Die Spur des Schweigens - Amelie Fried - E-Book

Die Spur des Schweigens E-Book

Amelie Fried

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Beschreibung

Journalistin Julia schlägt sich mühsam als freie Schreiberin durch und träumt von der großen, investigativen Story. Sie erhält einen Hinweis auf mögliche sexuelle Übergriffe in einem renommierten Forschungsinstitut. Der Me-too-Debatte überdrüssig, geht sie dem Verdacht zunächst nur halbherzig nach. Als sich aber die erste Betroffene bei ihr meldet und Julia den attraktiven Hauptverdächtigen kennenlernt, ist ihr Reporterinnen-Instinkt geweckt.

Am Institut stößt sie auf ein gefährliches Gemisch aus Machtmissbrauch, Schweigen und Vertuschung – und auf eine schockierende Verbindung zu ihrem Bruder Robert, der zwölf Jahre zuvor spurlos verschwunden ist. Plötzlich muss Julia sich unangenehme Fragen stellen: Was hat Robert mit dem Selbstmord einer chinesischen Doktorandin zu tun? Warum wurde seine Leiche nie gefunden? Hat sie all die Jahre etwas übersehen?

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Seitenzahl: 525

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AMELIEFRIED

DIESPURDESSCHWEIGENS

Roman

WILHELMHEYNEVERLAGMÜNCHEN

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Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Dieses Buch ist ein Roman und kein Tatsachenbericht. Das Beschriebene hat sich so nicht ereignet. Trotz der von der Autorin in künstlerischer Freiheit gewählten fiktiven Handlungsabläufe mögen im Einzelfall Anklänge an Verhaltensweisen lebender oder verstorbener Personen oder an öffentlich bekannte Unternehmen nicht immer vermeidbar gewesen sein; dies ist aber von der grundgesetzlich geschützten Freiheit der Kunst umfassend geschützt.

Copyright © 2020 by Amelie Fried

Copyright © 2020 by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: t.mutzenbach design, München, unter Verwendung von Motiven von © Trevillion Images/Magdalena Russocka

Satz: Vornehm Mediengestaltung GmbH, München

ISBN 978-3-641-17856-7V005

www.heyne.de

»Leben lässt sich nur rückwärts verstehen, muss aber vorwärts gelebt werden.«

SØREN A. KIERKEGAARD

2007

Der Tag, der Julias Leben für immer verändern sollte, begann mit dem Kreischen einer Motorsäge. Julia hatte in der Nacht lange gearbeitet und war erst wenige Stunden zuvor ins Bett gegangen. Das Kreischen wurde lauter, drang schmerzhaft in ihren Kopf und verwandelte sich in das Klingeln eines Telefons. Sie hoffte, es würde wieder aufhören. Aber es hörte nicht auf. Schlaftrunken angelte sie nach ihrem Handy.

»Julia, bist du’s? Papa hier.«

Ruckartig richtete sie sich auf. Die Stimme ihres Vaters versetzte sie sofort in einen Alarmzustand. Er rief nie an, außer wenn etwas passiert war. Als ihre Großmutter gestorben war. Als Knolle, der Familienhund, überfahren worden war.

»Papa! Was ist los?«

»Kannst du bitte nach Hause kommen?«

»Was ist passiert?«

Ihr Vater blieb einen Moment stumm. Dann sagte er: »Dein Bruder ist … verschwunden.«

»Robert?«, fragte sie überflüssigerweise. Sie hatte nur einen Bruder.

Sie wusste, dass er zum Trekking nach Norwegen gefahren war, irgendwo in die Region Sognefjord. Allein, wie so oft auf seinen Reisen, mit Rucksack und Zelt. Er liebte es, in der Natur unterwegs zu sein, zu wandern, zu klettern, Ski zu fahren. Er war ein erfahrener Traveller, vorausschauend und vorsichtig. Nie wäre sie auf den Gedanken gekommen, dass ihm etwas zustoßen könnte.

»Was heißt denn … verschwunden?«

»Komm bitte nach Hause«, bat ihr Vater noch einmal. »Die Polizei ist da und will uns befragen.«

Wie in Trance zog sie sich an und fuhr zu ihren Eltern. Dort ließ sie die zahllosen Fragen der Beamten über sich ergehen, erzählte ihnen immer und immer wieder das wenige, was sie über ihren Bruder und sein Umfeld wusste.

Sie hatten sich in letzter Zeit selten gesehen. Er hatte sich kaum noch bei ihr gemeldet, und sie war meistens mit sich selbst beschäftigt gewesen. Jobs, Partys, Männergeschichten. Irgendwas war immer.

Sie wusste nicht, was er außerhalb der Arbeit machte, mit wem er sich traf, wer seine Freunde waren. Sie kannte nur die Mitbewohner in seiner WG und ein paar seiner Bekannten, denen sie dann und wann dort begegnet war. Sie wusste noch nicht einmal, ob ihr Bruder eine Freundin hatte. Ob er jemals eine Freundin gehabt hatte. Oder einen Freund.

Als Kinder hatten sie regelrecht aneinandergeklebt, die große Schwester und der kleine Bruder. Sie hatte ihn beschützt, er hatte zu ihr aufgeblickt. Sie hatte sich Spiele ausgedacht, er hatte folgsam getan, was sie von ihm verlangte. Er mochte es, wenn sie ihm Anweisungen gab, und sie übte sich darin, Befehle zu erteilen. Wenn Robert krank war, ging es Julia schlecht. Wenn Julia bei einer Freundin übernachtete, schlief Robert in ihrem Bett. Siamesische Zwillinge hatten ihre Eltern sie im Scherz genannt. Dabei lagen drei Jahre zwischen ihnen.

»Sie waren sich wohl nicht so nahe«, sagte die Polizistin, die sie befragte.

Wieso waren, dachte Julia. Er ist doch nicht tot, er ist nur gerade nicht auffindbar. Wie ein Gegenstand, den man verlegt hat und der plötzlich, in einem völlig unerwarteten Moment wiederauftaucht. Dann, wenn man gar nicht damit rechnet. Auch Robert würde wiederauftauchen, da war sie sich ganz sicher.

»Er ist mein Bruder«, sagte Julia. »Und natürlich sind wir uns nahe, auch wenn wir uns nicht alle paar Tage sehen.«

»Verzeihung«, sagte die Polizistin und blickte auf ihre Notizen. Einen Moment lang blieben beide stumm.

»Was glauben Sie, was passiert ist?«, fragte Julia.

»Wir überprüfen alle Möglichkeiten«, sagte die Frau. »Nach dem, was wir von den norwegischen Kollegen wissen, erscheint ein Unfall am wahrscheinlichsten.«

»Ein Unfall?«

Die Polizistin zählte auf, was die norwegische Polizei herausgefunden hatte: Robert hatte ein Zimmer in einer kleinen Pension bezogen und zwei Tage in dem Ort verbracht. Dann hatte er ein Busticket für eine Fahrt ins Fjordgebiet gekauft und war mit einem Rucksack für zwei Tage aufgebrochen. Sein übriges Gepäck war in der Pension geblieben. Als er am vierten Tag nicht zurückgekommen war, hatte der Pensionswirt die Polizei verständigt. Die hatte Ermittlungen aufgenommen. Die Gegend abgesucht, in die er gefahren war, Zeugen befragt, die Krankenhäuser der Umgebung überprüft. Keine Spur von Robert.

Julia kannte Bilder der Landschaft, in der er unterwegs gewesen war. Hohe Schluchten, raue Felsen, schmale Wege, auf denen man leicht einen falschen Schritt tun, ausrutschen und den Halt verlieren konnte. Ein Sturz in das eisige, tiefblaue Wasser eines Fjords, das Versagen des Kreislaufs durch den Schock, Ertrinken. Ihr Magen krampfte sich zusammen. Nein, an so was wollte sie gar nicht denken. Er war kein Draufgänger und auch kein Idiot. Er kannte sich in den Bergen aus, besaß alles, was man für eine solche Exkursion brauchte. Die richtige Ausrüstung, Erfahrung, Besonnenheit.

»Erzählen Sie mir von Ihrem Bruder«, forderte die Polizistin sie auf. »Was … ist er für ein Mensch?«

Julia hatte ihr kurzes Zögern bemerkt. Starr blickte sie vor sich hin.

Wie sollte sie ihren Bruder beschreiben? Schüchtern? Introvertiert? Stur? Das waren bloß Worte. Sie sagten nichts darüber aus, wie er war und was er für sie war. Er war ihr Bärchen, ihr Stinker, ihr Baby. Sie hatte ihm als Kind die Flasche gegeben, ihm ihre Sachen angezogen, ihn gekitzelt und mit ihm geschmust. Sie hatte mit ihm Laufen geübt und ihn aufgefangen, wenn er zu fallen drohte.

Später hatte sie ihn aus ihrem Zimmer geworfen und ihn gleich darauf reumütig wieder eingelassen, wenn er versprach, ruhig zu sein, während sie mit ihren Freundinnen telefonierte. Er hatte stundenlang auf ihrem Bett gelegen und Bildbände über Vulkane, Pflanzen und Meerlandschaften betrachtet, die Zunge in den Mundwinkel geklemmt, die Augen rund vor Neugier. Mit großer Ernsthaftigkeit hatte er ihr die Fotosynthese erklärt und warum manche Kakteenarten blühten und andere nicht.

Er war so gänzlich anders als sie, und Julia hatte ihn staunend beobachtet, als wäre er ein Wesen von einem fremden Planeten, das in ihrem Zimmer gelandet war, abgeworfen vom Klapperstorch, wie ihre Eltern ihr anfangs weisgemacht hatten. Während sie viel redete, schwieg er meistens. Wenn sie Besuch von anderen Kindern hatte, saß er dabei und hörte zu. Wenn die Jungen aus der Nachbarschaft ihn zum Kicken abholen wollten, bat er Julia mitzukommen. Sie schluderte ihre Hausaufgaben so schnell wie möglich hin, er gab sich Mühe damit. Ihr waren Noten egal, er konnte sich tagelang über eine verpatzte Klassenarbeit ärgern.

»Er ist eher ein ruhiger Typ«, sagte Julia schließlich. »Nachdenklich und vernünftig. Ich kann mir nicht vorstellen, dass er sich leichtfertig in Gefahr begeben hat.«

Die Polizistin schwieg.

»Er bereitet seine Reisen akribisch vor und überlässt nichts dem Zufall«, fuhr Julia fort. »Völlig anders als ich. Wenn ich reise, lasse ich alles auf mich zukommen. Meistens weiß ich morgens noch nicht, wo ich abends landen werde.«

»Hat Ihr Bruder jemals geäußert, dass es ihm nicht gut geht, dass er Ängste oder Depressionen hat?«

Julia machte eine abwehrende Bewegung mit der Hand. »Sie meinen, ob er suizidgefährdet ist? Kein bisschen. Er ist gern allein, aber er ist nicht einsam oder gar schwermütig.«

Sie überlegte, welche Beschreibung auf Robert zutreffen würde, und ihr kam das Wort genügsam in den Sinn. Sie sah ihn vor sich, wie er als kleiner Junge einen Turm aus Bauklötzen baute, Stein auf Stein, ohne sich auch nur eine Sekunde ablenken zu lassen. Auf seinem Gesicht lag ein zufriedener Ausdruck, und er schien mit sich und der Welt im Reinen zu sein. Auch später war er am glücklichsten, wenn man ihn in Ruhe ließ und er sich konzentriert mit dem beschäftigen konnte, was ihn gerade interessierte.

»Hätte er sich bei Ihnen gemeldet, wenn er Probleme gehabt hätte?«

»Auf jeden Fall«, sagte Julia im Brustton der Überzeugung. »Wenn es etwas Ernstes gewesen wäre, hätte ich davon gewusst.«

Nach Stunden zog die Polizei endlich ab. Julia und ihre Eltern saßen schweigend um den Esstisch. Ihr Vater hatte den Laptop vor sich stehen und scrollte durch Seiten mit Berichten über Vermisste.

»Jeden Tag werden zweihundertfünfzig bis dreihundert Menschen in Deutschland als vermisst gemeldet, aber die Hälfte taucht schon nach einer Woche wieder auf«, sagte er, den Blick auf den Bildschirm gerichtet.

»Seit wann ist Robert denn genau verschwunden?«, fragte Julia.

»Das wissen wir nicht«, sagte ihre Mutter.

Julia rechnete im Stillen nach. Es musste weit über eine Woche her sein. Der Pensionswirt hatte Robert nach vier Tagen als vermisst gemeldet, dann hatte die Suche vor Ort begonnen, erst danach waren die deutschen Behörden informiert worden. Die hatten die Information an die für ihr Viertel zuständige Polizeidienststelle weitergegeben, und heute waren die Beamten bei ihnen aufgetaucht.

»Nach einem Monat sind achtzig Prozent der Vermissten wieder da«, sagte Julias Vater.

»Und die restlichen zwanzig Prozent?«

Er gab keine Antwort.

Julias Blick fiel auf die Fotos der Vermisstenkartei. Seit dreizehn Jahren vermisst stand unter dem Foto einer jungen Frau mit langen blonden Haaren. Seit neun Jahren spurlos verschwunden unter dem eines glatzköpfigen Mannes aus Sachsen. Sogar das Bild einer Frau, die dreißig Jahre zuvor verschwunden war, entdeckte sie. Lachende Kindergesichter waren zu sehen, Schnappschüsse, in fröhlicher Runde aufgenommen; Fotos, die aus einem Pass herausvergrößert waren. Gesichter von ganz normalen Menschen, die Eltern hatten, Kinder, Großeltern, Freunde, Arbeitskollegen. Die eines Tages verschwunden waren, wie vom Erdboden verschluckt.

Hinter all diesen Gesichtern, die Julia entgegenblickten, standen Menschen wie sie und ihre Eltern, die verzweifelt auf ein Lebenszeichen des Vermissten hofften, auf die Nachricht, dass er oder sie wohlauf war.

Später, wenn das Warten Jahre oder gar Jahrzehnte gedauert hatte, wünschten sie sich nur noch die Gewissheit, dass der geliebte Mensch tot war. Damit sie endlich zu trauern beginnen konnten.

1

Genuss ohne Reue verkündete das Banner über dem Hoteleingang. Julia nahm zwei Stufen gleichzeitig, durchquerte das elegante Foyer und betrat den Tagungsraum Fürst Pückler, wo die Pressekonferenz stattfinden sollte. Ein neues Präparat zur Gewichtsreduktion wurde der Öffentlichkeit präsentiert. Zwei Löffel des Pulvers pro Tag – und schon könne man so viel essen, wie man wolle, und würde dabei auch noch abnehmen. Julia hatte erhebliche Zweifel an den Versprechungen des Herstellers, aber da nichts bei Leserinnen so gut ging wie Diätthemen, war die Präsentation ein Pflichttermin. Außer ihrem Hauptauftraggeber, dem Chefredakteur von Gesundheit heute, würden ihr sicher auch andere ihrer Kunden die Geschichte abkaufen.

Überwiegend Journalistinnen drängten sich in dem überfüllten Saal; die wenigen männlichen Kollegen sahen aus, als hätte man sie beim Pornogucken erwischt.

Der junge Marketingmanager der Firma ergriff das Wort.

»Meine Damen und Herren, ich begrüße Sie herzlich zur Weltpremiere von Lineafit Magic! Wir haben es hier mit nichts weniger als einer Revolution zu tun. Die Zeiten der Selbstbeschränkung und des Verzichts sind endlich vorbei! Genuss ohne Reue ist angesagt. Haben Sie davon nicht immer geträumt? Schlemmen, so viel Sie wollen, und dabei kein Gramm zulegen! Im Gegenteil, sogar an Gewicht verlieren! Lineafit Magic erfüllt diesen Traum. Helfen Sie uns dabei, ihn für Hunderttausende, ja für Millionen Menschen wahr werden zu lassen!«

Er berichtete von den riesigen Investitionen, die das Unternehmen für die Entwicklung des Pulvers auf sich genommen habe, von der ausgeklügelten Zusammenstellung der Inhaltsstoffe und den überaus erfolgreichen Testreihen. Man hätte den Eindruck gewinnen können, es hätte in den letzten hundert Jahren keine bedeutendere Erfindung gegeben.

Julia starrte den glatt gescheitelten Jüngling in seinem knappen Anzug, der ihn wie einen zu groß geratenen Konfirmanden wirken ließ, wütend an. Anstatt zu überlegen, wie man Millionen hungernder Menschen auf der Welt mit Nahrung versorgen könnte, entwickelten diese Pharmafritzen ein Placebo für verfettete Wohlstandsärsche und kamen sich noch toll dabei vor! Es war nicht zu fassen.

Sie feuerte ihren Notizblock, auf den sie ein paar Stichworte gekritzelt hatte, in die Tasche, zog ihr Handy heraus und fing an zu tippen.

Von: [email protected]

An: [email protected]

Betreff: Dieser Abnehm-Scheiß

Hi, Chris, bin gerade beim Release von diesem angeblichen Wunderpulver. Sauteuer, garantiert wirkungslos, wahrscheinlich gefährlich. Wenn du die Liste der Inhaltsstoffe liest, tränen dir die Augen. Könnte dir aus dem Stand zehn mögliche Nebenwirkungen aufzählen. Kann dir unmöglich was darüber liefern. Du weißt, dass ich eine Texthure bin und mich oft über die Grenzen meiner natürlichen Elastizität hinaus verbiege. Aber bei der Verbreitung von diesem Scheiß helfe ich nicht mit. Sorry. Call me again.

J.

Chris hatte sich vorgestellt, dass Julia eine Weile das Pulver testen und über ihre Erfahrungen schreiben sollte. Er liebte diese Art von Selbsterfahrungsjournalismus, vor allem wenn andere ihm die Erfahrungen abnahmen. Julia hatte schon zehn Tage gefastet, sich Blutegel aufsetzen lassen und mit einer Gruppe gestresster Manager ein Wochenende ohne Handy im Wald verbracht, wo sie sich von Beeren und Stockbrot ernährt hatte. Aber mit diesem Zeug in Verbindung gebracht zu werden würde ihren Ruf als seriöse Medizin-Journalistin endgültig ruinieren.

Neugierig hörte sie zu, was die Kollegen und Kolleginnen wissen wollten. Niemand stellte auch nur eine kritische Frage. Julia meldete sich: »Sie sagen, man könne schlemmen, so viel man wolle – heißt das auch, dass man essen kann, was man will?«

Der Konfirmand wurde sichtlich unruhig und gab die Frage an den Leiter der Entwicklungsabteilung weiter. Der holte aus und gab eine umständliche Erklärung ab. Julia hörte stirnrunzelnd zu, dann meldete sie sich erneut.

»Wenn ich Sie gerade richtig verstanden habe, wollen Sie sagen, dass man so viel Obst, Gemüse, Salat und Eiweiß essen darf, wie man will, aber keineswegs Fett und vor allem keine Kohlenhydrate. Mit der Methode nimmt man doch sowieso ab. Wofür braucht man da noch Ihr Zauberpulver?«

Wieder setzte der Typ zu einer rhetorischen Geisterfahrt voller Nicht-nur-aber und Sowohl-als-auch an, der Julia nicht mehr folgte. Für sie war der Fall klar. Mieser Betrug.

Sie sprang auf und stürmte aus dem Raum. Ärger führte bei ihr zu einem Blutzuckersturz, sie musste unbedingt was essen. Das Angebot bestätigte ihre These: Mozzarella-Tomaten-Spieße, Karottensticks im Kräuterdip, sparsam belegte Brötchen. Wenn diese Gangster an die Wirkung ihres Pulvers glauben würden, könnten sie ja was richtig Unanständiges servieren. Leberpastete oder Hummer zum Beispiel. Nicht mal Sekt oder Wein wurden gereicht, nur Wasser und Saft. Wo war sie hier bloß gelandet.

Sie dachte daran, wie sie kurz nach dem Abi die Zusage für einen Platz an der Journalistenschule bekommen hatte. Fast wäre sie vor Stolz geplatzt. Über vierhundert Leute hatten sich beworben, nur zwanzig waren genommen worden. Und sie war eine von ihnen gewesen.

Während des Studiums wurde ihnen eingeschärft, welch verantwortungsvolle Aufgabe sie als Journalisten zu erfüllen hatten: als vierte Macht im Staat die Politik zu kontrollieren, gesellschaftliche Missstände aufzudecken, die Wahrheit ans Licht zu bringen. Immer objektiv und unbestechlich zu sein, genauestens zu recherchieren und beim Schreiben nichts – auch nicht die kleinste Kleinigkeit – dazuzuerfinden.

Im Geiste sah sie sich damals die großen investigativen Reportagen schreiben, mit denen sie die Öffentlichkeit aufrütteln und Preise gewinnen würde.

Stattdessen stand sie nun bei einer als Pressekonferenz getarnten Werbeveranstaltung eines Pharmakonzerns für ein albernes, nutzloses, wenn nicht sogar gefährliches Pseudoprodukt. Und schlimmer noch: Ihre journalistischen Jobs finanzierte sie sich durch PR-Arbeit. Sie konzipierte Kundenmagazine und verfasste Pressemeldungen und Texte für Broschüren im Wellness- und Spa-Bereich. Ohne solche Aufträge wäre sie längst verhungert.

Die Pressekonferenz war zu Ende, die Tür zum Raum Fürst Pückler öffnete sich, und die Leute strömten heraus. Die Kolleginnen von den Frauenmagazinen in ihren modischen Outfits warfen Julia Blicke zu. Bestimmt hielten sie sie für eine biestige, überkritische Nörglerin, die den Pharmakonzernen ihren Profit missgönnte. Aber das war sie nicht. Sie wollte nur nicht verarscht werden.

Während Julia frustriert an einem Karottenstick knabberte und überlegte, wo sie den nächsten Auftrag herbekommen könnte, trat ihr jemand mit voller Wucht auf den Fuß. Sie glaubte, ein knackendes Geräusch zu hören. Ihr wurde schlecht vor Schmerz, Tränen schossen ihr in die Augen.

Der Schuldige, ein Mann mit einer Kamera auf der Schulter, bewegte sich im Krebsgang halb seitwärts, halb rückwärts an ihr vorbei, ohne zu sehen, wohin er trat. Ihm folgte ein Mann mit einem Mikrofon in der Hand, der eine Frau interviewte.

»Können Sie nicht aufpassen?«, rief Julia mit schmerzverzerrtem Gesicht.

Sie verkniff sich die Beleidigungen, die ihr auf der Zunge lagen. Es empfahl sich nicht, jemanden bei laufender Kamera zur Sau zu machen. Solche Szenen landeten unweigerlich im Internet und konnten eine hoffnungsvolle Karriere schnell beenden. Wobei ihre Karriere bei nüchterner Betrachtung so hoffnungsvoll war wie die Aussichten eines Regenwurms bei dauerhafter Dürre. Trotzdem hielt sie den Mund, bis der Typ die Kamera von der Schulter genommen hatte. Bevor sie ihn zur Rede stellen konnte, verdrückte er sich. Stattdessen kam der Mann mit dem Mikro auf sie zu und blickte sie besorgt an.

»Hat mein Kollege Ihnen wehgetan?«

»Allerdings!«, fauchte Julia. »Wieso latscht dieser Idiot rückwärts durch eine Menschenmenge?«

»Tut mir leid«, sagte der Mann. »Das war meine Idee. Interview in Bewegung. Sollte originell sein.« Er blickte sie schuldbewusst an. »Kann ich das irgendwie in Ordnung bringen?«

Sie fragte sich, ob seine Zerknirschung echt oder nur gut gespielt war. »Versuchen Sie nicht mehr, originell zu sein«, sagte sie finster.

Er lachte. »Das wird schwierig werden. Soll ich Ihnen was zu trinken bringen?«

Trotz der Schmerzen rang sie sich ein Lächeln ab. »Am liebsten Alkohol.«

Sie hoffte, dass er mehr Glück haben würde als sie, aber er kam unverrichteter Dinge zurück.

»Kein Wein, kein Bier, nicht mal Prosecco«, sagte er kopfschüttelnd. »Die nehmen das Thema Gesundheit wirklich ernst.«

Julia verzog das Gesicht. »Dabei sollten sie uns mit Strömen von Champagner bestechen. Nüchtern kauft ihnen diesen Mist doch keiner ab.«

Er grinste. »Sie glauben nicht an die Wirkung des Zauberpulvers?«

»Glauben Sie etwa dran?«

»Ich glaube, dass die Menschen betrogen werden wollen«, gab er zurück.

»Kann sein«, sagte Julia. »Auf mich trifft das nicht zu.«

Er schenkte ihr einen tiefen Blick. »Und woran glauben Sie?«

»An den freien Willen und die Wirkung von Alkohol.«

Wieder lachte er. »Wir könnten woanders unser Glück probieren.«

»Also gut«, sagte sie und wollte einen Schritt machen. Mit einem Schmerzenslaut zog sie ihren malträtierten Fuß zurück. »Mist, ich kann nicht auftreten.«

»Was machen wir denn jetzt?« Er guckte ratlos. »Soll ich einen Rollstuhl organisieren?«

»Bloß nicht.« Julia wurde die Situation zunehmend unangenehm. Sie wünschte, sie wäre ihrem ersten Impuls gefolgt und hätte die Einladung zu diesem Pressetermin umgehend in den Papierkorb befördert. Sie wünschte, sie hätte ein regelmäßiges Einkommen und müsste sich nicht von einem schlecht bezahlten Auftrag zum nächsten hangeln. Und sie wünschte, sie wäre diesem Mann unter anderen Umständen begegnet, nicht wie ein Flamingo auf einem Bein stehend, ihren verletzten Fuß in der Hand haltend, vom Umfallen bedroht.

Er überlegte einen Moment, dann sagte er schelmisch: »Ich bin ausgebildeter Bergretter. Soll ich Sie retten?«

»Wir sind nicht im Gebirge.«

»Ich bin ja auch kein Bergretter«, sagte er. »Aber wenn jemand nicht mehr gehen kann, gibt es eigentlich nur eine Möglichkeit, ihn zu transportieren.«

Er drehte ihr den Rücken zu und ging tief vor ihr in die Knie.

»Kommt nicht infrage.«

Er drehte den Kopf und blickte über die Schulter zu ihr hoch. »Und wie wollen Sie sonst hier rauskommen?«

»Keine Ahnung. Jedenfalls nicht so.« Trotzig verschränkte Julia die Arme.

»Nun machen Sie schon«, forderte er sie auf. »Oder wollen Sie hier verschimmeln?«

Verdammt. Sie presste die Lippen zusammen. Wenn sie nicht mit dem Notarzt abgeholt werden wollte, müsste sie sich notgedrungen von dem Kerl huckepack nehmen lassen. Wie demütigend.

Widerstrebend beugte sie sich vor und legte die Arme über seine Schultern. Ihr Bauch und ihre Brust landeten auf seinem Rücken. Er umfasste von vorn ihre Handgelenke und stand auf. Julia schloss die Augen und hoffte, dass niemand sie erkannte. Ihr Gesicht lag an seinem Hals. Sie schnupperte. Angenehm.

»Soll ich Sie in die Klinik fahren?«, bot er an. »Mein Wagen steht draußen.«

»Erst muss ich was essen.« Sie war ohne Frühstück aus dem Haus gegangen, und ihr war schlecht vor Hunger.

Wenig später ließ der Mann sie in der Hotelbar sanft auf einen Hocker gleiten und grinste sie an.

»Alles gut?«

Sie nickte.

Der Typ hatte etwas Entwaffnendes an sich. Sein Gesicht war ähnlich zerknautscht wie sein Sakko, um seine Augen spielten Lachfältchen, die ihm etwas Verschmitztes gaben. Ordentlich rasiert war er auch nicht, und sein Haar, das an den Schläfen bereits grau wurde, stand an einigen Stellen widerspenstig ab. Seine Ausstrahlung gefiel ihr. Er wirkte wie jemand, der den Mut hatte, er selbst zu sein. Und sich nicht darum scherte, was andere dachten.

Er winkte einem Kellner und bestellte die Karte, dann streckte er die Hand aus. »Sebastian Bayer.«

Sein Händedruck war kräftig, seine Hand warm und trocken.

»Julia Feldmann.«

Sie beugte sich vor und wollte ihren Schuh anziehen, den sie die ganze Zeit über festgehalten hatte. Unmöglich. Er erschien plötzlich drei Nummern zu klein.

»Zeigen Sie mal.«

Sebastian ergriff ihren Fuß, bewegte die Zehen vorsichtig hin und her und strich mit den Fingern zart über das angeschwollene Gewölbe. Ein Schauer durchrieselte sie.

»Nichts gebrochen, glaube ich. Wird aber sicher blau. Soll ich Sie nicht doch zu einem Arzt bringen?«

Julia lehnte erneut ab. »Das wird schon wieder.« Als Arzttochter vermied sie Praxisbesuche nach Möglichkeit.

Wieder legte er sein Gesicht in sympathische Dackelfalten. »Wollen Sie meinen Kollegen verklagen? Soll ich Ihnen seine Adresse geben?«

Sie musste lachen. »Ach Quatsch. Aber kühlen wäre sicher gut.«

Sie bat den Kellner um Eiswürfel und eine Stoffserviette. Sebastian bastelte daraus eine Eiskompresse und wickelte sie sorgfältig um ihren Fuß.

Sie bestellten etwas zu essen und dazu Aperol Spritz (ein Getränk, das Julia extrem unmännlich fand, das zu ihrer Überraschung aber von vielen Männern geschätzt wurde).

Als sie anstießen, sah Sebastian ihr in die Augen und sagte: »Wissen Sie eigentlich, dass die Wahrscheinlichkeit, auf einem Pressetermin für ein Diät-Wundermittel jemand Interessantes kennenzulernen, bei eins zu hunderttausend liegt?«

Julia hob spöttisch eine Augenbraue. »Dann hatten Sie ja heute Glück.«

Nach einer Stunde, in der sie sich angeregt unterhalten hatten, trennten sie sich.

»Sind Sie wirklich ganz sicher, dass ich Sie nicht nach Hause fahren soll?«, fragte er.

»Ganz sicher.«

Julia humpelte zu ihrer Vespa und winkte noch einmal kurz über die Schulter.

2

Julia klingelte. Nach einiger Zeit öffnete sich die Tür.

»Schön, dass du kommst«, sagte ihre Mutter. »Du warst lange nicht da.«

»Ich war letzte Woche hier«, widersprach Julia.

»Kommt mir länger vor.« Gitta verzog das Gesicht.

Die Jalousien waren fast vollständig heruntergezogen, um die Sommersonne auszusperren. Es war angenehm kühl. Die Wohnung wirkte nicht so ordentlich wie sonst, vielleicht hatte sie bei der Hitze keine Lust zum Aufräumen gehabt.

Julia trug die Einkaufstüten in die Küche und räumte die Lebensmittel ein. Sie besorgte regelmäßig frisches Obst, Joghurt, Aufschnitt und Milch, damit ihre Mutter sich einigermaßen gesund ernährte. Sie kochte nicht mehr, obwohl sie früher eine fantastische Köchin gewesen war.

»Für mich alleine lohnt sich das nicht«, sagte sie.

Insgesamt aß sie wenig, sie hatte keinen Spaß mehr am Essen.

Julia öffnete den Kühlschrank und runzelte die Stirn. »Wieso liegt dein Geldbeutel hier drin?«

»Den hab ich schon gesucht«, sagte Gitta und nahm ihn Julia ab. »Ich war vorhin in der Apotheke.«

Direkt neben dem Geldbeutel lagen die Medikamente.

In letzter Zeit war ihre Mutter vergesslicher geworden, aber das war ja normal in ihrem Alter. Und dass sie keine Lust hatte, Briefe vom Finanzamt, der Stadtverwaltung oder der Hausverwaltung zu lesen, konnte Julia nur zu gut verstehen.

»Davon kriege ich Migräne«, erklärte Gitta und sammelte die Briefe in einer Schublade. Julia kontrollierte regelmäßig, ob etwas Wichtiges dabei war, und kümmerte sich dann darum.

Insgesamt kam ihre Mutter gut zurecht, nur einmal wäre fast ein Unglück geschehen. Sie hatte sich für ein Nickerchen hingelegt, während auf dem Adventskranz eine Kerze herunterbrannte und die Zweige zu kokeln begannen. Durch den Geruch wurde ein Hausbewohner aufmerksam und klingelte Sturm.

Der Mann hatte darauf gedrängt, dass Julia den Gesundheitszustand ihrer Mutter überprüfen ließ. Man müsse ausschließen, dass ihre Vergesslichkeit organische Gründe habe. Weil Julia keinen Ärger wollte, hatte sie schließlich nachgegeben.

Gitta hatte sich für den Gutachter des Medizinischen Dienstes hübsch angezogen, sorgfältig geschminkt und war vorher zum Friseur gegangen. Sie hatte Kaffee und selbst gebackene Muffins serviert und sich so angeregt mit dem Besucher unterhalten, dass der hinterher zu Julia gesagt hatte: »Ihrer Frau Mutter geht’s hervorragend. Sie müssen sich keine Sorgen um sie machen.«

Julia hatte nichts anderes erwartet. Sie fragte sich nur, was ihre Mutter mit der vielen Zeit anfing, die ihr zur Verfügung stand. Jeden Tag holte eine Nachbarin sie zu einem gemeinsamen Spaziergang ab. An den Abenden sah sie fern. Ein- bis zweimal die Woche kam Julia, um nach ihr zu sehen und für sie einzukaufen. Enge Freunde hatte Gitta keine, und ihre nächsten Verwandten (eine Cousine und zwei Neffen) lebten weit entfernt und hatten noch nie Interesse an ihr gezeigt.

Gitta saß am Sofatisch und strich sich das Haar aus dem Gesicht.

»Heiß heute, nicht wahr?«

Julia sprang auf.

»Ich hab eine Überraschung für dich!«, sagte sie und holte den Behälter mit italienischem Eis, den sie mitgebracht hatte. Sie löffelte die cremige Masse in zwei Schälchen. Ihre Mutter probierte und verzog das Gesicht.

»Ich mag kein Zitrone.«

»Das ist nicht Zitrone, Mutti, das ist Joghurt.«

Gitta probierte ein zweites Mal. »Das ist Zitrone.«

Julia seufzte. »Gib es mir, wenn du es nicht magst.«

Sie wollte nach dem Schälchen greifen, da zog Gitta es mit Schwung weg.

Julia sah mit einem Mal wieder das Keramiktöpfchen vor sich, das sie unter Anleitung ihrer Erzieherin im Kindergarten geformt, im Ofen gebrannt und ihrer Mutter zum Geburtstag geschenkt hatte. Die hatte den Kopf zur Seite gelegt und das Töpfchen eingehend inspiziert.

»Sehr hübsch«, hatte sie gesagt. »Vielleicht hättest du es lieber blau glasieren sollen statt grün. Dann würde es besser zu unserem Geschirr passen.«

Gitta war immer kapriziös gewesen, aber das hatte Julia nicht gestört. Sie war schließlich etwas Besonderes, deshalb durfte sie auch anspruchsvoll sein. Ein Lob von ihr, die so schwer zufriedenzustellen war, erschien Julia als das Erstrebenswerteste überhaupt. So bemühte sie sich unaufhörlich, ihren Erwartungen gerecht zu werden.

Bis zur Pubertät gelang ihr das recht gut, aber dann explodierte etwas in ihr. Ein unbändiger Freiheitswille ergriff Besitz von ihr, und sie begann, gegen alles zu rebellieren, was von ihrer Mutter kam. Mit vierzehn fing sie an, die Schule zu schwänzen und mit einer Clique von Kiffern herumzuhängen. Wenig später probierte sie härtere Drogen, hauptsächlich Amphetamine und Ecstasy. Sie kam nächtelang nicht nach Hause, mehr als ein Mal ließen ihre besorgten Eltern sie von der Polizei suchen.

Ein Jahr vor dem Abi war es ganz plötzlich vorbei. Sie hörte auf mit den Drogen, konzentrierte sich auf die Schule und machte ihren Abschluss mit einem Notenschnitt von 1,8. Aus eigenem Antrieb, nicht weil jemand es von ihr verlangte. Danach zog sie von zu Hause aus und begann, ihr eigenes Leben zu leben. Aber der Wunsch, ihrer Mutter zu gefallen, hatte sie nie ganz verlassen.

Gitta hatte ihr Eis fast aufgegessen und blickte auf. »Früher haben wir oft Joghurt-Eis gegessen.«

»Deshalb habe ich es dir ja mitgebracht.«

Ihre Mutter leckte das Schälchen aus.

»Mutti!«, sagte Julia halb lachend, halb entsetzt. »Das macht man doch nicht!«

Gitta stellte das Schälchen ab und wischte sich mit dem Handrücken über den Mund. Auch das hätte sie früher niemals getan. Ob das eine Alterserscheinung war? Die Schwächung der Selbstkontrolle, eine gewisse Nachlässigkeit? Aber so alt war ihre Mutter doch noch gar nicht. Zweiundsiebzig. War doch heutzutage kein Alter.

»Was hast du denn die letzten Tage so gemacht?«, erkundigte sie sich.

»Nichts.«

Julia lächelte. »Nichts?«

»Nichts Besonderes. Ich war in der Apotheke. Und im Keller.«

»Im Keller?«

»Ich habe was gesucht.« Gitta überlegte, dann zuckte sie die Schultern. »Hab’s aber nicht gefunden.«

»Was denn?«, fragte Julia.

»Ich hatte doch mal so ein fantastisches Sommerkleid, ich glaube, es war von Missoni. Plötzlich hatte ich Lust, es anzuziehen.«

»Das war vor zwanzig Jahren«, sagte Julia überrascht. »So lange bewahrst du doch deine Sachen nicht auf.«

Sie betrachtete ihre Mutter, die immer noch eine eindrucksvolle Erscheinung war. Groß und schlank, das dichte weiße Haar modisch kurz geschnitten, der Lippenstift farblich auf Rock und Bluse abgestimmt. Ihre frühere Attraktivität war immer noch deutlich zu erkennen. Mit einem Mal bemerkte Julia, dass die Knöpfe an Gittas Bluse versetzt zugeknöpft waren. Sie machte sie darauf aufmerksam.

»Ach, die blöden Knöpfe«, sagte sie. »Die gehen mir sowieso auf die Nerven.«

Julia half ihr, die Bluse richtig zu knöpfen. Ihre Mutter hielt ihre Hand fest und sah sie an.

»Gut siehst du aus.«

»Danke«, sagte Julia verblüfft.

»Färbst du dein Haar schon?«

Julia lachte. »Nein, Mutti, ist alles echt. Ich bin erst neununddreißig.«

»Wirklich?« Sie schien ehrlich erstaunt zu sein. Ihr Gesicht bekam einen nachdenklichen Ausdruck. »Als Kind hast du ausgesehen wie ein Engel. Aber du hattest furchtbare Wutausbrüche. Du hast geschrien und dich auf den Boden geworfen.«

»Wirklich?« Davon hatte ihr noch nie jemand erzählt.

»Es hat gedauert, bis du in die Schule gekommen bist. Wir haben uns Sorgen gemacht.«

Julia war verwirrt. Sprach ihre Mutter wirklich von ihr? Sie war eigentlich ein folgsames Kind gewesen, das immer versucht hatte, es allen recht zu machen. Wutanfälle passten so gar nicht in dieses Bild.

»Und … wie habt ihr reagiert?«

»Wir haben dich in dein Zimmer geschickt, bis du dich beruhigt hast.«

Julia versuchte, eine Erinnerung in sich zu finden. Das wütende, heulende Kind, das weggeschickt wurde. Aber da war nichts.

»Irgendwann bist du rausgekommen«, fuhr Gitta fort. »Dein Gesicht war ganz rot vom Weinen. Du hast dich bei Papa oder mir auf den Schoß gesetzt, den Daumen im Mund, und bist eingeschlafen.«

Julia schüttelte nur stumm den Kopf.

»Du wolltest Papa heiraten«, fuhr Gitta fort. »Du wolltest sein wie ich.«

O ja, das wollte sie, daran erinnerte sie sich. Sie wollte nicht nur sein wie ihre Mutter, sie wollte an ihrer Stelle sein.

Sie lächelte. »Warst du eifersüchtig?«

»Ein bisschen.« Gitta verzog das Gesicht. »Ich habe dir so schöne Puppenkleider genäht, aber du mochtest keine Puppen. Du hast lieber mit deinem Bruder Fußball gespielt. Seine Freunde haben dich mitspielen lassen, obwohl du ein Mädchen warst.«

Plötzlich sah Julia ihr Elternhaus wie in einem Film vor sich. Eine Kamera schien in schneller Fahrt aus der Höhe hinabzusausen, hinein in den Garten, in dem sich Laken an einer Wäschespinne bauschten, an einem Sandkasten entlang, in dem bunte Förmchen und Schaufeln lagen, vorbei an einem hingeworfenen Kinderfahrrad und einem schwarz-weiß gemusterten Ball, hinein ins Innere des Einfamilienhauses, das mit seinen modernen Polstermöbeln und ergonomisch geformten Holzstühlen von bürgerlichem Wohlstand zeugte. Ein Strauß frischer Blumen stand auf dem Esstisch, eine Durchreiche gab den Blick in die Küche frei. Im ersten Stock war das Elternschlafzimmer mit dem nach Maß gefertigten Einbauschrank und der flauschigen gelben Tagesdecke über dem Doppelbett. Daneben die beiden Kinderzimmer, apricot und hellblau gestrichen, mit robusten Betten aus Kiefernholz und Kisten voller Spielsachen und Kuscheltiere. Alles sah hell und freundlich aus.

Julia war verblüfft über diesen plötzlichen Erinnerungsschub. Meist konnte sie sich nur an Bruchstücke erinnern, und oft wusste sie nicht, ob sie die Szenen selbst erlebt hatte oder ob sie ihr von irgendjemandem erzählt worden waren. Die Beschäftigung mit der Vergangenheit war schmerzhaft und gefährlich, weshalb Julia sie lieber vermied.

Gittas Stimme holte sie zurück in die Gegenwart.

»Übrigens, Robert hat angerufen.«

Entgeistert starrte sie ihre Mutter an. Es dauerte einen Moment, bis die Worte zu ihr durchgedrungen waren.

»Robert?«, sagte sie schließlich ungläubig. »Wann soll das gewesen sein?«

»Ich weiß nicht, gestern oder vorgestern.«

»Das kann nicht sein, Mutti.«

Gitta strich versonnen das Tischtuch glatt. »Aber er hat angerufen.«

Julia zwang sich zur Ruhe. »Was hat er denn gesagt?«

»Nichts Besonderes …«

Julia beugte sich zu ihr und blickte sie eindringlich an. »Mutti! Wie kommst du darauf, dass es Robert war?«

»Ich weiß es eben.«

»Erzähl es mir genau. Wo warst du, als das Telefon geklingelt hat?«

»In der Küche. Es klingelte, und erst habe ich nicht verstanden, dass es mein Telefon ist. Ich dachte, es kommt aus dem Fernseher. Ich bin dann nicht hingegangen. Aber es hat wieder geklingelt, und dann habe ich abgehoben.«

»Und dann?«

»Dann hat ein Mann gesprochen. Er hat mich gefragt, wie es mir geht. Ich habe erzählt, wie’s mir geht, und dann … haben wir uns ein bisschen unterhalten. Es war die Stimme von Robert!«

»Das ist unmöglich!«, rief Julia. »Und das weißt du genau!«

»Wenn du so mit mir sprichst, sage ich gar nichts mehr.«

Gekränkt wandte Gitta sich ab und griff nach einer Fernsehzeitschrift.

Julia sprang auf und nahm das Telefon aus der Ladeschale. Sie öffnete das Menü und scrollte durch die Anrufliste. Es waren nur wenige Nummern gespeichert, die sie alle kannte. Der Hausarzt, die Apotheke, die Nachbarin. Außerdem zwei Anrufe mit unterdrückter Nummer.

Das konnte jeder gewesen sein. Ein Marketinginstitut, das eine Umfrage durchführte, eine dieser Firmen, die alten Leuten irgendwas aufschwatzen wollten. Schon mehrmals hatte sie Verträge widerrufen, die ihre Mutter abgeschlossen hatte. Ein Bankberater hatte ihr eine Anlage mit zwanzig Jahren Laufzeit eingeredet, ein cleverer Verkäufer ein Abonnement für die monatliche Lieferung von zwei Kilo Fischfutter, obwohl Gitta kein Aquarium besaß.

»Aber ich wünsche mir Goldfische«, war ihre Ausrede gewesen, als Julia den Vertrag entdeckte. »Ich brauche jemanden zum Reden.«

Meistens genügte es, dass Julia sich als Journalistin zu erkennen gab, um die Verträge zu widerrufen. Musste ja keiner wissen, dass sie nicht für Das Spektrum oder Die Zeitschrift schrieb, sondern nur für Gesundheit heute.

»Mutti?«

»Ja, mein Kind?«

Julia beugte sich vor und nahm die Hände ihrer Mutter in ihre. »Robert ist … tot.«

»Weiß ich doch«, sagte Gitta.

Roberts Leiche war nie gefunden worden.

1989

»Robert!«

Die Stimme seiner Schwester schallt über die Wiese. Er drückt sich tiefer ins Laub der Äste, hoch oben in der Baumkrone, in die er geklettert ist. Er will nicht gefunden werden, er mag es, allein zu sein.

Immer wieder geht er allein in den Wald, obwohl es ihm verboten ist. Dort streift er durchs Gebüsch, auf schmaler werdenden Wegen, mitten hinein ins dichte Grün, wohin kein Sonnenstrahl mehr dringt. Ein Schritt und noch ein Schritt und noch einer. Jedes Mal stellt er sich vor, dass er so lange weitergeht, bis das Grün ihn verschluckt hat. Aber dann kehrt er doch wieder um.

Jetzt klammert er sich an die Äste des Baums und freut sich diebisch, dass Julia ihn nicht sehen kann. Er beobachtet, wie sie näher kommt.

»Komm raus, du Scheißer!«, ruft sie ärgerlich.

Er presst die Lippen aufeinander und hält ganz still.

Neulich hat er die Orientierung verloren und ist stundenlang umhergeirrt. Es war schon dunkel, als er nach Hause kam. Seine Eltern haben ihn geschimpft. Julia hat ihn fest an sich gedrückt. Er hat so getan, als wäre nichts gewesen, obwohl er selbst Angst gehabt hat. Es hat ihm gefallen, dass sie sich Sorgen um ihn machen.

Auch jetzt ist seine Schwester ganz aufgeregt. Sie läuft hin und her.

»Robert!«, ruft sie immer wieder. »Robert, wo bist du?«

Er folgt ihr mit dem Blick, und plötzlich befällt ihn ein Schwindel, eine plötzliche, unerklärliche Angst vor dem Absturz. Seine Arme und Beine sind mit einem Mal wie gelähmt, er kann sie nicht mehr bewegen. Ein leises Stöhnen kommt aus seinem Mund.

Julia bleibt stehen und blickt nach oben.

»Da bist du ja! Warum gibst du keine Antwort?« Sie ist wütend.

Julia kommt immer, wenn er sie braucht. Einmal hat er sich den Fuß verstaucht, und sie hat ihn nach Hause getragen. Ein anderes Mal hat er sich den Arm an Brennnesseln so verbrannt, dass sie in die Praxis fahren mussten. Dort hat sie ihm die Hand gehalten, während der Vater die Wunde gesäubert und verbunden hat.

»Wegen so was weint man doch nicht«, hat der Vater zu ihm gesagt. »Du willst doch ein richtiger Junge sein, oder?«

»Hilf mir«, sagt er jetzt leise.

Julia stößt zornig die Faust in die Luft. »Ich sollte dich da oben verrotten lassen!«

»Hilf mir«, wiederholt er flehend.

»Dreimal ruhig ein- und ausatmen«, befiehlt sie schließlich, und er schließt die Augen und atmet.

»Lass die linke Hand los, und greif den Ast darunter. Taste mit dem linken Fuß, bis du wieder Halt hast. Gut so. Das Gleiche auf der anderen Seite: erst die Hand, dann der Fuß. Links unter dir ist ein dicker Ast, den musst du erreichen, dann ist alles gut …«

Robert hat die Augen geschlossen und horcht auf die Stimme seiner Schwester. Die Stimme ist das Seil, an dem er sich festhält. Sie baut ihm mit ihren Worten den Weg nach unten, schafft Tritte und Griffe, knüpft ihm ein Sicherheitsnetz.

Als er in ihre Reichweite kommt, streckt sie sich am Stamm entlang nach oben und greift nach seinem Knöchel.

»Gut gemacht.«

Robert lässt sich das letzte Stück nach unten rutschen, die Geschwister fallen übereinander auf den weichen Waldboden. Julia knufft und boxt ihn.

»Mach das nicht noch mal, hörst du?«

Er richtet sich auf den Knien auf. »Fast hätte ich ein Eichhörnchen gefangen!«

»Du lügst«, sagt Julia. »Die sind viel zu schnell.«

»Ich schwör’s!«

»Angeber!«

Julia packt und kitzelt ihn, bis er japst. »Aufhören … hör auf … Bitte!«

Sie balgen sich kichernd auf dem Waldboden. Schließlich kann Robert sich befreien und rennt über die Wiese zurück in Richtung Haus. Nach wenigen Metern hat Julia ihn eingeholt. Schwer atmend bleibt er vor dem Gartentor stehen.

»Nicht dem Papa erzählen, ja?« Er blickt seine Schwester bittend an.

Ein richtiger Junge klettert nur so hoch, dass er auch wieder runterkommt. Ein richtiger Junge lässt sich nicht von seiner Schwester retten. Wenn sein Papa davon erfährt, ist er enttäuscht. Robert will keine Enttäuschung für seinen Papa sein.

3

Alles an Christopher Hensel war fleischig: seine Nase, seine Lippen, seine Arme, seine Finger. Er strich gern über seinen ausladenden Bauch und verkündete stolz: »Der war teuer, kann ich euch sagen!« Kenntnisreich dozierte er über gesunde Ernährung, während er Hamburger und Pommes in sich hineinschlang, und obwohl sich der Rest der Redaktion von Gesundheit heute weitgehend an die Regel Kein Alkohol vor achtzehn Uhr hielt, stand auf dem Schreibtisch von Chris oft vormittags schon ein Weizenbier. Da Auflage und Anzeigenaufkommen stimmten, drückten die Verleger angesichts der Diskrepanz zwischen den Inhalten von Gesundheit heute und dem Erscheinungsbild seines Chefredakteurs seit Jahren beide Augen zu (und schickten zu offiziellen Terminen seine Stellvertreterin, eine gertenschlanke, karrieregeile Zicke, der Julia in herzlicher Abneigung verbunden war).

Julia klopfte und trat in Chris’ Büro, ohne auf Antwort zu warten. Sie kannten sich seit der Journalistenschule, Formalitäten zwischen ihnen waren nicht üblich. Chris studierte einen Layoutentwurf, der vor ihm auf dem Schreibtisch lag, und griff mit der Hand immer wieder mechanisch in eine Schale mit Schokolinsen, die er knirschend zerkaute. Er blickte hoch.

»Jule, altes Schlachtschiff, schön, dass du dich mal wieder blicken lässt!« Er bot ihr die Schale an, sie lehnte ab.

»Jetzt gibt’s doch Lineafit Magic, Genuss ohne Reue!« Er griff ein weiteres Mal in die Schale und warf sich eine Handvoll Schokolinsen in den Mund.

Sie musterte ihn spöttisch. »Das kannst du gern ausprobieren. Ich tu’s nicht.«

»Hab ich gecheckt. Also, was hast du für mich?« Erwartungsvoll sah er sie an.

Sie seufzte. »Ich dachte, du hättest was für mich. Ich brauche mal wieder was Größeres. Eine Studie, eine Reportage, wenn’s sein muss, eine Promistory.«

Chris lehnte sich auf seinem Schreibtischstuhl zurück, dass die Lehne quietschte, und verschränkte die Arme über seiner Wampe. Mit der Zunge machte er schmatzende Geräusche.

»In welchem Jahrhundert lebst du, Mädel? Wir haben das Zeitalter des Häppchen-Journalismus.«

»Nenn mich nicht Mädel«, erwiderte Julia reflexhaft.

Es war eine alte Gewohnheit zwischen ihnen. Er ließ seine Machosprüche los, sie entrüstete sich. Es kam gut an, wenn sie ihr Spielchen in der Konferenz aufführten. Nur war jetzt keine Konferenz.

»Ich hab dir Themen geschickt«, nahm sie den Faden auf. »Du hast nicht reagiert.«

Er griff nach der Maus, blickte auf den Bildschirm und scrollte durch ihre Mail. »Kraftsport in der Schwangerschaft, Kreuzallergien bei Heuschnupfen, immer mehr Venenleiden bei jungen Menschen … Das soll mich vom Hocker reißen?«

»Was reißt dich denn vom Hocker, du alter Stinkstiefel?«

Chris grinste breit. Verbale Scharmützel waren sein Sport. Der einzige, den er betrieb.

»Das weißt du doch, mein Mäuseschwänzchen. Sexy muss es sein! Es muss schmecken, riechen, vibrieren, man muss geil werden, wenn man das Stück liest.«

Julia verdrehte die Augen. »Lass den Machoscheiß, bitte!«

»Venenleiden!«, stöhnte Chris auf. »Da krieg ich ja Erektionsstörungen.«

»Dann nennen wir es eben Schöne Beine oder von mir aus Wie Ihre Beine wieder sexy werden.«

»Hatten wir neulich«, sagte Chris.

Mist. Sie war so beschäftigt damit, Themen zu suchen, umzusetzen und zu verkaufen, dass sie kaum mehr zum Lesen kam.

»Gib mir einen ordentlichen Auftrag, dann hab ich auch wieder Zeit zu lesen«, sagte sie. »Oder noch besser: Stell mich fest an!«

Er stöhnte theatralisch auf. »Jule! Du weißt, das kann ich nicht.«

»Wieso nicht?«

»Du bist zu alt.«

»Zu alt?« Sie schnaubte. »Ich bin noch nicht mal vierzig! Und ich kriege garantiert keine Kinder mehr. Stell dir mal vor, was der Verlag da spart!«

»Ich meine nicht alt im Sinne von … alt.« Chris seufzte auf. »Du bist zu lange im Job, du bist zu teuer, du bist überqualifiziert. Dieser Laden lebt davon, dass ich freie Mitarbeiter und Praktikanten ausbeute. Wenn ich anfange, euch anständig zu bezahlen, sind wir in kürzester Zeit tot.«

Es wirkte nicht so, als bereitete seine Rolle als Ausbeuter ihm Bauchschmerzen. Wäre es anders, säße er nicht an diesem Platz.

»Wie ich überleben soll, ist dir also völlig egal?«

»Du bist eine Kämpferin, Jule. Du schaffst das schon.« Er wandte sich wieder seinem Layout zu.

Sie schüttelte ungläubig den Kopf. »Soll das heißen … du willst keines meiner Themen?«

»Reiß mich vom Hocker, und du hast einen Auftrag.«

Kraftlos ließ sie sich auf den Stuhl vor seinem Schreibtisch fallen. »Chris, ich bitte dich. Die Häppchenscheiße kostet nur Zeit und bringt nichts ein. Ich brauche einen richtigen Auftrag, gut bezahlt, mit einer vernünftigen Lieferfrist. Gib dir einen Ruck, Chris! Um der alten Zeiten willen.«

Noch nie hatte sie einen Auftraggeber in dieser Weise angebettelt. Es kotzte sie an. Chris musterte sie, das spöttische Blitzen war aus seinen Augen verschwunden.

»Vielleicht hab ich da was für dich«, murmelte er und griff in eine Schublade. Er drückte ihr einige Ausdrucke in die Hand.

Sie warf einen flüchtigen Blick darauf. »Was ist das?«

»Lies selber.«

Sie steckte die Papiere ein. »Danke.«

»So, und jetzt raus hier«, sagte Chris und wedelte mit der Hand, als wäre sie ein lästiges Insekt.

Sie stand auf. »Wenn du deine Leute schon scheiße bezahlst, solltest du sie nicht auch noch scheiße behandeln. Warum bist du so?«

Chris grinste unbeeindruckt. »Weil ich es kann.«

4

»Links nach vorn, Gewicht auf rechts, links nach hinten, stehen. Rechts nach hinten, Gewicht auf links, rechts nach vorne, stehen.« Die Musik begann. »Und los geht’s … uno, dos, tres, cuatro …«

Julia starrte angestrengt auf ihre Füße, die ihr einfach nicht gehorchen wollten. Der eine Fuß tat immer noch ein bisschen weh, obwohl er wieder abgeschwollen war. Sie fühlte sich wie ein Elefant: trampelig und ungeschickt. Schon als Kind hatte sie keinerlei Talent für Bewegungsformen gehabt, bei denen Anmut gefragt war. Rennen, Fußballspielen, Bockspringen – solche Sachen machten ihr Spaß, darin war sie gut. Aber auf dem Schwebebalken graziös einen Fuß vor den anderen zu setzen oder im Kinderballett Pirouetten zu drehen war eine Tortur für sie. Leider hatte ihre Mutter großen Ehrgeiz an den Tag gelegt, sie zu solchem Mädchenkram zu drängen, was ihre Abneigung nur noch verstärkt hatte.

Zwischendurch wanderten Julias Gedanken zu dem mysteriösen Anrufer.

Es konnte nicht Robert gewesen sein, das war völlig unmöglich. In zwölf Jahren hatte es nicht den geringsten Hinweis darauf gegeben, dass er noch lebte. Ihre Mutter hatte sich den Anruf eingebildet, weil sie ihn sich ersehnte. Trotzdem hatte der Vorfall Julia erschüttert. Jedes Mal wenn sie an Roberts Verschwinden erinnert wurde, geriet sie aus dem Gleichgewicht. Deshalb zog sie es vor, sich nicht daran zu erinnern.

Die Stimme des Lehrers fuhr fort: »Und jetzt Grundschritt zwei – uno, dos, tres, cuatro, hinter, vor, seit, seit …«

Zur Hölle. Sie wollte überhaupt nicht Salsa lernen. Trotzdem kam sie seit einem Monat jede Woche hierher, vertauschte ihre gemütlichen Sneakers gegen unbequeme Riemchenpumps und übte hundertmal die gleichen Schrittfolgen. Es kam ihr so vor, als hätte sie seit der ersten Stunde nicht den kleinsten Fortschritt gemacht.

»Und jetzt zu zweit, vor, rück, seit, dreh … und die Arme in elegantem Halbkreis nach oben …«

Aus Mangel an Männern tanzten auch Frauen zusammen, wobei vorher festgelegt wurde, wer den männlichen Part übernahm. Das war beim Salsa nämlich extrem wichtig, noch viel wichtiger als bei Walzer oder Foxtrott.

Sie hatte sich für die Männerrolle gemeldet, die bei den anderen Frauen nicht beliebt war. Nun versuchte sie, ihre Partnerin mit leichtem Druck aufs Schulterblatt in die gewünschte Richtung zu bugsieren. Die junge Frau war womöglich noch unbegabter als sie, ständig hatte sie das Gewicht auf dem falschen Fuß und taumelte bei den Drehungen aus der Achse. Angestrengt hielt sie ihre Zungenspitze zwischen die Lippen geklemmt und den Blick auf den Boden gerichtet.

»Mann führt, Frau folgt«, hatte Jorge, der Tanzlehrer, gleich zu Kursbeginn erklärt. »Gleichberechtigung kannst du vergessen. Bei Salsa geht nur um eins: Mann will Frau impfen mit seinem Samen, deshalb macht kreisende Bewegungen mit Becken, Frau will nicht geimpft werden, deshalb macht Bewegungen in andere Richtung. Am Schluss Frau gibt auf, wird schwanger, alle feliz. Claro?«

Julia hatte die Augenbrauen hochgezogen und ihren Freundinnen Kathrin und Nina einen vielsagenden Blick zugeworfen. Den beiden verdankte sie den Schlamassel – sie hatten ihr den Kurs geschenkt.

»Damit du wenigstens einmal in der Woche deinen Hintern bewegst«, hatte Kathrin erklärt. »Wir können ja nicht tatenlos zusehen, wie dein Gewebe immer schlaffer wird.«

»Oberkörper gerade halten, Blick geradeaus, Bewegung ist unten, in den Beinen, im Becken … Ja, so ist gut … Schön kreisen, ihr Männer wollt ihr-wisst-schon-was, eure Partnerin will eigentlich auch, aber darf sie nicht zeigen … Salsa ist Kampf der Geschlechter …«

Puh. Julia hatte genug Geschlechterkampf in ihrem Job, sie musste daraus nicht auch noch ein Hobby machen. Außerdem war sie genervt vom Klischee des werbenden Mannes und der sich zierenden Frau, die am Ende doch nachgab. Am liebsten hätte sie Jorge einen flammenden Vortrag gehalten: Wenn eine Frau Lust hat, hat sie Lust! Und dann hat sie das gleiche Recht, sich einen Mann zu nehmen, wie umgekehrt. Die Zeiten, in denen die Männer über die Sexualität bestimmen, ist vorbei! Wir Frauen können selbst entscheiden, ob wir Sex haben und mit wem. Ist das klar, du kleiner Macho? Außerdem werden wir immer noch schlechter bezahlt als ihr! Es reicht uns! Nieder mit dem Salsa!

Jorges Stimme riss sie aus ihren Fantasien. »Schon sehr gut, vielen Dank. Jetzt Maria und ich zeigen euch, wie es aussehen soll.«

Die Teilnehmer und Teilnehmerinnen (darunter vier Männer, die den Kurs gemeinsam mit ihren Frauen absolvierten, sowie sechs weitere Frauen) bildeten einen Kreis, schöpften Atem und wischten sich diskret den Schweiß von der Stirn. Bewundernd sahen sie zu, wie Jorge und seine Co-Lehrerin Maria übers Parkett glitten, mit hoch aufgerichtetem Oberkörper, die Beine in schneller, rhythmischer Bewegung, die Hände anmutig verschlungen. Und wie ihre Becken kreisten! Das würde Julia im Leben nicht mehr lernen. Aber warum sollte sie auch? Sie wollte schließlich nicht geimpft werden.

Alle klatschten, die Stunde war zu Ende.

»Und, wie hat’s dir heute gefallen?«, erkundigte sich Nina im Umkleideraum, während sie in ihre Jeans schlüpfte.

»Super«, sagte Julia.

»Du lügst so schlecht, dass es zum Weinen ist.« Nina zog ihre Freundin lachend an sich und küsste sie auf die Stirn.

»Nein, ehrlich, ich find’s toll!«

»Du siehst die ganze Zeit so aus, als hättest du was Ekliges gegessen«, sagte Kathrin.

»Oder als wärst du auf eine Schnecke getreten«, ergänzte Nina.

Julia fühlte sich ertappt. Sah man ihr die fehlende Begeisterung wirklich so sehr an? Sie musste daran arbeiten, ihr Gesicht unter Kontrolle zu halten.

»Wir wollen dich echt nicht zwingen, wenn’s dir keinen Spaß macht«, sagte Kathrin.

»Zwingt mich bitte«, sagte Julia seufzend. »Ist sicher gut für mich.«

Nicht weit vom Tanzstudio entfernt lag Da Gino, ein kleines italienisches Lokal mit gutem Essen, einer großen Weinauswahl und Kellnern, die ihnen mit ihrer hemmungslosen Flirterei das Gefühl gaben, nicht vierzig, sondern zwanzig zu sein. Natürlich war ihnen klar, dass die jungen Kerle nicht ernsthaft auf Frauen ihres Alters standen. Aber die Art, wie sie es ihnen vorspielten, versetzte Kathrin und Nina in Entzücken. Julia ging es eher ein bisschen auf die Nerven.

»Da seid ihr ja endlich«, rief Edoardo, ein gut aussehender Dunkler mit blitzenden Augen. »Wir haben schon auf euch gewartet!«

Sie nahmen ihre reservierten Plätze ein, und Gino, der namengebende Patron des Hauses, legte mit Schwung die Speisekarten vor ihnen ab.

»Buona sera, principesse, che piacere rivedervi! Getränke wie immer?«

»Principesse!« Kathrin kicherte und errötete wie ein Schulmädchen. Als berufstätige, alleinerziehende Mutter zweier Kinder mit einem Ex, der ihr Probleme machte, wo er nur konnte, hatte ihr Leben wenig prinzessinnenhaften Glanz. Julia bewunderte ihre Freundin dafür, wie sie alles schaffte. Und fand, dass es ihr selbst im Vergleich dazu gar nicht so übel ging.

Gino zwinkerte ihnen zu und verschwand, um die Getränke zu bringen. Weißweinschorle für Kathrin, Merlot für Nina, Gin Tonic für Julia. Alles wie immer. Sie stießen an.

»Darauf, dass allen Machos ihr verdammtes Ding abfällt«, sagte Kathrin.

»Bitte nicht«, sagte Julia. »Das ist das einzig Brauchbare an ihnen!«

Kathrin verdrehte die Augen. »Stehst du immer noch auf böse Jungs?«

»Welche Frau tut das nicht?«

»Ich«, sagte Kathrin. »Ich war mit einem verheiratet.«

»Ich esse heute übrigens nichts«, verkündete Nina.

Die anderen beiden Frauen ignorierten sie. Wie jedes Mal würde Nina auch heute ihrem Vorsatz in derselben Sekunde untreu werden, in der Gino den Brotkorb auf den Tisch stellte. Innerhalb von Minuten würde sie das Brot vertilgen und anschließend bei ihnen mitessen, ohne um Erlaubnis zu fragen.

Julia mochte die Eigenheiten ihrer Freundinnen. Die erstaunliche Inkonsequenz von Nina, die ständig ihre Meinung änderte und die beneidenswerte Gabe hatte, ganz im Moment zu leben. Den Pragmatismus von Kathrin, die nie etwas Unvernünftiges tun würde und jede Entscheidung gründlich durchdachte.

Sie kannte beide seit ihrer Schulzeit, sie waren einander vertraut wie Schwestern. Wenn sie sich später kennengelernt hätten, wären sie womöglich keine Freundinnen geworden. Aber die lange gemeinsame Geschichte wog schwerer als ihre Unterschiedlichkeit.

»Wo bleibt denn das Brot?« Nina versuchte, Edoardo auf sich aufmerksam zu machen.

Kathrin beugte sich zum Nebentisch, wo zwei unfassbar schlanke Mädchen in ihren Salaten stocherten. »Darf ich?«, fragte sie und griff nach dem unberührten Brotkorb. »Ihr macht doch sicher low carb, oder?«

Die Mädchen blickten irritiert. »Nimm ruhig«, sagte die eine mit einem Gesichtsausdruck, der besagte: Bei dir ist sowieso nichts mehr zu retten.

Nina griff heißhungrig nach einer Brotscheibe und biss hinein.

»Hat Jorge jetzt eigentlich was mit Maria oder nicht?«, fragte sie mit vollem Mund.

Kathrin verzog das Gesicht. »Wieso interessiert dich das? Sag nicht, dass er dir gefällt!«

Nina lachte. »Der ist doch ganz süß.«

Mit fester Stimme sagte Kathrin: »Mir kommt kein Mann mehr ins Haus.«

Abwehrzauber, dachte Julia. Sie wusste, dass ihre Freundin sich einen neuen Partner wünschte. Vielleicht sogar den alten zurücknehmen würde. Aber zugeben könnte sie das nicht. Jedenfalls nicht, solange sie nüchtern war. Und das war sie eigentlich immer, weil sie sich alkoholbedingte Abstürze gar nicht leisten konnte.

»Weißt du eigentlich, wie lange du uns schon mit diesem Spruch nervst?«, sagte Julia. »Wie wär’s, wenn du deinem Denken mal eine neue Richtung geben würdest?«

Natürlich wusste sie, wie eng getaktet das Leben ihrer Freundin war. Job, Kinder, Haushalt, und alles allein. Um überhaupt einen Mann kennenzulernen, müsste der schon zufällig zu ihrer Haustür hereinspaziert kommen. Aber deshalb durfte sie doch nicht einfach aufgeben!

Schon in der Schule hatte Kathrin davon geträumt, eine Familie zu haben, und war die Erste gewesen, die geheiratet hatte. Bei ihrer Hochzeitsfeier, zwischen Reiswerfen, Gruppenfoto, Rehbraten mit Preiselbeeren, lauwarmem Sekt und peinlichen Ansprachen, hatte Julia sich geschworen, niemals zu heiraten. Als Kathrin ihre Kinder bekam, glaubte sie, am Ziel zu sein. Wenig später war ihr Lebenstraum zerbrochen – und sie plötzlich eine alleinerziehende Mutter.

Julia hätte ihr gleich sagen können, dass Martin ein Mistkerl war. Er hatte andere Frauen angebaggert, als er schon mit Kathrin zusammen war. Julia fragte sich heute noch, ob sie ihre Freundin hätte warnen müssen. Aber welche verliebte Frau hört schon auf den Rat einer Freundin?

Kathrin hatte begonnen, eine Weißbrotscheibe zu zerpflücken und kleine Kügelchen zu rollen. Sie blickte zu Julia. »Und … welche Richtung wäre das aus deiner Sicht?«

»Parship«, sagte Julia. »Ich kenne drei Paare, die sich so kennengelernt haben. Funktioniert super.«

»Vergiss es«, sagte Kathrin. »Damit bin ich durch.«

»Was? Das hast du uns ja gar nicht erzählt!« Nina war überzeugt davon, ein Recht darauf zu haben, alles zu erfahren, was im Leben ihrer Freundinnen passierte.

Kathrins Gesicht verdüsterte sich. Offenbar hatte sie nicht die Absicht, diese Erfahrung zu teilen. Aber da hatte sie nicht mit Ninas Hartnäckigkeit gerechnet.

»Du hast es also schon probiert?«

»Ja«, sagte Kathrin. »Es war deprimierend.«

Das war geradezu eine Aufforderung an Nina weiterzubohren. Nina neigte in jeder Hinsicht zu Hemmungslosigkeit. Beim Essen, im Umgang mit Freunden, im Gespräch mit Fremden. Sie fragte Menschen, die sie gerade kennengelernt hatte, nach ihren Lebensgeschichten aus, scheute sich nicht, ihre peinlichsten Erlebnisse genüsslich vor anderen auszubreiten, und hatte nicht das geringste Verständnis dafür, dass die nicht erpicht darauf waren, sich ebenfalls zu entblößen. Dabei wirkte sie so unschuldig wie ein Kind, das gerade die Welt entdeckte, weshalb man ihr kaum böse sein konnte.

»Wie viele Männer hast du denn getroffen?«

Kathrin überlegte. »Vier. Zwei waren eigentlich ganz nett.«

»Und?«

Julia spürte, dass Kathrin dieses Verhör unangenehm war. »Jetzt lass sie doch in Ruhe, Nina.«

»Schon okay«, sagte Kathrin. »Einer meinte, ich sei ihm zu selbstbewusst, einer mochte keine Kinder, einer war verheiratet, und der vierte fragte, ob ich auf Bondage stehe.«

»Na und?«, sagte Nina. »Hättest du doch mal ausprobieren können.«

»Habe ich. In den Klamotten seh ich aus wie eine Presswurst.«

Nina und Julia starrten sie an.

»Du hast Fesselspiele gemacht?« Nina riss die Augen auf.

»Keiner soll sagen können, dass ich keinen Einsatz bringe«, sagte Kathrin.

Wow, dachte Julia. Für so mutig hätte sie ihre Freundin nicht gehalten. Aber vielleicht war es ja nicht Mut gewesen, sondern Verzweiflung. In jedem Fall war Julia froh, wenn das Beziehungschaos ihrer Freundinnen zum Thema wurde. Das ließ ihr eigenes ein bisschen weniger chaotisch aussehen.

»Und jetzt zu dir«, sagte Kathrin und pikte Nina mit einem Grissini-Stäbchen, bevor sie davon abbiss. »Seit wann interessierst du dich für andere Männer?«

Nina war seit vielen Jahren mit Felix liiert, einem nach Julias Auffassung sympathischen, aber stinklangweiligen Lehrer. Schon immer fragte sie sich, was die beiden zusammenhielt, denn unterschiedlicher konnten zwei Menschen kaum sein. Aus geheimnisvollen Gründen funktionierte es trotzdem.

»Nur weil ich einen Kerl zu Hause habe, heißt das ja nicht, dass ich sonst keinen mehr wahrnehme.«

»Ha!«, sagte Kathrin triumphierend. »Die klassische Ausrede einer Frau, die mit dem Gedanken spielt, ihren Mann zu betrügen.«

»Oder es schon tut«, ergänzte Julia.

Nina antwortete nicht. Sie schluckte den Rest der dritten Scheibe Brot herunter. »Was esst ihr denn heute?«

Julia reichte ihr die Karte. »Bestell dir gefälligst selbst was.«

In diesem Moment summte ihr Handy.

Die Wahrscheinlichkeit, bei einem Pressetermin jemanden kennenzulernen, den man gerne wiedersehen will, ist übrigens noch kleiner. Nur ungefähr eins zu einer Million. Wie geht’s dem Fuß?

»Ähem«, räusperte Kathrin sich vernehmlich. »Kein Handy am Tisch.«

»Sorry.« Versonnen blickte Julia auf.

»Ach nee.« Nina grinste. »Ist da etwa ein Neuer am Start?«

Julia schüttelte den Kopf.

»Echt nicht?«

»Echt nicht.«

Nina ließ sich nicht täuschen. »Du bist wirklich eine verdammt schlechte Lügnerin. Du könntest niemals eine Affäre haben.«

Julia zog eine Augenbraue hoch und grinste. »Für eine Affäre bräuchte ich erst mal einen Partner.«

»Vielleicht wird’s ja was mit dem hier.« Nina deutete auf das Handy. »Wenn du’s nicht wieder verbockst.«

Julia schnaubte. »Danke für deine überaus sensiblen Kommentare.«

»Immer gern.« Nina wandte sich der Speisekarte zu.

Tatsächlich war Julia auf dem Beziehungssektor bisher nicht sehr erfolgreich gewesen. Meist ging es mit großer Leidenschaft los, aber nach kurzer Zeit begannen die Männer, sich zu beschweren. Sie sei anstrengend, nicht genügend anschmiegsam und kein bisschen fürsorglich. Von einem Wunsch nach echter Nähe sei bei ihr nichts zu spüren. Julia verstand nicht, was die Kerle von ihr wollten. Sie war eben, wie sie war. Angeblich kam in der menschlichen DNA ein Untreue-Gen vor. Vielleicht hatte sie ja das Beziehungsunfähigkeits-Gen.

Seltsam war nur, dass ihre Sehnsucht nach einer Beziehung nicht nachließ. Kaum hatte sie wieder eine Zweierkiste in den Sand gesetzt, und ihre Trauer darüber war etwas abgeflaut, spürte sie eine Leere, die sie unbedingt füllen musste. Um nicht allein zu sein, schleppte sie irgendwelche Typen ab, die sie nach einer Nacht vor die Tür setzte. Es war wie eine Sucht.

»Nein«, sagte sie entschieden. »Niemand am Start.«

»Schade«, sagte Nina und hieb ihre Gabel in die Spaghetti aglio e olio, die Edoardo mit elegantem Hüftschwung serviert hatte. »Ich glaube, du bräuchtest mal was Festes.«

Julia zog eine Grimasse. »So wie du? Vielen Dank. Ich bin lieber frei.«

»Frei ist man nicht als Single, sondern in einer Beziehung«, erklärte Nina. »Frei von dem Zwang, jemanden finden zu müssen, frei davon, immer gut aussehen zu müssen, frei von den ewigen Zweifeln, ob man es wert ist, geliebt zu werden.«

»Und frei von Spaß und Abenteuer. Ohne mich.« Julia nahm einen Schluck von ihrem Gin Tonic.

»Als hättest du so viel Spaß«, sagte Nina.

»Mehr als du bestimmt.«

Nina grinste. »Sei dir da nicht so sicher.«

»Was gibt’s sonst so?«, mischte Kathrin sich ein. »Oder wollt ihr den ganzen Abend über Männer reden?«

»Ich mache mir ein bisschen Sorgen um meine Mutter«, sagte Julia nach einer Pause. »Sie … bildet sich Sachen ein. Sie glaubt, Robert hätte angerufen.«

»Und das ist absolut ausgeschlossen?«, fragte Kathrin, während sie sich mit der Serviette den Mund abtupfte.

»Natürlich ist das ausgeschlossen. Robert ist tot.«

Kathrin wiegte den Kopf. »Dafür gibt es doch keinen Beweis.«

»Genauso wenig wie dafür, dass er lebt.«

Julia bereute bereits, dass sie davon angefangen hatte. Natürlich hatte sie mit ihren Freundinnen darüber gesprochen. Damals, als es passiert war, und auch in den Jahren danach. Aber inzwischen lag die Erinnerung an Robert gut verstaut in einer Schublade, die sie sonst verschlossen hielt.

»Wie wahrscheinlich ist es, dass jemand nach zwölf Jahren ohne ein Lebenszeichen plötzlich wiederauftaucht?«, fragte sie und antwortete sich gleich selbst: »Das ist absolut unwahrscheinlich. Um nicht zu sagen, komplett ausgeschlossen.«

Die Freundinnen nickten.

»Stimmt«, sagte Nina. »Andererseits, es gibt die verrücktesten Sachen. Vor Kurzem ist ein Typ in Belgien nach zwanzig Jahren wiederaufgetaucht! Hatte als Jugendlicher Stress mit seiner Familie und ist damals abgehauen.«

»Mein Bruder hatte aber keinen Stress«, sagte Julia scharf. »Er hatte auch keine Depressionen oder suizidale Neigungen. Er war ein harmloser kleiner Träumer, der am liebsten alleine herumgereist ist. Und dabei hatte er leider einen Unfall, den er nicht überlebt hat.«

Julia trug diese Version des Geschehens vor, als müsste sie nicht ihre Freundinnen überzeugen, sondern sich selbst. Ein Unfall war nach Ansicht der Ermittler die wahrscheinlichste Erklärung für Roberts Verschwinden. Und außerdem die, an die ihre Eltern und sie glauben mussten, weil alle anderen Erklärungen noch weniger erträglich gewesen wären.