Der Mann von nebenan - Amelie Fried - E-Book

Der Mann von nebenan E-Book

Amelie Fried

3,8
8,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Eine mörderische Frauengeschichte – spannend, erotisch, mit einem kräftigen Schuss schwarzen Humors

Die frisch geschiedene Kate zieht aufs Land, wo sie ihr Leben neu ordnen will. Dort beginnt sie eine Liebesaffäre und freundet sich mit drei ungewöhnlichen Frauen an. Eines Tages findet Kate beim Joggen die Leiche einer Frau. Die vermeintliche Dorfidylle beginnt zu bröckeln. Bald fühlt sich Kate bedroht und verfolgt, und alles, was passiert, scheint mit ihrem anfangs so netten Nachbarn, dem Mann von nebenan, zusammenzuhängen ...

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 361

Bewertungen
3,8 (28 Bewertungen)
9
10
4
5
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



DAS BUCH

Die frisch geschiedene Kate zieht mit ihrem zwölfjährigen Sohn in ein bayerisches Dorf, wo sie ihr Leben neu ordnen will. Sie verwirklicht ihren Traum von einer Flötenwerkstatt, beginnt eine Liebesaffäre und freundet sich mit drei ungewöhnlichen Frauen an. Ihr neuer Nachbar – ein freundlicher, älterer Herr – überschüttet sie anfangs mit Hilfsbereitschaft, doch dann entwickelt er sich zur Nervensäge und wird zunehmend unberechenbar und gefährlich. Eines Tages findet Kate beim Joggen die Leiche einer Frau. Die vermeintliche Dorfidylle beginnt zu bröckeln. Bald fühlt sich Kate bedroht und verfolgt, und alles, was passiert, scheint mit dem Mann von nebenan zusammenzuhängen. Sie sucht Zuflucht bei ihren Freundinnen, und als eines Tages ihre-Werkstatt abbrennt und ihr Sohn um ein Haar in den Flammen umkommt, beschließen die Frauen, sich des bösen Nachbarn ein für alle Mal zu entledigen.

DIE AUTORIN

Amelie Fried, Jahrgang 1958, wurde als TV-Moderatorin bekannt. Alle ihre Romane waren Bestseller. Traumfrau mit Nebenwirkungen, Am Anfang war der Seitensprung, Der Mann von nebenan, Liebes Leid und Lust und Rosannas Tochter wurden erfolgreiche Fernsehfilme. Für ihre Kinderbücher erhielt sie verschiedene Auszeichnungen, darunter den »Deutschen Jugendliteraturpreis«. Zuletzt erschienen im Heyne-Taschenbuch ihr Sachbuch Schuhhaus Pallas – Wie meine Familie sich gegen die Nazis wehrte und der Kolumnenband Wildes Leben. Die Autorin lebt mit ihrer Familie in der Nähe von München.

Inhaltsverzeichnis

Über die AutorinEINSZWEIDREIVIERFÜNFSECHSSIEBENACHTNEUNZEHNELFZWÖLFDREIZEHNVIERZEHNFÜNFZEHNSECHZEHNSIEBZEHNACHTZEHNNEUNZEHNCopyright

Dieses Buch widme ich allen netten Nachbarn

EINS

Kate erwachte vom Fauchen eines Drachen. Schlaftrunken torkelte sie zum Fenster und klappte die Läden auf. Grelles Sonnenlicht stach ihr in die Augen. »Fffffff« machte der Drache, und Kate blinzelte. Langsam schälten sich aus dem gleißenden Licht die Umrisse eines Heißluftballons, der im Abstand von wenigen Metern an Kates Gesicht vorbeischwebte. Mit lautem Zischen fuhr ein Feuerstoß ins Innere des Ballons, und Kate wünschte, sie würde dort oben schweben, in sicherem Abstand zur Erde und den Ereignissen der letzten Wochen.

Sie rieb sich die Augen und gähnte. Zaghaft streckte sie die Arme der Sonne entgegen. Am Horizont zeichneten sich die milchigen Umrisse der Berge ab, hügelige Weiden und tiefgrüne Waldstücke dehnten sich vor ihren Augen. Kein Zweifel, sie war in einem der malerischsten Teile Bayerns gelandet, in einer Postkartenidylle, für deren Anblick manche Leute Tausende von Kilometern um die Welt reisen.

Sie sah dem Ballon eine Weile nach, dann drehte sie sich um und blickte ins Zimmer. Durch die Bewegung wurde Staub aufgewirbelt, der sie in der Nase kitzelte und einen Niesreiz auslöste. Mit geöffnetem Mund und erwartungsvoll geblähten Nüstern stand sie da und wartete, aber die befreiende Entladung blieb aus.

Im Schlafzimmer sah es aus wie nach einem Flugzeugabsturz. Aus halbgeöffneten Koffern quollen Kleider und Bücher; der Boden war bedeckt mit Kisten und Taschen. Auf dem Bett lag der zusammengeknüllte Schlafsack, in dem Kate die Nacht verbracht hatte. Ihre erste Nacht hier draußen.

Sie betrachtete die Möbel. Ein wuchtiger, alter Bauernschrank, eine bemalte Kommode mit verblaßten Farben, die aus Indonesien stammen könnte, ein kunstvoll geschnitztes Nachttischchen, ebenfalls asiatisch. Ein aus Rattan geflochtener Sessel, ein Eckregal, in dem sich allerhand Krimskrams angesammelt hatte, wie man ihn von Reisen nach Hause bringt. Auf allem eine feine Staubschicht.

Eigentlich ganz schön, dachte Kate, wie um sich selbst Mut zu machen. Die Vorstellung, in fremden Möbeln zu leben, erschien ihr eigenartig, fast obszön.

Sie ging die Treppe hinunter und öffnete die Haustür; frische Morgenluft strömte herein.

In der Küche wirkte alles seltsam verschwommen, ohne Konturen. Vermutlich war es nur der Schmutz. Seufzend nahm Kate sich vor, in den nächsten Tagen das Haus gründlich zu putzen. Einen Ort zu reinigen bedeutete für sie auch, ihn in Besitz zu nehmen.

Sie kramte in den Schrankfächern, bis sie einen verkrusteten Espressokocher entdeckte. Als sie den Wasserhahn aufdrehte, quoll ihr rostige Brühe entgegen. Sie ließ das Wasser eine Weile laufen. Es wurde heller, blieb aber eiskalt. Richtig, sie mußte erst die Heizung in Gang kriegen. Ihr graute davor, in den Keller zu steigen und irgendwelche Knöpfe an einer wildfremden Maschine zu drücken. Womöglich jagte sie die ganze Bude in die Luft. Noch nie hatte sie sich um solche Dinge kümmern müssen, das hatte immer Bernd getan.

Kate reinigte den Espressokocher, füllte einen kläglichen Rest Kaffeepulver ein, dessen Aroma sich vermutlich längst verflüchtigt hatte, und schraubte die zwei Teile zusammen. Wenig später ertönte das vertraute Blubbern, mit dem das Wasser in der Maschine hochstieg. Sie erwärmte die Milch, die sie vorsorglich gestern noch eingekauft hatte, goß sie mit dem Kaffee in eine Tasse und trank den ersten Schluck, wie immer mit geschlossenen Augen.

Lautes Geschrei ließ sie zusammenzucken. Sie riß die Augen wieder auf. Was war das? Vor Schreck hatte sie einen Teil des Kaffees verschüttet.

Der Lärm kam von draußen. Vor dem Haus sah Kate ein Gewühl aus verknoteten Gliedmaßen, aus dem hie und da ein rotblonder Haarschopf blitzte.

»Samuel!«

Ihr Sohn reagierte nicht. Hingebungsvoll prügelte er sich mit einem anderen Jungen.

»Samuel, hör sofort auf!«

Kates Stimme wurde lauter. Die zwei Knaben hielten inne, nicht aus Gehorsam, sondern aus Erschöpfung. Samuel wandte ihr sein sommersprossiges Gesicht mit den strahlendblauen Augen zu, von denen eines gerade zuschwoll.

Energisch ging Kate auf die zwei Raufbolde zu und stieß fast mit einer Frau zusammen, die ebenfalls Kurs auf den Ort des Geschehens genommen hatte.

Sie war eine auffallende Erscheinung, groß, mit fast taillenlangem schwarzem Haar und südländischem Aussehen. Kate schätzte sie auf Ende Dreißig, ein paar Jahre älter als sie selbst. Um den Hals trug sie eine Kette mit einem großen Anhänger, einem in Silber gefaßten grünen Stein.

»Was ist hier eigentlich los?« fragte Kate.

»Der hat mir mein Fahrrad geklaut!«

Anklagend zeigte Samuel auf den Jungen. Sein Rennrad! Sein Allerheiligstes! Bernds Geschenk zum zwölften Geburtstag, das Samuel am liebsten jeden Abend mit ins Bett nehmen würde.

»Quatsch! Ich hab’s mir nur mal angesehen!« verteidigte sich der andere Junge.

»Stimmt nicht, du bist ja schon draufgesessen!« schrie Samuel.

»Na, und? Deshalb habe ich’s noch lange nicht geklaut!«

Die zwei Streithähne waren im Begriff, sich wieder aufeinanderzustürzen.

»Jetzt reicht’s aber!« sagte die Frau und griff ins Getümmel. Anstatt, wie Kate erwartet hatte, ihren eigenen Sohn herauszuziehen, hielt sie plötzlich Samuel am Schlafittchen.

»Du hörst jetzt auf!« befahl sie.

Kates Mutterinstinkt regte sich. »Moment mal, Ihr Sohn hat schließlich Samuels Fahrrad genommen«, protestierte sie.

»Und das ist ein Grund, gleich draufloszuprügeln? Wer sind Sie überhaupt, und was haben Sie in Nellis’ Haus verloren?« Die Frau starrte Kate feindselig an.

»Ich … äh … «, begann Kate, aber sie wurde gleich unterbrochen.

»Ach was, ist mir doch völlig egal. Am besten, Sie hauen ganz schnell wieder ab!«

Na, das fing ja gut an. Kate war kurz davor, zurückzuschnauzen, besann sich aber eines Besseren. Sie wollte keinen Streit.

Beide Frauen packten ihre Söhne und zogen sie in entgegengesetzte Richtungen davon. Die beiden Jungen streckten sich die Zunge raus und riefen sich Unflätigkeiten nach.

»Mußte das sein?« fragte Kate ärgerlich, als sie wieder im Haus waren. »Wir wohnen jetzt hier. Wir müssen mit den Leuten zurechtkommen, sonst wird es die Hölle.«

»Es wird sowieso die Hölle«, murmelte Samuel verstockt.

»Hör schon auf, du wirst dich ganz schnell einleben. Und zum Fahrradfahren gibt’s keine bessere Gegend!«

Mit diesem Argument hatte sie Samuel den Umzug aufs Land schmackhaft gemacht. Wochenlang hatten sie diskutiert, wo sie in Zukunft leben wollten. Kate wollte weg aus der Stadt, Samuel wollte bei seinen Freunden bleiben. Nur die Aussicht auf paradiesische Radfahrbedingungen hatte ihn schließlich zum Nachgeben gebracht.

»Kann ich den Schuppenschlüssel haben?« fragte Samuel.

»Was willst du im Schuppen?«

In Gedanken hatte Kate den robusten Holzverschlag bereits belegt; sie würde ihre Werkstatt dort einrichten.

»Mein Rad reinstellen.«

Sie gab ihm den Schlüssel.

»Willst du nicht frühstücken? Ich habe Cornflakes gesehen. Milch ist auch da.«

Er schüttelte den Kopf, daß seine rotblonden Locken flogen.

Als kleiner Junge hatte er ausgesehen, wie von Botticelli gemalt. Neulich hatte Kate ihn gerade noch davon abhalten können, die Lockenpracht abzuschneiden. Jetzt züchtete er sich Dreadlocks.

Vor seiner Pubertät hatte sie sich immer gefürchtet. Und ausgerechnet jetzt, wo diese schwierige Zeit begann, war sie alleine für ihn verantwortlich. Keiner da, mit dem sie hätte reden können.

Nur ein gutes Jahr lag es zurück, daß Samuel, Bernd und sie eine glückliche Familie gewesen waren. Jedenfalls hatte Kate das damals gedacht. Erst in den letzten Monaten war ihr klargeworden, wie verzweifelt sie sich an ein Wunschbild geklammert hatte, das der Wirklichkeit längst nicht mehr entsprach.

Bernd und sie hatten im Lauf der Jahre begonnen, völlig eigene Leben zu leben. Die Tatsache, daß er jeden Abend in die gemeinsame Wohnung zurückkehrte, hatte ihr als Beleg für eine funktionierende Ehe gegolten. Ihr hatte nichts gefehlt; jedenfalls hatte sie nicht bemerkt, daß ihr irgend etwas fehlte.

Und nun war sie eine geschiedene Frau.

Ein freundlich eingerichteter Verhandlungsraum.

Sie mit Anwalt, Bernd mit Anwältin. Sie sitzen gemeinsam an einem Tisch, als handele es sich um ein geselliges Beisammensein. Die Anwälte tauschen ein bißchen Anwaltsklatsch, man kennt sich. Der Richter tritt ein, man erhebt sich, nimmt wieder Platz. Die Anwesenheit der Parteien und ihrer Rechtsvertreter wird festgestellt, verschiedene Dokumente werden zu Protokoll gegeben. Nachdem der Richter die Zerrüttung der Ehe festgestellt hat (»der letzte Geschlechtsverkehr liegt mehr als ein Jahr zurück«) verliest er die Scheidungsvereinbarung. Noch Fragen? Allgemeines Kopfschütteln.

Stummes Aufbegehren in Kate. Noch Fragen? Allerdings. Aber der Proteststurm in ihr fällt in sich zusammen, wird zur lächerlichen kleinen Windhose, verebbt schließlich ganz. Nein, keine Fragen mehr.

Aufstehen, Händeschütteln. Also dann, alles Gute. Tak-tarak, tak-tarak macht Kates Herz, das blöde, empfindliche Ding.

Da geht er hin, ihr Traum von der großen Liebe.

Draußen warten tatsächlich zwei versprengte Pressefotografen, um das Sensatiönchen für ihre Blätter festzuhalten. Klar, sie war ja mal berühmt. Katharina Moor, die »schöne Sprinterin«.

Schnell schob Kate die Erinnerung weg.

Sie setzte sich wieder an den Küchentisch und versuchte, ihre Gedanken zu ordnen. Es gab so vieles, was jetzt getan werden mußte. Ihren Namen auf dem Briefkasten anbringen. Samuel in der Schule anmelden. Ihre neue Adresse verschicken. Ein Konto eröffnen. Das Haus in Schuß bringen. Den Schuppen aufräumen. Den Rasen mähen.

Je mehr ihr einfiel, desto kraftloser fühlte sie sich. Sie wäre am liebsten nur so sitzen geblieben, die wärmende Kaffeetasse in der Hand, die Bewegungen einer Fliege verfolgend, die besessen brummend um einen vertrockneten Zimmerfarn kreiste. Nellis mußte vergessen haben, die Pflanze irgend jemandem zum Gießen zu bringen.

Seit sechs Wochen war Nellis weg, und er würde den Rest des Jahres unterwegs sein. Australien, Neuseeland, Polynesien. Nellis war Reiseschriftsteller, seit Jahren fuhr er um die Welt und kehrte nur für ein paar Monate im Jahr in dieses Haus zurück, um hier seine Artikel und Bücher zu schreiben. Von Olga, einer gemeinsamen Freundin aus der Stadt, hatte Kate den Schlüssel bekommen. In einem langen Fax hatte Nellis ihr aufgelistet, was zu beachten wäre. Bis zum Jahresende würde sie in seinem Haus bleiben können, vielleicht sogar länger. Die Sache hatte einen großen Vorteil: Sie konnte umsonst hier wohnen. Nellis verlangte keine Miete; nur ihren Verbrauch an Strom, Heizöl und Wasser würde sie bezahlen müssen. Das war ihre Rettung, denn Kate war pleite.

Die Ehe mit Bernd hatte alle ihre Ersparnisse aufgesaugt. Dabei war sie – gemessen an anderen Zweiundzwanzigjährigen  – bei ihrer Hochzeit richtig reich gewesen. Preisgelder, Werbeverträge, Gastrollen im Fernsehen; es war einiges zusammengekommen in den paar Jahren, in denen sie gefragt war.

Geldangelegenheiten hatten Kate nie interessiert, sie hatte es ihrem Mann überlassen, sich darum zu kümmern. Und der kümmerte sich. Darum, daß immer ein teures Auto vor der Tür stand, daß sie zwei- bis dreimal im Jahr Urlaub machten, daß gut gegessen wurde und modische Klamotten im Schrank hingen. Sie gewöhnte sich schnell an diesen Lebensstil, ohne sich Gedanken darüber zu machen, wie all das finanziert wurde. Ihr Mann hatte schließlich einen Job beim Fernsehen, wahrscheinlich verdiente man da soviel.

Es war nur eine von vielen unangenehmen Überraschungen gewesen, daß sie im Laufe der Scheidung kapierte, wieviel von ihrem Geld Bernd all die Jahre ausgegeben hatte. Und er hatte sich nicht entblödet, ihr kürzlich eine größere Summe anzubieten. Für den »neuen Anfang«.

Haha. Welchen Anfang? Das Leben in einem Haus, das nicht ihres war, in Möbeln, die ihr nicht gehörten, in einem Dorf, in dem sie zufällig gelandet war, mit Perspektiven, die äußerst zweifelhaft waren.

»Du mußt mir nichts dafür bezahlen, daß ich gehe«, hatte sie zu Bernd gesagt und den Kopf zurückgeworfen. »Ich gehe freiwillig.« Aber was heißt schon »freiwillig«, wenn man einer Konkurrentin das Feld überläßt? Sollte Bernd sich wenigstens mit ein paar Schuldgefühlen rumplagen. Wenn er so was überhaupt kannte.

Plötzlich fiel ihr das Fax von Nellis ein. Vielleicht stand was zur Heizung drauf. Sie wühlte in ihrer Handtasche, bis sie das zerknautschte Blatt gefunden hatte. Ausführlich hatte Nellis notiert, wo welche Schlüssel waren, wie mit dem Müll zu verfahren war und dergleichen mehr. Zum Stichwort Heizung entzifferte sie: »WW-Bereitung mit gr. rotem Knopf, gleichz. Hebel links bewegen und ca. 20 Sek. warten.«

Ganz unten am Blattrand stand noch etwas. Kate mußte das Blatt leicht drehen, um es lesen zu können. »Beware of neighbours!!!« hatte Nellis hingekritzelt. Mit drei Ausrufezeichen.

Was sollte das denn heißen? Es klang wie »Warnung vor dem Hunde«. Und welche Nachbarn meinte er überhaupt? Das Haus hatte in alle Richtungen Nachbarn, es wäre sehr hilfreich gewesen, wenn er seine Warnung etwas spezifiziert hätte. Vielleicht meinte er ja die schreckliche Person von heute morgen, es würde Kate nicht überraschen.

Das Brummen war stärker geworden. Kate sah erstaunt auf. Die Fliege mußte sich in aller Eile fortgepflanzt haben, denn jetzt waren es plötzlich acht oder zehn Exemplare, die in der Nähe der Spüle umherschwirrten. Kate öffnete vorsichtig die Schranktür unter der Spüle und fuhr angeekelt zurück. Süßlicher Modergeruch stieg ihr in die Nase. Nellis hatte vergessen, die Mülltüte wegzuwerfen.

»Pfui Teufel!« fluchte sie, griff nach einem Küchentuch und versuchte, die Tüte aus dem Eimer zu ziehen. Eine Wolke von Schimmel stieg auf wie ein Atompilz.

Den Würgreiz unterdrückend, packte sie den ganzen Eimer, hielt ihn mit weit ausgestreckten Armen von sich weg und lief hinaus zur Mülltonne.

Wenig später betrat Kate den gutsortierten Krämerladen des Dorfes, um sich mit dem Nötigsten einzudecken. Zuerst sollte es darum gehen, das Haus auf Vordermann zu bringen. Alles andere würde sich finden.

Sie packte Scheuerpulver, Gummihandschuhe, Putzlappen, Spülbürste und Staubtuch in einen Korb, dann stellte sie sich an der Wurst-und-Käse-Theke an. Die Verkäuferin musterte Kate über den Rand ihrer Brillengläser hinweg.

»Biiitte schöööön?«

Sie dehnte die Worte so lange, bis sie die Fremde von oben bis unten in Augenschein genommen hatte. In der Tat mußte Kate in dieser Umgebung exotisch wirken, mit ihrer hochaufgeschossenen Figur, dem bodenlangen, bestickten Rock und ihrem roten Haar, das in großen Locken bis auf die Schultern fiel.

»Sind Sie nicht die… Ich habe Sie schon mal im Fernsehen gesehen. Sie sind Schauspielerin. Oder nein, Sportlerin, hab ich recht?«

Kate errötete. Es war ihr unangenehm, erkannt zu werden. Gleichzeitig wunderte sie sich, daß sich noch immer viele Leute an sie erinnerten. Es war alles schon so lange her. Allerdings war sie vor ein paar Monaten mal Gast in einer Sendung gewesen, in der ehemalige Berühmtheiten hervorgezerrt worden waren. Hinterher hatte sie es bereut.

»Ja, ja«, sagte sie und hoffte, die Frau würde ihr jetzt nicht all die Fragen stellen, die die Leute immer stellten. »Zu Besuch im Dorf?« fragte die Verkäuferin statt dessen, während sie die Salami aufschnitt, viel zu dick für Kates Geschmack, aber sie traute sich nicht, etwas zu sagen.

»Mmmh.« Kate nickte.

»Sind Sie in der Dorfschenke abgestiegen?«

»Nein, bei einem Freund.«

Wieder musterte die Verkäuferin Kate mit ihrem inquisitorischen Blick, wohl um herauszufinden, wem im Dorf eine solche Freundin zuzutrauen sei.

»Beim Resch Peter?«

»Nein, beim Herrn März.«

»Ach, beim Nellis! Ist der nicht auf Reisen?«

»Doch, und ich hüte sein Haus«, beeilte Kate sich zu sagen, um weiteren Fragen zuvorzukommen.

»Also dann, schönen Aufenthalt!« wünschte die Verkäuferin freundlich, reichte ihr die Tüte mit Aufschnitt und wandte sich der nächsten Kundin zu.

Kate bezahlte bei einem wortkargen, düster aussehenden Mann, offenbar dem Ladenbesitzer. Wenn er neugierig war, so ließ er es sich jedenfalls nicht anmerken.

Als sie, bepackt mit drei riesigen Tüten, aus dem Auto stieg, riß jemand das Gartentor für sie auf.

»Danke!« sagte Kate erfreut und lächelte den Mann an. Im nächsten Moment hatte er ihr die Tüten abgenommen. Er stellte sie an der Haustür ab und reichte Kate die Hand.

»Mattuschek, Willi Mattuschek. Ich wohne da drüben.«

Er zeigte auf eines der Doppelhäuser auf der rückwärtigen Seite.

»Allgöwer«, stellte Kate sich vor. Im gleichen Moment fiel ihr ein, daß sie gar nicht mehr so hieß. Es war Bernds Name, und seit einer Woche war sie von Bernd geschieden. Sie hieß wieder wie früher »Moor«.

»Sind Sie eine… Bekannte von Nellis?« Ein prüfender Blick aus hellen, grauen Augen traf sie.

»Ich wohne für eine Weile hier. Nellis ist zur Zeit in Australien.«

»Ja, ja, immer in der Weltgeschichte unterwegs. Und inzwischen verkommt sein Haus. Und der Garten erst!«

Mit resignierter Geste wies der Mann auf das wuchernde Grün ringsum.

Kate sah ihn sich genauer an. Plötzlich beschlich sie ein merkwürdiges Gefühl. Irgend etwas an ihm kam ihr bekannt vor. Hatte sie ihn schon mal gesehen? Erinnerte er sie vielleicht an jemanden? Nein, sie kam nicht drauf.

Nun ja, vielleicht hatte Nellis sie einander vorgestellt, bei einem ihrer seltenen Besuche hier draußen. Es konnte Jahre her sein.

»Sagen Sie«, begann Kate und setzte ihr strahlendstes Lächeln auf, »kennen Sie sich mit Heizungen aus?«

»Selbstverständlich«, gab Mattuschek zurück. Zehn Minuten später brummte die Heizungsanlage.

»Heizöl müßte mal nachgefüllt werden«, bemerkte er und kam, zwei Stufen auf einmal nehmend, die Kellertreppe hoch.

Dankbar schüttelte Kate ihrem Retter die Hand.

»Stets zu Diensten«, sagte Mattuschek und tippte mit dem Finger gegen eine imaginäre Mütze. »Wenn ich was für Sie tun kann, sagen Sie Bescheid.«

Immerhin, einen freundlichen Nachbarn hatte sie schon mal. Kate war sicher, daß dies nicht die letzte Gelegenheit sein würde, bei der sie Hilfe benötigte.

Todmüde fiel Kate am Abend ins Bett. Sie hatte zehn Stunden geschuftet und das Haus in einen Zustand versetzt, der ihren Vorstellungen von Sauberkeit und Gemütlichkeit annähernd entsprach.

Ihren Sohn hatte sie den ganzen Tag über nicht zu Gesicht bekommen. Irgendwann abends war er aufgetaucht, hatte wortlos die Spaghetti gegessen, die Kate ihm zubereitet hatte, und sich anschließend vor den Fernseher geknallt. Bald darauf war er in seinem Zimmer verschwunden.

Unentschieden war Kate eine Weile vor seiner Tür auf und ab gegangen. Sollte sie mit ihm reden? Sollte sie ihn ihn Ruhe lassen? Ihr Blick fiel auf die schwarzweißen Fliesen im Badezimmer. Ungerade hieß: reden. Gerade hieß: in Ruhe lassen. Sie zählte eine Reihe der schwarzen Fliesen. Es waren sechzehn. Leise ging sie die Treppe hinunter, zurück ins Wohnzimmer.

Kate war sicher, daß Samuels abweisende Art eine Form von Trauer war. Sie wußte nicht, wie sie damit umgehen sollte. Samuel sprach nicht über seine Gefühle, er neigte dazu, die Dinge mit sich selbst abzumachen. Als Bernd und sie ihm mitgeteilt hatten, daß sie sich trennen würden, hatte er nur mit den Schultern gezuckt und gesagt: »Ihr müßt ja wissen, was gut für euch ist.« Ob es auch gut für ihn war, schien eine Frage zu sein, die er sich nicht stellte.

Kate fühlte sich hilflos. Es mußte einem Zwölfjährigen etwas ausmachen, wenn die Eltern sich scheiden ließen. Aber als sie neulich versucht hatte, ihn zu umarmen, hatte er sie beiseite geschoben und beschwichtigend, fast väterlich gesagt: »Ist schon gut, Mam, das wird schon wieder.«

Als müßte er sie trösten, nicht umgekehrt.

Brauchte sie Trost? Ach was, sie würde schon fertig werden mit der neuen Situation. Natürlich war sie traurig. Viel mehr aber war sie wütend. Auf das kleine Biest, das sich zwischen sie gedrängt hatte. Auf Bernd. Und am meisten auf sich selbst.

Lange lag Kate in der Nacht wach und horchte in die ungewohnte Stille. In der Stadt war es niemals so still, selbst mitten in der Nacht war das entfernte Rauschen von Autoverkehr zu hören. Die Stille hier war wie eine Wand, sie hatte etwas Beklemmendes.

Irgendwann schreckte Kate aus dem Schlaf, in den sie nach stundenlangem Hinundherwälzen endlich gefunden hatte.

Ein Geräusch mußte sie geweckt haben, aber sie fand nicht heraus, was es war. Leise stand sie auf und horchte an Samuels Zimmertür. Dahinter war es ruhig. Sie holte sich einen Schluck Wasser und lehnte sich aus dem weit geöffneten Badezimmerfenster. Der Mond war nicht zu sehen, es war stockfinster. Auch diese völlige Dunkelheit kannte Kate nicht. In der Stadt waren die Straßen nachts hell erleuchtet.

Hier draußen gab es kaum Straßenlaternen, keine beleuchteten Auslagen, nur hie und da einen Lichtschein aus einem der Häuser.

Gerade wollte sie ins Schlafzimmer zurückgehen, da hörte sie es. Ein merkwürdig klapperndes Geräusch, Metall auf Metall. Angestrengt sah sie in die Dunkelheit. Im nächsten Moment schrie sie erschrokken auf und schlug sich die Hand vor die Augen. Das grelle Licht eines Scheinwerfers blendete sie. Gleich darauf wurde es wieder dunkel. Es dauerte einen Moment, bis ihre Augen sich erholt hatten. Erstaunt beobachtete sie, wie ein Lichtkegel durch den Garten von Mattuschek huschte, da und dort verharrte, sich wieder in Bewegung setzte. Zwischendurch nahm sie den Schatten eines Mannes wahr, der sich für Sekundenbruchteile an der Hauswand abzeichnete.

Kate konnte sich keinen Reim auf die nächtlichen Aktivitäten ihres Nachbarn machen. Achselzuckend stellte sie das Zahnputzglas ab und verkroch sich ins Bett.

ZWEI

Der nächste Morgen verhieß wieder einen strahlenden Sommertag, und Kate beschloß, sich dem Garten zuzuwenden. Sie verstand nicht viel davon, aber sie hatte immer von einem Garten geträumt. Im Frühling hatte sie Kräuter in ihre Balkonkästen gesät und jeden freien Winkel mit Blumentöpfen vollgestellt. Bald war auf dem Balkon kein Platz mehr gewesen, und so hatten sie nie dort gesessen.

Kate durchstöberte den Schuppen nach den nötigen Gerätschaften. Mit Rechen, Spaten, Hacke und Schaufel machte sie sich ans Werk. Die Beete waren so überwuchert mit Unkraut, daß man sie kaum noch von ihrer Umgebung unterscheiden konnte.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!