Liebes Leid und Lust - Amelie Fried - E-Book

Liebes Leid und Lust E-Book

Amelie Fried

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Beschreibung

Leidenschaft, die bis an die Grenzen geht

Hanna verliebt sich in den falschen Mann: André ist ihr Psychotherapeut und zugleich der Mann ihrer Freundin. Zunächst versucht er noch, eine Affäre zu verhindern, doch es dauert nicht lange, und die beiden gehen ein intimes Verhältnis ein. Bei der Theaterpremiere von Shakespeares "Liebes Leid und Lust" treffen erstmals alle Mitspieler aufeinander.

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Seitenzahl: 520

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Das Buch

Hanna spielt mit den Gefühlen anderer, bis die Liebe sie trifft wie der Blitz – leider für den falschen Mann: André ist ihr Psychotherapeut und zugleich der Mann ihrer Freundin. Er befreit sie vom Trauma ihrer frühen Kindheit, er ist der einzige, von dem sie sich verstanden fühlt. Er ist der Mann, den sie um jeden Preis will. André verliebt sich ebenfalls in Hanna, fürchtet aber um seine berufliche Existenz und bricht deshalb die Therapie ab. Das Schicksal führt die beiden wieder zusammen, und sie beginnen eine leidenschaftliche Affäre, in deren Verlauf nicht nur André alles zu verlieren droht, was ihm wichtig ist – Familie, Liebe und Freundschaft. Bei der Premiere von Shakespeares Komödie »Liebes Leid und Lust« erreicht die Spannung ihren Höhepunkt: Alle Beteiligten treffen zusammen, und am Ende dieses Abends ist alles anders als erwartet …

Die Autorin

Amelie Fried wurde 1958 in Ulm geboren. Nach ihrem Studium moderierte sie etliche Fernsehsendungen, darunter Live aus dem Alabama, Live aus der alten Oper, Stern-TV und Kinderella. Derzeit ist sie Gastgeberin der Talkshow 3 nach 9. Sie bekam zahlreiche Fernsehpreise. Für ihr erstes Kinderbuch Hat Opa einen Anzug an? erhielt sie 1998 den Deutschen Jugendliteraturpreis, ihr zweites Kinderbuch Der unsichtbare Vater kam auf die Auswahlliste. Ihre Bestseller-Romane Traumfrau mit Nebenwirkungen, Am Anfang war der Seitensprung, Der Mann von nebenan sowie Liebes Leid und Lust wurden bereits verfilmt. Die Verfilmung von Glücksspieler und Rosannas Tochter steht bevor. Die Autorin lebt mit ihrer Familie in der Nähe von München.

Inhaltsverzeichnis

Das BuchDie AutorinVier Monate späterIch möchte danken:Copyright

Ich will nicht lieben; Falls doch, hängt mich auf; Herrgott nein, ich will nicht.

(William Shakespeare, »Verlorene Liebesmüh«, 4. Akt, 3. Szene)

Noch nie im Leben habe ich daran gedacht, mich umzubringen. Na ja, jedenfalls nicht ernsthaft. Wäre ich sonst noch hier? Ich hatte deshalb auch keine Ahnung, warum nach der Sache in Los Angeles alle um mich herum verrückt spielten. Ich sei labil, befand meine Mutter, sei ja auch kein Wunder. Man müsse auf mich aufpassen, sagte Eddie.

Das erstaunte mich, schließlich war ich fünfundzwanzig und hatte bisher ganz gut auf mich alleine aufgepasst. Natürlich war ich schon häufiger in prekäre Situationen geraten (ich habe eine gewisse Schwäche für die Gefahr), aber es sah so aus, als hätte der alte Mann da oben noch keine Verwendung für mich, also warum hätte ich mich ihm aufdrängen sollen?

Welchen Grund hätte ich auch haben sollen, mich umzubringen?

Ich war gesund, sah gut aus (jedenfalls behaupteten das die Männer, mit denen ich schlief), ich war dabei, als Schauspielerin Karriere zu machen, mein Leben war zugegebenermaßen ein bisschen chaotisch, aber weit davon entfernt, zu scheitern. Ob ich glücklich war? Also, bitte, wer könnte das von sich behaupten, ohne zu lügen? Wie könnte ich etwas sein, von dem ich nicht mal genau wusste, was es war?

Vielleicht könnte man sagen, ich war auf der Suche.

Wonach? Liebe, Anerkennung, Erfolg, spirituelle Erleuchtung? Ach was. Ich war schon zufrieden, wenn es nicht langweilig war. Ich hasste es, mich zu langweilen. Es kostete mich eine riesige Energie, jeden Morgen die gleichen Dinge zu tun, aufzustehen, Zähne zu putzen, zu duschen, zu frühstücken, Geschirr abzuwaschen – dabei befiel mich oft schon eine lähmende Langeweile, die ich nur überwand, wenn ich hoffen konnte, dass der Tag noch Abenteuer bereithielt.

Wiederholungen nervten mich, sie gaben mir das Gefühl, meine Zeit zu verschwenden. Ich versuchte, auch bei Kleinigkeiten, möglichst wenig zu wiederholen. Ich aß nie die gleichen Gerichte, kaufte nie die gleichen Produkte, ging selten ein zweites Mal in dieselbe Kneipe, oder nur nach einer längeren Pause (so viele Kneipen gab es leider nicht in meiner Stadt). Ich zog jeden Tag etwas anderes an, verließ zu unterschiedlichen Zeiten das Haus, ging nach Möglichkeit nicht zweimal denselben Weg. Sicher könnte man meinen, das wäre eine ziemlich schwere Macke, aber bisher kam ich ganz gut damit zurecht.

Das Einzige, was ich nicht aushielt, war das Alleinsein. Davor hatte ich wirklich Panik. Und davor, im Schlaf zu sterben. Ich glaube, es lag an diesem Spruch »Der Schlaf ist der kleine Bruder des Todes«. Den hatte ich als Kind gehört und sofort gedacht, kleine Brüder werden irgendwann groß! Und seither hatte ich Angst. Deshalb schlief ich ziemlich wenig und meistens auch ziemlich schlecht. Früher hatte ich Ella gebeten, wach zu bleiben und aufzupassen, ob ich im Schlaf atme. Sie hatte es mir jedes Mal versprochen, aber heute glaube ich, sie schlief immer schon vor mir ein.

Zurück zu der Geschichte in L.A.

Ich weiß nicht mehr, wer eigentlich auf die Idee gekommen war, dass Jo und ich eine Reise machen sollten. Ich glaube, es war meine Mutter. Sie hatte ständig gute Ideen, mein Leben betreffend. Ich versuchte, nicht allzu viel Notiz davon zu nehmen, aber in diesem Fall hatte sie sich durchgesetzt, und so fand ich mich eines Tages in einem Flugzeug nach Amerika wieder, neben mir Jo, der traumverloren aus dem Fenster sah, während es verzerrt aus seinem Kopfhörer quäkte. Jo hörte eigentlich immer Musik, es schien, als müsste er das Grundrauschen der Welt übertönen.

Jo war ein merkwürdiger Typ. Das Merkwürdigste an ihm war, dass er gleichzeitig mein Geliebter und mein Bruder war. Er war der Sohn von Eddie, und Eddie war der zweite Mann meiner Mutter, also mein Stiefvater. Ich war mit Jo zusammen, seit wir beide vierzehn waren. Damals zogen Eddie und Jo bei uns ein. Meine Mutter sagte zu mir, ist das nicht toll, Hannele, dass du jetzt einen Bruder hast? Und Eddie sagte, Jo, freust du dich, dass du jetzt eine Schwester hast? Dabei hegten Jo und ich von Anfang an alles andere als geschwisterliche Gefühle füreinander. Wir waren total ineinander verknallt, es verging aber fast ein Jahr, bis wir zum ersten Mal miteinander schliefen, und ehrlich gesagt war es eine ziemlich herbe Enttäuschung. Es war nicht so, dass es körperlich nicht klappte, auch seelisch waren wir uns so nahe, wie sich zwei Verliebte nur sein können, wahrscheinlich noch näher. Und das war wohl das Problem. Wir waren keine Geschwister, aber wir fühlten uns so. Es schien uns, als hätten wir Inzest begangen. Wir haben es noch ein paar Mal probiert, aber es wurde nicht besser, und so haben wir es irgendwann sein lassen. Die Verbindung zwischen uns war so stark und bedingungslos, dass mir Sex ohnehin zu profan dafür zu sein schien.

Wir saßen also in dem Flieger, knabberten Erdnüsse und schlürften Tomatensaft mit Wodka, als Jo plötzlich die Kopfhörer abnahm und sagte, ich habe keine Ahnung, was wir da drüben sollen. Ich starrte ihn verblüfft an und fragte, was soll das heißen, du hast keine Ahnung?

Ich war überzeugt, es wäre Jos sehnlichster Wunsch gewesen, diese Reise zu machen, und ich wäre nur ihm zuliebe mitgefahren. Ich versuchte, mich zu erinnern, wie es zu der Entscheidung gekommen war, und plötzlich wurde mir klar, dass es in erster Linie meine Mutter und ein wenig auch Eddie gewesen waren, die sich für diese Reise stark gemacht hatten. Fahrt doch mal zusammen weg, Hannele, hatte Mutter bei einem unserer sonntäglichen Mittagessen (eine der Wiederholungen, die sich nicht vermeiden ließen) plötzlich gesagt und gleichzeitig meine und Jos Hand genommen. Lilli hat Recht, hatte Eddie ihr beigepflichtet, ihr solltet mal was zusammen erleben, schließlich seid ihr jung.

Meine Mutter hatte damals ziemlich cool reagiert, als sie Jo und mich eines Morgens eng umschlungen in meinem Bett vorgefunden hatte, danach hatte sie immer alles getan, unsere Beziehung zu fördern. Sie sah in Jo meinen Beschützer und war froh, dass mein Liebesleben gewissermaßen in der Familie blieb, also ihrer Kontrolle unterlag.

Offenbar sollte auch diese von ihr initiierte und finanzierte Reise dazu dienen, unser Zusammengehörigkeitsgefühl zu stärken; vermutlich hoffte sie, wir würden, von romantischen Gefühlen überwältigt, heimlich heiraten oder uns wenigstens verloben. Ich war gleichzeitig genervt und gerührt, als ich Mutters Absichten zu durchschauen glaubte. Nur gut, dass sie keine Ahnung davon hatte, wie mein Liebesleben in Wirklichkeit aussah.

Wir könnten uns ein Cabrio leihen, sagte Jo, als sei das die Lösung des Problems. Und so gingen wir nach unserer Ankunft am L.A. Airport zu einem Oldtimer-Verleih und liehen uns einen ungefähr dreißig Jahre alten türkisblauen Ford Mustang mit weißem Lederverdeck und weißen Ledersitzen, der mindestens so cool war wie der stahlblaue Mustang von Steve McQueen in Bullit. Den linken Arm lässig aufgestützt, saß Jo am Steuer und lächelte glücklich, während wir auf dem Highway entlangglitten. Er hatte eine seiner CDs eingelegt, die eine mir rätselhafte Musik absonderte und den Soundtrack für die draußen vorbeiziehenden, fremdartigen Eindrücke bildete.

Nach einer langen Reise fühle ich mich immer wie im Film; alles um mich her scheint unwirklich, meine Bewegungen sind seltsam ungelenk und meine Wahrnehmung leicht verzerrt. Es ist ungefähr so, wie wenn man gerade aus dem Kino kommt; für eine kurze Weile fühlt man sich noch in dieser anderen Welt, bewegt sich, als wäre man eine der Figuren des Films und würde von anderen Menschen beobachtet. Ich liebe es, angesehen und beobachtet zu werden. Es gibt mir das Gefühl, lebendig zu sein. Vielleicht ist das ja das Schlimmste, wenn jemand stirbt, den man geliebt hat: dass er einen nie mehr ansehen wird.

Ich bin eigentlich nicht gerne mit interessanten Menschen zusammen, sagte Jo, weil ich dann gezwungen bin, mich auch interessant zu machen.

L.A. Story?, riet ich, und Jo nickte. Ein Kuss ist vielleicht nicht die Wahrheit, zitierte ich, aber er ist das, wovon wir wünschen, dass es wahr wäre.

Warum erkennen wir nicht immer den Augenblick, in dem Liebe beginnt?, fuhr Jo fort, aber wir wissen immer, wann sie endet.

Wir grinsten uns an. Wie wär’s heute Abend mit Kino, fragte Jo, okay, sagte ich, warum nicht.

Dafür waren wir also zwölftausend Kilometer geflogen, um dasselbe zu tun wie zu Hause. Dabei ist das Beste an Reisen doch, dass alles neu und anders ist, dass man das Gefühl hat, jeden Moment könnte etwas Unerwartetes geschehen. Ich konnte eine leichte Enttäuschung nicht unterdrücken.

Jo trommelte mit den Fingern auf dem Lenkrad den Rhythmus der Musik mit, er schien eins mit sich und der Welt.

Manchmal kam Jo mir vor wie ein Kind; er war zufrieden, wenn man was mit ihm unternahm oder ihm ein interessantes Spielzeug gab. Eigentlich benahmen wir uns beide ein bisschen wie die Kinder, wenn wir zusammen waren. Wir fühlten uns sicher, hatten Spaß miteinander und das Gefühl, der Rest der Welt bliebe draußen.

Unsere Erwachsenenleben hatten kaum Berührungspunkte, Jo absolvierte sein Studium an der Filmhochschule und jobbte nebenher als Vorführer, ich machte meine Arbeit am Theater, aber keiner kümmerte sich groß um den Kram des anderen. Einmal hatte ich in einem seiner Filme mitgespielt, aber da hatten wir uns nur gestritten. Sobald wir unsere Welt verließen und die der Erwachsenen betraten, wurde alles kompliziert. Am liebsten waren wir zu zweit.

Das Hotel, das meine Mutter für uns gebucht hatte, war ein im Zuckerbäckerstil erbautes, schneeweißes Gebäude inmitten eines riesigen Parks voller Springbrunnen. Das pulsierende Wasser leuchtete in allen Regenbogenfarben, exotische Pflanzen und riesige Palmen säumten die Auffahrt, bunte Papageien flatterten zwischen den Bäumen umher – so was Irres hatte ich noch nie gesehen. Jo und ich sahen uns an und lachten los. Wir wussten beide, wem wir diesen Hotel-Tipp zu verdanken hatten: Eddies Verwandtschaft in L.A., Tante Betsy und Onkel Stew. Als Dank erwarteten die zwei Alten unseren Besuch. Mir war noch keine Ausrede eingefallen, mit der wir uns hätten drücken können.

Am Eingang des »Royal Fountain Inn« riss ein dunkelrot livrierter Bediensteter meine Tür auf und trat mit einer Verbeugung zur Seite, um mich aussteigen zu lassen, danach kümmerte er sich um unser Gepäck. Bedauernd händigte Jo dem Wagenmeister den Autoschlüssel aus und sah zu, wie sein neues Spielzeug in der Tiefgarage verschwand.

Der Anblick unseres Zimmers verschlug mir den Atem. Es maß ungefähr sechzig Quadratmeter, war mit zartlila Teppichboden ausgelegt und mit pinkfarbenen Sesseln und Diwanen möbliert. Über dem riesigen Himmelbett wölbte sich ein Baldachin aus Seide, ebenfalls in Pink und Lila. Die Wände waren in zartem Rosé gehalten, ebenso die Schränke und Türen. Im Badezimmer aus rosafarbenem Marmor befand sich eine runde Badewanne mit Whirlpool, die von einer Gruppe neckischer Faune und Elfen eingerahmt war, die Schalen mit frischem Obst und Süßigkeiten trugen.

Will nicht wissen, was das alles kostet, murmelte Jo, kickte seine Turnschuhe von sich und warf sich aufs Bett.

Mit einem Mal war ich beunruhigt. Meiner Mutter musste es verdammt ernst sein, wenn sie ein halbes Vermögen springen ließ, um mich und Jo zu … ja, was eigentlich? Von »verkuppeln« konnte nicht die Rede sein, wir waren längst ein Paar, wenn auch ein etwas ungewöhnliches, aber davon konnte sie eigentlich nichts wissen. Oder doch? War das der Grund für diese absurde Pseudo-Hochzeitsreise, die weder Jo noch ich hatten machen wollen, die wir aus unerfindlichen Gründen aber dennoch angetreten hatten? Dass meine Mutter um jeden Preis eine Verbindlichkeit herstellen wollte, die unsere Beziehung bislang hatte vermissen lassen?

Ich stand in diesem bizarren Hotelzimmer, sah all den Prunk und Protz, und mir war plötzlich unwohl. Die Euphorie des Angekommenseins hatte sich verflüchtigt, ich fühlte mich müde und schmutzig. Im Bad ließ ich Wasser in das Rundbecken laufen. Zwischen fünf Sorten Badezusatz in verschiedenen Farben wählte ich eine giftgrüne Essenz. Leichter Minz- und Zitronengeruch machte sich breit, dicker, luftiger Schaum bedeckte die Wasseroberfläche. Ich ließ meine Kleider auf den Boden fallen und stieg in die Wanne.

Als ich, mein nasses Haar mit einem pinkfarbenen Handtuch rubbelnd, ins Zimmer zurückkam, war Jo auf dem Bett eingeschlafen. Vorsichtig nahm ich ihm die Kopfhörer ab, legte mich hinter ihn und kuschelte mich an seinen Rücken.

Hanna? Jos Stimme holte mich aus einem wirren Traum zurück in die Wirklichkeit. Wir hatten über zwei Stunden geschlafen, draußen war es dunkel geworden, vor dem Fenster glitzerten die Lichter von L.A., in der Ferne ahnte man das Meer.

Jo inspizierte die Minibar, die ungefähr so groß war wie unser Kühlschrank zu Hause, nahm sich ein Bier und warf mir eine Flasche Kombucha zu. Er blätterte in einem Veranstaltungskalender, den die Hotelleitung bereitgelegt hatte.

Mulholland Drive, sagte er plötzlich und lächelte mich triumphierend an. Da will ich hin und dann die Hollywood Hills hoch bis zu der Stelle, wo der Unfall war, wie findest du das?

Geht klar, murmelte ich, aber vorher muss ich was essen. Okay, sagte Jo munter und blätterte weiter. Mexikanisch, puertoricanisch, chinesisch, italienisch, portugiesisch …?

Egal, unterbrach ich ihn, Hamburger, Burritos, irgendwas Abgefucktes. Ich brauch ein Gegenprogramm zu diesem Luxusschuppen hier.

Während Jo duschte, zog ich mich an. Extravagante Kleidung war meine Leidenschaft; für diese Reise hatte ich mir eigens ein paar neue Teile zugelegt, wenn auch nur aus dem Secondhand-Laden, für neue Designermode hatte ich nicht das Geld. Ich entschied mich für eine dunkelbraune Lederhose mit der Patina von ungefähr fünfundzwanzig Jahren und einen roten Spitzen-BH, darüber zog ich eine gemusterte Chiffonbluse, die ich über dem Nabel knotete, dazu trug ich Stiefeletten.

Na, was sagst du? Beifall heischend drehte ich mich vor Jo, der nackt aus dem Badezimmer kam. Er war ein bisschen zu mager, hatte aber breite Schultern und einen schönen Hintern. Ich küsste ihn flüchtig auf den Hals und wartete auf seine Reaktion. Courtney Love, sagte er knapp, Schlampe.

Zufrieden setzte ich mich vor den Frisierspiegel, um mich zu schminken. Vielleicht war es das, was mich für meinen Beruf qualifizierte: dass ich mich in jeden beliebigen Typ verwandeln konnte. In eine Schlampe, ein Muttchen, einen Vamp, eine Naive. Bevor ich angezogen, geschminkt und frisiert war, war ich ein unbeschriebenes Blatt, eine Person ohne Konturen. Erst indem ich eine Figur erschuf für ihren Auftritt auf der Bühne, entstand auch die Person Hanna. Manchmal fragte ich mich selbst, wer diese Person eigentlich war.

Jo ließ es sich nicht nehmen, den Mustang persönlich aus der Tiefgarage herauszufahren. Er pickte mich an der Einfahrt auf wie eine Tramperin, und majestätisch bewegte sich der Wagen über die nächtlichen Straßen. Die Luft war warm, ein feuchter Wind zerzauste mein Haar. Ich band mir ein weißes Kopftuch um und setzte meine Sonnenbrille auf.

Audrey Hepburn, sagte Jo, Frühstück bei Tiffany. Dinner bei Mister Wok, gab ich zurück und zeigte auf eine neonbeleuchtete asiatische Imbissbude, die mir heruntergekommen genug erschien, um den erstickenden Pomp des »Royal Fountain Inn« zu neutralisieren.

Wir setzten uns an ein schmieriges kleines Tischchen und bestellten Bier, das in eisgekühlten Dosen serviert wurde, dazu Springrolls, Wan Tan und frittierte Scampi.

Geil, sagte Jo, als das Essen kam, und griff sich eine Frühlingsrolle. Verzückt leckte er seine fettigen Finger. Ein schwerer Geruch von Diesel, Frittieröl und Schweiß hing in der Luft, eine dicke Schwarze in einem schreiend bunten Schürzenkleid malträtierte einen Flipper, zwei puertoricanische Teenies drängten sich um einen einarmigen Banditen. Am Bartresen mir gegenüber lehnten zwei Typen, vermutlich Fernfahrer, in Hawaiihemd und Lederweste, Flaschen mit mexikanischem Tequila-Bier in den Pranken. Der mit der Weste grinste freundlich rüber zu mir, während sein Kumpel auf ihn einquatschte. Ich bemerkte dieses kleine, bekannte Zucken in meinem Inneren, hob meine Bierdose und prostete ihm unmerklich zu.

Wir müssen irgendwas anschauen, hörte ich Jo sagen, Sehenswürdigkeiten und so.

Was?, fragte ich entgeistert.

Na, damit wir zu Hause was zu erzählen haben, erklärte Jo; Kunst, Kultur, deine Mutter schmeißt die Kohle sicher nicht raus, damit wir im Asien-Imbiss hocken. Morgen fahren wir nach Hollywood, ich will unbedingt die Hand- und Fußabdrücke von de Niro sehen, und die von Brad Pitt.

Hat der überhaupt schon welche?, fragte ich zweifelnd. Ich liebte von allen Schauspielern am meisten Kevin Spacey mit seinen unwiderstehlichen Knautschfalten und der Narbe auf der rechten Wange und verstand diese weltweite Brad-Pitt-Hysterie nicht, von wegen bestaussehender Mann aller Zeiten und so; in meinen Augen war er ein ziemlich durchschnittlicher blonder Jüngling. Das Einzige, was für ihn sprach, war seine Frau, Jennifer Aniston. Die war wenigstens nicht so eine Barbiepuppe.

Als ich meinen Eltern damals erklärte, dass ich Schauspielerin werden wolle, sagte mein Vater, bist du dafür denn hübsch genug? Man muss nicht hübsch sein, sagte ich, es reicht, dass man gut ist. Erst viel später habe ich gemerkt, wie sehr mich seine Bemerkung verletzt hat. Ich habe mich damit getröstet, dass er diese Barbiepuppen-Schönheit gemeint hat, das Glatte, Makellose, und das habe ich wirklich nicht. Zum Glück, würde ich heute sagen. Aber es hat eine Menge Männer gebraucht, bis ich mein Selbstbewusstsein in diesem Punkt zurückhatte.

Warum ich unbedingt Schauspielerin werden wollte, wusste ich lange nicht, aber inzwischen ist es mir klar: Ich finde die Vorstellung schrecklich, dass wir nur ein Leben haben, und während wir das leben, ziehen in jeder Sekunde unzählige ungelebter Möglichkeiten an uns vorbei. Die Zeit ist so kurz, ich habe jeden Tag das Gefühl, ich müsste so viel wie möglich reinpacken, um sie gut zu nutzen, und das versetzt mich in eine ständige Unruhe. Ich bin nur ruhig, wenn ich auf der Bühne stehe und spiele. Ich versetze mich in diese anderen Personen mit ihrer Geschichte, ihren Verletzungen, Hoffnungen und Sehnsüchten, und das gibt mir das Gefühl, mehr als dieses eine Leben zu leben.

Außerdem liebe ich es, aufzutreten. Es ist ein unglaubliches Gefühl, wenn die Aufmerksamkeit vieler Menschen auf mich gerichtet ist, wenn alles, was ich mache und sage, eine Bedeutung bekommt, dadurch dass andere mich sehen und hören. Manchmal denke ich, es lohnt sich überhaupt nur, irgendetwas zu tun, wenn jemand es zu Kenntnis nimmt. Deswegen bin ich so gut wie nie allein, und wenn, verfalle ich in einen Zustand der Lähmung, komme mir vor wie eine dieser Puppen, die dadurch zum Leben erweckt werden, dass jemand kommt und mit ihnen spielt.

Hast du eigentlich die Kamera mitgenommen?, fragte ich. Vor kurzem hatte meine Mutter ihm eine dieser winzigen Videokameras geschenkt, und Jo war wie besessen davon, alles Mögliche zu filmen, allerdings richtete er seinen Ehrgeiz darauf, Dinge aufzunehmen, für die sich sonst kein Mensch interessierte (zum Beispiel den Eingang des Hauses gegenüber, zwölf Stunden lang im Zeitraffer, jede Minute ein Bild). Dafür ignorierte er die üblichen Motive wie Familienfeste und touristische Sehenswürdigkeiten, ich war also nicht überrascht, als er sagte, nö, wozu, hier in L.A. zu filmen, finde ich echt abgeschmackt, hier ist Hollywood, hier kann ich doch nicht wie ein blöder Japaner mit der Kamera vor dem Gesicht rumrennen, also echt. Er schüttelte sich. Lass uns gehen, sagte er und wischte sich mit einer Serviette den Mund, das Papier wurde durchsichtig vom Fett. Ich stopfte schnell die letzten, kalt gewordenen Scampi in mich rein und spülte mit dem warm gewordenen Bier nach.

Der chinesische Kellner kam zum Kassieren. Während Jo die Dollarscheine abzählte, sah ich, wie Lederweste das Lokal verließ und Hawaiihemd zwei weitere Biere bestellte, dann glotzte er in den Fernseher, der über der Bar angebracht war und ein Baseballspiel ohne Ton zeigte.

Ich komme gleich, sagte ich zu Jo. Um aufs Klo zu kommen, musste man aus der Bude raus und auf die Rückseite, wie mir der Kellner durch ausladende Armbewegungen zu verstehen gab. Ich stakste mit meinen Pfennigabsätzen durch den Unrat; zwischen Plastikflaschen, zerknülltem Papier und abgenagten Hühnerknochen schnüffelten aufgeregt zwei magere kleine Hunde herum. Die roh zusammengenagelte Holztür der Toilette schloss kaum, ich kletterte auf die Kloschüssel und hockte mich so hin, dass mein Hintern in der Luft schwebte. Aus der Kabine neben mir ertönte eintöniges Rauschen, da wurden mindestens vier Liter Tequila-Bier entsorgt.

Wir öffneten gleichzeitig die Türen unserer Verschläge. Lederweste lächelte überrascht, er nestelte an seinem Hosenstall, wollte schnell den Reißverschluss hochziehen. Ich legte meine Hand auf seine, er hielt in der Bewegung inne, gab einen erstaunten Grunzlaut von sich und ließ die Hand fallen. Ich griff in die Hose, nahm seinen Schwanz, drückte und rieb ihn und zählte. Einundzwanzig, zweiundzwanzig … es dauerte sechs Sekunden, bis er steif war, weitere vierzehn, bis er kam. Keine schlechte Zeit.

Ich genoss das Gefühl der Macht, das ich in diesem Moment über den hünenhaften, mindestens zwei Zentner schweren Mann hatte, der mit dem Rücken am Türstock lehnte, die Augen geschlossen, den Mund im schweißnassen Gesicht halb offen.

Als er fertig war, öffnete er die Augen, beugte den Kopf vor und sah mich ungläubig an. Ich reagierte nicht, drehte mich um und wusch mir an einem verdreckten Metallbecken die Hände.

Kein Spiegel, Mist! Wenn ich mich länger als ein paar Stunden nicht im Spiegel sah, war ich mir nicht mehr sicher, ob ich noch da war. Das Gefühl, die eigenen Konturen nicht wahrnehmen zu können, begleitete mich schon mein ganzes Leben, manchmal musste ich extreme Dinge tun, um mich wieder zu spüren.

Hey, Babe, hörte ich plötzlich seine tiefe Stimme und war überrascht, ich hatte ihn fast schon vergessen. Neben mir sah ich einen Zwanzigdollarschein auftauchen. Papiertücher gab’s keine, ich schüttelte das Wasser ab, drehte mich um, schob die Hand mit dem Geldschein zur Seite und ging an ihm vorbei, ohne was zu sagen oder ihn anzusehen.

Im Lokal wartete Jo, den Blick auf das stumme Baseballspiel gerichtet, einen Lolli im Mund, den der Kellner mit der Rechnung gebracht hatte. Ich fuhr ihm mit der Hand durch die Haare, zog den Lolli raus und küsste ihn auf den Mund. Er schmeckte süß und klebrig. Jo hielt den anderen Lutscher fragend hoch, ich schüttelte den Kopf, und er steckte ihn in seine Jackentasche, während er aufstand.

Drei schmutzige kleine Kinder umlagerten den Mustang, berührten andächtig die chromblitzende Stoßstange und bewegten den Rückspiegel hin und her. Als sie uns kommen sahen, sprangen sie auf und spritzten in alle Richtungen davon, eine Schar aufgescheuchter Hühner lief gackernd mit.

Lass mich mal fahren, bat ich, und Jo warf mir den Schlüssel zu. Ich ließ den Motor aufheulen und reihte mich in den Verkehr ein, der wie ein nicht enden wollendes Lichterband aus der Unendlichkeit kam und ins Ungewisse floss.

Einen Moment genoss ich das Gefühl, nicht zu wissen, wo wir waren und wohin wir fuhren, dann sah ich Jo mit einem Stadtplan hantieren. Es dauerte eine Weile, bis er sich orientiert hatte, nach einer halben Stunde landeten wir in einem Villenviertel mit noblen Häusern rechts und links einer breiten Straße, die von hohen Bäumen gesäumt war. Mauern schützten die Anwohner vor neugierigen Gaffern, nur hie und da erhaschte man einen Blick auf eines der imposanten Häuser.

Jo setzte sich aufrecht hin und zeigte auf ein besonders großes, schlossähnliches Gebäude.

Dort sehen Sie das Affenhaus von Michael Jackson, sagte er mit Fremdenführerstimme, das hier ist die Villa von Harrison Ford, hat er billig von Madonna gekriegt, weil die mit ihrem neuen Kerl nach England ziehen musste, darüber war Gwyneth Paltrow so traurig, dass sie ihr Haus an Julia Roberts verkauft hat und hinterhergezogen ist, und hier hat Nicole Kidman eine Handgranate in die Bude von Tom Cruise geworfen, und hier lebt unser aller Lieblingsschauspieler …

Brad Pitt!, schrien wir gleichzeitig, als wir ein hässliches kleines Transformatorenhäuschen passierten. Ich kicherte wie blöde vor mich hin.

Scheiße, wo sind wir hier bloß?, murmelte Jo und drehte verzweifelt den riesigen Stadtplan hin und her, unter dem er fast verschwand.

Mulholland Drive war einer der abgefahrensten Filme, den wir je gesehen hatten, bis zu einer bestimmten Stelle schien er verständlich, und plötzlich driftete er in ein totales Delirium ab. Nachdem wir das erste Mal drin gewesen waren, hatten wir übers Internet und per Chat mit anderen David-Lynch-Verehrern versucht, das Geheimnis zu entschlüsseln, das es laut seinem Schöpfer gar nicht gab. Jo hatte den Film inzwischen zwölfmal gesehen (nicht in dem Kino, in dem er arbeitete, er hatte zwölfmal dafür bezahlt!), aber warum wir jetzt die Straße suchten, nach der der Film benannt war, verstand ich ebenso wenig wie den Film selbst; das war mal wieder eines von Jos Geheimnissen, aber wir hatten uns angewöhnt, so wenig wie möglich nach den Beweggründen des anderen zu fragen.

Mit Jo konnte man alles Vorstellbare auf der Welt machen, aber man konnte keine Erklärungen von ihm erwarten. Er sprach nie über sich selbst, ich wusste nicht, ob er überhaupt jemals über sich nachdachte, sich fragte, wie es ihm gehe oder was er fühle. Vielleicht war das einer der Gründe für seine Anziehungskraft. Das Zusammensein mit ihm hatte etwas Leichtes, Schwebendes, es schien nur eine Probe zu sein für das wirkliche Leben, als könnte man mit ihm gemeinsam alles tun, ohne dass es jemals ernst würde. Ich fühlte mich frei mit ihm, ich konnte einfach sein, wie ich war, und musste keinerlei Antworten parat haben, außer auf die Frage, was ich essen und welchen Film ich sehen wollte.

Mir war natürlich klar, dass Jo auf diese Weise Gefühle von sich fern hielt, die ihm hätten wehtun können, aber zum Teufel, hatte er nicht das Recht dazu? Ich fand es sehr angenehm, dass wir keine tiefschürfenden Gespräche führten, uns und unsere Beziehung nicht analysierten, nicht über Vergangenes sprachen. Mit Jo ging es immer nur um den nächsten Moment.

Die Straße führte weiter hügelaufwärts, die Häuser wurden immer vornehmer. Hier!, schrie Jo, und ich machte eine Vollbremsung. Hier ist die Stelle, erkennst du’s nicht, hier in der Kurve war der Unfall, und dann ist sie die Straße runtergerannt auf ihren viel zu hohen Absätzen und ins Gebüsch, erkennst du’s denn nicht?

Er war ganz aufgeregt, ich folgte mit den Augen seinen Blicken und Gesten, aber erkannte nichts, es sah aus, wie es die ganze Zeit schon ausgesehen hatte, eine breite, kurvige Straße, die bergauf führte; trotzdem nickte ich, weil ich ihm den Spaß nicht verderben wollte.

Als ich mich im Sitz zurücklehnte, überfiel mich schlagartig die Erinnerung, ich sah Lichter auf mich zurasen, hörte das Kreischen der Bremsen, den Aufprall, das Schreien, sah das verwirrte Gesicht der Frau …

Hey, Hanna, was ist los?, sagte Jo und beugte sich zu mir rüber, warum schreist du denn?

Nichts, erwiderte ich mit zitternder Stimme, meine Fantasie ist nur gerade mit mir durchgegangen. Können wir wieder tauschen?

Ich schob mich auf den Beifahrersitz, während er über mich hinweg auf die Fahrerseite kletterte. Der Mustang setzte sich in Bewegung, ich schloss die Augen und lauschte auf das Motorengeräusch.

Das war eine meiner frühesten Kindheitserinnerungen, im Auto herumgefahren zu werden. Ich hatte als Baby viel geschrien, und um mich zu beruhigen, war mein Vater mit mir durch die Nacht gefahren. Daran erinnerte ich mich nicht, weil ich zu klein gewesen war, das hatte man mir erzählt. Aber auch später, mit drei, vier Jahren, hatte ich das Autofahren geliebt. Das Auto war mir wie ein lebendes Wesen erschienen, ein großes, schützendes Tier, in dessen Bauch man es sich bequem machen kann. Ich lauschte auf das Anschwellen des Motorengeräusches und wartete darauf, dass das Auto »schluckte«, wenn mein Vater in den nächsten Gang schaltete. Das machte er mehrmals, bis das Autotier zufrieden schnurrte, bei gleich bleibender Lautstärke. Dann dauerte es meist nicht lange, bis ich einschlief, und wenn ich erwachte, war ich überrascht, wie schnell die Fahrt vergangen war. Noch überraschter war ich, dass meine Eltern den Weg gefunden hatten; die Existenz von Hinweisschildern und der Vorgang des Lesens waren mir noch nicht bekannt, ich hielt es für eine Art Zauberei, sich in dem Gewirr von Straßen und Autobahnen auszukennen, und bewunderte meine Eltern grenzenlos für diese Fähigkeit.

Wenn das Autotier aufgehört hatte zu brummen, stieg mein Vater aus, ließ zuerst Ella herausklettern und ging dann um das Auto herum, um die Tür auf meiner Seite zu öffnen. Er schnallte mich von meinem Kindersitz los, nahm mich in die Arme und hob mich heraus. So, mein Kleines, sagte er und wollte mich auf die Beine stellen. Ich gab vor, noch zu schlafen, und ließ meine Beine einknicken. Mein Vater spielte das Spiel mit, gab sich erstaunt über die schlaffe Puppe in seinem Arm, machte mehrere Versuche, die Puppe hinzustellen, und irgendwann spannte ich meine Muskeln an und lief lachend weg, verfolgt von meinem ebenfalls lachenden Vater.

Ella, die zwei Jahre älter war als ich, drückte ihre Verachtung für dieses kindische Spiel aus, indem sie mit erhobenem Kopf an uns vorbeiging. Meist ließ mein Vater dann von mir ab, nahm Ella in die Arme und wirbelte sie herum, bis auch sie kicherte und lachte. Meine Große, nannte er sie. Mein Kleines, meine Große. Ich schien ein Ding zu sein, Ella eine Person. Es störte mich nicht weiter, Hauptsache, das kleine Ding bekam etwas ab von der Liebe des Vaters.

Wow, schau dir das an! Jos Stimme klang andächtig.

Ich öffnete meine Augen. Wir mussten ganz oben in den Hügeln von Hollywood gelandet sein, wenige Meter vor einem steilen Abhang, unter uns erstreckte sich das Lichtermeer von Los Angeles in einer gelben, nebligen Wolke. Die Stadt schien nach rechts und links kein Ende zu haben, nur nach vorne wurde sie vom Meer begrenzt.

Sie werden mich noch einmal treffen, wenn Sie es richtig anstellen, zitierte Jo aus dem Film Mulholland Drive, und ich fuhr fort, Sie werden mich zweimal treffen, wenn Sie es falsch anstellen.

Jo gab langsam Gas und fuhr noch ein Stück näher an den Abhang heran, ich kreischte auf, spinnst du? Jo lachte und blieb stehen. Nur keine Angst, du glaubst doch nicht, ich würde diesen geilen Schlitten in den Abgrund fahren. Energisch zog er die Handbremse an.

Ich lehnte mich beruhigt zurück, Jo holte zwei Dosen Bier, die er beim Chinesen mitgenommen hatte, aus dem Handschuhfach und drehte die Musik (natürlich der Soundtrack des Films) auf Open-Air-Lautstärke.

Jetzt weiß ich’s, sagte er.

Erwartungsvoll sah ich ihn an. Was weißt du?

Na, wieso wir hier sind. Er machte eine weit ausladende Bewegung und sagte, deshalb. Und noch was, den Film hab ich jetzt auch verstanden.

Na, jetzt bin ich aber gespannt, sagte ich und lachte.

Ganz einfach, erklärte Jo, es hat keine Bedeutung. Der Film könnte so oder anders sein, das ist egal. Wir könnten hier oder woanders sein, es ist egal. Alles, was passiert, kann so oder anders passieren, es macht keinen Unterschied. Wir sehen immer eine Bedeutung in den Sachen, interpretieren alles und beziehen es auf uns. In Wahrheit ist alles …

Zufall?, fragte ich.

Beliebig, verbesserte er, manchmal auch zufällig, aber immer beliebig.

Ich schwieg verblüfft. Philosophische Betrachtungen dieser Art waren bei Jo nicht an der Tagesordnung, es musste am Jetlag liegen.

Er nahm einen tiefen Schluck aus der Bierdose und verlor sich im Anblick der Lichter unter uns. In diesem Moment war er Lichtjahre entfernt von mir, von der Gegenwart, von der Realität.

Ich starrte ebenfalls auf die Lichter, versuchte mir klar zu machen, dass ich es war, die gerade auf Los Angeles herabsah und sich fühlte, als wäre sie mitten in einem Kinofilm, der vom wirklichen Leben handelt. Es ist ein komisches Gefühl, an einem schönen Ort zu sein und sich gleichzeitig nach diesem Ort zu sehnen. Mir ging das ständig so, ich war irgendwo, wo es schön war, und dachte, hey, schön hier, bei Gelegenheit würde ich gern mal herkommen.

Jo verstand, wenn ich ihm so was erzählte. Meistens sagte er, ihm gehe es genauso, er habe nur bisher nicht die richtigen Worte dafür gefunden.

Ob es Zufall war, dass wir uns begegnet waren, oder Bestimmung?

Ich machte mir eine Menge Gedanken über den Zufall, aber ich war nicht sicher, was ich glauben sollte. Jo glaubte, alles wäre beliebig, bedeutungslos und damit letztlich auch zufällig. Ich neigte mehr zu der Idee, jeder von uns hätte ein Schicksal, in dem vieles vorbestimmt wäre, so auch der eigene Tod. Deshalb hatte ich wenig Angst und tat meistens, was mir in den Sinn kam, auch gefährliche Dinge, weil mir ja nichts zustoßen würde, wenn es nicht so vorbestimmt wäre.

Auf jeden Fall glaubte ich an so was wie Gleichzeitigkeit. Manchmal geschahen Dinge in einem eigenartigen zeitlichen Zusammenhang, der sie uns anders wahrnehmen ließ, als wenn sie unabhängig voneinander geschehen wären. Aber vielleicht war es auch genau das, was Jo gemeint hatte, dass man Dingen eine Bedeutung zuordnete, die sie gar nicht hatten.

Ich muss mal pinkeln, murmelte Jo und stieg aus.

Ich blinzelte ihm kurz hinterher und sagte nichts, er würde ja wohl nicht so weit weggehen, dass er sich verlaufen könnte.

Plötzlich sah ich auf dem Fahrersitz den zweiten Lolli aus der Imbissbude, er musste Jo aus der Jackentasche gerutscht sein. Ich beugte mich quer über den Sitz und angelte nach dem Lutscher, bekam ihn nicht zu fassen, beugte mich weiter rüber, stieß mit dem Knie irgendwo an und bemerkte erstaunt, wie der Wagen sich in Bewegung setzte. Erst unmerklich, dann immer zielstrebiger rollte er den leicht abschüssigen Hang hinab, direkt auf den Abgrund zu.

Scheiße, dachte ich, das ist kein guter Film, in dem will ich nicht weiter mitspielen. Ich warf mich zurück auf meine Seite, richtete mich auf, und mit einem Schrei hechtete ich über die Tür, krachte zwischen Büschen und Sträuchern auf den Boden, überschlug mich ein paar Mal und rollte ein Stück den Abhang hinunter, während der türkisfarbene Mustang sich in den Nachthimmel über Los Angeles erhob, einen Moment in der Luft verharrte, noch einmal allen Lichterglanz in seinen Chromteilen aufblitzen ließ und dann in die Tiefe stürzte.

Ein Knall, eine Stichflamme, eine Rauchwolke stieg vor mir auf, und mein letzter Gedanke, bevor der Schmerz in meiner Schulter mich ohnmächtig werden ließ, war die überraschte Feststellung, dass die Wolke das Gesicht von Mickymaus hatte.

Ich wachte in der Ambulanz des L.A. Memorial Hospital auf, über mir die Gesichter von Jo und zwei alten Leuten, die ich nicht kannte, um mich herum hektisches Gerenne und amerikanisches Kauderwelsch.

Dass mein Kopf noch in Ordnung war, merkte ich daran, dass mir ziemlich schnell die Idee kam, bei den alten Leutchen könnte es sich um Tante Betsy und Onkel Stew handeln, was sich als zutreffend erwies. In seiner Panik hatte Jo, als er vom Pinkeln zurückgekommen war und weder sein Leihauto noch seine Freundin vorgefunden hatte, dafür aber eine riesige Qualmwolke, zuerst die Polizei verständigt und dann seine Verwandten.

Dass andere Teile meines Körpers nicht so in Ordnung waren wie mein Kopf, merkte ich daran, dass ich bei der geringsten Bewegung höllische Schmerzen hatte und es deshalb vorzog, ganz still zu liegen.

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