Der Milchmann - Rafael Seligmann - E-Book

Der Milchmann E-Book

Rafael Seligmann

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Beschreibung

Jakob Weinberg wohnt in München. Er ist siebzig Jahre alt, hat Auschwitz überlebt und genießt hohes Ansehen bei seinen Freunden. Sie nennen ihn "Milchmann", weil er damals im Lager eine Kiste mit Trockenmilch fand und zum Retter seiner Mithäftlinge wurde. So die sorgfältig gepflegte Legende. Weinberg kann nicht klagen: Er ist wohlhabend und hat eine junge Geliebte. Ende Oktober 1995 passiert es: Eine Gewebeprobe verheißt Unheil, sieben Tage Ungewissheit. Es geht um sein Erbe. Seine Kinder, die Geliebte und seine Freunde setzen Weinberg unter Druck. Samstag, 4. November, ein neuer Schock: Yitzhak Rabin, den Weinberg verehrt, wird ermordet. Er ist verzweifelt. Ein Jude hat einen anderen erschlagen. Auschwitz kehrt drohend in sein Bewusstsein zurück. Nun versucht der "Milchmann" Ordnung in sein Leben zu bringen. Als er schließlich die Diagnose erfährt, handelt er entschlossen. "Eine fiktive Gegenwartshandlung und auf Tatsachen beruhende KZ-Berichte verbinden sich ... zum ersten deutschsprachigen Roman, der die seelischen Spätfolgen des grausamen Lageralltags für die Überlebenden der Schoah schildert." (Süddeutsche Zeitung)

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Seitenzahl: 452

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Rafael Seligmann

Der Milchmann

Roman

Die Rechtschreibung der ersten Auflage von 1999 wurde beibehalten.

Distanzierungserklärung:

Mit dem Urteil vom 12.05.1998 hat das Landgericht Hamburg entschieden, dass man durch die Ausbringung eines Links die Inhalte der gelinkten Seite gegebenenfalls mit zu verantworten hat. Dies kann, so das Landgericht, nur dadurch verhindert werden, dass man sich ausdrücklich von diesen Inhalten distanziert. Wir haben in diesem E-Book Links zu anderen Seiten im World Wide Web gelegt. Für alle diese Links gilt: Wir erklären ausdrücklich, dass wir keinerlei Einfluss auf die Gestaltung und die Inhalte der gelinkten Seiten haben. Deshalb distanzieren wir uns hiermit ausdrücklich von allen Inhalten aller gelinkten Seiten in diesem E-Book und machen uns diese Inhalte nicht zu Eigen. Diese Erklärung gilt für alle in diesem E-Book angezeigten Links und für alle Inhalte der Seiten, zu denen Links führen.

© 2022 Langen Müller Verlag GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: Sabine Schröder

Umschlagmotiv: Adobe Stock

Satz und E-Book Konvertierung: Satzwerk Huber, Germering

ISBN: 978-3-7844-8433-4

www.langenmueller.de

Jente Hammersfeld, Aaron Schechter und deren Familien zum Andenken

Vor Gottes Thron steht ein Pokal, der Tränenbecher. Wann immer ein Jude Unrecht erleidet, tropft eine Träne in den Pokal. Sobald der Becher überläuft, erhebt sich Gott und hilft seinem bedrängten Volk.

Das Märchen muß anders lauten.

Gott ist alt. Sehschwäche, Gicht und Schwermut plagen ihn. Der Tränenpokal ist ein Faß ohne Boden, dennoch läuft er ständig über, denn er wird von den Tränen aller Menschen gespeist. Gott fehlt die Kraft, sich um das Leid seiner Geschöpfe und ihre Tränen zu kümmern. Er hat resigniert. Die einzigen, die den Tränenstrom verebben lassen können, sind die Menschen selbst.

Inhalt

Milch

Dienstag

Allerheiligen

Donnerstag

Freitag

Sabbat

Sonntag

Montag

Glossar

Milch

Der Himmel war wolkenlos. Die Nachmittagssonne schien. Doch der Wind war bereits kühl. Er drang durch Weinbergs Kleidung, kribbelte auf seiner verschwitzten Haut, verschloß ihre Poren. Der Herbst setzte ein.

Die Schienen zerschnitten die weite Ebene. Sie reichte bis zum Horizont, ohne daß der Blick an einer Anhöhe oder an einem Dorf Halt fand. Nur Wiesen und Felder, in der Feme schimmerte ein kleiner Wald.

Die Stille wurde von Hammerschlägen zerhackt. Gelegentlich waren Wortfetzen und Hundegebell zu hören. Zu sehen war niemand. Die Geräusche stammten vom Bautrupp. Die Kolonne arbeitete jenseits des Bahndamms.

Jaakov Weinberg war zum Aufstapeln der Gleisschwellen eingeteilt. Als einziger durfte er auf der Ostseite arbeiten, denn er besaß das Vertrauen von Hersch Schwarz.

Plötzlich war ein Sirren zu hören. Es schwoll rasch an, zerfiel in Stampfen und Rattern. Ein Zug dampfte von Westen heran. Jaakov beobachtete die Bahn, während er mechanisch die hölzernen Schwellen übereinanderstapelte. Ein Güterzug.

Weinberg sah, wie sich eine Kiste von ihrem Stapel auf einem offenen Waggon löste und vermeintlich lautlos zu Boden fiel. Der Aufschlag wurde vom Lärm der Lokomotive und dem Rattern der Räder übertönt. Was war in der Kiste? Konnte es ihm helfen? Oder riskierte er umsonst seinen Kopf? Weinberg blickte sich um. Der Bautrupp und die Bewacher waren nicht zu sehen.

Bis zur Kiste mochten es hundert Meter sein, höchstens hundertfünfzig. Wie lange brauchte er, um hinzulaufen? Renne, statt zu denken! Jaakov lief los. Seine Füße rieben sich an den Holzpantinen. Er spürte die Kraft seiner Beinmuskeln, fühlte, daß seine Lungen genug Atem besaßen. Er war noch stark.

Weinberg rutschte vom Schotter des Bahndamms zur Kiste. Vom Aufprall waren ihre Latten seitlich aufgerissen. Er griff hinein, tastete, riß eine weiße Blechdose mit blauer Schrift heraus. Mühsam buchstabierte er: Milchpulver. Jaakov verstand das deutsche Wort nicht. Deitsch ist wie Jiddisch! Er buchstabierte das Wort erneut: Milchpulver. Was bedeutete das? Keine Zeit! Weinberg schob seinen Daumennagel unter den Deckel und riß ihn mit einem Ruck hoch. Dabei bemerkte er, daß die Finger seiner rechten Hand bluteten. Wahrscheinlich hatte er sie sich an den Latten aufgerissen, als er die Konserve aus der Kiste fischte. Unwichtig! Jaakov besah das weißgelbe Pulver in der Dose, er schnupperte daran. Der Geruch war ihm vertraut, doch er konnte sich nicht darauf besinnen, was es war. Weiter! Er steckte die Zunge in die Dose. Das Pulver war staubig, es schmeckte süßlich, seifig, säuerlich … nein, milchig. Milch! Jaakov starrte auf die Dose, buchstabierte erneut den Schriftzug. Milchpulver!

Deutsch Milch, jiddisch Milech und Pulver ist Pulver, bei den deutschen Mördern und bei uns Jidn. Sein Herz trommelte gegen die Rippen. Er hatte eine ganze Kiste voller Milchpulver gefunden! Deutsches Milchpulver. Was sollte er damit tun? Auf keinen Fall durfte er hier bleiben. Jaakov hatte keine Zeit. Die Sonne wurde schwächer. Bald würden sie ihn einsammeln. Er würde mit der Kolonne ins Lager marschieren. Die Kiste mußte versteckt werden. Unsinn! Er hatte keine Ahnung, ob er morgen hierherkäme. Dann würde ein anderer die Milch finden. Oder die Deutschen. Ersticken sollen sie daran! Jaakov mußte die Milch haben! Die ganze Kiste! Wenn ihn die Deutschen faßten, würden sie ihn aufhängen. Egal, ob mit einer Dose oder mit dem ganzen Kasten. Aber wenn er allein die Milch trank, würde er stark bleiben und überleben.

Jeden Moment konnte der Kapo auftauchen oder ein SS-Mann. Er mußte etwas tun, egal was. Jaakov packte die Kiste, schleppte sie zu seinem Arbeitsplatz. Er lud den Kasten am Fuß der Gleisböschung ab, warf ein paar Äste darauf und kletterte mit rutschenden Pantinen den Bahndamm hoch, warf sich zu Boden, spähte zur Kolonne. Die Männer schufteten im gewohnten Trott, die SSler unterhielten sich rauchend. Einer der Hunde hob den Kopf. Sogleich kroch Jaakov bäuchlings zurück, ließ sich vom Bahndamm gleiten. Er eilte zu den Schwellen und fuhr fort, die Holzbohlen aufeinanderzustapeln. Jaakov schwitzte, seine Hände zitterten.

Bei Einbruch der Dämmerung kündeten Hundegebell und Befehlsgebrüll vom Aufbruch des Arbeitstrupps. Jaakov zwang sich zur Ruhe. Er wartete bis zum letzten Moment. Erst als die Kolonne auf seiner Höhe war, warf er eine letzte Schwelle auf den Haufen, sprang zum Bahndamm, packte die Kiste und quetschte sich in seine Marschreihe.

»Wus schleppste?« raunzte ihn sein Nachbar Jossl Lerner an.

»Halt n’ Pisk!« zischte Jaakov.

»Maul halten!« echote sogleich ein SS-Soldat, sein Wachhund schlug an. Die Männer marschierten eine Weile schweigend in der zunehmenden Dunkelheit. Weinberg begann das Gewicht der Kiste zu spüren. Jossl drückte ihr Geheimnis. Der Kasten war offenbar gestohlen. Wenn die SSler oder Hersch Schwarz dahinterkamen, würde man auch ihn töten und Naphtali Fischel, den dritten Mann in ihrer Reihe, ebenfalls. Jossl stieß Naphtali den Ellbogen in die Rippen und deutete auf Jaakov, der über seiner Kiste hing.

Fischel hatte Weinbergs Last bereits bemerkt.

»Nu?« flüsterte er.

Weinberg nutzte die Verwirrung beider Männer, um sich zwischen sie zu schieben.

»Wus is im Kastn?«

Weinberg antwortete Fischel nicht.

»Wus?!«

»Milech!«

Weinberg spürte die Verblüffung der Kumpane mehr, als daß er sie in der Dämmerung sah.

»Mischiggenerl Sie werd’n uns derhargenen!« Die Angst drohte Jossl Lerners erzwungenes Flüstern zu sprengen.

»Ich wer dich derhargenen, as di wirst nicht haltn dein Pisk!« Weinberg war kräftiger als der schon abgemagerte Mithäftling. Lerner fürchtete ihn. Weinberg stieß die Kiste gegen Lerners Seite. »Schlepp!« befahl er. Jossl reagierte nicht. Weinberg roch seine Angst. Er rammte Lerner nochmals die Kiste in den Leib. Jossl taumelte, stieß gegen seinen Hintermann. Der fing ihn auf. Lerner bemühte sich, wieder Schritt zu halten. Derweil packte Naphtali Fischel Weinberg am Arm. »Genig!« raunte er.

Fischel teilte schon seit Monaten mit Lerner die Pritsche. Er gebärdete sich als dessen Beschützer. Weinberg durfte sich Naphtali nicht zum Feind machen. Er fühlte, daß seine Kraft nicht ausreichte, die Kiste allein ins Lager zu tragen. Jossl Lerner war zu schwach, um ihm dabei zu helfen. Jaakov brauchte Naphtali. »Ich gejb dir Milech …« Naphtali packte Jaakov am Oberarm. »Er brocht Milech!« Fischel wies auf Jossl Lerner.

»Ich wer’ ihm Milech gejbn.« In diesem Moment traf Weinberg ein Schlag in den Rücken. »Mir wirste ojchet Milech gejbn!« zischte ihm sein Hintermann David Jakubovicz zu. Weinberg reagierte nicht. Jakubovicz versetzte ihm einen kräftigeren Hieb. Weinberg stolperte vorwärts. Jakubovicz holte ihn sogleich ein.

»Git!« keuchte Weinberg.

»Mir wirst di ojchet Milech gejbn«, rief Marek Birnbaum, Jakubovicz’ Nebenmann und packte Weinberg so hart an der Schulter, daß dieser erneut ins Stolpern kam.

»Kisch mech im Joches«, keuchte der und ließ die Kiste fallen.

»Maul halten, sonst greife ich durch!« brüllte ein Wachsoldat. Naphtali Fischel ließ sich durch sein Geschrei nicht beirren. Unvermittelt packte er die Kiste, riß sie ohne sichtbare Anstrengung hoch und marschierte weiter.

Weinberg hatte die Kiste gefunden. Er brauchte die Milch für sich. Doch Fischel war kräftiger und einen halben Kopf größer als er. Jaakov mußte abwarten.

Nach wenigen Minuten begann auch Fischel das Gewicht des Kastens zu spüren. Er packte die Kiste seitlich, hielt Weinberg das freie Ende hin. »Nimm!« befahl er. Jaakov zögerte. »Schlepp! Sonst hack ich dir den Kopp ab!« Weinberg packte die Kiste am freien Ende. Zu zweit war sie leichter. Sie marschierten stumm nebeneinander her. Nach einer Weile wurde die Last Weinberg erneut zu schwer. Naphtali marschierte ungerührt weiter. Die Luft brannte in Jaakovs Lungen. Er zwang sich, Schritt zu halten. Doch seine Brust schnürte sich zusammen. »Ich kunn nicht mehr.«

»Gejh!«

Jaakov trieb sich an. Doch sein Schritt wurde schleppend. Naphtali packte die Kiste mit der linken Hand, die rechte legte er um Jaakovs Schulter und schob ihn vorwärts. Das half. Weinberg konnte leichter gehen. Bald wurde ihm die Last wieder zu viel. Seine Arme wurden schwer, sein Atem rasselte. »Ich fall aweg«, stöhnte er.

»Schlepp!« befahl Naphtali. Aber er sah, daß Jaakov nicht mehr konnte. Wenn er fiel, kam die ganze Kolonne aus dem Tritt. Dann hatten sie die Wachen mit ihren Hunden auf dem Hals. Fischel packte die Kiste wieder mit beiden Händen und wandte seinen Kopf zu David Jakubovicz. »Kimm aher, schlepp!«

Der Hintermann antwortete nicht. »Kimm aher!« wiederholte Naphtali drohend. Derweil versuchte Jaakov Weinberg verzweifelt, das Marschtempo zu halten.

Fischel wandte sich mit einem Schwung um und stieß den Kasten gegen Jakubovicz’ Bauch. Der stieß einen unterdrückten Schmerzenslaut aus.

»As du kunnst nicht schleppn, kunnst nicht mehr lejbn!« Ehe Jakubovicz sich besonnen hatte, packte ihn Fischel am Genick und zog ihn vor zu sich. Unwillkürlich ergriff Jakubovicz das freie Ende der Kiste. Weinberg spürte seinen rasenden Herzschlag im Hals, in den Schläfen, in den Ohren. Sie raubten seine Milch. Nach Hersch, dem Kapo, zu rufen war sinnlos. Dann waren sie alle verloren. Er als Dieb zuerst. Jaakov mußte sich selbst helfen. Er rammte Jossl die Faust in den Bauch und stieß ihn nach hinten. Noch ehe Naphtali reagieren konnte, schubste er Jakubovicz zur Seite und packte das frei werdende Ende der Kiste. Zu dritt trugen sie die Milch ins Lager.

Vor dem Abendappell versteckten Weinberg, Fischel und Jakubovicz die Kiste in der Latrine. Danach rannten sie zum Aufmarsch. Der Scharführer ließ durchzählen. Niemand fehlte. Er befahl ihnen abzutreten. Die Männer liefen zum Essenfassen. Vor dem Block ließ Rottenführer Kreiske die Häftlinge erneut aufmarschieren.

»Auf dem Heimmarsch haben einige von euch Dreckskerlen das Maul aufgerissen«, schrie er. »Das ist streng verboten. Wenn ich jemanden erwische, erledige ich ihn augenblicklich!« Kreiske verharrte einen Moment unschlüssig. Er überlegte, wie er seine Drohung verschärfen konnte.

»Verbergen ist sinnlos! Wenn sich so’n Schwein versteckt, greif ich mir die nächstbeste Marschreihe und mach sie unschädlich. Ist das klar?«

»Jawohl, Herr Rottenführer«, riefen die Männer.

»Zur Strafe bleibt ihr eine Stunde vor eurer Hundehütte in Habachtstellung stehen. Euer Abendfraß fällt heute aus.«

Kreiske wandte sich an Hersch Schwarz, der an der Spitze der ersten Reihe stand. »Trichtere deinen Leuten Disziplin ein«, der SS-Korporal verzog seinen Mund, »sonst steck ich dich in den Ofen.«

»Jawohl, Herr Rottenführer.« Der Kapo bemühte sich um einen festen Ton, doch seine Stimme bebte.

»Die Kerle haben keinen Respekt vor dir, weil du eine feige Ratte bist!«

Der Kapo wußte nicht, ob er antworten sollte. Die Angst lähmte ihn. Endlich zwang er sich zur Antwort. »Jawohl.«

»Halt’s Maul! Feiges Judenschwein!« Kreiske blickte in das erstarrte Gesicht des Häftlings. Er mußte handeln.

»Mitkommen !«

Schwarz war unfähig, sich zu bewegen. Kreiske schlug ihm die Faust ins Gesicht. Schwarz schossen die Tränen in die Augen.

»Mitkommen!« brüllte er erneut. Die Erstarrung des Juden löste sich mit einem Mal. Er fiel vor dem SS-Mann auf die Knie. »Herr Rottenführer. Bitte!« Die Tränen liefen Schwarz dick die Wangen hinunter. »Bitte! Ich werde die Männer schlugen … schlagen. Sie werden ruhig sein!«

»Dazu wirst du keine Gelegenheit mehr haben, du miese Judenratte. Ich mach dich stumm.« Kreiske zog seine Pistole aus dem Halfter, lud durch und drückte sie Schwarz an die Schläfe.

»Los! Oder ich knall dich auf der Stelle ab!«

Der KZler erhob sich taumelnd. Schwarz’ Beine schlotterten.

Seine Kiefer schlugen aufeinander.

»Marsch, du feige Judensau!«

Kreiske drückte dem Juden die Waffe in den Rücken. Tapernd lief Schwarz vor ihm her.

Exakt eine Stunde später entließen die SS-Wachen die Häftlinge. Naphtali Fischel zog den entkräfteten Jossl Lerner mit sich in die Baracke.

In der Baracke warfen sich die Männer auf ihre Pritschen oder hockten sich auf den Boden und stierten vor sich hin. Keiner sprach ein Wort.

Hersch Schwarz war verhaßt. Als Kapo stand er zwischen der SS und den gewöhnlichen KZniks. Wie jeder Kapo benutzte er seine geliehene Macht, um sich ein eigenes Herrschaftsgefüge zu schaffen. Schwarz besaß seine Spitzel, Günstlinge und Schläger, zu denen Jaakov Weinberg zählte. Sie schikanierten und prügelten die Männer im Auftrag des Kapos oder nach eigener Laune.

Aufgrund seiner Position konnte sich Herschel Schwarz mehr und besseres Essen verschaffen als die anderen KZniks und mußte weniger hart arbeiten als sie.

Die Laune eines einfachen SS-Mannes genügte, den gefürchteten und heimlich beneideten Kapo umzubringen. Jaakov Weinberg war von der mörderischen Entschlossenheit des Rottenführers nicht überrascht. Die Deutschen waren Feinde der Juden. Sie hatten sie hierher in die Todesfabrik geschafft, um sie alle umzubringen. Hersch Schwarz hatte keine Illusionen über die Absicht der Deutschen. Er wollte so lange wie möglich und so gut wie möglich leben – deshalb war er Kapo geworden. Hersch nutzte seine Zeit so gut es ging, fraß, so viel er konnte, und genoß seine Macht über die Mitgefangenen. Dennoch war Jaakov verwirrt. Denn Hersch, der im Gegensatz zu den meisten über den Tod spottete, war in dem Moment zusammengebrochen, als er selbst vom Ende bedroht war. Hätte der Kapo nach dem ersten Geschrei des Rottenführers ein Exempel statuiert und unverzüglich einige Männer zusammengeschlagen, dann hätte der Deutsche gesehen, daß er ihn ernst nahm, und seine Wut hätte sich möglicherweise gelegt. Sicher war man bei diesen Mördern nie. Zumindest hätte Hersch so etwas getan, um sich zu retten. Statt dessen hatte er durch seine Feigheit die Rage des Korporals noch gesteigert. Der SS-Mann hatte recht: Hersch war ein Angsthase, ein Jammerlappen, ein feiger Jude. Statt seine Leute fertigzumachen, war er vor dem Deutschen auf die Knie gefallen und hatte wie ein jüdischer Schnorrer um sein kümmerliches Leben gebettelt. Damit hatte der Kapo sein Schicksal besiegelt. Als der Rottenführer Hersch daraufhin befahl mitzukommen, hatte er seine Würde vollständig eingebüßt und gezittert, statt erhobenen Hauptes in den Tod zu gehen.

Auch Jossl Lerner und Naphtali Fischel hatten die Deutschen durch ihr Gequassel herausgefordert. Hätten die Soldaten sie entdeckt, wären sie auf der Stelle erschossen worden – und Jaakov mit ihnen. Jetzt lag die Kiste in der Latrine. Jaakov brauchte die Milch. Gerade jetzt, wo er durch das Geschwätz der Idioten um sein Abendessen gekommen war. Er mußte sich sofort seine Milch holen. Die Deutschen kontrollierten die Latrinen kaum. Sie ekelten sich vor den Juden und erst recht vor ihrem Dreck. Hersch hatte gelegentlich die Toiletten von Jaakov inspizieren lassen. Ein Idiot war der nicht gewesen, aber ein feiger Hund. Jaakov verließ die Baracke.

Die Kiste lag unter der Abdeckung des Wasserrohres, wo sie sie verstaut hatten. Weinberg riß eine Dose aus dem Kasten, öffnete sie. In der Dunkelheit war das Pulver nicht zu sehen, aber zu riechen und zu fühlen. Er schüttete eine Prise in seinen Handteller und träufelte Wasser darüber, dann führte er den Sud an seinen Mund. Beim ersten Schluck wurde ihm übel. Jaakov hatte den ganzen Tag nur ein Stück Brot gegessen. Er schlürfte nochmals. Nun gewöhnte er sich an den Sud. Er tat gut, füllte seinen hungrigen Magen. Weinberg füllte seine Hand wieder voll Milchpulver. Mit der Linken öffnete er den Wasserhahn, dann schob er beide Hände zu einer Schale zusammen, ließ Wasser hineinlaufen, verrührte das Pulver mit der Zunge. Vorsichtig schüttelte er die Flüssigkeit. Er beugte seinen Kopf und begann das Getränk zu schlucken. Ich lecke wie ein Hund. Die Deutschen haben mich zu einem Hund gemacht. Was soll’s! Die Milch schmeckte hervorragend. Der gestiegene Zuckerspiegel, die überstandene Gefahr und die Aussicht auf einen Stärkungstrunk für die nächste Zeit euphorisierten Weinberg. Jetzt lenkte er den dünnen Wasserstrahl in die Dose, verrührte das Pulver mit den Fingern. Gierig trank er die Milch. Weinberg verschluckte sich, mußte husten. Doch sogleich setzte er das Blechgefäß wieder an die Lippen.

Die Tür wurde aufgerissen. Ein Faustschlag traf Weinberg ins Gesicht. »Ganev!« grollte Naphtali Fischel. Der Schreck ließ Weinberg zunächst keinen Schmerz fühlen. Da rammte Naphtali seinen Schädel in Jaakovs Gesicht. Die Milchdose schlug scheppernd auf dem Boden auf. Weinberg spürte ein Knacken im Mund. Dumpfer Schmerz breitete sich in seinem Kopf aus. Das Blut schoß ihm aus der Nase, lief über die Lippen, über den Gaumen in die Kehle. Es schmeckte salzig, vermengte sich mit dem milchsauren Speichel, ließ Jaakov würgen.

»Ganev!« wütete Fischel. »Di host zigenimmen unsere Milech.«

»Ich hob die Milech gefunden«, keuchte Weinberg.

Die Behauptung brachte Fischel noch mehr in Zorn. »Di host di Milech geganevt. Wejgn dir is Hersch Schwarz derharget geworden. Un jetzt willst di uns di Milech zinehmen!«

»S’is meine Milech!«

Fischel schleuderte Weinberg gegen das Waschbecken. Noch ehe Jaakov sich gefangen hatte, wurde sein Kopf in die Latrine gestoßen. Der flüssige Unrat drang in Jaakovs Augen, Nase und Mund, raubte ihm den Atem. Er bäumte sich auf, doch Fischel tunkte ihn tiefer in den Dreck Mit einem Mal ließ der Druck nach. Jaakov fiel zur Seite. Sein Magen krampfte sich zusammen und jagte das Gemisch aus Säure, Milch und Blut die Speiseröhre hoch. Die Kotze vermengte sich in Jaakovs Mund und Nase mit dem geschluckten Unrat und entleerte sich in mehreren Schüben auf den Boden.

»Chaser!« schrie Naphtali. Der Gestank würgte ihn.

»Halt’n Pisk!« zischte ihn David Jakubovicz an. Er und Marek Birnbaum waren Naphtali Fischel zur Latrine gefolgt. »Willst di so laut schreien, daß die Dejtschn solln dich hejren?!«

»Er hot die Milech geganevt«, wehrte sich Fischel gegen die Zurechtweisung Jakubovicz’ und zeigte auf Jaakov, der zum Abtritt gekrochen war und die Reste an Milch, Blut und Dreck erbrach, die noch in ihm steckten.

Weinberg rang nach Luft. Er hob seinen Kopf. »Ich hob die Milech gefunden …«

»S’is nicht wichtig, wer hot gefunden die Milech«, sprach Jakubovicz. »Und s’is nicht wichtig, ob si is geganevt. Alles is geganevt! Unser. Lejbn is geganevt. Jeder Tog, jede Minit. Alle brojchn die Milech!«

Fischel wollte etwas einwenden, doch Jakubovicz’ bestimmter Ton und der Umstand, daß sein Pritschenkamerad Marek Birnbaum ihn begleitete, hielten Naphtali davon ab. »Jossl Lerner brojekt ojch Milech …«, brummte er.

»Alle werden hobn Milech!« bestimmte David Jakubovicz. Er streckte Jaakov seine Hand entgegen und half ihm auf die Beine.

»Putz’n Dreck aweg und wasch dich«, befahl er. »Geschwind!« Weinberg wischte sein Erbrochenes vom Holzboden, so rasch er konnte. Deiweil ergriffen Jakubovicz und Birnbaum die Milchkiste und liefen aus der Latrine. Fischel hatte nur darauf gewartet: Mit aller Kraft trat er mit seiner Holzpantine Weinberg in den Rücken und lief den beiden anderen hinterher. Jaakov sah ihm nach. Vorsichtig tastete er mit Zunge und Finger seinen Mund ab. Er spürte eine scharfe Spitze. Fischel hatte ihm den Schneidezahn abgebrochen. Jaakov schwor Rache. Später! Jetzt kam es darauf an, möglichst viel von seiner Milch abzubekommen.

Die Baracke glich dem Gehenom. Kerzenstummel, Fackeln aus Stoffetzen und Papier tauchten den Raum in flackerndes Licht. Stechender Schweißgeruch vermischte sich mit verbrauchter Atemluft, Erbrochenem und säuerlichem Milcharoma zu einem dumpfen Gestank.

Die Polacken soffen Wodka, die Mörder Bier, die Jidn Milch. Sie führten sich schlimmer auf als die Gojim! Sie saßen oder lagen auf ihren dreistöckigen Pritschen, standen auf den Gängen oder hockten auf dem Boden. Alle soffen Milch. Jaakovs Milch!

Die Männer schlürften, schmatzten, leckten, rülpsten. Keiner sagte ein Wort. Sobald sie ihre Milch ausgetrunken hatten, schütteten sie neues Pulver in die Blechbecher, liefen in den Waschraum und gossen Wasser darüber. Dann kehrten sie trinkend in die Baracke zurück.

Unmittelbar vor Weinberg kauerte Jossl Lerner apathisch auf seiner Pritsche. Naphtali kniete vor ihm und flößte dem Kumpan Milch ein. Jossl nippte angestrengt, würgte jedoch bald die Flüssigkeit wieder aus. Jeder sah, daß Jossl ein Muselmann war. Fischels Getue konnte ihn nicht retten. Es verlängerte lediglich sein Leiden. Warum ließ Naphtali ihn nicht endlich verrecken?

Weinberg riß sich vom Anblick des Todgeweihten los. Er mußte seine Milch trinken, sonst verlor er Kraft und kam herunter wie Lerner. Auf den Pritschen und am Boden lagen allenthalben seine Milchdosen herum. Seine Milchkiste stand leer vor David Jakubovicz’ Bett. Weinberg hatte zwei Dutzend Dosen angeschleppt. Keiner der fünfzig Mann in der Baracke hatte ihm auch nur einen Schluck übriggelassen. »Ich will meine Milech!«

Jakubovicz hielt im Trinken inne. »Inser Milechmann!« rief er aus. Da sprang Marek Birnbaum auf.

»Kapores Milechmann!« rief er. »Mir hobn die Milech ahergeschleppt! Dir kimmt nicht mehr zu wie a jedem anderen. Dein Nachbar Lejb Goldmann hot schon genimmen die Milech.« Weinberg sah zu seiner Pritsche. Leo Goldmann saß auf dem Bett und trank. Er reagierte nicht auf die Erwähnung seines Namens. Freiwillig würde er Weinberg keinen Schluck abgeben. »Gib aher!« befahl Jaakov und grabschte nach dessen Dose. Im gleichen Moment stieß Birnbaum Weinberg sein Knie in den Unterleib. Vor Schmerz sackte Jaakov fast zusammen. Durchatmen, nicht fallen. Da trat ihm Birnbaum in den Bauch. Jaakov blieb die Luft weg. Er stürzte zu Boden, Birnbaum wollte sich auf ihn werfen, doch David Jakubovicz stellte sich schützend vor Jaakov. »Loß’n in Schalem!« bestimmte er. »Jankl ist unser Milechmann. Ihm kommt ojchet Milech zi.«

»A Dreck kimmt n’zi!« schrie Birnbaum. »Di bist nicht der neje Kapo, as di kennst mich arimkommandieren!«

Das Geschrei und die Schläge ließen einige Männer im Trinken innehalten und näher kommen. Sie sahen, daß Birnbaum Jakubovicz die Faust ins Gesicht schlug. Der drosch zurück. Die Männer prügelten aufeinander ein. Jakubovicz gelang es, Birnbaum zu Boden zu stoßen, der packte den anderen am Bein, brachte ihn ebenfalls zu Fall.

Weinberg wollte Jakubovicz helfen, doch wenn er mitbalgte, würde er eine Tracht Prügel einstecken und seine Milch wäre weg. Nur auf die kam es jetzt an. Weinberg stemmte sich hoch. Seine Milchdose war bereits aufgehoben worden. Salek Reuter hatte sie an sich genommen. Jaakov entriß dem kleinwüchsigen KZler die Milchdose, wollte in den Waschraum. Doch kaum hatte er einen Schritt getan, traf ihn ein Faustschlag am Hinterkopf. »Ganev!« brüllte Naphtali Fischel. »Er ganevt vun di Dejtschn un die Jidn.« Fischel wollte erneut zuschlagen, doch Weinberg kam ihm zuvor, schleuderte ihm die Milchdose ins Gesicht. Naphtali schrie auf. Die Büchse hatte ihn unterhalb des Auges getroffen. Er schwankte. Jaakov schlug Fischel die Milchdose erneut ins Gesicht. Naphtali blutete aus Mund und Nase, seine Wange war aufgeplatzt. Das Blut steigerte Weinbergs Haß. Er konnte nicht aufhören, weiter auf seinen Feind einzuschlagen, bis er weggerissen wurde.

»Rozejach. Di bist erger vun die Dejtschn«, schrie Aaron Schechter.

Der untersetzte Mann kam aus Krakau. Sein Vater war Rabbiner gewesen. Er selbst hatte an einer Jeschiwa studiert. In Auschwitz-Birkenau aß Aaron Schechter ebenso wie die anderen Häftlinge alles, was er kriegen konnte – koscher oder nicht –, um nicht zu verhungern. Aber selbst an diesem Ort versuchte Schechter, Gott gerecht zu werden.

»Aweg!« rief Schechter, während er versuchte, Weinberg zu bändigen. »We ahawta Re’reecha Kamocha!«

Das Gebot, liebe deinen Nächsten wie dich selbst, in Auschwitz mit Hingabe zitiert, brachte Jaakov in Rage. »Kisch mech im Toches mit Gott!« Er riß sich los. »Gott is a Dejtscher! Hitler is Gott …«

Die Tür der Baracke wurde aufgerissen. Zwei SS-Männer mit umgehängtem Gewehr stürmten herein. Die Häftlinge wichen zurück. Allein Jakubovicz und Birnbaum waren dermaßen ineinander verkeilt, daß sie die Wachmänner nicht wahrnahmen. »Auseinander, Judenpack!« schrie der eine. Er riß sein Gewehr von der Schulter und schlug mit dem Kolben gegen die Köpfe und Leiber der Raufenden. Sie ließen augenblicklich voneinander ab. Birnbaum versuchte, sich kriechend vor den Schlägen in Sicherheit zu bringen. Jakubovicz war vom Gewehrkolben am Hinterkopf getroffen worden. Er lag rücklings am Boden.

Der SS-Mann trat ihm mehrmals gegen Kopf und Leib. Jakubovicz rührte sich nicht mehr. Der SS-Soldat ließ von ihm ab. »So geht’s euch bald allen! Dreckige Judenbande!« Er stand unschlüssig vor Jakubovicz. Seine Augen orientierten sich im Halbdunkel der Baracke. Er roch den Gestank, sah das Erbrochene. Übelkeit stieg in ihm hoch. Sie heizte seine Wut erneut an.

»Ihr habt wohl zuviel zu fressen, daß ihr kotzen müßt?«

Sein Kamerad entriß einem Mann seinen Blechbecher und roch angewidert dran. »Was sauft ihr denn da für ein Zeug?«

Keiner wagte eine Antwort.

»Wird’s bald!« brüllte der Streifenführer. »Wer ist hier Kapo?« Wiederum schwiegen die Häftlinge. Der SS-Mann entsicherte sein Gewehr. »Wo ist das Judenschwein?« Aaron Schechter trat vor. Ehe er ein Wort sagen konnte, stieß ihm der Wachmann den Gewehrlauf gegen die Brust. »Warum hast du Sau dich nicht sofort gemeldet?«

»Ich bin nicht Kapo …«, hob Schechter an.

»Dann halt’s Maul! Wer ist der Kapo, verdammt?«

Die Häftlinge schwiegen. Allein Schechter überwand seine Angst. »Hersch Schwarz, inser Kapo, is mitgenimmen worden vin Rottenfihrer Kreiske …«

»Das heißt, daß ihr ohne Kapo seid?«

»Ja«, antwortete der Gefangene.

»Da glaubt ihr, jetzt dürft ihr euch aufführen wie in der Judenschul?« Seine Stimme wurde scharf. »Ihr seid hier nicht im Sanatorium. Ihr habt zu arbeiten und euch diszipliniert zu benehmen, sonst werdet ihr ausgemerzt.« Der SS-Mann deutete auf Schechter. »Bis auf weiteres bist du der neue Kapo. Du bist keine so feige Ratte wie dein Judenhaufen!«

»Ich mecht nicht sein a Kapo …« Schechter blickte zu Boden.

»Was du mechtest«, gab der Wachmann zurück, »kümmert mich einen Dreck.«

»Aber …«

»Du tust, was ich sage«, brüllte der SS-Soldat und hob sein Gewehr. »Sonst schieß ich dich über den Haufen!«

Die Renitenz Schechters erzürnte Jaakov Weinberg. Damit gefährdete der Jeschiwa-Bocher auch alle anderen. Schechter glaubte wohl, Gott sei stärker als die Deutschen. Etwas in Weinberg wünschte, der Soldat möge den Frommen erschießen, damit ein für allemal erwiesen sei, daß die Deutschen mächtiger waren als der Irrglauben der Vater oder daß Satan regiere. Doch der Deutsche schoß nicht. Denn Schechter, dem das Leben ebenfalls wichtiger war als sein Gottesglaube, hauchte: »Jawohl.«

»Na also! Du sorgst dafür, daß euer Judenstall augenblicklich in Schuß kommt.«

»Jawohl.«

Der andere SS-Soldat trat auf seinen Streifenführer zu. Er hielt einen Blechbecher in der Hand. Der Wachmann roch daran, dann warf er das Gefäß zu Boden. »Woher habt ihr diese Stinkmilch?« Er ahnte, daß ihm freiwillig niemand etwas sagen würde. »Kapo! Wie seid ihr an euren Schweinetrank gekommen?!« Wieder hob er seinen Karabiner.

»Ich weiß nicht …«

»Verlogenes Judenpack!« Der Streifenführer lud sein Gewehr durch. Doch dann überlegte er es sich anders. Um alle Häftlinge der Baracke zu erschießen oder abzutransportieren, hätte er Verstärkung anfordern müssen. Aber der Soldat hatte kein Bedürfnis nach einer größeren nächtlichen Aktion. Er sicherte seine Waffe.

»Ich krieg schon raus, wo ihr euer Manna hergestohlen habt, ihr Ganoven. Verlaßt euch drauf!«

Der Streifenführer wandte sich wieder an Schechter. »Du bist dafür verantwortlich, daß eure Baracke bis morgen wieder blitzblank geputzt ist!«

»Jawohl.«

Der Streifenführer schulterte sein Gewehr. »Komm!« Die SS-Soldaten marschierten aus der Baracke.

Nachdem die Wachmänner die Tür zugeworfen hatten, herrschte Stille. Die Männer verharrten an ihren Plätzen. Als erstes löste sich Aaron Schechter aus seiner Erstarrung. Er bückte sich, versuchte Jakubovicz aus seiner Bewußtlosigkeit zu rütteln. Doch David regte sich nicht. Schechter bat Jaakov Weinberg, ihm zu helfen, den Verletzten zu seiner Pritsche zu schleppen. Weinberg reagierte nicht. Hatte Schechter ebenso wie Naphtali Fischel den Verstand verloren? Statt ums eigene überleben zu kämpfen, vergeudeten sie ihre Kräfte, indem sie Halbtoten zu helfen versuchten. Damit brachten sie alle anderen in Gefahr. Die Milch hätte Weinberg, Fischel und Jakubovicz helfen können, zu überleben – wenn sie das Getränk für sich behalten hätten. Naphtalis und Davids Gerechtigkeitsgetue hatte statt dessen die mögliche Hilfe verwässert. Weitaus schlimmer war, daß die Undiszipliniertheit, die Schlägereien, das Saufgelage, das Gekotze und Gebrüll, erneut den Zorn der Deutschen auf ihre Baracke gezogen hatte. Weinberg war sicher, daß die Streife den Vorfall melden würde – die Deutschen taten ihre Pflicht zuverlässig wie Maschinen. Der Diebstahl der Milch würde ans Licht kommen. Das bedeutete den sicheren Tod für ihn. Jaakov hegte keinen Zweifel, daß ihn jemand verraten würde. Jeder war dazu fähig. Wenn sogar der Jeschiwa-Bocher und Rabbinersohn Aaron Schechter sich von den Deutschen zum Kapo machen ließ und ihre Befehle befolgte, dann war alles möglich.

»Helft mir, Jidn«, bat Schechter, der noch immer über David gebeugt war. Dies wirkte wie ein Signal, das die aufgestauten Ängste freigab. Die Männer redeten durcheinander. Die fortwährende Angst wich der augenblicklichen Erleichterung über den Rückzug der Streife. Schechter versuchte, die Barackenbewohner zu beruhigen. »Scha! Scha! Hert of zu schreien, oder wollt ihr, daß die Dejtschn wieder aher kimmen?« Niemand befolgte die Mahnung. Der neuernannte Kapo gab auf. Er suchte jemanden, der ihm half, Jakubovicz auf seine Pritsche zu schleppen. Keiner war dazu bereit. Die Männer tranken wieder, was von ihrer Milch übrig war. Niemand hatte Angst vor Schechter. Er würde nicht lange Kapo bleiben.

Jaakov Weinberg wußte, daß er verloren war, wenn er nichts unternahm. Er spürte brennenden Durst und das vertraute Nagen des Hungers an seinen Magenwänden. Überleben! Er ging in den Waschraum, drängte einen Mitgefangenen vom Becken, hielt seinen Kopf unter den Wasserhahn und trank mit hastigen Schlucken vom dünnen Leitungsstrahl. Zwischendurch hielt er seine Hand ins laufende Wasser und säuberte seine verdreckte Kluft. Dabei stieß ihn ein kräftiger Kerl von der Waschstelle.

»Genig!« rief er. »’S Wasser ist nicht nur far dich do.« Weinberg wollte sich nicht mit dem Burschen anlegen. Er durfte jetzt seine Kräfte nicht mit nutzlosen Schlägereien vergeuden. Jaakov kehrte in den Schlafraum zurück. Dort herrschte das gleiche Tohuwabohu wie zuvor. Die Männer unterhielten sich laut und heftig gestikulierend. Weinberg sah und roch ihre Angst. Doch keiner tat etwas. Der Boden war mit kleinen Milchpfützen und Erbrochenem übersät. Es stank bestialisch.

Die Deutschen haßten Dreck und Disziplinlosigkeit. Mit einem Mal wußte Jaakov, daß die Deutschen sie alle umbringen würden. Die plötzliche Erkenntnis ließ sein Gesicht aufflammen. Es gab genug Jidn. Jeden Tag erreichten Züge mit gutgenährten magyarischen Juden das Lager. Die Deutschen kamen nicht nach mit dem Morden. Sie würden die verdreckten, disziplinlosen Juden dieser Baracke auslöschen. Gleich morgen früh nach dem Appell. Rottenführer Kreiske würde sie alle ins Gas treiben, wie er es heute abend mit Hersch Schwarz getan hatte.

Der Puls hämmerte in Weinbergs Schläfen, sein Kopf glühte. Es gab kein Entrinnen.

Und diese Idioten standen da, quasselten und soffen ihre verpißte Milch. Weinberg ergriff unbändiger Zorn gegen seine Mithäftlinge. Kamen sich auserwählt und schlau vor, diese Jidn. Doch sie waren dümmer als Schabbesgänse, die zum Schechten getrieben wurden. Die Deutschen würden alle abschlachten, ihn ebenso wie die anderen. Nein! Jaakov Weinberg wollte überleben. Er allein zählte jetzt – er mußte durchkommen! Jaakov zog sich auf seine Pritsche zurück. Im verebbenden Licht und Geschwätz kapselte er sich von seiner Umgebung ab. Flucht war sinnlos. Die Zäune waren elektrisch geladen und von Wachtürmen mit Maschinengewehren und Scheinwerfern gesichert. Verstecken hatte keinen Zweck: Die Deutschen ließen beim Appell durchzählen. Fehlte einer, dann spürten sie ihn mit ihren Hunden und ihren Spitzeln auf. Dennoch mußte er es versuchen. Nicht in der Latrine oder in einem Schuppen, wo man ihn sofort finden würde.

Jaakov Weinberg mußte in eine Baracke, deren Insassen nicht vergast wurden. Jeder Bau hatte Nacht für Nacht Tote. Er mußte den Kapo bestechen, damit er ihn anstelle einer Leiche zum morgendlichen Zählappell mitnahm. Weinberg wußte, daß einige in der Baracke Münzen oder Ringe versteckten. Doch Jaakov konnte nicht in jedem Arsch und in allen Backen rumpopeln, um zu Gold zu kommen. Wenn einer ihn entdeckte, würden alle über ihn herfallen, obgleich sie soeben noch seine Milch gesoffen hatten. Er mußte auf Anhieb den richtigen Mann finden und sein Gold nehmen. Jemand, der sich nicht wehren konnte: Jossl Lerner, der Muselmann, Jaakovs Feind, Naphtali Fischel, und David Jakubovicz, den der Deutsche besinnungslos geschlagen hatte.

Jaakov Weinberg wartete. Selbst nachdem das letzte Licht verglommen war, zwang er sich zur Ruhe. Erst als er nur mehr flache Atemgeräusche und Schnarchen vernahm, stahl er sich von seiner Pritsche. Jossl Lerner lag ruhig auf dem Rücken, er atmete kaum hörbar. Naphtali Fischel dagegen schlief unruhig. Weinberg befürchtete, daß Fischel aufwachte, wenn er ihn filzte. Dann mußte Jaakov ihn würgen, bis er das Bewußtsein verlor. Weinberg ekelte sich, Fischel in den Mund zu greifen. Als er nichts fand, drückte Jaakov dem Schlafenden seinen Zeigefinger in den Arsch. Naphtali stöhnte auf, sein Oberkörper bäumte sich hoch. Weinberg beließ den Finger im Darm und legte vorsichtshalber seine rechte Hand auf Fischels Hals. Stillhalten, abwarten. Naphtali wurde ruhiger. Weinberg ließ seinen Finger in Fischels Darm kreisen. Nirgends stieß er auf Widerstand. Jaakov schob einen zweiten Finger nach. Nichts. Er zog seine Finger heraus und wischte die Hand an der rauhen Wolldecke ab.

Jaakov huschte zu Jakubovicz. Stets trat David selbstbewußt auf, er mußte etwas besitzen. Er lag in tiefer Bewußtlosigkeit. Jakubovicz hatte ihn vor Fischel gerettet. Aber jetzt war er am Sterben – durch eigene Dummheit. Jaakov mußte ihn untersuchen. Er hatte nichts im Körper. Weinberg tastete Jakubovicz’ Pritsche ab. Nichts. Jaakov griff unter Davids Hemd, befühlte dessen Oberkörper, die Brust, er drehte den Mann vorsichtig zur Seite, auf den Rücken. Er suchte weiter. Um den Hals fühlte er eine feine Schnur, die unter die Achsel führte. Seine Finger folgten dem Stoffstreifen, ertasteten einen Ring. Weinberg zögerte, den Ring abzureißen. Es war ihm, als ob er damit David Jakubovicz’ Lebensfrucht pflückte. Die Deutschen hatten ihrer aller Lebensfrüchte abgerissen. Gerade hatte ein Soldat Jakubovicz fast zu Tode geprügelt. Morgen würden die Mörder die ganze Baracke verbrennen – einschließlich Jakubovicz und ihm, wenn er sich gehenließ. Jaakov Weinberg riß den Ring von der Schnur und lief aus der Baracke.

Draußen war es kalt. Weinberg drückte sich gegen die Wand. Jaakov besah den Ring im schwachen Licht des Neumondes. Es war ein schlichter Ehering. Wahrscheinlich war Jakubovicz’ Frau schon erschlagen worden. Der Ring war nutzlos geworden. Nicht für ihn! Er streifte ihn über den linken Ringfinger – der Ring paßte. Jaakov hatte das Leben geheiratet.

Er durfte nicht in den gleichen Block, der mit seinem Bau zum Morgenappell antrat. Hier war eine Baracke so verderblich wie die andere. Weinberg sah sich um, rannte mit großen Schritten zum nächsten Block. Er hielt im Schatten des Holzbaus inne, lauschte. Sicherheitshalber hastete er noch einen Block weiter, huschte zum mittleren Eingang. Was sollte er tun, wenn der Kapo sich weigerte? Weinberg schlich in die Baracke, wartete, bis sein Herzschlag sich beruhigt und seine Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Er trat an die erstbeste Pritsche, hockte sich ans Kopfende und rüttelte den Schläfer wach. Der Häftling blinzelte, riß seine Augen auf. Weinberg legte ihm die Rechte auf den Mund. »Wer ist euer Kapo?«

»Wus willst di?«

Mit beiden Händen drückte Weinberg dem Mann die Gurgel zu, lockerte nur langsam den Druck. »Wer?!«

»Baruch Trautmann.« Der Mann mußte husten. Weinberg hielt ihm eine Hand über den Mund. Der andere stickte.

»Wo liegt er?« Die Hände lagen wieder um den Hals des Mannes, bereit zuzudrücken. Der Häftling hob seinen Kopf, während Weinbergs Griff nachließ, und deutete auf das entgegengesetzte Ende des Schlafraums.

»Wo genau?«

»Im ersten Bett.«

»Ojbn oder unten?«

»Ojbn. Er hot dos Bett far sich allein …«

Weinberg drückte den Kopf des anderen wieder nach unten.

»Halt dein Pisk! As di schreist, werd ich dich derhargenen.« Der liegende nickte. Nur Schlafgeräusche waren zu hören. Mit leisen Schritten durchquerte Jaakov die Baracke. Er blieb vor der ersten Pritsche stehen. Sie war in der unteren und mittleren Etage leer. Das Kapobett!

Weinberg trat dicht an die Pritsche, betrachtete den Schlafenden. Baruch Trautmann hatte einen runden, kräftigen Kopf, eine fleischige Nase, eine mächtige Stirn. Alles an ihm schien stark. Auch der weite Mund mit den breiten, nach unten gezogenen Lippen.

Er schlief ruhig, atmete tief und regelmäßig. Weinberg konnte sich nicht auf Trautmann stürzen. Er lag im obersten Bett, war kräftig und der Kapo. Jaakovs Leben lag in seiner Hand. Er fuhr über Jakubovicz’, nein, seinen Ring. Seinen Lebensring. Durchatmen. Jaakov hob die rechte Hand, ließ sie sinken. Es war Zeit zum Handeln. Aber er mußte das Richtige tun. Tun! Weinberg reckte seinen Kopf vor, so daß er Trautmanns Atem auf dem Gesicht spürte. Er hob die Decke, ergriff die Hand des Kapos und drückte sie fest. Trautmanns Atem stockte, setzte nach einem Moment wieder ein. Er schlug die Augen auf und versuchte, seine Hand aus dem Griff Weinbergs loszureißen: Doch der hielt sie mit aller Kraft fest. Der Kapo suchte Jaakovs Augen im Dunkeln.

»Wus willste?«

»Gur nichts!« flüsterte Weinberg und gab zur Bekräftigung Trautmanns Hand frei. Der setzte sich mit einem Ruck auf. »Wus willste?« wiederholte er. Seine Stimme war belegt, doch Weinberg spürte Trautmanns harten Blick.

»Ich will mit dir a Geschäft! machen …«

»Ich mach kein Geschäft …«, der Kapo begutachtete sein Gegenüber und fuhr fort, »… mitten in die Nacht mit Menschen, die ich nicht kenn!«

»Ich bin Jankl Weinberg …«

»Wie aher kimmst di?«

»Vum anderen Block.«

»Die Dejtschn sichen dich!«

»Keiner sieht mech.«

»Far wus kimmst di jetzt aher?«

»Weil die Dejtschn morgen unseren Block derhargenen werden.«

»Fun wo weiß du dus?«

»Fun die SS. Rottenfihrer Kreiske hot’s mir gesagt …«

»Far wus?«

»Weil ich Kapo bin.«

Weinberg wunderte sich, wie mühelos er lügen konnte. Vor dem Einmarsch der Deutschen hatte er so gut wie nie die Unwahrheit gesagt. Und wenn er sich dazu gezwungen sah, hatte er gestottert, war rot geworden. So hatte Jaakov der Lüge abgeschworen. »Es gibt Menschen, die lügen können. Und es gibt solche, die dazu nicht in der Lage sind. Du gehörst dazu, und das ist gut so!« hatte sein Vater Jehuda gemahnt. Jaakov hatte ihm geglaubt. Und nun ging ihm der Schwindel glatt von den Lippen. Wenn Satan triumphierte, war alles Schlechte gut.

»Ich weiß die Kapos vun die Nachbarblocks. Dich kenn ich nicht!« Trautmanns Worte rissen Weinberg aus seinen Gedanken.

»Bis gestern is gewein Hersch Schwarz unser Kapo …«

»Den kenn ich«, bestätigte Trautmann. »Wus is mit ihm? Wus?

Sug!«

Die drängende Frage Trautmanns bewies Weinberg, daß er einen Fehler begangen hatte. Die Kapos lebten allein vom Vertrauen der Deutschen, der SS und der Blockältesten. Deswegen taten sie buchstäblich alles, um sich das Wohlwollen der SS zu sichern. Verloren sie es, verloren sie ihr Leben. Daher genügte die Erwähnung einer Veränderung, um Trautmann in Unruhe zu versetzen.

»Hersch hat sich gebrochen den Fiß. Er hot nicht gekennt gejn.« So nahm er dem Kapo auch gleich die Furcht vor Seuchen.

»Far wus werden sie eure Baracke derhargenen?«

Weinberg wußte, daß sein Leben davon abhing, ob er Trautmann überzeugen konnte. »Weil sie Platz für die nejen Jidn aus Ungarn brojchen, verbrennen die Dejtschn die alten Jidn … Ich hob nicht gehobt mit wos zu zuhlen den Rottenfihrer Kreiske. Drim wird er inser Haus derhargenen.«

Der Kapo nickte. Er war froh, daß seine Baracke noch nicht an der Reihe war.

Weinberg zog seinen Ring vom Finger, hielt ihn Trautmann dicht vor die Augen. »As di nimmst mech of in dein Haus, gejb ich dir mein Ring.« Die Aufregung ließ sein Flüstern zischeln.

»Ich broch dein Ring nicht.«

»Un was wirst du tin, als die Dejtschn werdn dein Haus derhargenen?«

»Vin wo host du den Ring?«

»Ich hob’n.«

»Di kennst nicht hier bleiben!« entschied Trautmann.

»Di gloibst, di host genig«, erriet Jaakov die Gedanken des Gegenübers. »Auch ich hob so gedenkt. Ein Ring ist nicht genig! Un a Stick Gold ojchet nicht. Di mißt hobn drei, vier Sachen, sonst verkojfn sie eier Haus dem Tojt.«

»Sie verkojfn alles dem Tojt«, brummte der Kapo.

»Nein. Die Dejtschn brojchn ins Jidn zum Arbejtn. Sie derhargenen nur die Armen und Kranken.«

Trautmann zögerte mit seiner Antwort. Er sah die Notwendigkeit ein, sich von Weinberg bestechen zu lassen. Doch: »Ich kenn dich nicht in mein Haus ofnejmen. Ich hob kejn Platz.«

Jaakov wies auf den leeren Platz unter Trautmanns Pritsche.

»Ich kenn hier schlufen.«

»Nein!«

Trautmann schüttelte seinen Kopf. »Der Appell. Die Dejtschn wissen bei jeden Appell die Nummer von uns.«

»Ihr hobt … di host doch Muselmänner in dein Haus, Halbtojte …«

Trautmann nickte unwillkürlich, dann schüttelte er bestimmt seinen Kopf. »Ich bin a Kapo. Aber ich bin kein Rozejach wie die Dejtschn. Ich hob nicht derharget Jidn … und ich werd Jidn nicht derhargenen.«

Die Juden waren in der Hölle und gebärdeten sich als Engel. Beim Rabbinersohn Aaron Schechter mochte das angehen. Daß sich aber der Kapo mitten im Gehenom statt als Gehilfe des Satans als Zadik aufführte und damit das eigene Leben und das seiner Männer gefährdete, überstieg Jaakov Weinbergs Verständnis. Weinberg dachte nicht daran, sich freiwillig auf dem Altar des Judentums zu opfern. Er packte den Kapo am Arm. »Di sollst nicht derhargenen Jidn. Di sollst rett’n Jidn!« rief er, ohne sich darum zu kümmern, ob ihn jemand hörte. Er gab Trautmanns Arm frei und wies auf sich. »Mich mißt di rettn!«

»As ich wot gekennt, wot ich dich gerettet …«

»Di kennst!«

»Nicht far dem Preis zu opfern an anderen Jidn!«

»Die Muselmänner sind schojin tojt.«

»Nein! Dus weiß Gott, nicht di.«

Jaakov hatte das Bedürfnis, auf den Kapo einzuprügeln. Damit würde er sich den Mithäftlingen und den Deutschen ausliefern. Er mußte den Kapo überzeugen – koste es, was es wolle. Jaakov mußte den Idioten bei der Ehre packen. »Ich hob gerettet inser ganzes Haus. Ich hob den Dejtschen Milch zigenimmen un den Jidn gegejbn. Jetzt miß di mich rettn!« Erneut hielt er Trautmann den Ring vors Gesicht. »Ich gejb dir den Ring, as di loßt mich hier. Di wirst den Ring brojchn, sonst gejt dein ganzes Haus ojf kapore!«

Trautmann war ratlos. Der Ring dieses skrupellosen Kerls konnte ihm zweifellos helfen, sein Leben und jenes seiner Männer zu retten, zumindest ihren Tod eine Weile hinauszuzögern. Dafür war er verantwortlich. Nur aus diesem Grund hatte er sich zum Kapo machen lassen und allein dieser Umstand diente ihm als Rechtfertigung – vor Gott und vor sich selbst. Oder ging es ihm doch nur um sein eigenes kümmerliches Leben? In jedem Fall konnte der Ring von Nutzen sein. Doch der Bursche verlangte von ihm, daß er dafür einen seiner Männer opferte. Vor Gott waren alle gleich – sogar an diesem Ort.

»Ich darf kein Menschen opfern …«

»Du mißt kein Mensch opfern. Sug mir, wer is a Muselmann!

Wer is mehr tojt als lejbedig?«

»Nein!«

Weinberg packte erneut die Hand des Kapos. »Sug wer!« Trautmann antwortete nicht. Da drückte ihm Weinberg den Ring in die Hand. »Wer?!«

»Jeder vun ins is mehr tojt wie lejbedig …«

Weinberg ließ Trautmann nicht los. »Sug mir, wer is a Muselmann!«

»Jojne Kaiser.«

»Weis mer, wie er ligt!«

Trautmann senkte den Kopf, reagierte nicht. Da zog ihn Weinberg von der Pritsche. Trautmann war ein kräftiger Mann, größer und breiter als Jaakov. Doch er war ein Feigling wie Hersch Schwarz. Hatten die Burschen keinen Mut und keinen Haß im Leib? Jaakov Weinberg besaß beides. Damit kämpfte er um sein Leben. Er packte den Kapo am Oberarm, stieß ihn vorwärts.

»Wie is Kaiser?«

Trautmann blieb stehen.

»Mein Ring wird dich un dein Haus retten!« Weinberg zog den Kapo mit sich. »Weis mir Kaiser!«

Endlich bewegte sich Trautmann. Er führte den Eindringling zur Bettstatt Jonathan Kaisers, der in der untersten Pritsche lag. Der Preis des Ringes enthielt die Hilfe des Kapos beim Transport des Todgeweihten. Aber Jaakov wußte sich sicherer, wenn er sich allein auf die eigene Kraft verließ. Er winkte dem Kapo ab, dann bückte er sich. Jaakov vermied es, in das Gesicht des Mannes zu blicken, während er ihn auf seine Schulter lud. Der Muselmann winselte leise. Er war leichter als ein Fünfzig-Kilo-Zementsack. Trautmann sah regungslos zu. Schlappschwanz. Weinberg wandte sich um und ging so leise wie möglich aus der Baracke.

Es war kalt. Jaakov fror. Aber er spürte noch Kraft in seinen Muskeln, trotz der Last auf seinem Rücken. »Wus?… Wus is …? Wer bist di? … Wie lojfst di ahin …?« stöhnte der Verschleppte.

»Halt dein Moul!« zischte Weinberg. Er mußte sich seiner Last schnell entledigen. Am liebsten hätte er den Muselmann sogleich abgelegt. Kalt genug war es. Er würde die Nacht im Freien nicht überleben. Doch in unmittelbarer Nähe seines Blocks konnte er ihn nicht liegenlassen. Er könnte durch sein Gejammer die Deutschen alarmieren. Oder die Todesangst gab ihm die Kraft, in seine Baracke zurückzufinden. Dann hatte Weinberg ihn erneut am Hals. Er schob sein Mündel höher, packte es fester und lief, so leise und schnell er konnte, zu seiner alten Baracke.

Das Erbrochene war nicht aufgewischt, der Gestank noch stechender geworden. Er hatte sich mit den Ausdünstungen der schlafenden Männer zu einem dumpfen Gemisch vermengt. Weinberg spuckte angewidert aus. Zunächst hatte er vor, den Muselmann auf seine eigene Pritsche zu legen. Aber das war zu riskant. Sein Nachbar konnte aufwachen. Wenn der Halbtote die Nacht überlebte, würden Lejb Goldmann und die anderen beginnen, Fragen zu stellen und Weinberg verraten. Der Waschraum war sicherer. Ein Toter war nichts Ungewöhnliches. Sie würden die Leiche zum morgendlichen Zählappell mitnehmen müssen, um keinen Ärger mit den Deutschen zu bekommen. An Jaakov würden sie nicht mehr denken.

Er trug den Muselmann in den Waschraum, setzte ihn ab, drückte seinen Kopf unter das Blechbecken. Dabei blickte er unversehens in dessen Gesicht. Die Nase ragte spitz zwischen eingefallenen Wangen hervor. Die Lider fielen weit über glanzlose Augen, die tief in ihren Höhlen lagen. »Wus tist di mit mir?« Die Lippen formten mühsam die Worte. Jaakov wollte sich abwenden. Doch der Zerbrochene zog ihn in seinen Bann. Wenigstens das war seinen Eltern erspart geblieben. Weinberg ballte die Fäuste. Er war versucht, den Muselmann zu erwürgen, um dessen Qual zu beenden.

»Wasser …« Die Lippen malten lautlos. »Wasser … Dorscht …« Weinberg zog den Mann hoch, öffnete den Hahn, hielt dessen Gesicht in den Wasserstrahl. Seine Lippen öffneten sich, er schluckte, hustete. Weinberg riß den Kopf des Trinkenden zurück, drehte den Hahn ab. War er verrückt geworden wie Fischel, Schechter und Trautmann? Sich für einen Muselmann opfern, damit der ihn verriet? Jaakov Weinberg ließ den Kraftlosen sinken, quetschte ihn wieder gewaltsam unter das Waschbecken und stürzte aus dem Bau. Ohne sich umzusehen oder sich um deutsche Streifen zu kümmern, rannte Jaakov Weinberg in seine neue Baracke. Er fand seine Pritsche, warf sich hin. Er durfte kein Muselmann werden. Lieber wollte er in den elektrischen Zaun laufen. Seine Eltern sollten sich seiner nicht schämen müssen. Jaakov mußte weinen. Er riß sich die Decke über den Kopf, drückte seinen Kopf auf die Strohmatte. Er würde nicht in den Zaun laufen oder sich zum Muselmann machen lassen. Jaakov Weinberg würde den Kampf um sein Leben gewinnen.

Der scharfe Pfiff einer Trillerpfeife weckte ihn. Er hatte fest geschlafen, nach wenigen Sekunden fand er sich in seiner veränderten Lage zurecht. Jaakov rannte mit seinen neuen Barackennachbarn in den Waschraum, erhaschte ein wenig Wasser. Nicht an den Muselmann denken! Dessen Kampf war bereits vorbei. Jaakov folgte den anderen zum Morgenappell. Abzählen. Die Summe stimmte! Die Barackenkolonne marschierte in einen Wald. Die Männer mußten Holzarbeiten verrichten, Bäume fällen, zerkleinern, entrinden, stapeln. Gegen Mittag setzte Regen ein. Der Boden begann aufzuweichen. Erst bei Dunkelheit kehrte die Abteilung zurück ins Lager. Weinberg verbot sich nachzugrübeln, was aus den Männern seiner ehemaligen Baracke geworden war – und dem Muselmann.

Nach einigen Wochen hielt Jaakov Weinberg die Ungewißheit nicht mehr aus. Im allgemeinen Durcheinander nach dem Abendappell lief er zu seiner alten Baracke. Die Männer unterhielten sich ungarisch oder jiddisch. Weinberg hielt Ausschau nach einem vertrauten Gesicht. Er kannte niemand. Jaakov fragte einen der Bewohner. Er und seine Kameraden seien vor kurzem aus Pecz hierhergeschafft worden. Wo die Männer waren, die zuvor die Baracke bewohnt hatten, fragte Jaakov nicht.

Dienstag

Ein Mensch wird zum Helden, indem von seinen mutigen Taten gekündet wird. Das Wissen darum bewog Alexander und Napoleon, Chronisten die Teilnahme an ihren Kriegszügen zu befehlen. König David war klüger. Ebenso wie später Cäsar verfaßte er die Geschichte seiner Heldentaten selbst.

Gewöhnliche Sterbliche bleiben auf das Zeugnis ihrer Mitmenschen angewiesen. Der deutsche Dichter Jurek Becker erfand einen »Helden«, dem keine drei Sätze über die Lippen kamen, ohne daß von seiner Angst die Rede war. Das mag in einem Roman angehen. Im wirklichen Leben aber wird jemand, der Angst zeigt, als Feigling verschrien. Ein Held hat tapfer und furchtlos zu sein. Angst haben wir selbst. So adeln wir allein Personen zu Helden, die ihre Furcht zu verbergen wissen oder zu phantasielos sind, Gefahren zu erkennen. Sobald einer zum Helden gekürt ist, klebt an ihm der Ruf der Furchtlosigkeit wie Hundekot an der Sohle. Der Träger erliegt rasch dem Gestank und beginnt, an das eigene Heldentum zu glauben.

Jakob Weinberg war ein Held. Er hatte keine Angst zu haben.

Dr. Benjamin Finkelstein wußte es besser. Während sein behandschuhter Zeigefinger Weinbergs teigige, vergrößerte Prostata abtastete, spürte er die Aufregung des Patienten. Sanft zog er seinen Finger aus dem Darm des alten Mannes.

»Und?« Weinberg bemühte sich, seiner Stimme Festigkeit zu geben. Der Urologe streifte den Handschuh ab, warf ihn in den verchromten Abfalleimer. Er tätschelte den Oberarm des Patienten. Alle hatten Angst. Sie suchten Halt. Benjamin Finkelstein spendete ihn, indem er die Männer berührte und ihnen mit sanfter Stimme zuredete. Der Mediziner hatte sein Mitgefühl bewahrt. Finkelstein war ein begnadeter Tröster. Die fröhlichen Augen des stämmigen Mittvierzigers, die Lachgrübchen in den feisten Backen und nicht zuletzt sein Ranzen, der sich vorwitzig aus dem nur mit einem Knopf zusammengehaltenen Kittel schob, bewiesen, daß Benjamin Finkelstein sein Leben genoß. Er behandelte alle Patienten mit der gleichen Sorgfalt. Aber den Jidn fühlte er sich näher. Es waren seine Leute. Finkelstein roch ihre Angst intensiver, ihre Krankheiten und ihre Furcht schmerzten ihn mehr als jene der Gojim, bei denen man nie sicher sein konnte, was die Alten im Krieg angestellt hatten.

Diesen Patienten kannte Finkelstein seit seiner Kindheit. Jakob Weinberg war der Milchmann. Ein jüdischer Held. Er hatte sich nicht wehrlos zur Schlachtbank führen lassen. Weinberg hatte sein Leben erkämpft und darüber hinaus durch seine mutige Tat vielen anderen Juden das Leben gerettet. Dennoch war Weinberg bescheiden geblieben. Er rühmte sich nicht seiner Tat und hatte sogar das »Ansinnen« einer Shoah-Stiftung abgelehnt, sich auszeichnen zu lassen – und dafür Geld zu spenden.

Finkelstein dämpfte das Licht. Der Arzt bat Weinberg, sich auf den Rücken zu legen. Er rieb seinen Unterbauch mit Kontaktgel ein und begann mit der Ultraschalluntersuchung. Der Mediziner sah das Schattenecho der Organe auf dem Bildschirm im nervösen Pulsrhythmus des Patienten vibrieren. Weinberg hatte Angst. Ein Held durfte bei einer Untersuchung Furcht empfinden. Anders als im Krieg oder im KZ war er der Krankheit wehrlos ausgeliefert – wenn ihm kein qualifizierter Arzt zur Seite stand. Finkelstein rollte den Sensor über Weinbergs Taille. Er blickte konzentriert auf den Bildschirm.

»Die Nieren sind frei. Ohne Befund. Gott sei Dank«, murmelte der Arzt.

»Und die Prostata?«

Der Arzt drückte erneut Kontaktgel aus der Tube auf Weinbergs Unterbauch und verteilte es auf der Haut.

»Jetzt wird es noch mal ein bißchen kalt«, warnte Finkelstein den Patienten.

»Das kümmert mich einen Dreck … Was ist mit meiner Prostata?«

Finkelstein schmunzelte über die Zielstrebigkeit des Alten. Behutsam führte er den Tastkopf über Weinbergs Bauch. Die Prostata war eindeutig vergrößert. Finkelstein maß ihr Volumen.

»Nu?«

»Was meinen Sie damit, Herr Weinberg?«

»Was wohl? Du mißt doch die Prostata?«

»Woher wollen Sie das wissen?«

»Für meine Darmgeräusche wirst du dich kaum interessieren …«

Finkelstein lachte schallend.

»Also was ist? Ist sie größer geworden?«

»Ich müßte erst meine Unterlagen …«

»Laß mich in Ruhe mit deinen Unterlagen! Ich bin Jakob Weinberg, kein Goj, den du hinhalten kannst. Ich will wissen, was mit mir los ist!«

»Also, es sieht nicht schlecht aus …«

»Was ist los!?«

»Ja … wie soll ich sagen?«

»Klar und deutlich!« Jakob Weinberg hatte sich aufgesetzt.

Seine Stimme duldete keinen Widerspruch.

»Wir müßten eine Blutprobe machen und eine Biopsie.«

»Was heißt das?«

»Eine Gewebeprobe.«

»Krebs!«

»Nein …«

»Warum willst du mich sonst schneiden? Ich bin Privatpatient.

Du verdienst genug an mir!«

»Ich will, daß wir sicher sind.«

»… ich muß sterben!«

»Nein …«

»Doch!«

»Unsinn!« Finkelstein wurde ungehalten. »Wir alle müssen sterben, früher oder später.«

»Ich will später!«

Finkelstein bat Weinberg, einen Termin mit seinem Assistenten Dr. Neumann für die Untersuchung zu vereinbaren.

»Ich will, daß du mich schneidest, wenn es schon sein muß.«

»Da wird nicht geschnitten, sondern gepiekst. Sie spüren es kaum, es geschieht unter örtlicher Betäubung …«

»Du sollst es machen, Doktor!«

»Dr. Neumann ist auch ein Jid …«

»Von mir aus ist er Buddhist. Ich bin dein Patient!«

Finkelstein versuchte sich mit Terminschwierigkeiten herauszureden. Doch Weinberg beharrte auf einer sofortigen Gewebeprobe. Gegen den Willen des alten Heroen kam die unverbindliche Routine des Arztes nicht an. Der Urologe mußte umgehend die Untersuchung vornehmen. Danach wollte der Patient sofort das Ergebnis erfahren. Geduldig erklärte ihm Finkelstein, daß er das entnommene Gewebe ins Labor des histologischen Instituts zur Untersuchung einschicken mußte. Die Diagnose würde erst in einer Woche vorliegen.

»Erst piesackst du mich. Dann spannst du mich auf die Folter!« Grußlos verließ Weinberg die Praxis.

Das Kopfsteinpflaster war naß. Es nieselte. Dreckswetter. Er hätte nach Israel fahren sollen. Aber was machte er mit der Schickse in Zion? Bei Dinah konnte er sich mit Barbara nicht sehen lassen. Weinberg hätte sie also allein im Hotel zurücklassen müssen. Barbara würde sich in ihr Los gefügt haben. Doch ihre Gekränktheit hätte ihm die Laune verdorben. Weinberg hätte auch allein nach Erez zu Dinah, Ariel und David fahren können. Er liebte seinen Enkel, und der Junge schätzte seine Geschenke. Doch Weinberg wußte um die Wahrheit des Spruchs: Ein Gast ist wie ein Fisch: Nach drei Tagen beginnt er zu stinken.