Weil du meine Tochter bist - Julia Kelly - E-Book

Weil du meine Tochter bist E-Book

Julia Kelly

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Beschreibung

Ein gefühlvoller Roman über Liebe, Mutterschaft und Verrat vor dem Hintergrund des Zweiten Weltkriegs

Liverpool 1940. Viele schwierige Situationen hat Viv in ihrem Leben schon gemeistert. Bereits als Teenager wurde sie schwanger; ihre Tochter Maggie zog sie allein und unter der Fuchtel ihrer missbilligenden Eltern auf. All dies ist jedoch nichts verglichen mit der Entscheidung, die sie nun, am Vorabend des Zweiten Weltkriegs, treffen muss: Soll sie der Evakuierung ihrer heiß geliebten Tochter zustimmen? Das kleine Mädchen in die Obhut fremder Leute geben? In der festen Hoffnung, sie bald wieder in die Arme schließen zu können, schickt sie Maggie aufs Land. Doch dort kommt es zur Katastrophe: Das Haus der Gastfamilie wird von einer Bombe getroffen, und Maggie gilt als verschollen ...

Julia Kelly erzählt die Geschichte der vielen evakuierten Kinder Englands und zeigt, wie eine einfache Entscheidung den Verlauf eines Lebens verändern kann.

Ein Roman, der bewegt und lange nachhallt



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Inhalt

Cover

Über das Buch

Über die Autorin

Titel

Impressum

Viv

Joshua

1. TEIL

Viv

Joshua

Viv

Joshua

Viv

Maggie

Viv

Joshua

Viv

Joshua

Viv

Joshua

Joshua

Viv

Viv

Maggie

Viv

2. TEIL

Viv

Viv

Joshua

Viv

Joshua

Viv

Viv

Joshua

Maggie

Joshua

Viv

Maggie

Viv

Joshua

Viv

Viv

Joshua

Maggie

Viv

Viv

Joshua

Viv

Joshua

Viv

3. TEIL

Viv

Joshua

Viv

Joshua

Viv

Joshua

Viv

Joshua

Viv

Joshua

Viv

Joshua

Viv

Joshua

Maggie

Viv

Joshua

Viv

Joshua

Viv

Viv

Nachbemerkung der Autorin

Dank

Über das Buch

Ein gefühlvoller Roman über Liebe, Mutterschaft und Verrat vor dem Hintergrund des Zweiten Weltkriegs Liverpool 1940. Viele schwierige Situationen hat Viv in ihrem Leben schon gemeistert. Bereits als Teenager wurde sie schwanger; ihre Tochter Maggie zog sie allein und unter der Fuchtel ihrer missbilligenden Eltern auf. All dies ist jedoch nichts verglichen mit der Entscheidung, die sie nun, am Vorabend des Zweiten Weltkriegs, treffen muss: Soll sie der Evakuierung ihrer heißgeliebten Tochter zustimmen? Das kleine Mädchen in die Obhut fremder Leute geben? In der festen Hoffnung, sie bald wieder in die Arme schließen zu können, schickt sie Maggie aufs Land. Doch dort kommt es zur Katastrophe: Das Haus der Gastfamilie wird von einer Bombe getroffen, Maggie gilt als verschollen ... Julia Kelly erzählt die Geschichte der vielen evakuierten Kinder Englands und zeigt, wie eine einfache Entscheidung den Verlauf eines Lebens verändern kann. Ein Roman, der bewegt und lange nachhallt.

Über die Autorin

Julia Kelly war lange Jahre als Producerin und Journalistin tätig, bevor sie sich als Autorin selbstständig machte. Sie lebte in Los Angeles, Iowa und New York City. Inzwischen ist sie in London heimisch. Neben ihrer schriftstellerischen Tätigkeit engagiert sie sich bei ROMANCE WRITERS OF AMERICA, der britischen ROMANTIC NOVELISTS ASSOCIATION sowie der HISTORICAL NOVEL SOCIETY.

JULIA KELLY

WEIL DU MEINE TOCHTER BIST

ROMAN

Übersetzung aus dem Englischen von Barbara Röhl

Vollständige E-Book-Ausgabedes in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Vollständige Taschenbuchausgabe

Deutsche Erstausgabe

Für die Originalausgabe:Copyright © 2023 by Julia KellyTitel der amerikanischen Originalausgabe: »The Lost English Girl«Originalverlag: Gallery Books, an Imprint of Simon & Schuster, Inc., New York

Für die deutschsprachige Ausgabe:Copyright © 2024 by Bastei Lübbe AG, Schanzenstraße 6–20, 51063 Köln

Vervielfältigungen dieses Werkes für das Text- und Data-Mining bleiben vorbehalten.

Textredaktion: Anne Schünemann, SchönbergUmschlaggestaltung: Manuela Städele-MonverdeUmschlagmotiv: Jacket design by Lisa Litwack© Shelley A. Richmond/Arcangel | © Oliver HenzeeBook-Erstellung: two-up, Düsseldorf

ISBN 978-3-7517-4772-1

luebbe.delesejury.de

Viv

16. Januar 1935

Am Morgen ihrer Hochzeit weinte Viv Byrne.

Es hätte so einfach sein sollen. Sie bräuchte bloß den Kopf einzuziehen, ins Standesamt zu marschieren und die Worte zu sagen, die aus ihr Mrs. Joshua Levinson machen würden. Dann wäre alles gut, genau wie Joshua versprochen hatte.

Doch als sie nun in ihrem perlgrauen Kleid hier saß, fühlte sich nichts davon einfach an.

Ihre Zimmertür wurde geöffnet, und im Spiegel begegnete ihr Blick dem ihrer Schwester.

»Alles gut bei dir?«, fragte Kate.

Viv betrachtete ihr eigenes Spiegelbild. Sie erkannte die Achtzehnjährige kaum wieder, die ihr entgegensah und auf deren roten Wangen nasse Tränenspuren glänzten. Sie hatte sich noch nie für besonders hübsch gehalten – nicht so hübsch wie Kate, deren strahlendes Lächeln halb Liverpool erleuchten konnte –, doch jetzt fühlte sie sich aufgedunsen, unansehnlich und erschöpft. Langsam rannen ihr die Tränen wieder übers Gesicht.

»Ach Vivie.« Kate seufzte und schloss die Tür hinter sich. »Nicht weinen. Denk daran, dass das eine gute Sache ist.«

Unglücklich nickte Viv. Ja, diese Hochzeit war gut – und sie wünschte sie sich –, aber andererseits blieb ihr auch nicht viel anderes übrig.

Kate legte ihr eine Hand auf die Schulter. »Überleg doch nur, bald hast du dein eigenes Heim. Du kannst entscheiden, mit wem du einkaufen gehst. Du kannst dir aussuchen, wann dein Waschtag ist.« Ihre Schwester beugte sich schelmisch lächelnd vor. »Du kannst Radio hören, wann du willst.«

Viv lachte unter Tränen auf.

»Das ist meine Vivie«, murmelte Kate. »Komm, setzen wir dir den Hut auf.«

Ihre Schwester bürstete ihr das dichte, hellbraune Lockenhaar, drückte ihr dann vorsichtig das graue Hütchen auf den Scheitel und steckte es fest.

»So«, verkündete Kate. »Du siehst perfekt aus.«

»Ich fühle mich aber nicht so.«

Kate schnalzte missbilligend mit der Zunge. »War dir schlecht?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Du hast Glück. Bei Colin und William ging es mir hundeelend«, erklärte ihre Schwester.

»Aber nicht bei Cora«, sagte Viv, während Kate in ihrer guten schwarzen Lederhandtasche herumwühlte und einen Lippenstift hervorzog.

Sie trug die rote Farbe auf ihre Oberlippe auf. »Cora war immer schon ein Schatz.«

Bei dem Gedanken an ihre goldblonde Nichte musste Viv unwillkürlich lächeln. »Vielleicht trage ich ja Lippenstift, wenn ich verheiratet bin.«

Grinsend steckte Kate die Kappe wieder auf den Stift. »So ist es richtig. Du brauchst nur den heutigen Tag zu überstehen, und dann bist du Mums Regeln los.«

Ganz gleich, wie sehr ihre Mutter diese Hochzeit missbilligte – eine verheiratete Tochter, die nicht mehr unter ihrem Dach lebte, würde Edith Byrne nicht kontrollieren können.

»Hoffst du auf einen Jungen oder ein Mädchen?«, fragte Kate.

Viv, die aufgestanden war, um ihre Sachen zusammenzusuchen, erstarrte, einen Arm im Ärmel ihres marineblauen Mantels.

»Vivie …?«

»Das hat mich noch nie jemand gefragt«, flüsterte sie schließlich.

Kate verzog die Lippen. »Wir haben dir das alle schrecklich schwer gemacht, stimmt’s?«

»Mum und Dad wären niemals einverstanden gewesen. Vor allem Mum nicht.«

In ihrem Elternhaus hatten stets strenge Regeln geherrscht: Geh zur Kirche. Rede nur mit Leuten, die Mum billigt. Tue nie etwas, das »gewöhnlich« ist.

Viv war es immer schwergefallen, diese Regeln bis ins Kleinste zu befolgen. Sie besuchten jeden Sonntag die Kirche, aber selten verging ein Gottesdienst, ohne dass Mum sie in die Seite stieß, damit sie zu träumen aufhörte. Mit sechzehn hatte Viv eine Arbeit aufgenommen, aber nicht wie Kate als Krankenschwester, sondern beim Postamt, wo sie allen möglichen Mädchen begegnen konnte. Sie würde heiraten, aber nur, weil sie schwanger geworden war.

»Mum und Dad werden sich schon beruhigen, sobald sie noch ein Enkelkind kriegen.« Kate umarmte sie. »Du wirst eine wunderbare Mutter.«

»Danke«, flüsterte sie am Hals ihrer Schwester.

»So, fertig?«, fragte Kate.

Viv schaute sich in dem Kinderzimmer um, das sie bis zu Kates Hochzeit gemeinsam bewohnt hatten. Es würde nie wieder ihr Zuhause sein. Joshua und sie würden in der Wohnung über dem Laden seiner Eltern leben, sobald die Mieter dort auszogen. Sie würde sich für all ihre Einkäufe einen neuen Gemüsehändler suchen müssen, einen Metzger und einen Bäcker. Sie fragte sich, ob Joshua koscher leben wollte, so wie seine Eltern.

Panik schnürte ihr die Kehle zu. So etwas hätte sie eigentlich wissen sollen, aber sie hatte ihre zukünftigen Schwiegereltern noch nicht einmal kennengelernt.

»Was immer du gerade denkst, hör damit auf«, sagte Kate. So bestimmt hatte sie den ganzen Tag noch nicht mit Viv gesprochen. »Das hilft dir überhaupt nichts.«

»Du hast ja recht. Du hast recht.« Mit einer Zuversicht, die sie nicht empfand, reckte sie das Kinn. »Ich bin bereit«, erklärte sie.

Über die knarrende Treppe gingen die Schwestern in die Diele ihres Elternhauses hinunter. Im Wohnzimmer, das fast nie benutzt wurde, saß Dad in einem dunklen Anzug und hatte die Hände auf die Knie gestützt. Mum, die klein und stämmig war, hockte auf dem Rand des geblümten Sofas, das ihr ganzer Stolz war. Keiner der Anwesenden lächelte.

Sam, Kates Mann, löste sich von der Wand in der Diele, an der er gelehnt hatte, und streckte, sobald Kate an ihm vorbeiging, die Hand nach seiner Frau aus. Kate schmiegte sich an ihn, und Viv wünschte sich, sie hätte auch jemanden zum Anlehnen.

»Schön.« Dad stand auf, durchquerte das Wohnzimmer und gesellte sich zu ihnen. »Bringen wir es hinter uns.«

Daraufhin erhob sich auch Mum und strich den Saum ihrer dunkelgrauen Kostümjacke glatt. Viv dachte, sie würde dem scharfen Blick ihrer Mutter vielleicht entrinnen, doch der wanderte umgehend zu ihrem Bauch, ehe sie ihn rasch abwandte. Im nächsten Moment führte Mum wie auf Knopfdruck ein Taschentuch an die Augen.

»Eine meiner Töchter heiratet, und nicht einmal in Weiß. Nach Flora hätte ich nie gedacht …«

Viv umklammerte den Henkel ihrer Handtasche ein wenig fester. Ihre Tante Flora diente in der Familie als abschreckendes Beispiel. Mums geliebte Schwester hatte sich in einen Protestanten verliebt, der sich, sobald Flora ihm von ihrer Schwangerschaft erzählte, aus dem Staub gemacht hatte. Damit hatte er sie zu einem harten Leben verurteilt und ihrer Familie eine Tochter aufgebürdet, die Schande über sich gebracht hatte.

»Mum, heute ist nicht der richtige Tag dafür«, meinte Kate warnend.

»Soll ich mich etwa freuen? Er ist Jude«, erklärte ihre Mutter und schniefte.

Sam stieß seine Frau an, woraufhin diese seufzte. »Lasst uns einfach fahren. Wir kommen noch zu spät.«

Viv wünschte, der Boden würde sich auftun und sie mit Haut und Haaren verschlingen.

Auf dem Rücksitz des Autos, das Sam sich von einem Arbeitskollegen geliehen hatte, zog Viv die Schultern ein und gab sich die größte Mühe, Abstand zu ihrer Mum zu halten.

Sie kannte die Regeln, solange sie denken konnte: Unzucht war eine Sünde, aber wenn sie sie schon beging, dann wenigstens mit einem katholischen Jungen, der so vernünftig sein würde, sie zu heiraten, oder wenigstens eine Familie hatte, die ihn zum Traualtar schleppte. Alles, um Viv und ihrem Kind eine Fassade von Ehrenhaftigkeit zu verleihen.

In den Augen ihrer Mutter fiel Joshua in allen diesen Punkten durch. Er hatte ihre Tochter nicht nur in Schwierigkeiten gebracht, sondern gehörte darüber hinaus nicht der katholischen Kirche an. Er war Jude, und für ihre Mutter war er damit genauso schlimm wie ein Protestant.

Während der ganzen quälenden Fahrt von der Ripon Street zur St. George’s Hall in der Stadtmitte steckte Viv ein Schrei in der Kehle. Am liebsten hätte sie die Autotür aufgerissen und wäre davongelaufen, so schnell und so weit sie konnte. Alles, um der Scham und der Reue zu entfliehen.

Als Sam vor dem wuchtigen Steingebäude hielt, in dem sich das Standesamt von Liverpool befand, kletterte Kate hinaus aufs Straßenpflaster, während Mum darauf wartete, dass Dad ihr die Tür aufhielt.

Als Viv endlich kurz allein war, rang sie nach Luft. Sie konnte das. Sie war in der Lage, diese Treppe hinaufzugehen und als verheiratete Frau wieder herauszukommen. Sie würde nicht weglaufen, denn sie hatte keine andere Wahl.

Vom Straßenpflaster aus schaute sie die lange Freitreppe hinauf, die zur Vorderfront der St. George’s Hall führte. Im feuchten Nebel des Januartags erkannte sie die Levinsons, die sich vor einer der gewaltigen gelben Sandsteinsäulen des Gebäudes scharten. Mrs. Levinson trug einen hellblauen taillierten Mantel und schwarze Lederhandschuhe und knete nervös ihre Finger. Eine junge Frau – Joshuas Schwester Rebecca – war in einem tiefroten Wollmantel im Militärstil erschienen, dessen Vorderseite mit zwei Reihen Messingknöpfen besetzt war. Mr. Levinson zog sich die Krempe seines breiten Filzhuts tiefer in die Stirn, um sich vor dem Wind zu schützen, der von der Irischen See den Mersey herauf pfiff.

Und dann sah sie Joshua.

Er wirkte nervös und nestelte mit seinen langen Musikerfingern an der Krempe seines hellgrauen Wollhuts. Sein Anzug hatte einen bemerkenswert stilvollen Schnitt – das war ihr als Erstes an ihm aufgefallen, als sie einander an dem Abend im Musikpavillon begegnet waren. Und nach dem Tag, an dem sie ihm erzählt hatte, dass sie schwanger war, und er sie sofort gebeten hatte, seine Frau zu werden, hatte er sich das Haar schneiden lassen. Hoffnung flackerte in ihr auf. Auch er hatte versucht, zu ihrer Hochzeit besonders gut auszusehen.

Sie wollte zu den Levinsons gehen, doch eine Hand legte sich auf ihren rechten Unterarm und hielt sie zurück.

»Lass deinen Vater zuerst gehen«, befahl Mum.

»Ich bin Mr. und Mrs. Levinson noch gar nicht vorgestellt worden«, protestierte sie.

»Deine Mutter weiß, was das Beste ist, Vivian«, sagte ihr Vater.

Sie schob ihre Frustration beiseite und sah zu, wie ihre Mutter sich bei Dad unterhakte und beide auf ihre neue Familie zusteuerten.

Als ihre Eltern näher kamen, streckte Mr. Levinson die behandschuhte Hand aus. »Mr. und Mrs. Byrne.«

Mum starrte Mr. Levinsons Hand so lange an, dass Dad ihr »Edith« zuflüsterte.

Sichtlich widerstrebend umfasste sie seine Finger. Falls dem Mann ihre frostige Reaktion auffiel, ließ er es sich nicht anmerken. Stattdessen wandte er sich mit ausgestreckten Armen an Viv und küsste sie auf beide Wangen. »Meine Schwiegertochter.«

Hinter ihm stieß Joshua einen erstickten Laut aus. »Noch nicht ganz, Dad.«

»Aber sehr bald«, sagte Mr. Levinson. »Meine Frau Anne.«

»Joshua hat schon erzählt, dass du hübsch bist«, sagte Mrs. Levinson.

Viv errötete. »Danke.«

»Das ist Joshuas Schwester Rebecca«, erklärte Mr. Levinson und strahlte den trotzigen Teenager, der Viv fest in die Augen schaute, stolz an.

»Schön, dich kennenzulernen, Rebecca«, sagte sie.

Doch Rebecca rückte nur näher an ihre Mutter heran.

»Ich möchte zum Ausdruck bringen, wie glücklich wir über die Verbindung unserer beiden Familien sind«, sagte Mr. Levinson.

»Dad«, raunte Joshua sanft.

»Ich weiß, dass sich das wahrscheinlich keiner von uns für Vivian oder Joshua so vorgestellt hat, aber eine Hochzeit und die Geburt eines Kindes sind freudige Anlässe«, erklärte Mr. Levinson.

»Wohl kaum«, murmelte Mum.

»Mum, Joshua und ich waren uns einig –«

»Ihr hättet in einer Kirche heiraten sollen«, zischte ihre Mutter, während sich Mrs. Levinson an der Hand ihrer Tochter festklammerte wie an einer Rettungsboje.

Schließlich räusperte Joshua sich. »Der Standesbeamte wartet bestimmt schon.«

Viv ließ sich von ihm die Treppe hinauf und zur Tür ziehen, bevor alle anderen ihnen folgten. Auf der Schwelle lehnte sie sich an ihn. »Danke«, flüsterte sie.

Ein gehetzter Ausdruck flackerte in seinem Blick auf, doch dann drückte er ihre Hand, und das war alles, was sie zu ihrer Beruhigung brauchte.

Joshua

Er bekam keine Luft.

Joshua wusste, dass es nicht an seinem Hemdkragen lag. Sein Vater nähte sie ihm schon, solange er denken konnte, und sie passten immer perfekt.

Es war diese verdammte Hochzeit.

Steif stand er neben Viv vor dem Standesbeamten, der einen dunklen, schlecht sitzenden Anzug und eine Krawatte trug und einen Monolog über die Verantwortung der Ehe, die sie eingingen, herunterleierte. Alles in seinem Leben drehte sich jetzt um Verantwortung. Selbst mit neunzehn konnte er ihr nicht entrinnen.

Er war schon vorher der Ansicht gewesen, eine schwere Last zu tragen, als sein Dad ihm erklärt hatte, wenn er nicht zur Universität gehen wolle, müsse er im Familiengeschäft arbeiten. Er sollte seine Lehre absolvieren, assistieren und schließlich die Schneiderei übernehmen, dank der seine Familie von der Wohnung über dem Laden in ihr Haus in Wavertree ziehen konnte, als er erst fünf gewesen war. Joshua hatte genickt und war jeden Tag zur Arbeit gegangen, denn was hätte er sonst tun sollen? Die schwere Last des Ganzen drückte ihn nieder und gab ihm das Gefühl, in der Falle zu sitzen, sodass er sich kaum rühren konnte.

Das Einzige, was sich wie eine Flucht anfühlte, war die Musik. Seine Liebe zum Saxofon wurde nur noch von der unglaublichen Empfindung übertroffen, vor Publikum zu spielen, wenn sich alle Blicke auf ihn richteten. Er hatte Talent, er hatte Antrieb, und er hatte Ehrgeiz.

Er stellte sich vor, wie in einem anderen Leben – und mit einer anderen Familie – alles anders gekommen wäre. Ein Manager hätte ihn in einem Orchester entdeckt und ihm die Chance gegeben, eine eigene Band zu gründen. Nachdem er die Sensation in einem berühmten Club geworden wäre, hätte er eine Platte aufgenommen. Sie wäre ein Hit geworden. Menschen auf der ganzen Welt hätten seine Musik gehört. Sie hätten mehr gewollt.

Es hatte sich angefühlt, als müsste das unweigerlich eintreffen, bis Viv ihn vor Dads Laden abgefangen hatte, um ihm zu sagen, dass sie schwanger war.

»Haben Sie den Ring?«

Joshua zuckte zusammen, konzentrierte sich wieder und stellte fest, dass der Standesbeamte ihn erwartungsvoll ansah. Er kramte in seiner Jackentasche und zog den einfachen Goldring hervor, der ihn fast seine ganzen Ersparnisse gekostet hatte. Viv hielt die Hand hoch, während er mechanisch sein Gelübde sprach und ihr den Ring an den vierten Finger ihrer Hand steckte.

Er fragte sich, ob sich das unvertraute Goldband für sie so schwer anfühlte, wie es aussah.

»Ich erkläre Sie zu Mann und Frau«, sagte der Standesbeamte und schlug mit einem Knall sein Buch zu.

Es war vollbracht. In den Augen des Gesetzes waren sie ein Ehepaar.

Joshua warf Viv einen Blick zu. Ihre Miene war undeutbar. Erinnerte sie sich an ihre erste Verabredung, nach dem Konzert, als er mit ihr zu der Teestube gegangen war? Wusste sie noch, wie er sie im Eingang eines geschlossenen Ladens geküsst hatte? Er erinnerte sich an jeden Augenblick.

War es das wert?

»Willst du deine Braut nicht küssen?«, fragte sein Dad.

Joshua gab sich große Mühe zu schlucken. Er sollte Viv küssen, nicht wahr? Das pflegten Ehemänner bei Hochzeiten zu tun.

Er beugte sich vor, und Viv hielt ihm ihr Gesicht entgegen, doch im letzten Moment verließ ihn der Mut, und er streifte nur mit den Lippen ihre Wange.

Viv stieß den Atem aus und errötete beschämt.

Dad trat vor. Sein breites Lächeln zeigte, wie sehr er sich bemühte, das Beste aus diesem grässlichen Tag zu machen.

»In unserer Religion ist es Brauch, während der Hochzeitszeremonie die Sheva Brachot zu rezitieren«, erklärte sein Vater Viv.

»Tut mir leid, ich weiß nicht, was das ist«, sagte sie.

»Dad«, bat Joshua leise.

Doch der ignorierte ihn. »Das sind die sieben Segnungen. Darf ich?«

»Ist das wirklich nötig? Wir haben keinen Becher Wein«, protestierte Joshua.

»Fall deinem Vater nicht ins Wort«, tadelte seine Mum ihn.

Er klappte den Mund wieder zu.

»Baruch ata Ado-nai Elo-heinu melech ha’olam, bo’rei p’ri ha’gafen«, begann Dad.

»John, ich bin mir sicher, dass das Standesamt den Raum wieder braucht«, sagte Mrs. Byrne und zupfte Mr. Byrne am Ärmel. »Wir sollten hinausgehen.«

Dad wirkte angesichts der Unhöflichkeit von Vivs Eltern ein wenig überrumpelt, und Joshua war sich nicht sicher, ob ihm sein Vater oder seine neuen Schwiegereltern peinlicher waren.

»Mum«, zischte Viv und legte dann seinem Vater die Hand auf den Unterarm. »Bitte sprechen Sie weiter. Ich würde das sehr gern lernen.«

»Schon gut, Vivian«, sagte Dad nachsichtig. »Vielleicht hat deine Mutter recht. Wir sollten das Zimmer frei machen.«

Schweigend verließen sie der Reihe nach den Raum und blieben oben an der Treppe der St. George’s Hall stehen. Der Wind hatte aufgefrischt, fuhr den Frauen ins Haar und wehte die Enden des Schals von Vivs Schwager hoch, der in den blau-weißen Streifen des Everton-Fußballclubs gestrickt war.

»Tja, herzlichen Glückwunsch, Vivie«, sagte Vivs Schwester Kate. »Und dir auch, Joshua.«

»Danke«, erwiderte er.

»Sam und ich wollen euch alle zu uns einladen, um zu feiern. Es fühlt sich nicht richtig an, keinen Hochzeitsempfang zu haben«, erklärte Kate.

»Das ist sehr aufmerksam«, sagte seine Mum, bevor Joshua die Einladung ablehnen konnte. Er wollte nur noch flüchten.

»Es ist zu kalt, um durch die ganze Stadt zu rennen«, widersprach Mrs. Byrne und schlug ihren Mantelkragen hoch.

»Nur auf einen Drink, Mum«, drängte Kate.

»Ein Hochzeitsfrühstück klingt wunderbar«, meinte Viv mit flehendem Blick. »Findest du nicht, Joshua?«

Mrs. Byrne funkelte ihre Tochter warnend an. Dann zeigte sie auf Joshua. »Ich muss mit Ihnen reden.«

Viv klammerte sich ein wenig fester an seinen Arm.

»Keine Sorge«, sagte er und löste ihre Hand. »Ich bin gleich wieder da.«

Er folgte Mrs. Byrne, die ein paar Schritte beiseitetrat. Über ihren Kopf hinweg konnte er erkennen, wie Kate zu Viv ging und die Schwestern leise und hastig miteinander sprachen.

»Nachdem die Hochzeit jetzt erledigt ist, muss ich wissen, wie viel«, erklärte Mrs. Byrne.

Er riss den Blick von seiner Braut los und runzelte die Stirn. »Wie viel?«

»Wie viel Geld, damit Sie verschwinden?«

Ihm wurde plötzlich übel. »Verschwinden?«

»Sie haben Ihre Pflicht getan. Das Kind wird einen Vater haben. Mehr haben Sie meiner Tochter nicht zu bieten.«

»Mrs. Byrne –«

»Was für ein Leben hätte Vivian bei Ihnen?«, wollte ihre Mutter in scharfem Ton wissen. »Sie sind Jude. Sie ist katholisch. Ganz gleich, wo Sie beide hingehen, die Leute werden wissen, warum ihr heiraten musstet. Sie werden Sie hassen oder meiden. Ich habe das bei meiner eigenen Schwester miterlebt.«

»Aber wir sind verheiratet.«

Mrs. Byrne nickte. »Das Kind wird ehelich geboren, aber glauben Sie wirklich, Sie könnten eine Frau versorgen, und erst recht eine Familie? Lassen Sie ihren Vater und mich für sie sorgen.«

»Ich kann sie nicht verlassen. Ich habe ihr ein Versprechen gegeben«, protestierte er schwach. Seine Schwiegermutter hatte recht. Er hatte keine Ahnung, wie er jemandem ein Ehemann sein sollte, und schon gar nicht Viv. Und ein Vater? Nicht die geringste Vorstellung.

Aber es war mehr als nur der Gedanke, Frau und Kind zu haben, der ihm furchtbare Angst einflößte. Es ging um seine Musik. Er wusste, dass er für mehr bestimmt war als die Zweizimmerwohnung über dem Laden seines Vaters. Er war dazu ausersehen, Jazz zu spielen, und nicht dazu, sich Gedanken darüber zu machen, ob einem Kunden ein ein- oder zweireihiges Sakko besser stand.

Wenn er nur die Chance hätte – nur eine einzige Chance –, dann könnte er es als Musiker schaffen.

Seine Schwiegermutter öffnete ihre Handtasche und zog ein Bündel Geldscheine hervor. »Sie sind ein Mann von neunzehn Jahren. Was bedeuten Ihnen schon Versprechungen?«

Er starrte das Geld an. Es war so viel, mehr als er sich je vorgestellt hatte, einmal in der Hand zu halten. Was, wenn er Viv nachholen würde, sobald das Baby auf der Welt war? Er könnte eine hübsche kleine Wohnung für sie mieten, vielleicht in der Bronx, wo, wie er gehört hatte, irische Katholiken und Juden Seite an Seite lebten. Viv könnte den Haushalt führen und ihr gemeinsames Kind großziehen, und er würde Arbeit suchen. Wenn er ein festes Engagement bei einer Band fände, könnte er für ihren Unterhalt sorgen und bräuchte nie wieder ein Schnittmuster für ein Jackett zu sehen.

Er spürte, wie Viv neben ihn trat. An dem kalten Tag wirkte ihre Körperwärme tröstlich. »Joshua?«

»Ich muss allein mit dir reden«, sagte er.

»Nein«, widersprach Mrs. Byrne.

»Was ist los, Mum?«, fragte Viv, den Blick auf die Geldscheine in der Hand ihrer Mutter gerichtet.

»Könnten wir bitte nur ein paar Minuten für uns haben?«, flehte er.

»Was ist los, Joshua?«, wollte sein Vater wissen, während der Rest der Gruppe zu ihnen trat.

»Ihr Sohn reist ab«, erklärte Mrs. Byrne.

Viv fuhr zusammen. »Was?«

Er fasste ihre Hände. »Deine Mutter hat uns Geld angeboten.«

»Das ist kein Angebot«, gab Mrs. Byrne zurück.

Er wandte seiner Schwiegermutter den Rücken zu. Er wollte Viv unbedingt alles erklären. Wenn sie nur kurz beiseitetreten könnten. Wenn er ihr das nur verständlich machen könnte.

»Hör zu, es ist genug, um mir eine Passage nach New York zu kaufen. Ich werde Arbeit finden. Eine Wohnung«, sagte er schnell.

»Und was ist mit mir? Mit unserem Kind?«, fragte Viv und legte unter ihrem offenen Mantel die Hand um ihren Bauch.

»Ich lasse dich nachkommen, sobald das Baby da ist. Versprochen.« Jetzt bettelte er beinahe.

Viv schüttelte den Kopf. »Überleg doch, was du sagst. Nach Amerika ziehen? Das ist verrückt.«

»Dieses Geld – das ist meine Chance, Viv. Das, was ich mir immer gewünscht habe. Wenn ich eine Anstellung in einem Orchester finden kann –«

»Hör dir doch selbst zu. Falls du Arbeit finden kannst. Du hast doch keine Ahnung, ob das überhaupt möglich ist, Joshua.«

Er trat einen Schritt zurück. Sie glaubte nicht, dass er es schaffen würde. Trotz ihrer Gespräche und des verträumten Blicks, mit dem sie ihm gelauscht hatte, als er ihr von seinen großen Ambitionen erzählt hatte, hielt sie ihn letzten Endes nicht für gut genug.

»Wir sind verheiratet. Wir bekommen ein Kind.« Vivs Blick huschte zu ihren Eltern. »Du hast mir versprochen, dass wir das gemeinsam durchstehen.«

»Und jetzt verspreche ich dir, dich nachzuholen. Bis dahin schicke ich dir Geld …«

»Nein«, ergriff Mr. Byrne endlich das Wort. Als der sonst so ruhige Mann sprach, erstarrte Joshua. »Wenn Sie unser Geld nehmen, verschwinden Sie und kommen nicht wieder. Sie werden nicht schreiben. Sie werden meine Tochter in Ruhe lassen.«

Das ging alles zu schnell. »Ich muss überlegen.«

Sofort wurde ihm klar, dass er einen Fehler begangen hatte. Einen großen.

Viv taumelte rückwärts. »Du denkst wirklich darüber nach.«

Fast hätte er auf der Stelle alles zurückgenommen, doch sein Vater schaltete sich ein. »Das ist lächerlich, Joshua. Du hast jetzt eine Frau, und ihr erwartet ein Kind. Du hast eine gute Arbeit. Du musst vernünftig sein.«

Ein Schneider ist nie arbeitslos. Kannst du dasselbe von einem Musiker behaupten?

Du solltest einen ehrlichen Beruf ergreifen.

Irgendwann langweilt es dich, deine kleinen Lieder zu spielen, und dann wird es dir leidtun, das alles aufgegeben zu haben.

Seit Jahren nagten all die kleinen Bemerkungen seines Dads an ihm und untergruben seine Entschlossenheit. Es waren gut gemeinte Ratschläge, aber er ertrug es nicht mehr.

»Das ist meine Chance, Dad. Es würde schrecklich lange dauern, genug zusammenzusparen … Ich habe mir das immer gewünscht. Das weißt du genau.«

Sein Vater erbleichte. »Wie kannst du auch nur denken –«

»Das reicht. Nehmen Sie das Geld, sonst ist es fort«, sagte Mrs. Byrne.

In diesem Moment hasste Joshua seine Schwiegermutter wie noch nie einen Menschen zuvor.

»Viv«, sagte er und streckte die Hand aus, um ihr die Tränen wegzuwischen. »Es ist das Beste so.«

Ihre Unterlippe zitterte. »Und wo bleibe ich? Wie soll ich unser Kind großziehen? Das kann ich nicht allein.«

Er versuchte zu lächeln. »Verstehst du denn nicht? Das brauchst du nicht.«

»Aber genau das willst du doch von mir. Was, wenn du nie genug Geld verdienst, um mich nachzuholen?«, fragte sie.

Was, wenn du es nicht schaffst?

Das war genug.

Er nahm seinen ganzen Mut zusammen und streckte Mrs. Byrne die Hand entgegen. Mit triumphierender Miene reichte sie ihm die Geldscheine. Sie lagen schwer in seiner Hand.

»Bitte, Joshua …«, begann Viv.

»Es ist auch mein Leben!«, brach es aus ihm heraus. »Ich habe nicht vor, es aufzugeben.«

Sie trat einen Schritt zurück. »Wenn du heute gehst, will ich dich nie wiedersehen. Ich will dein Geld nicht. Ich will nicht, dass du uns besuchst. Ich will nicht, dass du schreibst. Dieses Kind wird mein Kind sein, ganz allein meins.«

Ihre Worte trafen ihn wie Schläge, und fast hätte er aufgegeben. Vivs Kind. Nicht ihr gemeinsames.

»Viv …«

Sie schüttelte den Kopf. »Geh. Du hast genug angerichtet. Das Baby wird deinen Namen haben. Das ist ohnehin alles, was ich von dir brauche.«

Mehr bist du nicht wert.

Tja, wenn sie so empfand, dann würde er nicht bleiben und sie zwingen, diese Farce einer Ehe zu leben. Er würde seine Freiheit wählen und nach New York fahren, wie er es sich immer gewünscht hatte.

Er wollte sich abwenden, doch sein Vater vertrat ihm den Weg.

»Tu das nicht, Joshua«, sagte Dad.

»Lass mich gehen«, murmelte er.

»Denk doch darüber nach, was du tust. Deine Mutter und ich –«

»Er wollte immer schon fortgehen.« Alle drehten sich um und sahen Rebecca an, die ein kleines Stück entfernt von den anderen stand. Sie starrte ihn durchdringend an, als könnte sie seine geheimsten Gedanken lesen. »Er redet seit Jahren davon. Wir haben bloß nicht zugehört.«

Mum stieß einen kehligen Klagelaut aus und sank in die Arme seines Vaters, während Mrs. Byrne mit triumphierender Miene einen Arm um ihre Tochter schlang.

»Komm. Zeit, nach Hause zu gehen«, sagte seine Schwiegermutter.

Er sah zu, wie seine Braut und ihre Familie langsam wieder die Treppe der St. George’s Hall hinuntergingen und in das Auto stiegen, in dem sie gekommen waren.

Er spürte, wie seine Schwester neben ihn trat. »Sie ist weg.«

»Das war ihre Entscheidung«, erklärte er.

»Bist du dir sicher?«, fragte Rebecca.

Er warf seiner Schwester einen Blick zu. »Pass gut auf Mum und Dad auf.«

Sie zuckte mit den Schultern. »Was bleibt mir anderes übrig?«

»Ich komme zurück«, sagte er.

Sie neigte den Kopf zur Seite. »Ach ja?«

Sogar seine eigene Schwester glaubte nicht an ihn. Nun würde er nach New York gehen und es ihnen zeigen. Er würde beweisen, dass er Talent hatte.

Ohne ein weiteres Wort stopfte er die Hände in die Taschen und ging davon. Die Geldscheine der Byrnes zogen ihn hinunter wie Blei.

1. TEIL

1939

Viv

15. August 1939

Warte mal, Bärchen.«

Viv zog Maggie behutsam einen Schritt zurück, damit sie aufhörte, ständig gegen die hölzerne Fußleiste von Mrs. Lloyds Ladentheke zu treten, obwohl ihr klar war, dass es unmöglich war, eine gelangweilte Vierjährige zu etwas zu überreden, was sie nicht wollte.

»Sie wird noch das Holz zerkratzen«, meinte Mrs. Lloyd missbilligend, während sie das Mehl für Vivs Bestellung abwog. »Und ihre Schuhe.«

»Tut mir leid«, sagte Viv und griff wieder nach der Hand ihrer Tochter.

Maggie kreischte widerspenstig, und sofort ließ Viv sie los. Ein Anstoß zu viel in die falsche Richtung und Maggie würde einen Trotzanfall bekommen, der Mrs. Lloyd noch mehr missfallen würde.

»Sie ist doch noch ein kleines Mädchen«, meinte Mr. Lloyd und blickte über die Theke, um Maggie nachsichtig zuzulächeln. »Ich wette, du hattest heute schon einen langen Tag, weil du deiner Mummy beim Einkaufen geholfen hast.«

Maggie hörte auf, gegen die Theke zu treten, und spähte zu dem älteren Mann hoch, der eine Brille mit Drahtgestell trug und sich das schüttere graue Haar sorgfältig über seinem glänzenden Kahlkopf zurechtgekämmt hatte.

»Haben Sie Bonbons?«, fragte Maggie und setzte bewusst ihre Unschuldsmiene auf, die sie wie eine dunkelhaarige Shirley Temple aussehen ließen.

Mr. Lloyd lachte. »Willst du dir selbst eins aussuchen?«

Maggie sprang auf. »Ja, bitte!«

Viv lächelte, als der Ladenbesitzer den Deckel von dem großen Glas nahm, das neben der Kasse stand. Dann bückte er sich, um Maggie hochzuheben, damit sie sich ein Bonbon herausangeln konnte, genau wie er es damals bei Viv getan hatte, als sie ein kleines Mädchen gewesen war. Sie sah zu, wie ihre Tochter sich ein grünes nahm, dann das Zellophan abwickelte und die Süßigkeit in den Mund steckte.

»Die meisten Kinder nehmen Rot oder Lila«, bemerkte Mr. Lloyd.

»Maggie tut Dinge gern auf ihre eigene Art«, sagte sie.

Mrs. Lloyd zog die Augenbrauen hoch, schwieg aber glücklicherweise.

»Was darf es sonst noch sein, Mrs. Levinson?«, fragte Mr. Lloyd.

Viv zog die zerknitterte Einkaufsliste hervor, die ihre Mutter mit Bleistift notiert hatte. Eigentlich brauchte sie keine – sie erledigte die Einkäufe für ihre Familie, seit sie sechzehn war –, aber Mum traute ihr immer noch nicht.

»Nur noch zwei Dosen Bohnen, bitte«, sagte sie.

Mr. Lloyd griff hinter die Theke und nahm die Dosen herunter, runzelte dann aber die Stirn. »Die hier hat eine Beule. Ich gehe nach hinten und hole Ihnen eine andere.«

»Oh, machen Sie sich bitte keine Mühe«, wandte sie ein.

Doch er winkte ab. »Macht gar nichts. Bin sofort wieder da.«

Der ältere Herr schlurfte ins Lager davon und summte dabei vor sich hin. Viv wusste seine zuvorkommende Art zu schätzen, aber er hatte ihr ein größeres Problem hinterlassen. Seine Frau.

Die hatte schon die Hände in die Hüften gestemmt, als Viv sich zu ihr umdrehte.

»Und, glauben Sie, es gibt wieder Krieg?«, fragte Mrs. Lloyd.

»Ich hoffe nicht«, erwiderte sie.

Mrs. Lloyd schnaubte verächtlich. »Niemand hofft auf einen Krieg. Mr. Lloyd und all seine Brüder haben im letzten gekämpft. Er ist als Einziger zurückgekommen. Drei junge Männer, alle tot. Es hat ihre Mutter fast umgebracht.«

Schicksale wie diese hatte es überall in ihrer Gegend gegeben. In Liverpool waren die Männer ganzer Stadtviertel geschlossen zur Armee gegangen. Brüder und Cousins. Onkel und Neffen. Väter und Söhne. Arm und Reich. Sie waren in einen Krieg gezogen, von dem man ihnen erzählt hatte, er würde bis Weihnachten vorbei sein, nur um herauszufinden, wie sehr sich alle geirrt hatten. Die Soldaten hoben Schützengräben aus. Schlachtfelder erstreckten sich über Meilen. So viele waren gefallen. Nur wenige waren heimgekehrt.

»Das wird nicht passieren. Das ist unmöglich«, sagte Viv, obwohl sie vorhin, als sie an einem Zeitungsladen vorbeigekommen war, einen Blick auf das Liverpool Echo geworfen hatte. Die Schlagzeilen waren seit Tagen die gleichen.

Deutschland stellte eine Bedrohung dar.

Großbritannien würde sich und seine Verbündeten verteidigen.

Der Krieg stand kurz bevor.

»Und was haben Sie vor, falls es doch passiert?«, fragte Mrs. Lloyd.

»Ich habe überlegt, mich freiwillig zum Luftschutz zu melden.«

Mrs. Lloyd schüttelte den Kopf. »Ich meine, mit ihr hier.«

Viv folgte ihrem Blick zur Mitte des Ladens, wo Maggie sich ausgelassen auf der Stelle drehte, sodass sich das blau-weiß karierte Sommerkleid, das Viv für sie genäht hatte, um sie bauschte.

»Was ich mit meiner Tochter anfangen will?«, fragte sie.

»Die Regierung hat schließlich Listen aufgestellt, richtig? Um die Kinder zu evakuieren.«

Ihre Brust zog sich zusammen, während sie Mrs. Lloyd in einer Mischung aus Entsetzen und Schock anstarrte. Wie konnte sie es wagen, ihr nahezulegen, sie solle Maggie wegschicken! Wie konnte sie es wagen!

»Maggie bleibt zu Hause bei mir. Wo sie hingehört«, erklärte Viv und bemühte sich um einen gleichmütigen Ton.

Mrs. Lloyd amtete betont ein. »Sie ist so kurz nach Ihrer Hochzeit auf die Welt gekommen. Schwer zu sagen, was eine Frau für so ein Kind empfindet.«

Jeder Nerv in ihr sprühte Funken angesichts der Dreistigkeit dieser Frau. »Ich liebe meine Tochter«, stieß sie hervor.

Mrs. Lloyd stützte sich auf die Theke. »Es muss schwierig für Sie sein ohne Ihren Mann. Aber andererseits, was kann man von denen schon erwarten?«

Viv kniff die Augen zusammen. »Wofür genau halten Sie meinen Mann, Mrs. Lloyd?«

Die Frau des Ladenbesitzers zuckte mit den Schultern. »Na ja, er ist Jude. Sie können sich vorstellen, wie schockiert ich darüber war, dass Mrs. Byrnes Tochter sich mit einem Juden eingelassen hat. Ihre Eltern sind gute Menschen. Es muss Ihrer Mutter das Herz gebrochen haben.«

Viv trat einen Schritt vor. Sie hatte keine Ahnung, was sie vorhatte – die elende Frau schütteln? Sie ohrfeigen? –, als Mr. Lloyd mit einer Dose Bohnen in der Hand wieder zu ihnen kam. Er sah von seiner Frau zu Viv und schob sich rasch zwischen sie.

»Bill braucht dich im Hinterzimmer, Marjorie«, sagte er.

Viv dachte schon, Mrs. Lloyd würde protestieren, doch nach einigem Zögern ging sie ohne ein weiteres Wort.

»Tut mir leid«, sagte Mr. Lloyd, sobald seine Frau außer Hörweite war. »Mrs. Lloyd arbeitet jetzt öfter im Laden, weil meine Jungs beide ihren Wehrdienst machen, und wir können es uns kaum leisten, Bill im Lagerraum zu behalten, und schon gar nicht, einen anderen Verkäufer einzustellen, der sowieso fort sein wird, sobald der Krieg erklärt wird.«

Viv strich den Saum ihres hellblauen Tuchmantels glatt und versuchte, den Ärger herunterzuschlucken, der ihr noch im Hals steckte. »Mr. Lloyd, meine Familie hat schon bei Ihnen eingekauft, bevor ich geboren wurde. Mein Vater und Sie waren zusammen Messdiener in der Blessed Sacrament Church.«

Mr. Lloyd nestelte am Rand der großen braunen Papierbögen, in die er Päckchen einschlug. »Bitte haben Sie Verständnis, Mrs. Levinson. Meine Frau ist eine gute Katholikin, aber ich habe sie überredet, Sie weiter hier einkaufen zu lassen, als Sie …« Mit einer Handbewegung wies er auf ihren Bauch.

Viv schoss das Blut in die Wangen. Die meisten Ladenbetreiber in Walton, ihrem eng verbundenen katholischen Viertel, hatten sie weiter bedient, aber alle außer Mr. Lloyd hatten ihr das Gefühl vermittelt, sie zu verurteilen. Sie war sich nicht ganz sicher, ob es daran lag, dass sie offensichtlich vor ihrem Hochzeitstag schwanger geworden war, oder daran, dass ihr Mann nicht katholisch war. Aber in Anbetracht dessen, wie viele junge Frauen, mit denen sie zur Schule gegangen war, schnell geheiratet und sechs Monate später gesunde Babys mit kräftigen Lungen zur Welt gebracht hatten, vermutete sie Letzteres.

Maggie zupfte am Saum von Vivs hellbraunem Rock. »Ich will nach Hause, Mummy.«

Viv öffnete ihre Geldbörse, ohne Mr. Lloyd anzusehen. »Was schulde ich Ihnen?«

Sie zählte die Münzen ab und beeilte sich, all ihre Einkäufe in ihr Netz zu packen. Dann nahm sie Maggie bei der Hand und ging heim.

Es waren vier Straßen bis zu ihrem Elternhaus, in dem sie alle lebten – das zweite Bett in dem Zimmer, das sie früher mit Kate geteilt hatte, war inzwischen durch Maggies Bettchen ersetzt worden. Sobald sie in die Ripon Street einbogen, rannte Maggie voraus. Viv lächelte matt, als sie sah, wie ihre Tochter auf der Türschwelle herumhüpfte. Zweifellos konnte sie es nicht abwarten, ihren Großeltern von dem Bonbon zu erzählen, das Mr. Lloyd ihr geschenkt hatte. An einem guten Tag würde Mum mit halbem Ohr zuhören und die Lippen zusammenpressen. Wenn sie einen schlechten hatte, würde Viv ihr Bestes geben, Maggie davonzuziehen, bevor ihre Mutter anfing, ihr Vorhaltungen zu machen.

Es hätte nicht so zu kommen brauchen …

Viv balancierte ihr Einkaufsnetz und die Handtasche auf ihrem Arm, während sie versuchte, den Haustürschlüssel zu finden.

»Mummy! Beeil dich, Mummy!« Maggie sprang von einem Fuß auf den anderen.

»Einen Moment noch, Bärchen«, murmelte sie.

Die Haustür schwang auf. Ihre Mutter, die selbst mit ihren hochtoupierten braunen Locken kleiner war als Viv, brachte es trotzdem fertig, den Rahmen der Haustür vollständig auszufüllen.

»Was habe ich dir übers Schreien gesagt, Maggie? Wir sind hier nicht auf dem Schulhof«, begrüßte Mum sie tadelnd.

»Ich habe nicht geschrien, Nan«, beharrte Maggie und schlang die Arme um Mums Beine.

Sie erstarrte und machte das kleine Mädchen von sich los. »Geh nach oben in dein Zimmer.«

Viv wollte schon protestieren und einwenden, dass nur sie als Maggies Mutter ihr zu sagen hatte, was sie zu tun hatte und wann, doch Mums Miene ließ sie innehalten.

»Was ist?«, fragte sie.

»Geh, Maggie«, wiederholte Mum, drehte ihre Enkeltochter an den Schultern um und versetzte ihr einen kleinen Schubs in Richtung Treppe.

Maggie hüpfte widerstandslos davon.

Sobald Maggie den Treppenabsatz überquert hatte, senkte Mum die Stimme. »Pater Monaghan ist hier. Er möchte mit dir reden.«

Grauen breitete sich in Viv aus wie Farbe, die in Wasser tropfte.

»Ich muss die Einkäufe wegräumen«, erklärte sie und umklammerte das Netz. Alles, um nicht mit Pater Monaghan reden zu müssen.

Mum ergriff die Tasche und nahm sie ihr weg. »Er ist mit deinem Vater im Wohnzimmer.«

Vorsichtig setzte Viv ihren Strohhut ab, um sich im Spiegel das hellbraune Haar glattzustreichen. Die Luft war feucht, doch ihr Haar, das sie sich jede Nacht mit Nadeln eindrehte, hatte noch ein paar Wellen bewahrt. Sie wünschte, sie hätte ihr Gesicht mit ein wenig Lippenstift auffrischen können, doch auch wenn sie verheiratet war, lebte sie weiter unter dem Dach ihrer Eltern, wo sich die Regeln nicht geändert hatten. Schminken verboten.

Es würde nicht besser werden, wenn sie es hinausschob. Sie holte tief Luft, klopfte an die Wohnzimmertür und schob sie auf.

»Da bist du ja, Viv«, sagte Dad in seinem sanften Ton. Er war schon halb aufgestanden, schien es sich dann aber anders zu überlegen.

»Ich war gerade in Mr. Lloyds Laden, um die letzten Einkäufe zu erledigen.« Sie nickte Pater Monaghan zu, der dasaß und eine Tasse aus dem besten Teeservice ihrer Familie in der rechten Hand hielt. »Guten Tag, Pater.«

»Guten Tag, Mrs. Levinson. Ich hoffe, es geht Ihnen gut«, sagte er. Er hatte die Hände auf die Lehnen des Sessels gelegt, der normalerweise Dad vorbehalten war.

»Ja. Danke«, erwiderte sie.

»Ihr Vater und ich haben uns gerade über eine Angelegenheit unterhalten, die Sie betrifft. Wollen Sie sich nicht zu uns setzen?«, fragte Pater Monaghan und wies mit einer Kopfbewegung auf den Platz ihm gegenüber, als wäre er hier zu Hause.

Viv setzte sich auf den Rand des Sessels, faltete die Hände und wappnete sich.

»Ich bin gekommen, um mit Ihrem Vater darüber zu reden, dass es Krieg geben könnte …«, begann der Priester.

»Ich bin mir der Schlagzeilen bewusst, Pater«, sagte sie und achtete darauf, dass ihre Stimme gerade noch respektvoll klang. Worum es hier auch gehen mochte, sie wünschte sich, der Geistliche würde das Haus so schnell wie möglich verlassen.

»Dann wissen Sie ja, dass die sehr reale Möglichkeit besteht, dass wir alle bald schwere Entscheidungen treffen müssen. Opfer bringen, wie sie Jesus Christus für uns alle auf sich genommen hat«, erklärte Pater Monaghan.

Als er Gott erwähnte, rutschte Viv unruhig auf ihrem Platz herum. Ihrer Erfahrung nach folgten darauf selten gute Nachrichten.

»Pater Monaghan macht sich Sorgen um Maggie. Und deine Mutter und ich ebenfalls«, setzte ihr Vater hinzu.

Dad machte sich Sorgen um Maggie? Unwahrscheinlich, denn das hätte erfordert, dass er ihrer Tochter überhaupt Beachtung schenkte. Es schmerzte sie zu sehen, wie er Kates drei Kinder bei jedem Besuch mit Aufmerksamkeit überhäufte – nur um dann Maggie zu ignorieren, wenn sie versuchte, ihm eine Geschichte zu erzählen oder ihn aufzufordern, mit ihrem Stofftiger Tig zu spielen.

»Danke für Ihre Sorge, Pater, aber Maggie ist bei mir gut aufgehoben«, erklärte sie.

Der Priester schüttelte ernst den Kopf. »Ich wünschte, wir wären uns alle so sicher wie Sie, Mrs. Levinson, aber die Wahrheit ist, dass nur Gott weiß, was passieren wird, wenn Krieg ausbricht.«

»Ich kümmere mich um meine Tochter«, sagte sie, und ein harter Unterton schlich sich in ihre Stimme.

»Und wie willst du ein kleines Mädchen vor einer Bombe schützen, Viv?«, fragte Dad.

»Wir verstecken uns im Keller. Oder wir gehen in einen der öffentlichen Bunker, die gerade gebaut werden«, erklärte sie wie jedes Mal, wenn das Thema zur Sprache kam.

»Du hast keine Ahnung, wie das ist«, entgegnete Dad, und sein Blick wirkte hohl wie immer, wenn er über den letzten Krieg redete. »Du hast nicht gesehen, was ich gesehen habe.«

Pater Monaghan hob eine Hand, um sie beide zum Schweigen zu bringen. »Ihre Eltern machen sich Sorgen um Maggies Sicherheit. Liverpool wird zum Angriffsziel werden. Es ist eine große Hafenstadt und hat Fabrikanlagen«, sagte er. »Ich habe in der ganzen Gemeinde mit vielen Familien mit kleinen Kindern gesprochen. Natürlich will keine Mutter ihre Kinder fortschicken, aber sie verstehen, welch große Risiken sie eingehen, wenn sie so egoistisch sind, ihre Kinder zu Hause zu behalten.«

Maggie war noch so jung. Wenn Viv sie umarmte, spürte sie unwillkürlich, wie zart und zerbrechlich der kleine Körper ihrer Tochter war. Maggie musste in Sicherheit sein, und niemand hatte den Instinkt, ihre Tochter so zu beschützen, wie Viv es tun würde.

»Ich habe die Leitlinien der Regierung gesehen. Wenn es Krieg gibt, werden Kinder über fünf evakuiert. Maggie ist letzten Monat erst vier geworden«, erklärte sie.

»Die Kirche hilft Familien, Vorkehrungen für Kinder zu treffen, die zu jung für die Regierungspläne sind. Ich stehe bereits in Kontakt zu mehreren respektablen katholischen Ehepaaren, die auf dem Land leben und gern ein kluges, fröhliches kleines Mädchen in Maggies Alter aufnehmen würden.«

Sie schoss von ihrem Platz hoch. »Nein!«

»Ich weiß, es ist vielleicht schmerzlich für Sie«, begann Pater Monaghan.

»Ich lasse nicht zu, dass meine Tochter und ich getrennt werden.«

Seit Maggie schreiend zur Welt gekommen war, waren sie zu zweit gewesen. Maggie war ihre beste Freundin und ihr Grund zu leben. Sie war das Einzige, was diese elende Existenz unter dem Dach ihrer Eltern lebenswert machte.

»Deine Mutter findet, du musst tun, was das Beste für das Mädchen ist«, warf ihr Vater ein.

»Und was denkst du, Dad?«, schoss Viv zurück.

Er presste die Lippen zusammen. »Was deine Mutter sagt, ist das Beste.«

Entrüstet schüttelte sie den Kopf.

»Mrs. Levinson«, sagte Pater Monaghan in strengem Ton, »Sie stellen Ihren eigenen Egoismus über die Sicherheit Ihrer Tochter.«

»Es ist nicht egoistisch, der Meinung zu sein, dass ein Kind zu seiner Mutter gehört«, erwiderte sie.

»Doch, wenn die Folge der Tod des Kindes sein könnte.«

Bei den Worten des Geistlichen gefror Viv das Blut.

»Was, wenn Maggie bei einem Bombenangriff umkommt, obwohl sie auf dem Land sicher gewesen wäre?«, legte der Priester nach.

»Das Risiko von Luftangriffen besteht überall«, flüsterte sie und versuchte, sich selbst davon zu überzeugen.

»Sind Sie bereit, das Leben Ihrer Tochter darauf zu verwetten?«, wollte Pater Monaghan wissen.

Schweigen senkte sich über den Raum. Das einzige Geräusch war das leise Klirren von Metall, das aus der Küche zu ihnen drang, in der Mum das Abendessen kochte.

Schließlich erhob sich der Priester aus seinem Sessel. »Ich muss mich um Gemeindeangelegenheiten kümmern. Denken Sie über mein Angebot nach, Mrs. Levinson, aber lassen Sie sich nicht zu viel Zeit. Wir arbeiten nur mit respektablen Familien zusammen, und die werden als Pflegeeltern sehr gefragt sein.«

Dad geleitete Pater Monaghan hinaus, und Viv blieb bei geöffneter Tür allein im Wohnzimmer zurück.

»Ich muss mich für die Sturheit meiner Tochter entschuldigen, Pater«, hörte sie ihn in der Diele sagen.

»Wir dürfen nicht vergessen, wie schwierig es für eine Mutter sein muss, ihr Kind fortzuschicken, Mr. Byrne«, gab der Priester zurück.

Vivs Schultern entspannten sich ein wenig, doch dann sprach Pater Monaghan weiter. »Sie sollten Ihre Tochter bitten, an Jesaja 49, Vers 15 zu denken. ›Kann eine Mutter ihren Säugling vergessen? Bringt sie es übers Herz, das Neugeborene seinem Schicksal zu überlassen? Und selbst wenn sie es vergessen würde – ich vergesse dich niemals!‹«

Sie erstarrte angesichts der unausgesprochenen Folgerung, dass die Liebe einer Mutter versagen könne, die Liebe Gottes jedoch nie. Hatte sie nicht schon bewiesen, dass sie für Maggie alles tun würde?

Als sie auf der Treppe der St. George’s Hall gestanden und zugesehen hatte, wie ihr frischgebackener Ehemann sie zurückließ, hatte sie sich entschieden, ihr Schicksal in die Hände ihrer Eltern zu legen, damit ihr Ungeborenes und sie ein Dach über dem Kopf und Geld für Essen haben würden. Die gesamte Schwangerschaft hindurch hatte sie Mums Anspielungen und Sticheleien ertragen. Wenn Maggie Koliken gehabt hatte, hatte sie ihre Tochter allein beruhigt, weil ihre Mutter sich weigerte, ihr zu helfen. Als Maggie zu einem lebhaften kleinen Mädchen herangewachsen war, hatte Viv versucht, das Leben ihrer Tochter mit all der Liebe zu erfüllen, die ihre Großeltern ihr nicht zeigten. Maggie hatte Kleidung, Essen und ein Dach über dem Kopf, weil Viv die beste Wahl getroffen hatte, die sie hatte treffen können.

»Bitte danken Sie Mrs. Byrne für den Tee. Ihrer ist immer besonders köstlich«, hörte sie Pater Monaghan noch sagen, dann wurde die Tür geöffnet und wieder geschlossen.

Viv trat an die Spitzengardinen, die Mum pflichtbewusst alle sechs Monate wusch, und sah der schwarz gekleideten Gestalt des Priesters nach, der über den Gehsteig in Richtung der Church of Our Lady of Angels davonging.

Nein.

Sie würde ihre Tochter nicht wegschicken.

25. August 1939

Mein lieber Sohn,

ich weiß, dass du sehr beschäftigt bist und verstehe, dass du keine Zeit hast, mir zurückzuschreiben. In New York erlebst du sicher so viel, dass du einen ganzen Schiffsbauch mit Briefen füllen könntest.

Normalerweise würde ich erzählen, dass sich in Liverpool nicht viel verändert. Doch das ist nicht mehr so. Allein diesen Monat haben zwei weitere Flüchtlingsfamilien Schutz bei der Synagoge gesucht. Wir haben unser Bestes getan, um sie freundlich aufzunehmen, aber sie sind so schüchtern, und sie haben diesen fürchterlichen gehetzten Blick, den so viele der Menschen haben, die aus Deutschland hergekommen sind. Sie scheinen niemandem zu trauen, und ich kann es ihnen nicht verübeln. Wie könnten sie auch angesichts dessen, was man aus Deutschland und Österreich hört?

Dein Vater glaubt nicht, dass Chamberlains Appeasement-Abkommen Hitler aufhalten wird. Aber was können wir tun, außer zu hoffen? Die Schlagzeilen in den Zeitungen und die Sendungen im Radio erklären uns alle, dass wir uns auf einen Krieg vorbereiten, ohne ausdrücklich zu sagen, dass er unvermeidlich ist.

Ich bin sehr froh darüber, dass du in New York sicher bist. Bitte bleib dort und versprich mir, auf dich aufzupassen.

Mit all meiner Liebe

Deine Mutter

Joshua

31. August 1939

Joshua und die anderen Insassen des vollgepackten U-Bahn-Waggons stießen leicht gegeneinander, als der Zug der Linie 1 hin und her schwankte, während er rumpelnd die Station Christopher Street/Sheridan Square verließ. Sie lag nur ein paar Häuserblocks von seinem schäbigen kleinen Apartment entfernt. Mit einer Hand hielt er seinen Saxofonkasten und den Kleidersack, die ihm leicht gegen das Bein schlugen, doch er bemerkte es kaum. Sein Blick ruhte starr auf dem neusten Brief seiner Mutter.

Bitte bleib dort, und versprich mir, auf dich aufzupassen.

Er schüttelte den Kopf und steckte den Umschlag vorsichtig in die Innentasche seines Jacketts. Dann entfaltete er die New York Times vom Vortag an der Stelle, an der er zu lesen aufgehört hatte. Die Schlagzeile prangte groß auf Seite vier.

NOTFALLPLAN – AMERIKANER IN LONDON ÜBER NOTFALLPLAN UNTERRICHTET

Vier Zonen für U.S.-Bürger eingerichtet, die nicht heimreisen können

ZUSÄTZLICHE SCHIFFE GECHARTERT

Druck in Schottland spürbar – 2000 »Flüchtlinge« noch in Paris gestrandet

Es lag seit Wochen in der Luft. Hitler schien entschlossen zu sein, das Münchner Abkommen zu ignorieren, das Chamberlain im vergangenen Jahr ausgehandelt hatte. Wie ein Schwachkopf hatte er es angepriesen und »Frieden für unsere Zeit« versprochen.

»Verdammt unwahrscheinlich«, murmelte Joshua halblaut und erntete einen scharfen Blick von einer Frau, die einen mit Blumen geschmückten Strohhut trug. Er lächelte ihr verkniffen zu, zog ein Taschentuch hervor, um sich die Stirn abzutupfen, und richtete seine Aufmerksamkeit dann wieder auf die Zeitung.

Es sah aus, als steuerte Großbritannien geradewegs auf einen neuen Krieg mit Deutschland zu.

Am liebsten hätte er jetzt einen Drink gehabt.

Das war das Problem daran, ein Brite im Ausland zu sein. Ganz gleich, wie lange er in New York lebte, Liverpool würde immer sein Zuhause bleiben.

Er war so von sich überzeugt gewesen, als er sein Saxofon zu seinem ersten Vorspielen geschleppt hatte – nur wenige Tage, nachdem er in New York vom Ozeandampfer gestiegen war. Er hatte so viel aufgegeben, um herzukommen, da konnte er unmöglich scheitern. Doch nachdem er sich einen Monat lang erfolglos um einen Platz in einer Band beworben hatte, war es immer schwerer geworden, den Strudel aus Schuldgefühlen, Heimweh und Erleichterung zu beherrschen, der ihn befiel, sobald er an England dachte. Selbst vier Jahre später gab es keine Nacht, in der er nicht im Bett lag und sich daran erinnerte, wie er sich auf der Treppe der St. George’s Hall für dieses Leben entschieden hatte, während über ihnen Möwen kreischten und der Schock sich langsam auf den Gesichtern seiner Familienmitglieder abzeichnete.

Die Abende verbrachte er meist in den Jazzclubs in der Zweiundfünfzigsten Straße – der »Swing Street« –, wo er bei Kelly’s Stables, The Famous Door und im 21 Club zu den regelmäßigen Ersatzspielern für die Hausbands gehörte. Tagsüber hatte er eine Handvoll Schüler. Ab und zu bot sein Freund Lonnie ihm Studioarbeit an. Es reichte aus, um gerade so über die Runden zu kommen, aber nicht für viel mehr.

Sein Leben hätte so viel größer sein sollen, doch er war in die Stadt gekommen und hatte herausgefunden, was bereits viele vor ihm hatten erkennen müssen: New York scherte sich einen Dreck um jemandes Träume.

Die Bremsen des Zugs kreischten, als er in die Station an der Fünfzigsten Straße einfuhr. Der Waggon kam ruckelnd zum Halten, und die Fahrgäste rempelten einander an, während sie darauf warteten, dass die Türen sich öffneten. Joshua faltete die Zeitung zusammen, klemmte sie sich unter den Arm und schloss sich den hinausströmenden Passagieren an.

Sobald er die U-Bahn-Treppe hinter sich gelassen hatte, schlug er automatisch seinen üblichen Weg zum Famous-Door-Club ein – östlich die Fünfzigste Straße entlang, dann auf der Sechsten nach Norden und direkt zur Zweiundfünfzigsten. Er huschte durch die Seitentür, die wie immer von Sid, dem Inspizienten des Clubs, bewacht wurde.

»Hey, English«, sagte Sid mit der dünnen schwarzen Zigarre im Mund, die immer zwischen seinen Lippen steckte. Der Bühnenmeister hatte einen Ventilator neben seinem kleinen Schreibtisch aufgestellt, der ihm das geölte, zusammenklebende Haar in einem Stück aus der Stirn blies.

»Schon jemand da?«, fragte er.

»Root und McKinley«, brummte der Inspizient. »Sieht aus, als wäre Root nach gestern Nacht noch nicht wieder nüchtern. Riecht auch so.«

Die beiden Trompetenspieler waren, anders als Joshua, feste Mitglieder der Hausband des Famous Door. Er vertrat einen Saxofonspieler, der rückfällig geworden war und im Gefängnis saß, nachdem er im betrunkenen Zustand versucht hatte, einen U-Bahn-Zug zu stehlen.

»Danke«, sagte er und schob sich an Sids Schreibtisch vorbei.

»Willst du nicht fragen, warum Root immer noch besoffen ist? Weißt du, ich glaube, es ist diese Carol –«

»Geht mich nichts an.« Joshua konnte sich nicht erlauben, es sich mit jemandem zu verderben. Musiker wechselten in der Stadt so häufig die Clubs und Bands, dass er nie wusste, wen er vielleicht irgendwann um einen Job bitten müsste.

Sid runzelte die Stirn. »Hast du heute Morgen die Schlagzeilen gelesen?«

»Ich arbeite mich noch durch die Zeitung von gestern.«

»Glaubst du, dein Land gibt Hitler eins auf die Mütze?«, wollte Sid wissen.

»Weiß nicht«, entgegnete er und spürte wieder dieses beklemmende Gefühl in der Brust.

»Gut, dass du hier drüben bist, was?«, meinte Sid grinsend.

»Ich muss Collins nach den neuen Arrangements fragen«, erklärte Joshua und schickte sich, dieses Mal energischer, an, den Flur entlangzugehen.

»Collins ist noch nicht da!«, rief Sid ihm nach.

Joshua hob die Hand, um ihm zu danken, blickte aber nicht zurück.

Als er die Garderobe erreichte, stellte er fest, dass die Tür einen Spaltbreit offen stand. Mit seinem Saxofonkasten schob er sie auf und sah, dass Root mit dem Kopf auf einem der Frisiertische lag. McKinley hatte sich so weit auf seinem Stuhl zurückgelehnt, dass zwei Stuhlbeine in der Luft schwebten. Dabei fuhr er mit den Fingern geschickt über die Ventile seiner Trompete, um ihre Funktion zu überprüfen.

»Du bist ja wieder da, English«, sagte McKinley und lehnte sich auf dem Stuhl vor, sodass der mit allen vier Beinen wieder auf dem Boden stand. »Wann wird Dorey dir endlich einen Job geben?«

»Das musst du ihn fragen«, entgegnete Joshua und warf seinen hellgrauen Filzhut auf eine freie Stelle vor dem hohen Spiegel. Dann zog er seinen Anzug aus dem Kleidersack. Er hielt inne und wies mit dem Kopf auf Root. »Fällt er heute aus?«

McKinley stieß den anderen Trompetenspieler mit dem Schuh an. »Stirbst du, Root?«

»Verdammt, ja«, antwortete dieser stöhnend.

»Zu schade, dass du nicht Trompete spielst, English«, meinte McKinley schulterzuckend. »Du könntest seinen Job haben.«

Joshua stieß ein Schnauben aus.

»Fahr doch zum Teufel«, brummte Root in seine verschränkten Arme hinein.

»Gib mir nicht die Schuld. Du bist doch der Idiot, der es für eine gute Idee hielt, sich die ganze Nacht an einer Bourbon-Flasche festzuhalten«, sagte McKinley.

»Was ist passiert?«, erkundigte sich Joshua, während er den Schoß des Hemds, das er auf dem Weg zum Club getragen hatte, aus seinen Hosen zog, um es gegen ein sauberes Smokinghemd auszutauschen.

»Seine Frau hat ihn verlassen«, erklärte McKinley.

»Josie.« Root schluchzte beinahe.

»Du bist verheiratet?«, fragte Joshua.

»Jetzt nicht mehr«, murmelte McKinley.

Root fuhr hoch, um halbherzig nach seinem Freund zu schlagen.

Lachend wich McKinley ihm aus. »Im Moment würdest du nicht mal ein Scheunentor treffen.«

Root fuhr sich durch das ungekämmte Haar. »Warum musst du auf ’nen Mann eintreten, der schon am Boden liegt?«

»Du hast wirklich geglaubt, die Frau würde bei dir bleiben, nachdem du Ohio verlassen und ihr gesagt hast, du wärst in vier Wochen zurück?«, fragte McKinley.

»Wie lange ist das her?«, erkundigte sich Joshua.

»Sechs Jahre«, sagte McKinley.

»Ich habe Geld nach Hause geschickt!«, beteuerte Root.

»Darauf kommt’s nicht an, oder? Du warst nicht da. Ich wette mit dir um alles, was du willst, dass sie irgendwann jemanden gefunden hat, der da ist«, meinte McKinley. »Wenigstens hattet ihr keine Kinder.«

Wenigstens bist du kein vollkommener Versager.

Joshua nestelte am Verschluss seiner Hosen und streifte sie eilig ab. Er musste aus dieser stickigen, feuchten Garderobe raus.

Hastig zog er sich um, steckte sein Hemd in die Hosen und hängte sich seine Fliege offen um den Hals. Dann ging er zur Tür.

»Wohin willst du?«, rief McKinley.

»Dorey suchen und ihn nach einem Job fragen«, sagte er. Schon wieder.

»Viel Glück, English. Wirst es brauchen«, meinte McKinley lachend.

Joshua verzog das Gesicht und versuchte nicht daran zu denken, dass ihn das Glück anscheinend schon vor Jahren verlassen hatte.

Joshua fand Dorey nicht mehr, bevor sie alle auf die Bühne mussten. Es gelang ihm allerdings, Collins, den Manager der Band, abzufangen, als er gerade hereinkam. Damit hatte er genug Zeit, seine Einsätze in den neuen Arrangements von Moonlight Serenade und Body and Soul zu überfliegen.

Der Club füllte sich rasch, und die Tanzfläche war brechend voll, während sie eine Nummer nach der anderen spielten. Als Joshua und die Jungs um zwei Uhr morgens von der Bühne wankten, war er todmüde.

»Wir gehen noch zu Sonny Fowler. Was meinst du, English?« McKinley klopfte ihm auf die Schulter. »Heiße Musik und genug Bourbon und Kokain, um ein Schiff zu versenken. Sind bestimmt auch ein paar hübsche Dinger dabei. Du kannst sie mit deinem britischen Akzent umgarnen, bis sie die Höschen fallen lassen.«

Die Aussicht auf Frauen war nicht besonders verlockend, der Gedanke, seine Gedanken mit billigem Schnaps zu betäuben, dafür schon. Trotzdem schüttelte Joshua den Kopf.

»Geht schon ohne mich vor. Ich muss zuerst noch Dorey finden«, erklärte er.

Das trug ihm einen weiteren Schulterklopfer und ein Nicken ein. »Du weißt ja, wo es ist, falls du es dir anders überlegst.«

»Ecke Neunte und First Avenue«, sagte er.

»Genau da. Viel Glück«, meinte McKinley.

»Danke«, gab Joshua zurück.

Er sah dem Trompetenspieler nach, der über den Flur davonschlenderte und dabei die ersten Zeilen von Wacky Dust sang. Dann drehte er sich auf dem Absatz um und ging den Bandleader suchen.

Wie sich herausstellte, hockte Dorey mit dem Clubbesitzer, Mr. Robbins, in dessen Büro zusammen. Die beiden saßen entspannt in zwei Sesseln, rauchten Zigarren und tranken aus identischen Gläsern etwas, das nach Brandy roch.

Joshua klopfte an den Rahmen der offenen Tür. »N’Abend, Sir.«

»Immer so höflich, Levinson«, sagte Dorey und drehte sich dann zu Robbins um. »Sie kennen Joshua Levinson?«

»Sie spielen Saxofon in der Band?«, fragte Robbins.

Joshua hob seinen Instrumentenkasten. »Als Ersatzmann.«

»Levinson vertritt Randall, solange der auf Rikers Island über seine Sünden nachdenkt«, erklärte Dorey.

»Aha«, meinte Robbins.

»Genau deswegen bin ich hier, Mr. Dorey. Ich glaube, ich habe bisher gut mit den anderen zusammengespielt. Ich präge mir die Arrangements schnell ein. Sie haben mir in letzter Zeit mehr Solos gegeben. Ich hatte gehofft, unsere Abmachung könnte dauerhafter werden«, erklärte Joshua.

Dorey und Robbins wechselten einen Blick. Joshua spürte, wie seine Handflächen am harten Ledergriff des Saxofonkastens feucht wurden.

»Ich würde Ihnen gern helfen, Levinson«, sagte Dorey schließlich. »Wirklich. Die Sache ist die, dass ich schon lange mit Randall befreundet bin.«

Joshuas Hoffnungen schwanden.

»Ich habe ihm versprochen, ihm seinen Job freizuhalten, solange er ihn braucht«, fuhr Dorey fort. »Das lässt ihn durchhalten, während er auf seinen Prozess wartet.«

»Verstehe, Sir«, sagte Joshua und versuchte, seine Frustration nicht zu zeigen.

»Wissen Sie, was ich mache?«, fragte Dorey und beugte sich vor, um die Asche von seiner Zigarre zu klopfen. »Ich lege für Sie ein gutes Wort bei Murray Rabinowitz ein. Er hat nächsten Monat mit seiner Band einen Gig im Downbeat Club. Vielleicht sucht er ja ein Saxofon. Und er ist Jude wie Sie.«

Joshua nickte ohne viel Begeisterung. Er hatte letztes Jahr bei Rabinowitz angefragt, aber daraus war nichts geworden.

Seit vier Jahren versuchte er es jetzt schon, und jedes einzelne Mal erhielt er dieselbe Antwort. Er sei gut, aber immer wurde ihm ein anderer Musiker vorgezogen – ein Freund, ein Cousin oder irgendein Bekannter. Die Bandleader wollten die großen Musiker engagieren, aber großartige Musiker gab es in New York wie Sand am Meer, besonders um die Swing Street herum. Das hieß, dass sie die Leute einstellten, die sie kannten. Er war »English«, ein Ausländer und Jude.

»Danke, Sir«, sagte er und verabschiedete sich dann mit einem Nicken von Dorey und Robbins.

Als er auf die Straße trat, stellte er fest, dass die Nacht immer noch heiß war, aber es hatte geregnet, seit er hineingegangen war, und die dicke, feuchte Luft, die im Sommer meist über der Stadt hing, war weggespült worden.