kapitel

Epilog

Anmerkung der Autorin

Dank

Über das Buch

Prächtige Kleider, rauschende Bälle, aufgeregte junge Damen – und die Suche nach dem, was im Leben zählt 1958 soll das letzte Jahr sein, in dem junge Damen als Debütantinnen am Hof der jungen Queen Elizabeth präsentiert werden können. Deshalb bemühen sich Hunderte ehrgeiziger Mütter und hoffnungsvoller Töchter um eine der begehrten Einladungen. Ihrer verwitweten Mutter zuliebe stürzt sich auch Lily ins bunte Treiben. Als Außenseiterin tut sie sich anfangs schwer, Kontakte zu knüpfen. Doch bald findet sie Freundinnen, echte und solche, vor denen sie sich besser in Acht nehmen sollte. Und noch etwas beschäftigt Lily, während von mehreren Seiten um sie geworben wird: Es scheint ein Familiengeheimnis zu geben, das ihre Mutter erpressbar macht und Lilys eigene Identität und Stellung infrage stellt …

Über die Autorin

Julia Kelly war lange Jahre als Producerin und Journalistin tätig, bevor sie sich als Autorin selbstständig machte. Sie lebte in Los Angeles, Iowa und New York City. Inzwischen ist sie in London heimisch. Neben ihrer schriftstellerischen Tätigkeit engagiert sie sich bei ROMANCE WRITERS OF AMERICA, der britischen ROMANTIC NOVELISTS ASSOCIATION sowie der HISTORICAL NOVEL SOCIETY.

Julia Kelly

Der letzte Tanz der Debütantin

Roman

Aus dem Englischen von Barbara Röhl

Vollständige E-Book-Ausgabedes in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Deutsche Erstausgabe

Für die Originalausgabe:Copyright © 2021 by Julia KellyTitel der amerikanischen Originalausgabe: »The Last Dance of the Debutante«Originalverlag: Gallery Books, an Imprint of Simon & Schuster, Inc.

Für die deutschsprachige Ausgabe:Copyright © 2022 by Bastei Lübbe AG, KölnTextredaktion: Anne Schünemann, SchönbergTitelillustration: © ANGELGILD/Getty Images | © Lee Avison/Trevillion ImagesUmschlaggestaltung: Manuela Städele-MonverdeeBook-Erstellung: two-up, Düsseldorf

ISBN 978-3-7517-2870-6

luebbe.delesejury.de

Für Mum

Prolog

Winter 1957

Lily spürte, wie das oberste Buch vom Stapel in ihrem Arm zu rutschen drohte, und verstärkte ihren Griff, damit es nicht aufs Straßenpflaster fiel. Es nieselte, so wie immer, wenn die frische Herbstluft der Londoner Winterkälte wich. Sie sah auf die Bücher hinunter. Sie gehörten eigentlich in ihren abgewetzten Lederranzen, aber der war zu voll, da sie schon The Way We Live Now und Harte Zeiten zu ihren Aufsatzheften hineingestopft hatte.

Eine Frau in einem schicken kanarienvogelgelben Kostüm, die sich das Haar mit einem Tuch in Blau- und Cremetönen hochgebunden hatte, das den unverkennbaren Schimmer echter Seide besaß, eilte an Lily vorbei. Auf der anderen Straßenseite blieb eine Nanny stehen, um auf ihren jungen Schützling einzureden, damit er die Mütze wieder aufsetzte und sich nicht verkühlte.

Belgravia war kein Viertel, in dem Hausfrauen ihren schwer arbeitenden Ehemännern das Abendessen kochten, und auch keins, in dem junge Bohémiens den späten Nachmittag für eine vollkommen akzeptable Frühstückszeit hielten. Es war ein ruhiger Rückzugsort der Gutbetuchten, die um diese Tageszeit Tee aus Porzellantassen tranken, während sie überlegten, ob sie ihren Abend auf Dinnerpartys, Tanzveranstaltungen oder im Theater verbringen sollten.

Lily bog von der Pont Street auf den Cadogan Place ab. Eine Reihe weißer Häuser, die mit Säulen und Balkons garniert waren wie ein Kuchen mit Zuckerwerk, erhob sich dort gegenüber der umzäunten Oase, die der Cadogan-Place-Park bildete. Auf halber Höhe der Straße blieb sie stehen, zupfte am Saum ihres marineblauen Schulblazers und strich sich über die hellblonden Locken. Dabei war es vollkommen unnötig. Sie hatte sich in der Damentoilette von Mrs. Wodelys Mädchenschule gekämmt, bevor sie den Bus zur Hyde Park Corner genommen hatte, und ihre Locken hatten perfekt gesessen, weil sie diese erst gestern vor dem Schlafengehen hochgesteckt und heute Morgen vorsichtig ausgebürstet hatte. Doch sie wusste, dass sie die perfekte Frisur nicht dem Zufall überlassen durfte, wenn sie Grandmama dienstags zum Tee besuchte.

Sie nahm die Schultern zurück, reckte das Kinn und drehte den großen Messingschlüssel an der altmodischen Türklingel ihrer Großmutter.

Eins … zwei … drei … vier … fünf …

Knarrend öffnete sich die schwere schwarze Tür, und vor ihr stand Grandmamas beflissene, drahtige Haushälterin, genau wie immer.

»Guten Tag, Mrs. Parker«, sagte Lily, als die Haushälterin beiseitetrat, um sie in die Diele einzulassen.

»Madam ist im Salon«, erklärte Mrs. Parker. Keine Gefühlsregung zeigte sich auf ihren stets gefassten Zügen.

Wie immer.

Lily legte die überzähligen Bücher auf den großen runden Tisch in der Diele, auf dem eine Kristallvase mit Blumen stand, und reichte Mrs. Parker ihren Ranzen. Sie war beeindruckt, als diese die schwere Tasche entgegennahm, ohne mit der Wimper zu zucken.

Während Lily mit einer Hand über das polierte Geländer fuhr, gab sie sich größte Mühe, die Treppe hinaufzuschweben, wie Grandmama sie schon so oft angewiesen hatte.

»Eine Lady bewegt sich nicht durch Kraft, Lillian«, hatte ihre Großmutter gesagt, während diese sie auf einem Stuhl sitzend beobachtet hatte, den Mrs. Parker extra für diesen Zweck an den Fuß der Treppe gestellt hatte.

Lily erinnerte sich noch an die Frustration, die in ihr aufgestiegen war wie Wasser, während sie wieder und wieder die Treppe hinauf- und wieder hinunter»schwebte«.

»Das muss dann wahrscheinlich reichen«, hatte Grandmama schließlich gemeint und ihr damit deutlich zu verstehen gegeben, dass sie nie gut genug war.

Auf dem oberen Treppenabsatz wandte Lily sich nach rechts, klopfte leise an die Tür des Salons und wartete.

»Herein«, erklang Grandmamas volle, gemessene Stimme.

Lily drehte den Messingknauf, um die schwere Tür aufzuschieben, und … erstarrte.

Alles im Raum war so, wie es sein sollte. Grandmamas schneeweißes Haar war zu dem ordentlichen Knoten frisiert, den sie immer trug, und ihr smaragdgrünes Kleid, dessen lange, schmal geschnittene Ärmel sich zu ihren Handgelenken hin verengten, wies keine einzige Knitterfalte auf. Wie immer stand neben ihr ein silbernes Teetablett bereit. Die Porzellantassen waren mit blassrosafarbenen Rosen gemustert, die mit türkisfarbenen Schleifen akzentuiert waren, und die gewellten Ränder waren vergoldet. Doch statt nur eines Stuhls, der auf Grandmama ausgerichtet war, standen da zwei.

»Mummy?«, fragte Lily. Dies war der dienstägliche Tee, nicht das Abendessen am Freitag. Zum Tee begleitete ihre Mutter sie nie.

Mummy schenkte ihr ein schwaches Lächeln, doch Lily sah, dass ihre Hände in ihrem Schoß zitterten.

»Guten Tag, Lillian. Deine Mutter leistet uns heute Gesellschaft«, erklärte Grandmama. »Bitte setz dich.«

Mit vorsichtigen Schritten ging Lily quer durch den Raum zu ihrem Stuhl und ließ sich darauf nieder, wie man es sie gelehrt hatte. Die Knöchel überkreuzt und die Beine zur Seite geneigt. Hände im Schoß. Nach einem langen Tag in der Schule kostete es sie jeden Funken Disziplin, den sie besaß, um nicht erschöpft zusammenzusinken.

»Deine Mutter ist gekommen, weil etwas passiert ist«, fuhr Grandmama fort, während sie das silberne Teesieb auf eine der Porzellantassen legte und die erste Tasse Tee einschenkte.

»Ist Joanna etwas zugestoßen?«, fragte Lily, bevor sie sich Einhalt gebieten konnte.

Mummy erstarrte, und die feinen Linien auf Grandmamas Stirn vertieften sich.

»Wir sprechen in diesem Haus nicht von dieser Person«, rief Grandmama ihr ins Gedächtnis.

Mummy knetete ihre Hände, und Lily errötete schuldbewusst. Eigentlich wusste sie, dass sie nicht nach ihrer älteren Schwester fragen durfte.

»Es tut mir leid«, sagte sie, hauptsächlich an ihre Mutter gerichtet. »Bitte erzählt mir, was passiert ist.«

»Zeig es ihr, Josephine«, sagte Grandmama und nickte ihrer Schwiegertochter knapp zu.

Mummy griff nach ihrer Handtasche, die auf dem Tisch neben ihr lag, und zog einen cremefarbenen Umschlag hervor. Sie machte Anstalten, ihn zu öffnen, doch Grandmama schaltete sich ein. »Lillian soll es selbst lesen.«

Lily nahm den Umschlag entgegen und las die Adresse.

Mrs. Michael Nicholls

17 Harley Gardens

London

SW10

Sie fuhr mit den Fingern in den Schlitz, den Mummys Brieföffner hinterlassen hatte, und zog die Karte hervor.

Dann riss sie die Augen auf.

»Lies es laut vor«, verlangte Grandmama. Ein zufriedener Ausdruck umspielte ihre Mundwinkel.

Sie schluckte und begann zu lesen. »Auf Anweisung Ihrer Majestät fordert der Lord Chamberlain Mrs. Michael Nicholls und Miss Lillian Nicholls auf, am Mittwoch, dem 19. März, von 15:30 Uhr bis 17:30 Uhr zur Vorstellung bei Hofe im Buckingham-Palast zu erscheinen.«

Mummy lehnte sich auf ihrem Platz nach vorn. »Du wirst bei Hofe vorgestellt, Lily.«

Lily hatte das Gefühl, ihr würde die Luft aus den Lungen gepresst. »Vorgestellt?«

»Genau wie deine Mutter und ich, ebenso wie alle Frauen aus der Familie deines Vaters«, erklärte Grandmama.

»Und auch deine Tante Angelica«, fügte Mummy hinzu, in deren zittrigem Lächeln unvergossene Tränen schimmerten.

»Du wirst Debütantin, Lillian«, sagte Grandmama. »Eine der letzten.«

»Die Queen hat entschieden, dass die Vorstellung bei Hofe 1958 zum letzten Mal stattfindet«, erklärte Mummy.

»Das Ende einer jahrhundertealten Tradition«, meinte Grandmama in leicht pikiertem Ton. Lily hatte noch nie gehört, dass sie je auch nur mit einem Hauch von Missfallen über die Queen gesprochen hatte.

Sie schüttelte den Kopf. »Ich weiß, dass die letzten Vorstellungen bei Hofe nächstes Jahr stattfinden sollen. Einige Mädchen an der Schule reden von nichts anderem. Aber ich? Debütantin?«

»Es steht dir aufgrund deiner Abstammung zu. Die Frauen der Nicholls’ debütieren«, erklärte Grandmama.

»Und die Frauen der Butes«, erinnerte Mummy ihre Schwiegermutter. »Angelica hat angerufen und gesagt, dass Georgina heute auch ihre Einladung erhalten hat. Ihr werdet beide bei Hofe vorgestellt, und ihr absolviert beide die Ballsaison.«

Wenigstens würde ihre Cousine an ihrer Seite sein, doch sie zögerte immer noch. Sie hatte nicht damit gerechnet, Debütantin zu werden, denn alles von der Feier nach der Vorstellung bei Hofe bis zur Ballsaison erforderte die Unterstützung einer wohlwollenden Familie.

»Wer soll mich vorstellen?«, fragte sie.

Mummy schluckte, richtete sich aber ein paar Millimeter gerader auf, sodass die schwarze Seide ihres besten Tageskleids leise raschelte. »Ich. Du bist meine Tochter. So gehört es sich.«

Ein Mädchen konnte der Queen nur von einer Frau präsentiert werden, die selbst bei Hofe eingeführt worden war, aber Lily konnte sich nicht vorstellen, wie Mummy mit all den anderen Müttern und Debütantinnen in der Schlange vor dem Palast stehen würde. Schließlich war der Kreis, mit dem sie bereit war, sich zu umgeben, sehr klein.

»Deine Mutter ist meiner Meinung, dass es Zeit ist, wieder in die Gesellschaft zurückzukehren«, erklärte Grandmama, die Lilys Gedanken zu lesen schien. »Michaels Tod ist lange genug her.«

Die Knöchel an Mummys Händen traten weiß hervor, als sie Lilys verstorbenen Vater erwähnte. Seit achtzehn Jahren führte Mummy praktisch ein Einsiedlerleben. Genauso lange hatte sie außerhalb ihres Schlafzimmers keine Farben mehr getragen. Lily kannte ihre Mutter nur so, wie sie jetzt war.

»Sie hat die Blüte ihrer Jugend eingebüßt, als sie aus Amerika zurückkam und Michael sie nicht am Hafen abholen konnte. Ich weiß, dass sie am stärksten bereut, nicht bei ihm gewesen zu sein, als er starb«, hatte Tante Angelica einmal gesagt. »Natürlich trägst du nicht die geringste Schuld an alldem, Liebes«, hatte sie dann hastig hinzugesetzt. »Deine Schwester selbstverständlich auch nicht. Wer hätte ahnen können, dass Joanna und Michael gleichzeitig krank werden würden?«

Aber Lily konnte sich noch an ihr ungutes Gefühl erinnern, als ihr klar geworden war, dass Joannas Krankheit Mummy nach Amerika geführt hatte, aber die neugeborene Lily diejenige gewesen war, die sie an der Rückreise gehindert hatte.

»Deine Mutter wird dich durch die Ballsaison begleiten, und ich werde dich selbstverständlich beraten und bei einigen der wichtigeren Gesellschaften unterstützen«, erklärte Grandmama, sodass Lilys Gedanken wieder in den Salon, zum Tee und zu der Einladung zurückkehrten. »Hast du noch Fragen?«

Lily blickte zwischen Grandmama und Mummy hin und her. »Muss ich denn debütieren?«

Grandmamas Teetasse klapperte auf ihrem Unterteller. »Muss? Weißt du, wie viele tausend Mädchen sich beim Palast um eine Einladung beworben haben? Ich habe dem Lord Chamberlain persönlich geschrieben, um dir einen Platz zu sichern.«

»Lily wollte bestimmt nicht undankbar klingen«, wandte Mummy ein und sah Lily besorgt an.

Grandmama fixierte Lily mit hartem Blick. »Das hoffe ich, vor allem, da ich die Kosten für deine Ballsaison übernehme.«

Grauen schnürte Lily den Hals zu.

Nicht noch mehr finanzielle Zuwendungen.

Sie wusste, sie sollte Grandmama dankbar sein, denn ohne sie hätten Mummy und sie das Haus in Harley Gardens nicht und sie hätten es sich nicht leisten können, dass Lily auf Mrs. Wodelys Schule ging. Sie hätten kein Geld für Schuhe und Handtaschen – auch wenn ihre Haushälterin Hannah sie schon vor langer Zeit gelehrt hatte, Stoff nach Schnittmustern zuzuschneiden und eine Nähmaschine einzufädeln.

Lily konnte sich noch an die Zeit erinnern, bevor Grandmama als Retterin in ihr Leben getreten war. Mummy hatte versucht, es zu verbergen, aber schon mit zwölf war Lily klar gewesen, dass ihre Mutter verzweifelt war. Eines Sonntagnachmittags hatte Mummy dann ihr bestes Kleid angezogen und Lily bei Hannah gelassen, um erst einige Stunden später zurückzukehren. Mummy hatte sie in ihr selten genutztes Wohnzimmer gerufen und ihr erklärt, dass sie eine neue Schule besuchen würde – eine, die ihre Grandmama ausgesucht hatte.

Bald hatten sie mehr Geld für Kleinigkeiten wie neue Hüte und Handschuhe für alle Jahreszeiten besessen, und Hannah zündete die Kohlenfeuer sowohl im Morgensalon als auch im Wohnzimmer morgens und abends an – eine Extravaganz, die vorher nicht geduldet worden wäre. Doch auch anderes veränderte sich. Jeden Dienstag nach der Schule ging Lily zum Tee zu Grandmama, und jeden Freitagabend gesellte sich Mummy anschließend zum Abendessen zu ihnen. Mummy hatte versucht, es spaßig klingen zu lassen, wie ein Abenteuer, aber Lily hatte die Anspannung in ihrer Stimme wahrgenommen und Bescheid gewusst. All diese Großzügigkeit hatte ihren Preis.

»Entschuldigung. Ich bin sehr dankbar dafür, an der Ballsaison teilnehmen zu dürfen, Grandmama«, murmelte sie.

»Gut. Josephine, als Erstes musst du morgen bei Worth einen Termin wegen ihres Kleids für die Einführung bei Hofe machen. Lily ist ziemlich groß, aber sie lassen sich bestimmt etwas Schmeichelhaftes einfallen«, wies Grandmama sie an.

Mummy nickte, obwohl Lily bei dem Gedanken daran, was ein Kleid aus dem legendären Modehaus kosten würde, fast der Mund aufklappte.

»Ich kann mir bestimmt selbst eins nähen«, sagte sie.

»Deine Kleider für dein Debüt selbst nähen? Hat man so etwas je gehört?«, spottete Grandmama. »Wir müssen auch über dein Ensemble für deine Vorstellung nachdenken, Lillian. Ein Jammer, dass bei Hofe keine Schleppen und Federn mehr getragen werden. Tageskleider und Hüte wirken im Vergleich so schäbig.

Und dann dein Kleid für den Queen-Charlotte-Ball. Das muss selbstverständlich weiß sein. Und du brauchst mindestens drei andere Abendkleider und eine Handvoll Cocktailkleider. Oh, was für ein Umstand.«

Lily schwirrte inzwischen der Kopf.

»Ich dachte, wir könnten Mrs. Mincel ein paar der einfacheren Kleider anfertigen lassen«, sagte Mummy. Sie sprach von ihrer eigenen Schneiderin. »Und Harrods ist auch noch da.«

Grandmama schürzte die Lippen und dachte zweifellos an die glanzvolleren Zeiten, in denen sie bei Hofe vorgestellt worden war. Damals wäre eine Debütantin nicht im Traum auf die Idee gekommen, sich auf einem Ball in einem Kleid aus dem Kaufhaus sehen zu lassen, auch nicht aus einem so noblen wie Harrods.

»Angelica meint, dass heutzutage alle Debütantinnen zu Harrods gehen«, fügte Mummy hinzu.

Grandmama neigte das Kinn und gab sich wortlos geschlagen.

»Wir müssen etwas aus deinem Haar machen, Lillian«, sagte sie.

»Ich kann mit ihr zu Mr. Antoine gehen«, schlug Mummy vor.

Lily berührte ihr schulterlanges Haar. Die Vorstellung, es dem Friseur ihrer Mutter anzuvertrauen, entsetzte sie, denn der schien spezialisiert darauf zu sein, die kleinen Löckchen hervorzubringen, die die Köpfe so vieler Mütter ihrer Schulkameradinnen schmückten.

»Sie wird zu Mr. Gerard gehen. Er hat einen außergewöhnlichen Blick für Eleganz, und ich bin seit Jahren bei ihm«, erklärte Grandmama, deren Ton verriet, was genau sie von Mr. Antoines Fertigkeiten hielt.

»Anlässlich von Lilys Debüt hatte ich an eine Cocktailparty gedacht, die wir für sie und Georgina geben. Das ist für zweihundert Pfund zu bewältigen«, sagte Mummy.

»Sie sollte einen Ball haben«, meinte Grandmama.

»Oh nein«, widersprach Lily schnell und zog damit die Aufmerksamkeit beider Generationen auf sich. »Das heißt, ich möchte viel lieber eine Cocktailparty mit Georgie. Abgesehen von meinen Schulfreundinnen kenne ich nicht viele Mädchen.«

Angesichts ihrer Bedrängnis wurden Grandmamas Züge weicher. »Wenn du dir das wünschst, wäre auch eine Cocktailparty an einem angemessenen Ort passend. Vielleicht im Dorchester oder im Hyde Park Hotel. Und ich habe nichts dagegen, wenn du zusammen mit deiner Cousine feierst. Georgina ist ein anständiges Mädchen.«

Das wäre wenigstens eine Erleichterung. Der Gedanke an eine ganze Party nur für sie wirkte einschüchternd. Manche Mädchen hätten die Aufmerksamkeit genossen, aber Lily hatte bis jetzt noch nicht einmal eine Geburtstagsfeier gehabt.

»Die nächsten paar Monate sind entscheidend, und wir werden alle unseren Beitrag leisten müssen. Ich schreibe meinen Freundinnen und sichere uns so viele Einladungen, wie ich kann. Während Lily in Paris ist, wirst du, Josephine, die Lunches der Mütter besuchen und das Gleiche tun.«

Wie konnte man von ihrer zurückgezogenen Mutter verlangen, sich wieder in die Gesellschaft zu stürzen? Und außerdem …

»Paris?«, fragte sie. Der Name der Stadt war gerade erst zu ihr durchgedrungen.

Grandmama neigte den Kopf leicht zur Seite. »Ja. Paris. Deine Erziehung muss abgeschlossen werden.«

»Aber ich gehe in die Schule«, sagte sie.

»Ich glaube, wir sind uns einig darüber, dass Mrs. Wodelys Institut seinen Zweck erfüllt hat«, meinte Grandmama.

»Was kannst du dort noch wirklich lernen, Lily?«, fragte Mummy. In ihrem Ton schwang die vorsichtige Bitte mit, sich Grandmamas wankelmütige Gunst nicht zu verscherzen.

»Nimm das ernst, Lillian. Das hier …«, Grandmama wies auf die Einladung, die Lily auf den Tisch gelegt hatte, »ist wichtig. Deine Erziehung ist ziemlich rudimentär, und du stehst die Ballsaison unmöglich durch, ohne ein Pensionat besucht zu haben.«

Lily presste sich die Hand auf die Brust, um ihren schnellen Herzschlag zu beruhigen. Es fühlte sich wichtig an, das Schuljahr abzuschließen. Behaupten zu können, dass sie bis zum Schluss durchgehalten hatte. Dass sie etwas ganz allein geschafft hatte.

»Du musst eine erfolgreiche Vorstellung bei Hofe und eine glänzende Ballsaison absolvieren, und du hast nur eine Aussicht darauf, wenn du vorbereitet bist«, erklärte Grandmama.

»Ich dachte, dazu würden die Lektionen dienen, die du mir jeden Dienstag erteilst«, sagte Lily.

»Deine Manieren sind passabel, aber das reicht nicht. Sie müssen makellos sein. Jedes Mädchen bräuchte ein Pensionat und Unterricht, aber für dich gilt das erst recht. Du hast das Pech, dass du durch deine Familie vorbelastet bist.«

Ihre Familie. Ihre Mutter, die in so tiefe Trauer gestürzt war, dass sie seit achtzehn Jahren nicht wieder herausgefunden hatte. Ihre entfremdete Schwester, ein ungebärdiges Mädchen, das nach Amerika geschickt worden war und bei ihrer Rückkehr nach Großbritannien nach dem Krieg ihre Familie ohne ein Wort hinter sich gelassen hatte.

»Du musst in dieser Ballsaison perfekt sein«, sagte Grandmama. »Das ist deine einzige Chance, allen zu beweisen, dass du nicht deine Schwester bist. Deine einzige Chance, die richtige Art von Mann zu umgarnen, sonst bleiben dir nur noch wenige Möglichkeiten, einen Ehemann zu finden.«

»Einen Ehemann?«, flüsterte sie und verspürte ein merkwürdiges neues Mitgefühl für die Heldinnen aller Romane aus dem neunzehnten Jahrhundert, die sie je gelesen hatte.

»Oder einen netten Freund. Das wäre doch schön, oder?« Mummy schenkte ihr ein leises Lächeln.

»So ist das bei den Frauen unserer Klasse, Lillian. Dieses nächste Jahr wird über den Rest deines Lebens entscheiden«, erklärte Grandmama.

Lily biss sich auf die Unterlippe und nickte. Innerhalb eines Nachmittags hatte sich ihre Welt vollkommen verändert. Sie ließ Grandmama über Tanz- und Hofknickslektionen bei Madame Vacani reden, das Pensionat in Paris, Debütantinnentees und darüber, wann sie die anderen Mädchen kennenlernen sollte, mit denen sie debütieren würde. Anproben und Fototermine standen an – nichts Ordinäres natürlich, nur ein paar Aufnahmen, die im März im Sketch erscheinen konnten, wenn alle Debütantinnen darum wetteifern würden, dass ihre Fotos ausgewählt und dafür sorgen würden, die erste Runde von Einladungen zu Cocktailpartys und Bällen in Gang zu bringen.

Als Grandmama sie entließ, schwirrte Lily der Kopf von all den Anweisungen.

Da Mummy sie begleitete, hatte Mrs. Parker ihnen ein Taxi gerufen, damit sie nach Hause, nach Chelsea, fahren konnten, statt den Bus zu nehmen, wie Lily es normalerweise tat. Sie passierten gerade den Sloane Square, als Mummy Lilys Hand nahm. Das weiche Leder ihrer Handschuhe fühlte sich tröstlich auf Lilys Haut an.

»Ich weiß, du musst dich überwältigt fühlen bei der Aussicht, Debütantin zu werden«, sagte Mummy, »aber du tust es doch, oder? Es würde mich so glücklich machen.«

Falls Lily noch Zweifel daran gehegt hätte, ob sie das ganze nächste Jahr auf ihr Debüt verwenden sollte, dann ließ dieser eine Satz sie in den Hintergrund treten. Sie konnte Mummy nichts abschlagen – nicht, nachdem sie beide so lange nur zu zweit gewesen waren. Nicht, wenn Mummy entschlossen schien, sich zum ersten Mal seit Jahren aus dem Haus zu wagen.

»Womit fangen wir an?«, fragte Lily.

1. Teil

Vorstellung bei Hofe

»Der Stolz der Familie«

In jeder Ballsaison kommt eine Zeit, in der die ersten Gesellschaften hinter uns liegen und wir unsere Einschätzung überdenken müssen. Manche Debütantinnen, die in den Tagen vor ihrer Vorstellung bei Hofe so vielversprechend erschienen, haben ihren Glanz bereits eingebüßt, während andere uns überraschen wie eine Knospe, die zunächst kämpfen muss, aber dann zu einer prächtigen Blüte aufbricht. Jetzt treten diese Mädchen in die erste Reihe und beweisen, was das Außerordentliche der Ballsaison ist: Jede Debütantin kann brillieren, wenn sie nur Stärke und Glück auf ihrer Seite hat. Sie kann der Stolz ihrer Familie werden und zeigen, dass sie all die Eleganz, Haltung und Grazie besitzt, die eine erfolgreiche Debütantin braucht.

1. Kapitel

19. März 1958

Vier Monate später

Lily trat von einem Fuß auf den anderen und versuchte, den harten Druck zu lindern, den die neuen Lederschuhe auf ihre Fersen ausübten. Sie reckte den Hals, kniff die Augen zusammen und sah an der langen Schlange aus gebauschten Seidenröcken entlang, die sich vor ihr erstreckte.

»Nicht zappeln«, murmelte Mummy und versetzte ihr einen kaum wahrnehmbaren Schubs.

Automatisch richtete sie sich auf, denn die monatelange Vorbereitung in Paris und London übernahm wie von selbst die Führung. »Wir sind fast am vorderen Ende der Schlange.«

»Oh, dieser Wind!« Mummy hielt sich den schwarzen, mit einem Schleier verzierten Filzhut, der auf ihrem elegant ergrauten Haar thronte. Im selben Moment brachen die Frauen, die an dem schmiedeeisernen Zaun des Buckingham Palace standen, in einen Chor von Ausrufen und Gekicher aus.

Lily sah, wie ein halbes Dutzend Mädchen vor ihr eine Bö einen mit Blüten besetzten Hut vom Kopf einer Debütantin riss und die Buckingham Gate entlangrollen ließ. Sie fühlte mit ihr und hielt ihren eigenen Haarschmuck fest – einen weißen Seidenreifen mit zwei cremefarbenen Federn, die aufwärts geschwungen waren und sich über ihrem Scheitel trafen. Er war ein vernünftiger Kauf gewesen, denn er passte farblich zu jedem Tageskleid in Lilys Garderobe, nicht nur zu dem hellrosafarbenen Kleid aus Moiré-Seide, das sie für die Vorstellung trug.

»Zerdrück dein Haar nicht«, tadelte ihre Mutter sie und warf einen Blick auf die weichen Wellen, die Mr. Gerard den ganzen Vormittag lang geformt hatte. »Und vergiss nicht, wenn du den Ballsaal betrittst, setzt du dich, bis du aufgerufen wirst. Dann musst du –«

»Dem Lord Chamberlain die cremefarbene Karte zeigen, auf der Zur Vorstellung steht. Ich weiß, Mummy.«

»Erinnerst du dich auch an alles, was Madame Vacani dich gelehrt hat?«

Wie hätte sie das vergessen können? Die stundenlangen Lektionen darin, einen richtigen Hofknicks zu vollführen, die sie an Vacanis Tanzakademie in Knightsbridge erhalten hatte, hatten sich ihr fürs Leben eingeprägt.

Brust heraus. Nach unten schweben. Langsam, langsam. Den Blick zu Boden. Und aufstehen. Und um Himmels willen, sehen Sie die Queen nicht an.

Die Schlange vor ihnen rückte wieder vor, sodass der Eingang zum Palast in Sicht kam. Mummy umklammerte Lilys Handgelenk. »Vergiss nicht, das ist wichtig, Lily. Für deine Großmutter und mich.«

In den letzten Monaten hatte sie nichts anderes gehört. Alles hinge davon ab, dass ihre Ballsaison ein Erfolg wurde. Und jedes Mal hatte sie schweigend dagesessen, die Fäuste an den Seiten geballt und sich davon abgehalten zu schreien.

»Wenn nur eine Einzelheit schiefgeht – wenn du schwankst oder einen falschen Schritt setzt –, wird sich das herumsprechen, und niemand wird es je vergessen«, warnte Mummy sie.

Lily reckte das Kinn und versuchte, die Mischung aus Nervosität, Aufregung und Erschöpfung zu verdrängen. Sie wusste, dass es wichtig war.

Erst gestern hatte Grandmama in einer seltenen, beinahe liebevollen Geste ihre Hand genommen. »Du bist nicht Joanna«, hatte sie gesagt, »aber du wirst die Last ihrer Fehler mit dir herumtragen. Bei deiner Vorstellung hast du genau eine Chance. Von einem perfekt ausgeführten Hofknicks hängt nicht nur dein Stolz ab.«

»Ich werde es schon nicht vergessen, Mummy.« Lily berührte den Unterarm ihrer Mutter und stellte fest, dass sie zitterte. »Ist alles okay?«

»Sag nicht ›okay‹. Du klingst wie ein Schauspieler aus einem Western«, sagte Mummy. Ihr Blick huschte über die Menge wie der eines Tieres, das in der Falle saß und auf Flucht sann.

»Geht’s dir gut?«, verbesserte Lily sich.

Ihre Mutter weigerte sich, sie anzusehen. »Mir geht es ausgezeichnet.«

Am liebsten hätte Lily weiter nachgehakt, aber sie hatten endlich das Tor zum Palast durchschritten. Bedienstete dirigierten den Strom von Frauen durch die Türen und trennten dabei höflich die Debütantinnen von ihren Begleiterinnen. Jede Debütantin musste diesen Spießrutenlauf allein durchstehen.

»Denk daran, dass du Fenella Melcrew und Claudia Lessing grüßen musst. Es war nett von ihnen, dich zu ihrem Lunch einzuladen, damit du einige der anderen Mädchen kennenlernen kannst«, sagte Mummy.

»Ich vergesse es nicht«, versprach sie.

Mummy warf ihr einen letzten, taxierenden Blick zu, der in ein leises Lächeln überging. »Du siehst wunderschön aus. Wir treffen uns dann nachher beim Empfang.«

Lily schaute ihrer Mutter nach – unverkennbar in ihrem Witwenschwarz und mit den langen weißen Handschuhen, die ein Tribut an ihre höfische Umgebung waren –, bis sie in dem Strom der Anstandsdamen unterging, die in den Speisesaal geführt wurden. Dort würde sie warten und zusammen mit all den anderen Müttern, Tanten und Großmüttern, die selbst als Mädchen bei Hofe vorgestellt worden waren, dem Streichorchester der Irish Guards lauschen. Auch eine oder zwei professionelle Anstandsdamen würden dort sein – Frauen, deren untadeliger Ruf darauf gründete, dass sie selbst Debütantinnen gewesen waren. Man konnte sich ihrer Dienste zu einem hohen Preis versichern, um Mädchen vorzustellen, deren Familien der nötige Hintergrund fehlte, um eine solche Einladung zu erlangen. Neu erworbener Reichtum und ein neu erworbener Status – diese Mädchen und ihre Familie gaben sich die größte Mühe, Zugang zu dem exklusiven Zirkel zu finden, in dem Frauen wie Mummy und Grandmama aufgewachsen waren, bevor sie ihren eigentlichen Lebenszweck erfüllt hatten.

Für Mummy hatte das bedeutet, Lieutenant Michael Nicholls zu heiraten und zuerst Joanna und dann, später im Leben, Lily zur Welt zu bringen. Jetzt stand Lily vor der gleichen Aufgabe, die schon für ihre Mutter den Eintritt in die Gesellschaft bezeichnet hatte. Sie ließ sich von dem stetigen Strom aufgeregt schnatternder Debütantinnen mitreißen, die auf dem Weg in den Ballsaal waren.

Unterwegs nickte sie ein paar Frauen zu, die sie aus Mrs. Wodelys Mädchenschule und aus Madame Corbins Pariser Pensionat kannte, und schaute sich dabei in dem prächtigen Ballsaal um. Die in Elfenbeinfarben und Gold gehaltenen Wände funkelten im Licht der riesigen, tropfenförmigen Kronleuchter. Vergoldete Stühle, die mit militärischer Präzision ausgerichtet waren und von denen die Hälfte bereits besetzt waren, füllten den Raum. Ein Bediensteter führte sie zu einer Reihe in der Mitte. Lily achtete darauf, dass ihre weiten, wadenlangen, zartrosa Röcke nicht in einem verirrten Nagel oder einem unglücklich platzierten Absatz hängenblieben, schob sich durch die Reihe und setzte sich neben ein brünettes Mädchen. Ihre neue Sitznachbarin zitterte so heftig, dass die beiden Vorstellungskarten in ihrer Hand gegeneinanderschlugen.

Lily lächelte ihr zu und gab sich die größte Mühe, beruhigend und freundlich zu wirken. »Hallo.«

Die Brünette sah mit weit aufgerissenen Augen auf, und Lily fühlte sich unwillkürlich an Bambi erinnert. Fast sofort schaute das Mädchen wieder auf seine Hände hinunter.

Leise seufzend strich Lily ihre Röcke glatt, damit sie nicht knitterten. Die Ironie war natürlich, dass das Mädchen neben ihr wahrscheinlich das ganze Leben lang davon ausgegangen war, Debütantin zu werden.

Lily hätte wissen sollen, dass es von ihr erwartet werden würde, aber sie hatte nie wirklich gedacht, dass Mummy in der Lage wäre, sie vorzustellen. Ab und zu hatte sie Geschichten über die Frau gehört, die ihre Mutter vor dem Krieg gewesen war – eine charmante Gastgeberin, die elegante, aber sittsame Gesellschaften gab, lebhaft Foxtrott tanzte und, wenn sie dazu aufgefordert wurde, im Duett singen konnte. Diese Version von Josephine Nicholls klang so selbstbewusst und nach dem kompletten Gegenteil der betrübten, ängstlichen Frau, die am liebsten zu Hause blieb und nie etwas anderes als Schwarz trug.

Wie merkwürdig sich Mummy verhielt, war Lily erst klar geworden, als sie mit elf auf der Geburtstagsparty einer ihrer Schulkameradinnen zufällig das Gespräch einer Gruppe Mädchen mitangehört hatte. Es war eine Gartenparty gewesen, und der heiße Sonnenschein hatte Lilys Glieder schwer werden lassen. Sie hatte eine ruhige Stelle auf einer Bank gefunden, die halb in der Hecke stand, und ließ den Kopf in den Nacken sinken, als das Gelächter des Geburtstagskinds und zweier anderer Mädchen zu ihr drang.

»Ich kann nicht glauben, dass sie gekommen ist«, sagte eins der Mädchen.

»Mummy hat mich gezwungen, sie einzuladen. Sie hat erklärt, sie wäre vor dem Krieg mit Lilys Mutter befreundet gewesen«, entgegnete das Geburtstagskind. »Mummy sagt, Mrs. Nicholls verlässt das Haus nicht mehr und dass die Leute sie ›Old Vic‹ nennen, wie Queen Victoria.«

Die anderen Mädchen hatten sich vor Lachen ausgeschüttet, und Lily war auf der Bank vor Scham zusammengesunken.

»Gott, die lassen aber auch jeden rein, oder?«

Lily wandte sich der Besitzerin der weichen, selbstbewussten Stimme zu. Auf dem Stuhl zu ihrer Linken saß jetzt ein wunderschönes Mädchen mit rabenschwarzem Haar, dessen perfekte Locken unter einem kleinen, schicken Hut hervorquollen. Das blasse Gelb des Kopfschmucks ergänzte die kunstvollen gelben Sprenkel am Saum und am Ausschnitt des pistaziengrünen Kleids der Debütantin. Ihre hohen Wangenknochen liefen auf volle rote Lippen und ein spitzes Kinn zu. Aus ihren grünen Augen ließ sie den Blick durch den Raum schweifen, registrierte blitzschnell alle und alles, um es dann sofort abzutun.

»Hallo«, sagte Lily, die nach ihrem Misserfolg bei dem nervösen Mädchen zu ihrer Rechten vorsichtig geworden war.

Die Schönheit mit den auffälligen Zügen, die neben ihr saß, hielt inne und kniff die Augen zusammen, als überlegte sie, ob Lily ihre Ansprüche erfüllte. »Hallo«, erwiderte sie schließlich. »Ich bin Leana Hartford.«

Lilys Lippen zuckten. Sie hätte Leana Hartford eigentlich aus den Ausgaben des Tatler und des Sketch wiedererkennen sollen. Seit ihrer Rückkehr aus Paris hatte Grandmama darauf bestanden, dass sie diese studierte – Klatschpostillen statt Schulbücher. Erst vor zwei Wochen hatten die Gesellschaftsreporter erklärt, Leana sei eins der beiden Mädchen, die Aussicht darauf hätten, Debütantin des Jahres zu werden. Die andere war eine zierliche Blondine namens Juliet Milner, die Lily noch nicht kennengelernt hatte. Letzten Donnerstag hatte eine der Zeitschriften einen ausführlichen Artikel über Leanas Garderobe für die Ballsaison gebracht, die vom Hofausstatter der Queen, Norman Hartnell, entworfen worden war.

»Sehr angenehm. Ich bin Lily Nicholls«, sagte sie.

Lachend nahm Leana die Hand, die sie ihr hinstreckte. »Die Tochter von Old Vic?«

Lily zog ihre Hand zurück. »Wenige Menschen sind so gedankenlos, meine Mutter in meiner Anwesenheit so zu bezeichnen.«

Leana riss die Augen auf, und Lily dachte schon, sie sei vielleicht beleidigt, doch Leana tat etwas vollkommen Unerwartetes. Sie lächelte. »Das war nicht nett von mir, oder? Ich sage die gedankenlosesten Dinge. Du musst mir verzeihen.«

Dieses Mal war es an Lily, erstaunt zu sein. Das war keine richtige Entschuldigung gewesen, aber zerknirscht klang Leana auf jeden Fall.

»Ein paar der Kleider hier sind einfach schockierend, findest du nicht auch?«, fuhr Leana fort und musterte die anderen Debütantinnen.

»Schockierend?«

Leana wedelte mit einer behandschuhten Hand. »Wir können doch wohl alle Besseres aufbieten als eine zweitklassige Schneiderin.«

»Ich finde die meisten Kleider ziemlich hübsch«, meinte Lily.

Leana warf ihr einen scharfen Blick zu. »Welche denn? Ich wette, du kannst außer unseren keine anderen nennen.«

Lily reckte den Hals und entdeckte Philippa Groves, mit der sie zur Schule gegangen war. »Dort. Schau dir Philippas geblümtes Kleid an.«

Leana drehte sich zu Philippa um, die gerade mit einem Mädchen namens Ivy, das auch in Paris bei Madame Corbin gewesen war, und ein paar anderen, die Lily entfernt bekannt waren, lachte. Als Philippa aufsah und Lilys Blick auffing, hob sie die Hand und winkte mühelos elegant. Lily erwiderte den Gruß und kam sich viel ungelenker vor als die kultivierte Philippa.

»Du kennst sie?«, fragte Leana.

»Wir haben an der Schule um dieselben Preise in Englisch konkurriert.«

»Sie ist sehr hübsch«, meinte Leana im Ton eines Pferdetrainers, der vor einem Rennen die Konkurrenz begutachtete.

»Ja. Und ihr Kleid ist ganz bestimmt von Troubadour.« Das wusste sie, weil Mummy und sie Philippa und deren Mutter begegnet waren, als Letztere den Laden in der Nähe des Hotels Claridge’s betreten hatten.

»Aber was ist mit den vielen Mädchen, die bei Harrods einkaufen mussten? Denk nur an das Risiko, bei der Vorstellung im gleichen Kleid wie ein anderes Mädchen aufzutauchen.« Leana erschauderte.

»Nicht jede kann sich eine Garderobe von einem Couturier leisten«, erklärte Lily betont.

Leanas vorgetäuschtes Grauen wich Gelächter. »Glaubst du mir jetzt? Ich kann manchmal ein richtiges Biest sein. Mein Bruder Geoffrey behauptet, das liege daran, dass ich verwöhnt bin, aber ich kriege so selten, was ich will, dass das nicht stimmen kann.«

Irgendwie bezweifelte Lily das stark.

»Wen kennst du sonst noch?«, erkundigte sich Leana.

Lily ließ den Blick über die Menge schweifen. »Drei Reihen vor uns stecken zwei Mädchen die Köpfe zusammen, Claudia und Mary. Wir haben alle Mrs. Wodelys Mädchenschule besucht. Und …«, sie kniff die Augen zusammen, »ist das in derselben Reihe, ein paar Plätze entfernt von den beiden, nicht Katherine Norman?«

»Die Tochter des Zeitungsmagnaten?«, fragte Leana mit einer kaum wahrnehmbaren Spur Spott gegenüber dem dunkelblonden Mädchen.

»Ja, stimmt. Sie war in der Schule zwei Klassen über mir, aber wir hatten bei der Schulaufführung miteinander zu tun. Es war eine grauenhafte Produktion von Was ihr wollt, bei der alle Rollen von Mädchen gespielt wurden, aber sie hat eine tolle Darstellung der Olivia gegeben. Ich habe die Kostüme genäht.«

Aus ihren kurzen Plaudereien beim Tee in den Probenpausen erinnerte sie sich, dass Katherine warmherzig und freundlich gewesen war. Ihr hatte es nichts ausgemacht, mit den jüngeren Mädchen zu reden. Aber andererseits war sie auch die Art Mädchen, über das die anderen unablässig klatschten, weil sie von einem Chauffeur in einem Rolls-Royce zur Schule gebracht und abgeholt wurde – an besonders kalten Tagen mit einer Pelzdecke auf dem Schoß.

»Ich habe von ihr gelesen«, sagte Leana. »Sie hat sich geweigert, sich bei Hofe vorzustellen, bis schließlich der Lord Chamberlain angekündigt hat, dass dieses Jahr die letzten Präsentationen stattfinden würden. Allerdings hätte sie lieber zu Hause bleiben sollen.«

Lily runzelte die Stirn. »Warum sagst du das?«

»Sieh dir doch bloß ihre Eltern an. Sie haben getan, was sie konnten, um sich in die gute Gesellschaft einzukaufen, und Mrs. Kingsley als Anstandsdame angeheuert. Und der Ball, den sie auf ihrem abscheulichen Anwesen für sie planen … Klingt, als würde das eine Farce werden.«

»Und trotzdem können anscheinend alle nur davon reden, ob sie wohl eingeladen werden«, meinte Lily.

Leana wedelte wegwerfend mit der Hand. »Es ist eine Sache, sich ein Spektakel ansehen zu wollen. Das heißt aber nicht, dass jemand die Normans wirklich um sich haben will. Jedenfalls wird es nichts daran ändern, dass sie nie wirklich zu uns gehören werden, oder?«

Die Mädchen in den Reihen vor ihnen erhoben sich, und aufgeregtes Stimmengewirr durchlief den Saal, gefolgt von unterdrücktem Kichern und dem Rascheln von Röcken und Petticoats. Lily für ihren Teil war froh über die Ablenkung.

»Endlich«, hauchte Leana neben ihr und warf ihre Locken zurück, sodass sie gleichmäßig um ihren langen Hals fielen.

Lily stand auf und folgte dem Strom der Mädchen. Als sie die Tür des Ballsaals erreichte, pochte ihr Herz. Sie wusste, dass nur wenige Schritte entfernt Queen Elizabeth II. und der Duke of Edinburgh saßen und geduldig warteten, während jede einzelne Debütantin des Tages ihren Hofknicks machte. Mit einem Mal war alles, was man sie gelehrt hatte, seit sie die Schule verlassen hatte, um sich auf ihre Vorstellung bei Hofe vorzubereiten, wie weggeblasen. Sie hätte vielleicht wie versteinert dagestanden, wenn ihr nicht auf einer tieferen Ebene bewusst gewesen wäre, dass es Schwäche wäre, jetzt zu erstarren. Wenn sie in einem Saal voller Mädchen, die alle miteinander wetteiferten, Schwäche zeigte, würde sich das bestimmt herumsprechen.

Als sie die Tür erreichte, an der Lieutenant Colonel Terence Nugent, der Lord Chamberlain, stand, hielt sie ihm ihre Vorstellungskarte entgegen.

»Danke, Miss Nicholls«, sagte der Lord Chamberlain, wobei er ihren Namen von der Karte ablas.

Sie senkte den Kopf und wappnete sich innerlich. Eine Hand berührte ihren Ellbogen. Sie blicke sich um und sah Leana, die im Licht der tausenden Kristalle, die an den Kronleuchtern über ihnen hingen, wunderschön und strahlend aussah.

»Viel Glück«, sagte Leana.

»Dir auch«, flüsterte Lily.

Sie drehte sich wieder um und wartete auf das Zeichen des Lord Chamberlain. Dann setzte sie sich in Bewegung.

Sie hielt den Blick auf die Queen und den Duke of Edinburgh gerichtet, die auf einem Podium saßen, mit einem leuchtend roten Baldachin über ihren Thronsesseln. Sie sahen genauso aus wie das schöne Paar, das Lily in Zeitungen und bei Tante Angelica im Fernsehen gesehen hatte: sie würdevoll und majestätisch und er attraktiv und vielleicht einen Hauch verschmitzt. Ein wenig abseits saß Prinzessin Margaret und wirkte unfassbar glamourös, während sie die Szene mit kühler Miene betrachtete.

»Miss Lillian Nicholls«, wurde sie angekündigt.

Lily holte tief Luft und trat vor die Queen, auf den winzigen weißen Punkt im Teppich, von dem Madame Vacani ihr versprochen hatte, dass er da sein würde. Sie achtete darauf, dass ihre behandschuhten Hände an ihren Seiten lagen und ihre Absätze sich nicht in ihren Röcken verhedderten, die sich auf dem Boden bauschten, als sie in den Hofknicks glitt. Tiefer, immer tiefer sank sie hinunter und schlug ehrerbietig die Augen nieder. Ihr linkes Knie drückte sich in ihre rechte Kniekehle, und – Wunder über Wunder – sie brachte es fertig, ihren weit ausgreifenden Hofknicks ohne das geringste Schwanken zu absolvieren.

Anmutig erhob sich Lily, ging drei Schritte und wiederholte den Hofknicks vor dem Duke of Edinburgh. Dieses Mal riskierte sie einen kurzen Blick auf die Queen und ihren Gatten. Sie saßen mit höflicher, aber starrer Miene da.

Lily zwang sich, mit derselben beherrschten Eleganz davonzugehen, mit der sie den Ballsaal betreten hatte. Doch als sie die offene Tür erreichte und endlich Ihre Majestät und Seine Königliche Hoheit hinter sich gelassen hatte, legte sie eine Hand auf ihr pochendes Herz, um sich zu beruhigen. Die Zeremonie hatte nur einen kurzen Moment gedauert, doch der hatte sich zu einer Ewigkeit ausgedehnt, in der alles Mögliche hätte schiefgehen können. Aber Lillian Nicholls hatte ihn überlebt, und jetzt stand ihr die Welt offen.

2. Kapitel

An der Tür des Saals zeigte Lily ihre Einladung für den Empfang vor und trat unter den Klängen des Streichorchesters der Welsh Guards ein. Überall um sie herum plauderten Gruppen aus Mädchen und ihren Müttern, Großmüttern und Tanten. Die Erleichterung darüber, die Vorstellung bei Hofe, diesen Spießrutenlauf, hinter sich gebracht zu haben, war spürbar. Grandmama hatte sie gewarnt, dass bis Ende der Woche jegliche Fauxpas oder offenen Peinlichkeiten ihren Weg in die neusten Ausgaben des Tatler oder Sketch finden würden, als subtile Anspielungen, während in den Salons und bei den Debütantinnenlunches offenere Versionen der Geschichten kursieren würden.

Lily sah sich nach Leana um, die gleich hinter ihr herausgekommen sein musste, doch die Menge hatte sie bereits verschluckt, und sie stieß beinahe mit einem anderen Mädchen zusammen.

»Oh! Tut mir sehr leid!«, rief sie aus und hoffte, dass die andere kein Getränk in der Hand hielt. Als sie aufblickte, wurde ihr klar, dass sie beinahe Katherine Norman umgerannt hätte.

»Keine Ursache. Lily Nicholls, nicht wahr?«, fragte Katherine mit einem strahlenden, offenen Lächeln, das ihr herzförmiges Gesicht aufleuchten ließ.

»Stimmt.«

Katherine lachte. »Natürlich. Du hast mein Kleid für Was ihr wollt genäht. Es war mitternachtsblau und hatte einen mit Pailletten besetzten Überrock aus Netzstoff. Viel umwerfender, als ein Kostüm für eine Schulaufführung sein dürfte.«

Lily lächelte und freute sich, dass Katherine sich an so etwas Simples wie ein Kostüm für eine Schulaufführung erinnerte.

»Wie war dein Hofknicks?«, fragte sie.

Katherine stieß den Atem aus und strich mit den Händen über ihr schlichtes, aber elegantes Organza-Kleid, das mit breiten weißen Streifen geschmückt war. »Ich bin froh zu sagen, dass er mir ohne ein Schwanken gelungen ist, obwohl ich zugeben muss, dass es mir peinlich war, deswegen so nervös zu sein.«

»Ich glaube, das waren wir alle.«

»Da bist du ja, Lily!«

Sie fuhr ein wenig zusammen und stellte fest, dass Leana lautlos zu ihr getreten war.

»Du bist so schnell vor mir geflüchtet. Ich habe entschieden, dass du die interessanteste Person hier bist und ich nicht ohne dich sein kann. Jetzt komm. Wir plaudern und tauschen unsere Eindrücke aus«, erklärte Leana, hakte sie unter und warf Katherine ein schmales Lächeln zu. »Es macht dir doch nichts aus, oder?«

Katherine, die, wie Lily vermutete, amüsiert zusah, vollführte eine einladende Handbewegung. »Bitte.«

Lily öffnete den Mund, um die beiden einander vorzustellen, doch Leana drehte sich schon auf dem Absatz um und zog Lily schwungvoll mit.

»Ich bin so froh, dass ich da war, um dich zu retten«, flüsterte Leana.

»Mich zu retten?«

»Vor Katherine Norman. So, jetzt erzähl mir alles. Bist du gestolpert? Bestimmt nicht. Du wirkst so ruhig und beherrscht.«

»Ich habe nicht einmal gewackelt«, erklärte sie und sah zurück zu Katherine. Diese unterhielt sich schon mit einer großen Rothaarigen, die an die Stelle getreten war, an der Lily eben gestanden hatte.

»Ich auch nicht. Aber der Duke of Edinburgh hat mir zugezwinkert«, sagte Leana.

Lily sah sie an. »Hat er?«

Leana warf ihr schwarzes Haar zurück und grinste, als wollte sie sagen: Natürlich. Und warum auch nicht? Leana war eine atemberaubende Schönheit, und sie wirkte weltgewandt und kultiviert, während die anderen Mädchen plapperten und durcheinanderflatterten wie nervöse Schmetterlinge.

»Aber jetzt müssen wir ein sehr ernstes Thema bereden. Du musst am Freitag zu meinem Debütantinnenlunch kommen«, erklärte Leana.

»Das wäre sehr schön, danke. Ich muss nur zuerst in meinen Kalender schauen. Inzwischen habe ich schon Angst, etwas zu tun, ohne zuerst hineinzusehen«, sagte sie.

»Bestimmt wirst du überallhin eingeladen«, meinte Leana.

»Nein, ganz und gar nicht. Aber ich habe ein paar Schulfreundinnen, und ich war mit meiner Cousine Georgie Laningham schon bei zwei Lunches.«

»Georgie Laningham«, wiederholte Leana nachdenklich. »Wenn du magst, schicke ich ihr auch eine Einladung.«

»Oh, das wäre zu viel von dir verlangt«, sagte sie, obwohl Georgie mit Sicherheit entzückt wäre, denn sie war viel besser darin als Lily, sich im Tatler und im Sketch über die Debütantinnen auf dem Laufenden zu halten.

»Ich sage meiner Mutter, sie soll die Einladungen schicken. Sie kennt alle, die es zu kennen lohnt, daher haben wir alle Mädchen eingeladen, die man während der Ballsaison treffen will. Das heißt auch, dass ich bis auf meine eigenen die anderen grauenhaften Teepartys und Lunches auslassen kann«, erklärte Leana.

Lily runzelte die Stirn. Die Lunches waren eigentlich dazu da, dass die Mädchen Bekanntschaft schlossen, bevor die eigentliche Ballsaison begann. Bewaffnet mit Adressbüchern würden sie Coronation Chicken essen, bevor sie ihre Runden durch den einen oder anderen Salon drehten und Namen und Adressen austauschten, in der Hoffnung, dass sich daraus eine Einladung ergeben würde.

»Die meisten Mädchen, die zu meinem Lunch kommen, werden der Queen morgen vorgestellt, und ich dachte, ich würde heute niemanden zum Plaudern haben, aber dann bin ich dir begegnet. Du kommst doch am Freitag, oder?« Bei der Frage verzog Leana ihr strahlendes Lächeln zu einem hübschen Schmollmund.

»Falls ich keine anderen Termine habe«, sagte Lily, die sich von Leanas Beharrlichkeit ein wenig überfordert fühlte. »Das muss ich wirklich erst nachsehen. Oh, da kommt Mummy. Sie hat ihren Kalender sicher bei sich. Wir können sie fragen.«

»Da bist du ja«, begrüßte Mummy sie und trat eilig zu ihr. »Ich habe dich gesucht. Wie war es?«

»So, wie ich gehofft hatte. Die Queen war da und der Duke of Edinburgh. Und Prinzessin Margaret«, erklärte sie.

Mummy fasste ihre Hand. »Hat die Queen dir zugenickt? Gelächelt? Deine Großmutter wird sich danach erkundigen.«

»Keine Ahnung. Ich hatte die Augen niedergeschlagen«, gab sie zurück.

»Lily hat das sehr gut gemacht«, warf Leana ein.

Die Schultern ihrer Mutter verkrampften sich, und Lily sah zu, wie sie ihre Züge beherrschte und eine maskenhaft gelassene Miene aufsetzte. »Ich sehe, du hast schon eine Freundin gefunden«, sagte sie dann.

»Oh, Mummy, das ist Leana«, stellte Lily sie vor.

Mummy öffnete die Lippen. »Leana …?«

»Wir haben nebeneinandergesessen, als wir auf unsere Vorstellung gewartet haben«, fuhr sie fort.

»Lily kommt zu meinem Debütantinnenlunch am Freitag«, erklärte Leana.

Sie lachte. »Falls ich an diesem Tag nicht anderswo erwartet werde.«

»Wie könntest du auf eine andere Party gehen wollen?«, fragte Leana und griff sich in gespieltem Entsetzen an die Brust. »Aber ich gehe davon aus, dass du bei den Lunches und den ersten Partys alle möglichen Leute kennenlernen und mit Einladungen überschüttet werden wirst. Dann wirst du keine freie Minute mehr für mich haben.«

»Tut mir leid, meine Liebe. Was sagten Sie noch, wie Ihr Familienname war?«, fragte Mummy.

»Hartford.« Eine Frau übertönte das Stimmengewirr, das während des Empfangs herrschte. »Aber wahrscheinlich wusstest du das schon. Hallo, Josephine.«

Über die Schulter ihrer Mutter hinweg erblickte Lily eine stattliche Dame mit üppigem dunklen Haar, das am Hinterkopf zu einem festen Knoten frisiert war. Eine Kette aus großen, antiken Elfenbeinperlen schmückte ihre cremeweiße Haut und hob sich von den kräftigen Gold- und Kobaltnuancen ihres Jacquard-Kostüms ab. Die Frau schien sich in den Prunkräumen des Palasts vollkommen wohlzufühlen, als hegte sie keinerlei Zweifel an ihrem Recht, hier zu sein.

»Ruth«, murmelte Mummy. Ihr Elizabeth-Arden-Lippenstift hob sich grell von ihrer vor Schreck erbleichten Haut ab.

Lily hatte keine Ahnung, was es mit dieser gut gekleideten Dame auf sich hatte, aber sie nahm instinktiv Mummys Hand und drückte sie fest.

»Ich wusste nicht, dass Leana Bekanntschaft mit deiner Tochter geschlossen hat«, meinte Mrs. Hartford.

Lily spürte, wie sich Mummys Hand in ihrer verkrampfte, und einen Moment lang hatte sie den Eindruck, ihre Mutter könnte die Flucht ergreifen. Doch stattdessen richtete sie sich auf. »Ich habe sie jedenfalls nicht dazu ermuntert.«

Lily blinzelte verwirrt. Mummy hatte sich seit ihrer Rückkehr nach England bei Kriegsende zwar fast vollständig aus der Gesellschaft zurückgezogen, aber sie hatte ihre Erziehung nie vergessen. Wer war diese Frau bloß, dass sich ihre Mutter – bei der sich alles um Manieren und Abstammung drehte – zu einer so harschen Entgegnung hinreißen ließ?

»Hallo, Mutter«, sagte Leana, eine Hand in die Hüfte gestemmt und mit dem Hauch eines frechen Lächelns auf den Lippen. »Mein Hofknicks war ein großer Erfolg, falls du das wissen willst. Prinz Philip hat mir zugezwinkert.«

»Es ist wirklich das Beste, dass die Vorstellungen bei Hofe dieses Jahr zum letzten Mal stattfinden. Heutzutage gewährt man wirklich jedermann Zutritt«, meinte Mrs. Hartford und musterte Lily dann von ihrem elfenbeinfarbenen Hut bis zu den Spitzen ihrer Stöckelschuhe.

Die Beleidigung – ein Echo der halblauten Bemerkung, die ihre Tochter vor nicht einmal einer Stunde gemacht hatte – traf Lily ins Herz, doch bevor sie etwas sagen konnte, zupfte Mummy an ihrer Hand. »Wir müssen wirklich gehen.«

»Du vergisst den Lunch nicht?«, fragte Leana. »Ich schicke dir eine Wegbeschreibung.«

»Lily«, fauchte Mummy.

»Tut mir leid«, brachte Lily heraus, während ihre Mutter sie fortmanövrierte.

Sie zogen einige Blicke auf sich, als Mummy mit ihr durch die dichte Menge aus pastellfarben gekleideten Debütantinnen und ihren Anstandsdamen stürmte.

»Mummy«, protestierte sie, »da sind noch so viele Mädchen, die ich begrüßen sollte. Ich hatte noch keine Chance, mit Philippa Groves zu reden, dabei hat sie mich schon zu ihrer Cocktailparty eingeladen.«

»Du kannst deine Schulfreundinnen bei einer anderen Gelegenheit begrüßen«, erklärte Mummy mit einer harten Stimme, die Lily seit Ewigkeiten nicht gehört hatte. Sonst war Grandmama die strengere von beiden. Mummy war … schwächer, und sie neigte dazu, sich lange in ihrem Schlafzimmer einzuschließen oder sich mit Tante Angelica zu verkriechen, die manchmal eine Woche lang die Einzige war, die ihre Mutter zum Lachen bringen konnte.

Lily nickte und lächelte den Menschen, die aussahen, als könnten sie ihnen in den Weg treten, verkrampft zu. Am Eingang zu den Prunkgemächern zeigte ihnen ein livrierter Diener den Weg durch den Gang, und die Pracht des königlichen Palasts zog an Lily vorbei, während Mummy sie schnellen Schrittes nach draußen führte. Sie wollte unbedingt einen Moment stehen bleiben und alles auf sich wirken lassen – schließlich würde sie nie wieder die Chance haben, bei Hofe vorgestellt zu werden –, doch erst als sie vor dem Palast standen und ein Page davoneilte, um ihnen ein Taxi heranzuwinken, konnte sie die Hand ihrer Mutter abschütteln.

»Was sollte das, Mummy? Es ist doch der Sinn und Zweck des Empfangs, die anderen Mädchen kennenzulernen«, sagte sie und rieb sich die Handknöchel, die von dem festen Griff ihrer Mutter schmerzten.

»Nicht, wenn du vorhast, mit Mädchen wie Leana Hartford zu verkehren«, erklärte Mummy.

»Ich hätte gedacht, du wärest begeistert darüber, dass ich Leana kennengelernt habe. Sie ist überall so beliebt. Alle glauben, sie könnte die Debütantin des Jahres werden.«

»Diese Familie ist eine Bekanntschaft nicht wert.«

»Ist Mr. Hartford nicht Politiker oder Diplomat?«

Ihre Mutter fuhr herum und ballte die Fäuste, als versuchte sie, eine enorme Wut niederzuringen. »Ich will nicht, dass du mit ihr redest. Allein Gott weiß, warum du dich überhaupt neben sie gesetzt hast.«

Nachdem Lily jahrelang Mummys Launen umschifft hatte, war ihr klar, dass sie ihre Mutter nicht drängen sollte, aber sie begriff einfach nicht, was sie falsch gemacht hatte. Nicht, nachdem sie sich in den letzten Monaten so oft angehört hatte, dass ihre Verbindungen über ihre Ballsaison bestimmen würden.

»Ich habe mich nicht absichtlich neben Leana gesetzt«, erklärte sie. »Ich habe mir einen Stuhl genommen und sie ebenfalls. Zuerst habe ich versucht, das Mädchen auf meiner anderen Seite anzusprechen, aber sie hat so schlimm gezittert, dass es mich erstaunt hat, dass sie überhaupt laufen konnte. Ich weiß, Leana tritt ziemlich großspurig auf, aber ich glaube, sie ist selbstloser, als sie sich gibt.«

Ein Taxi rollte heran und hielt vor ihnen. Mummy wartete kaum ab, bis ein Bediensteter die Tür öffnete, um sich auf die Rückbank zu stürzen. Lily glitt ebenfalls hinein, und ihr Rock bauschte sich mit den vielen Lagen von Petticoats um sie.

Im Taxi herrschte Schweigen, bis sie den Eaton Square hinter sich gelassen hatten. Dann rollte Mum ihren Schleier aus schwarzem Netzstoff hoch und seufzte. »Ich weiß, dass du nur versuchst, das Richtige zu tun. Normalerweise wäre ich deiner Meinung, dass du so viele Mädchen kennenlernen solltest, wie du kannst. Die Handvoll Einladungen, die du schon hast, sind ein guter Anfang, aber nicht genug. Doch du musst aufpassen.«

Sie wollte nach dem Grund fragen, immerhin war Leanas Name bei dem letzten Lunch, den sie besucht hatte, in aller Debütantinnen Munde gewesen, aber Mummys harter Blick ließ sie verstummen.

»So, deine Großmutter hat heute Morgen angerufen und darauf bestanden, dass wir sie aufsuchen, sobald wir den Palast verlassen haben. Du kannst ihr alles erzählen«, erklärte sie.

Lily lehnte sich auf dem schwarzen Ledersitz des Taxis zurück. Mummy mochte ja alte Vorbehalte gegen die Hartfords hegen, aber Grandmama war trotz ihres Alters besser in der gehobenen Gesellschaft verankert. Sie würde bestimmt verstehen, wie wichtig es war, Leanas Einladung anzunehmen.

»Warst du erfolgreich?« Das war die erste Frage, die Grandmama stellte, sobald sie den Salon betraten.

Lily, die nach der angespannten Taxifahrt vom Buckingham Palace und dem Stress der Vorstellung selbst erschöpft war, hätte sich am liebsten aufs Sofa sinken lassen. Stattdessen setzte sie sich auf die Kante, wie Grandmama es ihr eingeschärft hatte, seit sie zwölf war.

»Lily hat sich in jeder Hinsicht gut geschlagen«, erklärte Mummy mit müder Stimme.

»Lily?«, hakte Grandmama nach.

»Ich bin nicht umgefallen, habe mich nicht mit dem Absatz in meinem Kleid verhakt oder mitten im Hofknicks geniest und auch sonst keine Katastrophen verursacht«, witzelte sie.

»Sei ernst, Lillian«, schalt Grandmama.

Sie kämpfte gegen den Drang an, über die Gereiztheit ihrer Großmutter zu grinsen. »Alles war genau, wie es sein sollte. Auf meinen Hofknicks wäre sogar Madame Vacani stolz gewesen.«

»Sehr gut.« Doch dann blickte Grandmama zwischen ihr und Mummy hin und her. »Was ist passiert?«

»Nichts ist passiert«, gab ihre Mutter automatisch zurück.

»Ich hätte euch frühestens in einer Stunde zurückerwartet«, sagte Grandmama und musterte sie beide mit hochgezogenen Augenbrauen.

Ein Schweigen trat ein, das sich peinlich in die Länge zog.

»Der Empfang nach der Vorstellung ist ein wichtiger Teil des Tages. Du solltest dir keine Gelegenheit entgehen lassen, andere Debütantinnen kennenzulernen, Lillian«, fuhr Grandmama fort.

Lily hätte nicht gedacht, dass Mummy in der Lage gewesen wäre, den Kopf noch tiefer zwischen die Schultern zu ziehen.

»Mir war nicht gut«, erklärte Lily rasch.

Grandmama kniff die Augen zusammen, nickte dann aber. »Sind noch weitere Einladungen eingetroffen?«

»Heute Morgen, von Madeline Cargrew. Ihre Cocktailparty findet am 2. Mai statt«, sagte sie und rasselte die Einzelheiten der Einladung aus dem Kopf herunter. Es fiel ihr leicht, sich daran zu erinnern, weil Mummy aufgekeucht hatte, als sie gesehen hatte, dass die Einladungskarte bloß gedruckt und nicht geprägt war.

»Vielleicht kann Georgie ja fragen, ob du sie zu einigen ihrer Lunches begleiten darfst«, riet Mummy.

Wie überaus vermessen von ihr, Lily vorzuschlagen, milde Gaben bei ihrer Cousine zu erbetteln, obwohl Leana Hartford ihr eine Einladung in Aussicht gestellt hatte. Leana, die aufgrund ihrer Prominenz als mögliche Debütantin des Jahres überallhin eingeladen wurde und die jeder kannte.

»Was ist mit Leana Hartfords Einladung?«, fragte Lily munter.

»Du hast Leana Hartford kennengelernt?«, hakte Grandmama interessiert nach.

»Nein. Ich will nicht, dass Lily mit den Hartfords verkehrt«, sagte Mummy.

»Aber wieso?«, drängte Lily. »Warum soll ich nicht zu Leanas Lunch gehen, obwohl du genau weißt, dass dort einige der Mädchen mit den besten Verbindungen sein werden? Ihr habt beide gesagt, dass es entscheidend ist, wen ich während dieser Ballsaison kennenlerne.«

Sie wusste, dass sich das Argument zu ihren Gunsten auswirken würde.

»Ich will nicht mehr darüber reden, Lily«, erklärte Mummy mit zitternder Stimme.

»Aber warum?«, beharrte sie.

»Deine Mutter und Michael waren vor dem Krieg sehr gut mit den Hartfords befreundet«, sagte Grandmama.

»Und nach dem Tod meines Mannes haben sie mir bewiesen, wie wenig ihnen diese Freundschaft wert war«, erklärte Mummy.

»Das ist sehr unangemessen von dir, Josephine«, befand Grandmama.

»Was ist passiert?«, fragte Lily.

Mummy presste die Lippen zusammen, und Grandmama stieß ein verärgertes Schnauben aus. »Du kannst es dem Mädchen wenigstens erklären, damit sie es versteht.«

Mummy nickte knapp. »Kurz nachdem 1939 der Krieg erklärt worden war, haben Michael und ich Joanna nach Washington, D. C., geschickt, um sie in Sicherheit zu bringen. Damals haben viele Leute ihre Kinder evakuiert. Aber sie wurde krank, und ich bin übergesetzt, um sie zu pflegen. Ich wusste, dass es gefährlich war, denn die U-Boote beschossen damals schon Passagierschiffe, aber meine Tochter brauchte mich.«

»Eine Torheit für eine schwangere Frau«, meinte Grandmama und zog die Nase kraus.

Mummy holte tief Luft, überging den Tadel jedoch. »Ich habe dich dort zur Welt gebracht, Joanna erholte sich, und wir wollten die Rückreise antreten. Ich hatte Ethan Hartford gebeten, seinen diplomatischen Einfluss geltend zu machen, um meine Überfahrt nach Amerika zu ermöglichen, aber er hat sich geweigert, mir bei der Rückreise zu helfen. Später habe ich erfahren, dass er wusste, dass Michael Magenkrebs hatte. Er hat mir das verschwiegen und mir seine Hilfe verweigert, als ich sie brauchte. Das kann ich ihm nicht verzeihen.«

»Niemand von uns wusste von dem Krebs«, sagte Grandmama, und ihre Stimme klang etwas weniger kalt als sonst. »Michael wollte nicht, dass wir uns Sorgen machen.«

Lily streckte die Hand über den Abstand zwischen ihren Stühlen aus und legte sie Mummy sanft auf den Arm. »Tut mir leid. Das wusste ich nicht.«

Mummy hob die Hand, als wollte sie ihre auf die von Lily legen, doch dann zögerte sie und entzog sich Lilys Griff.

Schweigen legte sich über den Raum, bis Grandmama sich aufrichtete. »Ich werde nach dem Tee läuten«, erklärte sie, »und dann musst du mir alles über deine Vorstellung erzählen.«

Lily biss sich auf die Lippe, nickte und versuchte, den Stich, den die Zurückweisung ihrer Mutter ihr versetzt hatte, nicht allzu tief in ihr Herz eindringen zu lassen.

3. Kapitel

Das Schweigen, das in Bezug auf Leana Hartford zwischen den Nicholls-Frauen herrschte, schien schwer in den stillen Fluren des Hauses Nummer 17 in Harley Gardens zu hängen. Es lastete schwer auf Lily, von dem Moment an, in dem sie durch die Haustür getreten waren, bis zu der späten Stunde, als sie ihr Buch zuschlug und erklärte, sie werde zu Bett gehen. Sie hatte früher als sonst die Wärme des Kohlenfeuers im Wohnzimmer gegen den elektrischen Heizstrahler in ihrem Zimmer eingetauscht, weil sie abends lieber die Kälte ertrug als das Gefühl von Enttäuschung.

Als sie am nächsten Morgen erwachte, hoffte sie, dass inzwischen alles vergessen war. Sie kam zum Frühstück in den Morgensalon hinunter und fand neben dem Platz, der für sie gedeckt war, einen kleinen Stapel Briefe vor. Ganz oben lag ein kleiner, gelblich brauner Umschlag, auf dem in blauer Tinte und eleganter Handschrift ihre Adresse stand.

»Guten Morgen, Mummy«, sagte sie und griff nach dem obersten Umschlag.

»Hast du vor, das zu Georgies Lunch zu tragen?«, fragte ihre Mutter und musterte sie von oben bis unten.

Lily sah auf das zwei Jahre alte eierschalenblaue Kleid hinunter, zu dem sie einen schwarzen Ledergürtel trug. Sie war stolz auf dieses Kleid, da sie sich beim Nähen solche Mühe gegeben hatte, aber anscheinend war es nicht gut genug, um andere Debütantinnen zu treffen. Rasch ging sie im Kopf ihre Garderobe durch. »Ich muss noch ein paar Besorgungen erledigen«, sagte sie dann, »und dachte, später könnte ich mein rosarotes Wollkleid mit den dunkelrosafarbenen Paspeln anziehen.«

»Das ist ein hübsches Kleid. Wohin willst du heute Morgen?«, fragte Mummy und strich die Ärmelaufschläge ihrer schwarzen Strickjacke glatt, die sie bis zum Hals zugeknöpft hatte. Über ihrem Herzen hatte sie eine große Jadebrosche angesteckt.

»Zu Peter Jones«, erklärte Lily. Sie meinte das Kaufhaus am Sloane Square. »Ich brauche noch zwei Paar Strümpfe und Stoff für eine Bluse, die ich mir nähe.«

Mummy musterte sie mit leicht geneigtem Kopf. »Ich habe nachgedacht«, erklärte sie schließlich. »Ich weiß, wie gern du deine Kleider selbst nähst. Ich finde, es könnte nicht schaden, wenn du einige deiner Cocktailkleider selbst schneiderst.«

»Grandmama hat ausdrücklich darauf bestanden, dass wir alles neu kaufen«, meinte Lily.

»Seit deine Grandmama debütiert hat, sind Jahrzehnte vergangen, und sie hat seitdem auch keine Debütantin vorgestellt. Ihre Zuwendung für deine Ballsaison war großzügig, aber die Kosten sind höher, als sie ahnt. Dich nach Paris zu schicken war teurer, als wir vorhergesehen hatten, und obwohl du die Kosten für deine Debütantinnenparty mit deiner Cousine teilst …«

»Ich würde mir meine Kleider sehr gern selbst nähen«, erklärte Lily.

Mummy stieß einen Seufzer aus, der erleichtert wirkte. »Gut. Die Kleider für deine Party und den Queen-Charlotte-Ball sind schon bestellt, daran ist also nichts mehr zu ändern.«

»Ich schaue bei Peter Jones, ob sie hübsche Stoffe haben«, sagte Lily.

Mummy schenkte ihr ein seltenes Lächeln.

»Ich dachte, ich könnte auch in die Bibliothek gehen«, erklärte Lily und griff nach der Toastscheibe, die ihre Haushälterin Hannah in den Brothalter gesteckt hatte.

»Wenn die Ballsaison in vollem Gang ist, brauchst du nicht viel Lesestoff«, warnte Mummy sie.

Lily lachte. »Ich kann doch die nächsten paar Monate nicht nur zu Partys oder Teegesellschaften gehen. Bestimmt finde ich ein wenig Zeit zum Lesen.«

Mummy legte ihr Besteck zur Seite. »Das sind nicht nur Partys, Lily. Sie sind eine Gelegenheit, die richtigen Leute kennenzulernen. Darauf musst du dich konzentrieren.«