Der Nomos der Erde - Carl Schmitt - E-Book

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Carl Schmitt

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Beschreibung

»Die bisherige, europa-zentrische Ordnung des Völkerrechts geht heute unter. Mit ihr versinkt der alte Nomos der Erde. Er war aus der märchenhaften, unerwarteten Entdeckung einer Neuen Welt hervorgegangen, aus einem unwiederholbaren geschichtlichen Ereignis. Eine moderne Wiederholung könnte man sich nur in phantastischen Parallelen denken, etwa so, daß Menschen auf dem Wege zum Mond einen neuen, bisher völlig unbekannten Weltkörper entdeckten, den sie frei ausbeuten und zur Entlastung ihres Erdenstreites benutzen könnten. Die Frage eines neuen Nomos der Erde ist mit solchen Phantasien nicht beantwortet. Ebensowenig wird sie durch weitere naturwissenschaftliche Erfindungen gelöst werden. Das Denken der Menschen muß sich wieder auf die elementaren Ordnungen ihres terrestrischen Daseins richten. Wir suchen das Sinnreich der Erde. Das ist das Wagnis dieses Buches und das Vorgebot unserer Arbeit. Es sind die Friedfertigen, denen das Erdreich versprochen ist. Auch der Gedanke eines neuen Nomos der Erde wird sich nur ihnen erschließen.« Aus dem Vorwort, Carl Schmitt im Sommer 1950

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[1]

CARL SCHMITT

Der Nomos der Erde

[3]

CARL SCHMITT

Der Nomos der Erde

im Völkerrecht des Jus Publicum Europaeum

Fünfte Auflage

Duncker & Humblot • Berlin

[4]

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

1. Auflage 1950

2. Auflage 1974

3. Auflage 1988

4. Auflage 1997

5. Auflage 2011

Alle Rechte vorbehalten

© 2011 Duncker & Humblot GmbH, Berlin

Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin

Printed in Germany

ISBN 978-3-428-08983-3

Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier

entsprechend ISO 9706

Internet: http://www.duncker-humblot.de

[5]

Vorwort

Dieses Buch, die wehrlose Frucht harter Erfahrungen, lege ich auf dem Altar der Rechtswissenschaft nieder, einer Wissenschaft, der ich über vierzig Jahre gedient habe. Ich kann nicht voraussehen, wer sich meiner Opfergabe bemächtigen wird, sei es ein denkender Mensch, sei es ein praktischer Verwerter, sei es ein Zerstörer und Vernichter, der das Asyl mißachtet. Die Schicksale eines Buches stehen nicht in der Hand des Autors, so wenig wie sein persönliches Schicksal, das daran hängt.

In der Sache könnte das Buch zwei Verse Goethes aus dem Juli 1812 als Motto tragen:

Das Kleinliche ist alles weggeronnen,nur Meer und Erde haben hier Gewicht.

Denn es ist hier von festem Land und freiem Meer die Rede, von Landnahmen und Seenahmen, von Ordnung und Ortung. Aber so großartig das Motto wäre, es würde doch eine Gefahr in sich enthalten. Die beiden erstaunlichen Verse lenken die Aufmerksamkeit zu sehr von dem völkerrechtlichen Thema weg und ziehen sie entweder in eine geographisch-naturwissenschaftliche oder in eine elementarisch-mythologische Betrachtung hinein. Das würde dem mit großer Mühe erarbeiteten, eigentlich rechtswissenschaftlichen Grundgedanken des Buches nicht gerecht. Ich bin den Geographen, an erster Stelle Mackinder, zu großem Dank verpflichtet. Trotzdem bleibt die juristische Denkarbeit etwas anderes als Geographie. Die Juristen haben ihr Wissen von Ding und Boden, von Realität und Territorialität nicht von den Geographen erlernt. Der Begriff der Seenahme ist von einem Juristen geprägt und nicht von einem Geopolitiker. In dem Selbstbewußtsein des Juristen weiß ich mich mit einem bedeutenden Völkerrechtslehrer der Gegenwart, mit Camilo Barcia Trelles einig, der das Thema Land und Meer ebenfalls behandelt hat.

Viel tiefer als mit der Geographie geht die Verbindung mit den mythischen Quellen rechtsgeschichtlichen Wissens. Sie sind uns durch Johann Jakob Bachofen erschlossen worden, wobei wir viele Anregungen des genialen Jules Michelet nicht vergessen wollen. Bachofen ist der legitime Erbe Savignys. Er hat das, was der Begründer der historischen Rechtsschule unter Geschichtlichkeit [6] verstand, weitergeführt und unendlich fruchtbar gemacht. Das ist etwas anderes als Archäologie und Museum. Es betrifft die Existenzfrage der Rechtswissenschaft selbst, die heute zwischen Theologie und Technik zerrieben wird, wenn sie nicht in einer richtig erkannten und fruchtbar gewordenen Geschichtlichkeit den Boden ihres eigenen Daseins behauptet.

Dadurch wird die Frage der Darstellung zu einem besonders schwierigen Problem. Hemmungen und Hindernisse aller Art gehören zu unserer heutigen Lage. Audi einem beziehungslosen Kritiker wird es nicht schwer werden, bibliographische und andere Mängel zu entdecken. Es kommt hinzu, daß ich mich vor jeder Aktualität hüte und an manchen Punkten (S. 255, 285) abbreche, um nicht in einen falschen Verdacht zu geraten. Alle Sachverständigen klagen ja über die babylonische Sprachverwirrung unserer Zeit, über die Roheit des ideologischen Kampfes und über die Zersetzung und Vergiftung selbst der gängigsten und geläufigsten Begriffe unserer heutigen Öffentlichkeit. Da bleibt nichts übrig, als das gewaltige Material zu sichten, den neuen Gedanken sachlich darzulegen, unnützen Streit zu vermeiden und die Größe des Themas nicht zu verfehlen. Denn beides, das Thema selbst und seine gegenwärtige Situation, ist überwältigend.

Die bisherige, europa-zentrische Ordnung des Völkerrechts geht heute unter. Mit ihr versinkt der alte Nomos der Erde. Er war aus der märchenhaften, unerwarteten Entdeckung einer Neuen Welt hervorgegangen, aus einem unwiederholbaren geschichtlichen Ereignis. Eine moderne Wiederholung könnte man sich nur in phantastischen Parallelen denken, etwa so, daß Menschen auf dem Wege /.um Mond einen neuen, bisher völlig unbekannten Weltkörper entdeckten, den sie frei ausbeuten und zur Entlastung ihres Erdenstreites benutzen könnten. Die Frage eines neuen Nomos der Erde ist mit solchen Phantasien nicht beantwortet. Ebensowenig wird sie durch weitere naturwissenschaftliche Erfindungen gelöst werden. Das Denken der Menschen muß sich wieder auf die elementaren Ordnungen ihres terrestrischen Daseins richten. Wir suchen das Sinnreich der Erde. Das ist das Wagnis dieses Buches und das Vorgebot unserer Arbeit.

Es sind die Friedfertigen, denen das Erdreich versprochen ist. Auch der Gedanke eines neuen Nomos der Erde wird sich nur ihnen erschließen.

Sommer 1950

[7]

Inhaltsübersicht

I.Fünf einleitende Corollarien

1.Das Recht als Einheit von Ordnung und Ortung

2.Vor-globales Völkerrecht

3.Hinweise zum Völkerrecht des christlichen Mittelalters

Die Respublica Christiana als Raumordnung / Das christliche Reich als Aufhalter (Kat-echon) / Kaisertum, Cäsarismus, Tyrannis

4.Über die Bedeutung des Wortes Nomos

Nomos und Gesetz / Der Nomos als Herrscher / Nomos bei Homer / Der Nomos als raumeinteilender Grund-Vorgang

5.Die Landnahme als konstituierender Vorgang des Völkerrechts

II.Die Landnahme einer Neuen Welt

1.Die ersten globalen Linien: Von der Raya über die Amity Line zur Linie der Westlichen Hemisphäre

2.Die Rechtfertigung der Landnahme einer Neuen Welt (Francisco de Vitoria)

3.Juristische Rechtstitel der Landnahme einer Neuen Welt (Entdeckung und Okkupation)

Die neue Flächenordnung Staat /Okkupation und Entdeckung als Rechtstitel der Landnahme / Die Rechtswissenschaft gegenüber der Landnahme einer Neuen Welt, insbesondere Grotius und Pufendorf

III.Das Jus Publicum Europaeum

1.Der Staat als tragende Größe einer neuen, zwischenstaatlichen und europazentrischen Raumordnung der Erde

Überwindung des Bürgerkrieges durch den Krieg in staatlicher Form / Der Krieg als Beziehung zwischen gleich-souveränen Personen / Die umfassende Raumordnung / Hegels Lehre vom Staat und Rousseaus Lehre von Krieg

[8]

2.Umwandlung mittelalterlicher Kriege (Kreuzzüge oder Fehden) in nichtdiskriminierende Staatenkriege (von Ayala bis Vattel)

Balthazar Ayala / Zweifel am gerechten Krieg / Albericus Gentilis / Grotius zum Problem des gerechten Krieges/Richard Zouch/Pufendorf, Bynkershoek, Vattel / Kant's ungerechter Feind

3.Die Freiheit der Meere

Zwei Raumordnungen: festes Land und freies Meer / Ist das freie Meer res nullius oder res omnium? / Der Übergang Englands zu einer maritimen Existenz / Der hundertjährige Bücherkrieg / Von der elementaren zur geordneten Freiheit der Meere

4.Territoriale Änderungen

Gebietsveränderungen außerhalb und innerhalb einer völkerrechtlichen Raumordnung / Gebietsänderungen innerhalb des jus publicum Europaeum / Staatensukzession im jus publicum Europaeum (bei endgültiger Landnahme) / Occupatio bellica im jus publicum Europaeum (provisorische Inbesitznahme)

5.Hinweis auf nicht-staatsbezogene Möglichkeiten und Elemente des Völkerrechts

IV.Die Frage eines Neuen Nomos der Erde

1.Die letzte gesamteuropäische Landnahme (Kongo-Konferenz 1885)

2.Auflösung des jus publicum Europaeum (1890 - 1918)

3.Die Genfer Liga und das Raumordnungsproblem der Erde

4.Sinnwandel des Krieges

a)Der Versailler Vertrag von 1919 / Kriegsverbrechen im alten Sinne (Art. 228 Vers. Vertrag) / Wilhelm II. als Kriegsverbrecher / Der Kriegsschuldartikel des Versailler Vertrages

b)Ansatz zu einer Kriminalisierung des Angriffskrieges im Genfer Protokoll von 1924 / Entstehung des Genfer Protokolls vom 2. Oktober 1924 / Inhalt des Genfer Protokolls / Der Tatbestand des neuen Verbrechens: Angriffsakt, Angriffskrieg, ungerechter Krieg

5.Die westliche Hemisphäre

[9]

6.Sinnwandel der völkerrechtlichen Anerkennung

Das Dilemma von Isolation und Intervention / Problematik der Anerkennung von Rebellen (entwickelt am Beispiel des Sezessionskrieges) / Sinnwandel der Anerkennung einer fremden Regierung

7.Der Krieg der modernen Vernichtungsmittel

Das Raumbild des nach Land und Meer getrennten Kriegsschauplatzes / Wandel des Raumbildes der Kriegsschauplätze / Raumwandel des Luftkrieges / Das Problem des gerechten Krieges

Namenverzeichnis

Sachregister

[10]

[11]

I.

Fünf einleitende Corollarien

[13]

1. Das Recht als Einheit von Ordnung und Ortung

Die Erde wird in mythischer Sprache die Mutter des Rechts genannt. Das deutet auf eine dreifache Wurzel von Recht und Gerechtigkeit.

Erstens birgt die fruchtbare Erde in sich selbst, im Schöße ihrer Fruchtbarkeit, ein inneres Maß. Denn die Mühe und Arbeit, Saat und Bestellung, die der Mensch an die fruchtbare Erde verwendet, wird von der Erde durch Wachstum und Ernte gerecht belohnt. Jeder Bauer kennt das innere Maß dieser Gerechtigkeit.

Zweitens zeigt der vom Menschen gerodete und bearbeitete Boden feste Linien, in denen bestimmte Einteilungen sinnfällig werden. Sie sind durch die Abgrenzungen der Äcker, Wiesen und Wälder eingefurcht und eingegraben. In der Verschiedenheit der Fluren und Felder, des Fruchtwechsels und der Brachen werden sie sogar eingepflanzt und eingesät. In diesen Linien werden die Maße und Regeln der Bewirtschaftung erkennbar, nach denen die Arbeit des Menschen an der Erde vor sich geht.

Drittens endlich trägt die Erde auf ihrem sicheren Grunde Umzäunungen und Einhegungen, Grenzsteine, Mauern, Häuser und andere Bauwerke. Hier werden die Ordnungen und Ortungen menschlichen Zusammenlebens offenkundig. Familie, Sippe, Stamm und Stand, die Arten des Eigentums und der Nachbarschaft, aber auch die Formen der Macht und der Herrschaft werden hier öffentlich sichtbar.

So ist die Erde in dreifacher Weise mit dem Recht verbunden. Sie birgt es in sich, als Lohn der Arbeit; sie zeigt es an sich, als feste Grenze; und sie trägt es auf sich, als öffentliches Mal der Ordnung. Das Recht ist erdhaft und auf die Erde bezogen. Das meint der Dichter, wenn er von der allgerechten Erde spricht und sagt: justissima tellus.

Das Meer kennt keine solche sinnfällige Einheit von Raum und Recht, von Ordnung und Ortung. Zwar werden auch die Reichtümer des Meeres, Fische, Perlen und andere Dinge, von Menschen in harter Arbeit gewonnen, aber nicht, wie die Früchte des Erdbodens, nach einem inneren Maß von Saat und Ernte. In das Meer lassen sich auch keine Felder einsäen und keine festen Linien eingraben. Die Schiffe, die das Meer durchfahren, hinterlassen keine Spur. „Auf den Wellen ist alles Welle". Das Meer hat keinen Charakter in der ursprüngliehen [14] Bedeutung des Wortes Charakter, das von dem griechischen Wort charassein, eingraben, einritzen, einprägen kommt. Das Meer ist frei. Das bedeutet nach dem neueren Völkerrecht, daß das Meer kein Staatsgebiet ist und daß es für drei sehr verschiedenartige Bereiche menschlicher Aktivität, nämlich für die Fischerei, für die friedliche Schiffahrt und für die Kriegsführung, allen in gleicher Weise offenstehen soll. So steht es wenigstens in den Lehrbüchern des Völkerrechts gedruckt zu lesen. Man kann sich leicht ausmalen, was aus diesem gleichen Recht auf freie Benutzung des Meeres praktisch wird, wenn eine räumliche Kollision entsteht, wenn z. B. das Recht auf freie Fischerei oder das Recht eines Neutralen auf friedliche Schiffahrt mit dem Recht einer starken Seemacht auf freie Kriegführung zusammenstößt. Dann soll ein und dieselbe Fläche des für alle drei Dinge gleich freien Meeres zu ein und derselben Zeit der Schauplatz und das Betätigungsfeld sowohl friedlicher Arbeit wie auch kriegerischer Aktion eines modernen Seekrieges werden. Dann darf der friedliche Fischer ebendort friedlich fischen, wo die kriegführende Seemacht ihre Minen legen darf, und der Neutrale darf dort frei fahren, wo die Kriegführenden sich mit Minen, Unterseebooten und Flugzeugen gegenseitig vernichten dürfen.

Das betrifft jedoch bereits Fragen eines komplizierten modernen Zustandes. Ursprünglich, vor der Gründung großer Seereiche, besagt der Satz von der Freiheit des Meeres etwas sehr Einfaches. Er besagt nämlich nichts anderes, als daß das Meer ein freies Feld freier Beute ist. Hier konnte der Seeräuber, der Pirat, sein böses Handwerk mit gutem Gewissen treiben. Hatte er Glück, so fand er in einer reichen Beute den Lohn für das gefährliche Wagnis, auf das freie Meer hinausgefahren zu sein. Das Wort Pirat kommt vom griechischen peiran, das heißt von Erproben, Versuchen, Wagen. Keiner der Helden Homers hätte sich geschämt, der Sohn eines solchen wagemutigen, sein Glück erprobenden Piraten zu sein. Denn auf dem offenen Meer gab es keine Hegungen und keine Grenzen, keine geweihten Stätten, keine sakrale Ortung, kein Recht und kein Eigentum. Viele Völker hielten sich auf den Bergen, weit von der Küste entfernt und hatten die alte, fromme Scheu vor dem Meere niemals verloren. Virgil prophezeit in der 4. Ekloge, daß es im kommenden glücklichen Zeitalter keine Seefahrt mehr geben wird. Ja, in einem heiligen Buch unseres christlichen Glaubens, in der Apokalypse des hl. Johannes, lesen wir über die neue, von Sünden gereinigte Erde, daß es ein Meer auf ihr nicht mehr geben wird: „' ϑάλασσα oŕx ἔστιr ἔτι. Auch viele Juristen terraner Völker kennen diese Scheu vor dem Meere. Bei manchen spanischen und selbst portugiesischen Autoren des 16. Jahrhunderts ist das noch zu erkennen. Ein berühmter [15] italienischer Jurist und Humanist dieser Zeit, Alciatus, sagt, daß die Piraterie ein Verbrechen mit mildernden Umständen ist. „Pirata minus delinquit, quia in mari delinquit". Auf dem Meere gilt kein Gesetz.

Erst als große See-Reiche, maritime Imperien oder, nach einem griechischen Ausdruck, Thalassokratien entstanden, wurde auch auf dem Meere Sicherheit und Ordnung hergestellt. Die Störer der so geschaffenen Ordnung sanken jetzt zu gemeinen Verbrechern herab. Der Pirat wurde zum Feinde des Menschengeschlechts, zum hostis generis humani erklärt. Das besagt, daß er von den Machthabem der See-Reiche geächtet und ausgestoßen, recht- und friedlos gelegt wurde. Solche Ausdehnungen des Rechts in den Raum des freien Meeres hinein sind weltgeschichtliche Ereignisse von umwälzender Bedeutung. Wir wollen sie als Seenahmen bezeichnen. Die Assyrer, die Kreter, die Griechen, die Karthager und die Römer haben auf diese Weise im Mittelmeer, die Hanseaten in der Ostsee, die Engländer auf den Weltmeeren „die See genommen". The Sea must be kept, die See muß genommen werden, heißt es bei einem englischen Autor1). Seenahmen werden aber erst in einem späten Stadium menschlicher Machtmittel und menschlichen Raumbewußtseins möglich.

Die großen Ur-Akte des Rechts dagegen bleiben erdgebundene Ortungen. Das sind: Landnahmen, Städtegründungen und Gründungen von Kolonien. In einer mittelalterlichen Definition der Etymologia des Isidor von Sevilla, die in den ersten Teil des berühmten Decretum Gratiani (um 1150) aufgenommen worden ist, wird das Wesen des Völkerrechts sehr konkret angegeben: Jus gentium est sedium occupatio, aedificatio, munitio, bella, captivitates, Servitutes, postliminia, foedera pacis, induciae, legatorum non violandorum religio, connubia inter alienigenas prohibita. Das heißt wörtlich: Völkerrecht ist Landnahme, Städtebau und Befestigung, Kriege, Gefangenschaft, Unfreiheit, Rückkehr aus der Gefangenschaft, Bündnisse und Friedensschlüsse, Waffenstillstand, Unverletzlichkeit der Gesandten und Eheverbote mit Fremdgeborenen. Die Landnahme steht an erster Stelle. Vom Meer ist hier nicht die Rede. Im Corpus Juris Justiniani (z. B. Dig. de verborum significatione 118) finden sich ähnliche Definitionen, in denen von Krieg, Verschiedenheit der Völker, Reichen und Abgrenzungen, vor allem von Handel und Verkehr (commercium) als dem Wesen des Völkerrechts die Rede ist. Es wäre der Mühe wert, die einzelnen Bestandteile solcher Definitionen zu vergleichen und geschichtlich zu betrachten. Das wäre jedenfalls sinnvoller als die abstrakten und auf sog. Normen abgestellten Begriffsbestimmungen moderner Lehrbücher. Jene mittelalterliche Inhalts- angabe [16] und Aufzählung aber ist bis auf den heutigen Tag aufschlußreich* als die konkreteste Bestimmung dessen, was man Völkerrecht nennt. Mit Landnahmen und Städtegründungen ist nämlich stets eine erste Messung und Verteilung des nutzbaren Bodens verbunden. So entsteht ein erstes Maß, das alle weiteren Maße in sich enthält. Es bleibt erkennbar, solange die Verfassung erkennbar dieselbe bleibt. Alle folgenden Rechtsbeziehungen zum Boden des von dem landnehmenden Stamm oder Volk eingeteilten Landes, alle Einrichtungen der durch eine Mauer geschützten Stadt oder einer neuen Kolonie sind von diesem Ur-Maß her bestimmt, und jedes ontonome, seinsgerechte Urteil geht vom Boden aus. Bleiben wir deshalb zunächst bei einer Betrachtung der Landnahmeals eines rechtsbegründenden Ur-Aktes.

Eine Landnahme begründet Recht nach doppelter Richtung, nach Innen und nach Außen. Nach Innen, das heißt innerhalb der landnehmenden Gruppe, wird mit der ersten Teilung und Einteilung des Bodens die erste Ordnung aller Besitz- und Eigentumsverhältnisse geschaffen. Ob durch diese erste Landteilung nur öffentliches oder nur privates, ob Kollektiv- oder Individualeigentum oder beides entsteht, ob katastermäßige Vermessungen vorgenommen und Grundbücher angelegt werden oder nicht, clas alles ist eine spätere Frage und betrifft Unterscheidungen, die den Akt der gemeinsamen Landnahme schon voraussetzen und erst aus ihm abgeleitet werden. In der geschichtlichen Wirklichkeit kommen alle denkbaren Möglichkeiten und Verbindungen von Rechts- und Besitztiteln vor. Aber auch dann, wenn schon die erste Landteilung ein rein individualistisches Privat-Eigentum oder ein verbandsmäßiges Sippen-Eigentum begründet, bleibt dieses Eigentum von der gemeinsamen Landnahme abhängig und leitet es sich rechtlich aus dem gemeinschaftlichen Ur-Akt ab. Insofern schafft jede Landnahme nach Innen stets eine Art Obereigentum der Gemeinschaft im Ganzen, auch wenn die spätere Verteilung nicht beim reinen Gemeinschaftseigentum bleibt und völlig „freies" Privateigentum des einzelnen Menschen anerkennt.

Nach Außen steht die landnehmende Gruppe andern landnehmenden oder landbesitzenden Gruppen und Mächten gegenüber. Hier stellt die Landnahme auf zwei verschiedene Weisen einen Völkerrechtlidien Titel dar. Entweder wird ein Stück Boden aus einem Raum herausgenommen, der bis dahin als frei galt, d. h. für das Außenrecht der landnehmenden Gruppe keinen anerkannten Herrn und Gebieter hatte; oder es wird ein Stück Boden dem bisherigen, anerkannten Besitzer und Gebieter weggenommen und an den neuen Besitzer und Gebieter gebracht. Es ist nicht schwer zu begreifen, daß der Erwerb bisher freien, herrenlosen Bodens ein anderes, einfacheres rechtliches Problem bedeutet, als der Erwerb eines in anerkanntem Besitz stehenden Gebietes.

[17]

In jedem Falle ist die Landnahme nach Innen und Außen der erste Rechtstitel, der allem folgenden Recht zugrunde liegt. Landrecht und Landfolge, Landwehr und Landsturm setzen Landnahme voraus. Die Landnahme geht auch der Unterscheidung von privatem und öffentlichem Recht vorher. Sie schafft überhaupt erst die Bedingungen dieser Unterscheidung. Insofern hat die Landnahme einen, wenn man es so nennen will, in rechtlicher Hinsicht kategorialen Charakter. Kant hat das in seiner Rechtsphilosophie mit großer Klarheit dargelegt. Er spricht (Rechtslehre II . Teil, Allg. Anm. B zu § 49) von der Landesherrschaff oder, was er für den besseren Ausdruck hält, vom Obereigentumam Boden, und betrachtet dieses Obereigentum als die „oberste Bedingung der Möglichkeit des Eigentums und allen weiteren, öffentlichen wie privaten Rechts". Freilich konstruiert er es ganz ungeschichtlich als eine bloß logisdie „Idee des bürgerlichen Vereins". Auch scheinen mir seine beiden Ausdrücke Obereigentum und Landesherrschaft für unsere Erörterung nicht ganz zweckmäßig zu sein, weil sie zu sehr von der (erst später eintretenden) Trennung öffentlichen und privaten Rechts beherrscht sind. Heute werden die meisten Juristen das „Obereigentum" zunächst nur als Eigentum (dominium) in einem nur privatrechtlichen, die „Landesherrsehaft' dagegen nur als öffentliche Macht und Herrschaft (imperium) in einem nur öffentlichrechtlichen Sinne verstehen. Es kommt hier aber auf ein Doppeltes an: Wir müssen erstens die Landnahme als eine rechtsgeschichtliche Talsache, als großes historisches Ereignis und nicht als eine bloß gedankliche Konstruktion erkennen, mag es auch bei solchen Landnahmen in der geschichtlichen Wirklichkeit bisher etwas tumultuarisch zugehen und manches Mal in überflutenden Völkerwanderungen und Eroberungszügen, ein anderes Mal in erfolgreich defensiven Behauptungen eines Landes gegenüber Fremden das Recht an dem Land entstehen. Und wir müssen zweitens im Auge behalten, daß dieser nach Innen und Außen grundlegende Voigang einer Landnahme auch der Unterscheidung von öffentlichem und privatem Recht, von Herrschaft und Privateigentum, von Imperium und Dominium vorausgeht. So ist die Landnahme für uns nach Außen (gegenüber andern Völkern) und nach Innen (für die Boden- und Eigentumsordnung innerhalb eines Landes) der Ur-Typus eines konstituierenden Rechtsvorganges. Sie schafft den radikalsten Rechtstitel, den es gibt, den radical title im vollen und umfassenden Sinne des Wortes.

Dieser bodenhafte Urgrund, in dem alles Recht wurzelt und Raum und Recht, Ordnung und Ortung zusammentreffen, ist von großen Rechtsphilosophen wohl bemerkt worden. Das erste Recht, sagt G. Vico, erhielten die Menschen durch die Heroen in der Form der ersten Agrargesetze. Für Vico ist die Teilung und Abgrenzung des Bodens — la Divisione dei Campi — neben Religion, Ehe und 2 Carl Schmitt. Nomos [18] Asyl eines der vier Ur-Elemente allen menschlichen Rechts und aller mensdilichen Geschichte. Um aber nicht den Eindruck zu erwecken, als handle es sich hier nur um mythologisdie Rechtsaltertümer, zitiere ich zwei neuere, moderne Rechtsphilosophen des 17. und 18. Jahrhunderts, John Locke und Immanuel Kant. Nach Locke ist das Wesen politischer Macht in erster Linie Jurisdiktion über das Land. Unter Jurisdiktion (Gerichtsbarkeit) versteht er nach mittelalterlichem Spradigebrauch die Hoheit und Herrschaftsgewalt überhaupt. Die Besitzergreifung eines Landes ist für ihn Unterwerfung unter denjenigen, dessen Jurisdiktion der Boden untersteht. Die Herrschaft ist in erster Linie Herrsdiaft nur über das Land und erst in der Folge davon Herrschaft über die Menschen, die im Lande wohnen2. Hier sind die Nachwirkungen der Landnahme Englands durch die Normannen unter Wilhelm dem Eroberer (1066) auch in der rein theoretischen, rechtsphilosophischen Formulierung noch erkennbar. Der Engländer Locke, der oft als moderner Rationalist bezeichnet wird, steht in Wirklichkeit noch tief in der Tradition des mittelalterlichen, feudalen Bodenrechts, das aus dem rechtsbegründenden Vorgang jener Landnahme des Jahres 1066 weitergeführt wurde3. Aber auch die Rechtslehre Kants geht, wie das schon seine eben erwähnte Lehre vom Obereigentum am Boden zeigt, in philosophischer Grundsätzlichkeit davon aus, daß alles Eigentum und jede rechtliche Ordnung vom Boden her bedingt ist und aus einer ursprünglichen Erwerbung des Bodens der ganzen Erde stammt. Kant sagt wörtlich: „Die erste Erwerbung einer Sache kann keine andere als die des Bodens sein"4. Dieses, wie er es nennt, „austeilende Gesetz des Mein und Dein eines jeden am Boden" ist natürlich kein positives Gesetz im Sinne späterer staatlicher Kodifikationen oder des Legalitätssystems einer späteren staatlichen Verfassung; es ist und bleibt der wirklidie Kern eines ganz konkreten, geschiehiiichen und politischen Ereignisses, nämlich der Landnahme.

[19]

Am Anfang der Geschichte jedes seßhaft gewordenen Volkes, jedes Gemeinwesens und jedes Reiches steht also in irgendeiner Form der konstitutive Vorgang einer Landnahme. Das gilt auch für jeden Anfang einer geschichtlichen Epoche. Die Landnahme geht der ihr folgenden Ordnung nicht nur logisch, sondern auch geschichtlich voraus. Sie enthält die raumhafte Anfangsordnung, den Ursprung aller weiteren konkreten Ordnung und allen weiteren Rechts. Sie ist das Wurzelschlagen im Sinnreich der Geschichte. Aus diesem radical title leiten sich alle weiteren Besitz- und Eigentumsverhältnisse ab: Gemeinschafts - oder Individualeigentum, öffentlich- oder privatreditliche, sozial- und völkerrechtliche Besitz- und Nutzungsformen. Aus diesem Ursprung nährt sich — um das Wort Heraklits zu gebrauchen — alles folgende Recht und alles, was dann später noch an Setzungen und Befehlen ergeht und erlassen wird.

Auch die bisherige Geschichte des Völkerrechts ist eine Geschichte von Landnahmen. Zu ihnen kommen in bestimmten Zeiten die Seenahnien hinzu. Dann beruht der Nomos der Erde auf einem bestimmten Verhältnis von festem Land und freiem Meer. Heute werden beide, festes Land und freies Meer, durch ein neues Raum-Ereignis, die Möglichkeit einer Herrschaft im Luftraum, sowohl jedes in sich, wie auch beide in ihrem gegenseitigen Verhältnis, aufs stärkste verändert. Es ändern sich nicht nur die Dimensionen der Gebietshoheit, nicht nur die Wirkungskraft und die Geschwindigkeit der menschlichen Macht-, Verkehrs- und Nachrichtenmittel, sondern auch die Inhalte der Effektivität. Diese hat immer eine räumliche Seite und bleibt sowohl für Landnahmen und Besetzungen wie auch für Sperren und Blockaden immer ein völkerrechtlich wichtiger Begriff. Darüber hinaus ändert sich infolgedessen auch die Relation von Schutz und Gehorsam und damit die Struktur der politischen und sozialen Macht selbst und ihre Beziehung zu andern Mächten. So beginnt ein neues Stadium menschlidien Raumbewußtseins und globaler Ordnung.

Alle vorglobalen Ordnungen waren wesentlich terran, auch wenn sie Seeherrschaften und Thalassokratien in sich enthielten. Die ursprünglich terrane Welt wurde im Zeitalter der Entdeckungen verändert, als die Erde zum erstenmal von dem globalen Bewußtsein europäischer Völker erfaßt und gemessen wurde. Damit entstand der erste Nomos der Erde. Er beruhte auf einem bestimmten Verhältnis der Raumordnung des festen Landes zu der Raumordnung des freien Meeres und trug für 400 Jahre ein europa-zentrisches Völkerrecht, das jus publicum Europaeum. Damals, im 16. Jahrhundert, war es England, das den Schritt von einer terranen zu einer maritimen Existenz wagte. Ein weiterer Schritt folgte mit der industriellen Revolution, in deren Verlauf die Erde von neuem erfaßt und von neuem gemessen wurde. Es ist wesentlich, daß die industrielle Revolution von dem Lande ausging, das den Schritt zur maritimen Existenz [20] vollzogen hatte. Hier liegt der Funkt, an dem wir uns dem Geheimnis des neuen Nomos der Erde nähern können. Bisher ist nur ein einziger Autor dem Arcanum nahe gekommen, Hegel, dessen Wort wir zum Abschluß dieses Corollariums zitieren: „Wie für das Prinzip des Familienlebens die Erde, fester Grund und Boden Bedingung ist, so ist für die Industrie das nach außen sie belebende natürlidie Element das Meer."

Dieses Zitat ist für weitere Prognosen voller Bedeutung. Zunächst aber müssen wir uns eines elementaren Unterschiedes bewußt werden. Es ist nicht dasselbe, ob das Gerüst einer industrialisierten und technisierten Welt, das der Mensdi mit Hilfe der Technik auf der Erde errichtet, eine terrane oder eine maritime Existenz zur Basis nimmt. Heute scheint es allerdings bereits denkbar, daß die Luft das Meer und vielleicht sogar auch noch die Erde frißt und daß die Menschen ihren Planelen in eine Kombination von Rohstofflager und Flugzeugträger verwandeln. Dann werden neue Freundschaftslinien gezogen, jenseits deren dann die Atom- und Wasserstoffbomben fallen. Trotzdem hegen wir noch die Hoffnung, daß es gelingt, das Sinnreich der Erde zu finden, und daß es die Friedfertigen sein werden, die das Erdreich besitzen.

1 Fulton, The Sovereignty of the Sea. London 1911.

2 Locke, civil government I I § 12: Government has a direct jurisdiction only over the Land.

3 Den Nachweis, daß die angeblich so „rationalistische" Philosophie Lockes in typisch englisdiem l'ragmatismui durch die feudale Tradition bestimmt ist, hat die Berliner reditswissenschaftliche Dissertation von Emil Roos, Naturzustand und Vertrag in der Staatsphilosophie Lockes, Berlin 1943, in anschaulicher Weise erbracht. Die gründlidie, ein größeres gesdiiditliches Material verarbeitende und aus diesem Grunde sehr verdienstliche Arbeit von Walter Hamel, Das Wesen des Staatsgebietes, Berlin 1933, ist in mandien Bet;riiien zu sehr zerdadit; sie leidet daran, daß sie statt von „raumhaften" nur von „dinglichen" und „sachlichen" Begriffen spricht. An der Geschichte des Territorialitätsprinzips im Internationalen Privat- und im Strafrccht geht sie vorüber; auf die Gebietstheorie Lockes geht sie nicht ein.

4 Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre, in: Die Metaphysik der Sitten, I . Teil , §12 und §16: „Exposition des Begriffs einer ursprünglichen Erwerbung des Bodens".

2. Vor-globales Völkerrecht

Jahrtausendelang hatte die Menschheit wohl ein mythisches Bild, aber keine wissenschaftliche Erfahrung von der Erde im Ganzen. Es gab keine Vorstellung eines Planeten, der von menschlicher Messung und Ortung erfaßt und allen Menschen und Völkern gemeinsam war. Es fehlte jedes in diesem Sinne globale Bewußtsein und daher auch jedes auf das gemeinsame Gestirn gerichtete politisdie Ziel. Ebensowenig konnte es ein erd- und menschheitsumfassendes jusgentium geben. Wenn mit Bezug auf diese Zeit von einem jus gentium gesprochen wird, so handelt es sich sdion aus Gründen der verschiedenen Raumstruktur nicht um das, was später, nach dem Auftauchen planetarischer und globaler Vorstellungen, Redit der Völker, jus gentium, Völkerrecht oder internationales Recht hieß. Philosophische Verallgemeinerungen der hellenistischen Zeit, die aus der Polis eine Kosmopolis machen, können wir hier beiseite lassen; sie waren ohne Topos, d. h. ohne Ortung und deshalb keine konkrete Ordnung1.

[21]

Natürlich hat die Erde, wenn wir sie nachträglich unter unserem heutigen Horizont sehen, immer irgendeine, wenn auch den Menschen unbewußte Einteilung gehabt. Aber das war keine Raumordnung der Erde im Ganzen, kein Nomos der Erde im eigentlichen Sinne der Worte Nomos und Erde. Mannigfache große Machtkomplexe — ägyptische, asiatische und hellenistische Reiche, das römische Imperium, vielleicht auch Negerreiche in Afrika und Inkareiche in Amerika — waren untereinander keineswegs völlig beziehungslos und isoliert; aber ihren Zwischenbeziehungen fehlte der globale Charakter. Jedes dieser Reiche betrachtete sich selbst als die Welt, wenigstens die von Menschen bewohnte Erde, oder als die Mitte der Welt, als den Kosmos, das Haus, und hielt den außerhalb dieser Welt vorhandenen Teil der Erde, soweit er nicht bedrohlich schien, für etwas Uninteressantes oder eine seltsame Kuriosität, soweit er bedrohlich war, für ein bösartiges Chaos, jedenfalls aber für einen ihnen offenen, „freien" und herrenlosen Raum für Eroberungen, Gebietserwerb und Kolonisierung. Nun verhält es sich freilich durchaus nicht so, wie es von den Lehrbüchern des 19. Jahrhunderts, und mit Bezug auf die Römer selbst von dem berühmten Historiker der römisdien Geschichte, von Theodor Mommsen, behauptet wird, daß die antiken Völker in einer „natürlichen" Feindschaft miteinander gelebt hätten, daß jeder Fremde ein Feind und jeder Krieg ein Vernichtungskrieg, alles nicht veibündete Ausland feindliches Ausland gewesen sei, solange kein ausdrücklicher Freundschaftsvertrag geschlossen war, weil es eben Völkerrecht im modernen, humanen und zivilisierten Sinne damals noch nicht gegeben habe. Solche Behauptungen erklären sich aus dem Selbstgefühl des 19. Jahrhunderts und seinen zivilisatorischen Illusionen. Diese haben inzwischen durch die Weltkriege des 20. Jahrhunderts ihre Verifikation erfahren.

Gegenüber jenen unrichtigen Behauptungen hat sich die geschichtlich richtige Erkenntnis durchgesetzt, daß gerade das römische Recht und seine völkerrechtlidie Praxis eine Mannigfaltigkeit von Kriegen, Bünden und Bünd [22] nissen (foedus aequum und foedus iniquum) und Ausland kannte2. Vor allem war das römische Recht imstande, den Feind, den hostis, vom Räuber und vom Verbrecher zu unterscheiden. Höstes hi sunt, qui nobis aut quibus nos publice bellum decrevimus: ceteri latrones aut praedones sunt. So heißt es in dem vielzitierten Satz des Pomponius in den Digesten De verborum significatione lift. Die Fähigkeit, einen justus hostis anzuerkennen, ist aber der Anfang allen Völkerrechts. Es gibt also durchaus ein Völkerrecht des vorglobalen Weltbildes. Aber seine Vorstellungen von der Welt und den Völkern verblieben im Mythischen und haben der geographischen Aufklärung und den wissenschaftlichen Messungen des nach dem 16. Jahrhundert einsetzenden globalen Weltbildes nicht standgehalten. Die Erde oder die Welt erschien als ein Kreis, ein orbis, wobei zu beachten ist, daß mit dem mehrdeutigen Wort Orbis sowohl eine Scheibe, also eine Kreisfläche, wie auch die Kugel gemeint sein konnte3. Ihre Grenze wurde durch mythische Vorstellungen wie den Ozean, die Midgard- Schlange oder die Säulen des Herkules bestimmt. Ihre politische Sicherung lag in exkludierenden Verteidigungsanlagen wie Grenzwällen, einer großenMauer, einem Limes oder (nach islamischem Recht) in der Vorstellung des Hauses des Friedens4, außerhalb dessen Krieg ist. Solche Grenzen hatten den Sinn, eine befriedete Ordnung von einer friedlosen Unordnung, einen Kosmos von einem Chaos, ein Haus von einem Nicht-Haus, eine Hegung von einer Wildnis zu trennen. Sie enthielten daher eine völkerrechtliche Scheidung, während z. B. im 18. und 19. Jahrhundert die Grenze von zwei Flächenstaaten des neuzeitlichen europäischen Völkerrechts nicht einen Ausschluß, sondern eine gegenseitige völkerrechtliche Anerkennung enthält, vor allem die Anerkennung, daß der Boden des Nachbarn jenseits der Grenze nicht herrenlos ist.

Zwischen den Reichen gab es zu allen Zeiten Beziehungen von Reich zu Reich, mancherlei Verhandlungen und Verhältnisse freundschaftlicher und feindschaftlicher Art, Gesandtschaften, Handelsverträge, Geleit, Bündnisse, Kriege, Waffenstillstand und Friedensschlüsse, Familienbeziehungen, Asylrecht, Auslieferungen, Geiseln. Es gab commercium und oft sogar connubium, wenigstens der herrschenden Familien und Schichten. Der erste Friedens-, Freundschafts- und Bündnisvertrag, der uns in den schriftlichen Ausfertigungen beider Vertragschließenden überliefert ist, stammt aus dem Jahre 1279 vor unserer Zeitrech- nung; [23] es ist der vielgenannte Vertrag des ägyptischen Königs Ramses I I . mit dem König der Hethiter Chattusil. Der Vertrag enthält Bestimmungen über gegenseitige Hilfe gegen äußere und innere Feinde, über Auslieferung von Flüchtlingen und Emigranten und über Amnestien. Er ist als Muster eines völkerrechtlichen Vertrages berühmt geworden und stellt zugleich ein Beispiel der Begründung einer „Doppel-Hegemonie" zweier Reiche dar. Bis vor einiger Zeit war in Europa die Auffassung üblich, daß ein ausgebildeter diplomatischer Verkehr und die Kunst einer wohldurchdachten, mehrere Mächte ausbalancierenden Außenpolitik erst in Italien während des 15. und 16. Jahihunderts unserer Zeitrechnung entstanden sei, als ein höchst modernes Produkt der Renaissance. Heute wird diese Meinung von Kennern der ägyptischen Geschichte als eine „Illusion" bezeichnet, und jene Verhandlungen, Bündnisse, Handelsverträge, politischen Heiraten, Schriftverkehr und Archivwesen der Pharaonen, der Könige von Babylon und Assyrien, von Mitanni und Klatti aus dem 14. und 15. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung erscheinen manchem Historiker jetzt als Prototyp völkerrechtlicher Beziehungen5. Auch die politischen und wirtschaftlichen Beziehungen der griechischen, hellenistischen, jüdischen, indischen, arabischen, mongolischen, byzantinisdien und anderer Machtgebilde sind oft zum Gegenstand interessanter Darlegungen gemacht worden. Trotzdem war das alles nur in einem unvollständigen und unbestimmten Sinne Völkerrecht, jus gentium oder internationales Recht. Nicht nur blieb damals alles, insbesondere der Krieg, organisatorisch auf der Stufe der damaligen tedinischen, wirtschaftlichen und Verkehrs-Verhältnisse; alles blieb vor allem auch — das ist das Entscheidende — im Rahmen und Horizont eines nicht-erdnmfassenden, nicht-globalen Raumbildes und einer noch nicht wissenschaftlich gemessenen Erde.

Was im Orient und im Occident, in den Hochkulturgebieten des Altertums und des Mittelalters an großen politischen Machtkomplexen entstand, war entweder eine rein kontinentale oder eine Fluß- (potamische) oder höchstens eine Binnenmeer- (thalassische) Kultur. Der Nomos ihrer Raumordnung war infolgedessen auch nicht durch den Gegensatz von Land und Meer als zweier Ordnungen, wie im bisherigen europäischen Völkerrecht, und noch weniger durch die Überwindung dieses Gegensatzes bestimmt. Das gilt sowohl von den [24] ostasiatischen und indischen Reichen wie von denen des Orients bis zu ihrer Neuprägung im Islam; es gilt vom Reich Alexanders des Großen, vom römischen und vom byzantinisdien Imperium, von dem Fränkischen Reich Karls des Großen und dem Römischen Reich der deutschen Könige des Mittelalters und von allen ihren gegenseitigen Beziehungen6. Was insbesondere das Feudalrecht des europäisdien Mittelalters angeht, so war es Bodenrecht im Sinne einer nur terranen Ordnung, die das Meer nicht kannte. Die päpstlichen Verleihungen neuer Missionsgebiete verleilten die Räume von Land und Meer unterschiedslos gleich. Die Päpste erhoben Ansprüche auf alle Inseln (Sizilien, Sardinien, Korsika, England). Aber sie beriefen sidi dafür auf die angebliche Sdienkung Konstantins und nicht auf eine Teilung der Erde nach Land und Meer. Der Gegensatz von Land und Meer als ein Gegensatz versdiiedener Raumordnungen ist eine Erscheinung der Neuzeit. Er beherrscht die Struktur des europäischen Völkerrechts erst seit dem 17. und 18. Jahrhundert, also erst nachdem sich die Ozeane geöffnet hatten und das erste globale Erdbild entstanden war.

Das gemeinsame Recht, das aus einer soldien vorglobalen Einteilung der Erde entstand, konnte kein umfassendes und zusammenhängendes System sein, weil es keine umfassende Raumordnung sein konnte. Es gab zunächst primitive Beziehungen zwisdien Klans, Sippen, Stämmen, Städten, Gefolgschaften, Bünden und Gegenbünden aller Art. Sie bewegten sidi entweder auf der Stufe v o r einer Reichsbildung, oder sie hatten (wie auf italischem Boden bis zur Bildung des Imperium Romanuni, auf germanisdi-römischem Boden bis zur Bildung des Fränkischen Reiches) den Kampf um eine Reichsbildung zum Inhalt Sobald Reiche erscheinen, entstehen Beziehungen dreifacher Art: zwischen - reidiische von Reich zu Reich, zwischen-völkische innerhalb eines Reiches und [25] Beziehungen zwischen einem Reich und bloßen Stämmen und Völkern, wie zwischen dem Römischen Reich und den wandernden Stämmen, mit denen Bündnisse geschlossen wurden und denen Reichsboden überlassen wurde.

Das zwischenreichische Völkerrecht der vorglobalen Zeit enthält manche wichtige Rechtsbildungen für Krieg und Frieden. Aber es konnte trotz solcher Ansätze den Mangel einer erdumfassenden Vorstellung nicht überwinden. Es mußte rudimentär bleiben, auch wenn es im Gesandtschaftsrecht, in Bündnissen und Friedensschlüssen, im Fremden- und Asylrecht feste Formen und anerkannte Gewohnheiten entwickelte. Denn ein zwisdien-reichisches Völkerrecht konnte sich nicht leicht zu einer festen Hegung des Krieges, d. h. zu einer Anerkennung des andern Reiches als eines justus hostis erheben. Infolgedessen wurden die Kriege zwischen soldien Reichen als Vernichtungskriege geführt, bis sich ein anderes Maß entwickelte. Das zwischen-völkische Recht innerhalb eines Reiches aber war durch die gemeinsame Zugehörigkeit zu dem orhis desselben Reiches bestimmt. Audi der Boden selbständiger autonomer Bundesgenossen (foederati) gehört zum orbis. Umgekehrt konnten selbst völlig versklavte, d. h. ihres Bodens gänzlich beraubte Völker nodi etwas wie ein völkerrechtliches Dasein haben Das zeigt (vom Negativen her umso deutlicher) die in Sparta üblidie jährlidie Kriegserklärung der Ephoren an die Heloten, d. h. an diejenigen Besiegten und Unterworfenen, die ihre Feldmark verloren hatten. Dem Gedanken einer Koexistenz echter Reiche, d. h. selbständiger Großräume in einem gemeinsamen Räume fehlte jede ordnende Kraft, weil es an dem Gedanken einer gemeinsamen, erdumfassenden Raumordnung fehlte.

1 In dem Kapitel über die Freiheit der Meere unten S. 143 f. werden wir auf den Zusammenhang mit der modernen Utopie zurückkommen. Das griechische Wort Topos hat im Lauf der Zeit die Bedeutung von locus communis, Gemeinplatz, erhalten. Es dient heute dazu, allgemeine und abstrakte Banalitäten als solche zu kennzeidinen. Aber selbst solche Gemeinplätze werden konkret und überaus lebendig, wenn man ihren raumhaften Sinn bedenkt. Die Lehre von den Topoi ist von Aristoteles entwickelt worden, und zwar als Teil der Rhetorik. Diese wiederum ist, wie die vortreffliche These von Eug. Thionville, De la Théorie des Lieux communs, Paris 1855, zeigt, ein Pendant, eine Antistrophe der Dialektik. Sie ist die Dialektik des öffentlichen Platzes, der Agora, zum Unterschied von der Dialektik des Lyceums und der Akademie. Was ein Mensch dem andern sagen kann, ist diskutabel, plausibel oder überzeugend nur im rechten Rahmen und am rechten Ort. So gibt es auch heute noch unentbehrliche Topoi der Kanzel und des Katheders, des Richterstuhls und der Wahlversammlung, der Konferenzen und Kongresse, des Kinos und des Rundfunks. Jede soziologische Analyse dieser verschiedenen Orte müßte mit einer Darstellung ihrer verschiedenen Topoi beginnen.

2 Bei Alfred Heuß, Die völkerrechtlichen Grundlagen der römischen Außenpolitik in republikanischer Zeit, Klio, Beiheft XXXI (N. F. 18) 1933, ist die These von der natürlichen Feindschaft und der Notwendigkeit eines Freundschaftsvertrages widerlegt.

3 Joseph Vogt, Orbis Romanus, Tübingen 1929, S. 14 f.

4 Dar-el-Islam, im Gegensatz zum dar-el-harb, dem Haus oder Gebiet des Krieges. Darüber: Najib Armanasi, Les prineipes Islamiques et les rapports internationaux en temps de paix et de guerre, Paris 1929.

5 Der Vertrag von 1279 ist veröffentlidit (mit der Übersetzung von Gardiner und Langdon) im Journal of Egyptian Archaeology Bd. 6 S. 132 ff.; vgl. ferner Korosec, Hethitische Staatsverträge (Leipziger rechtswissenschaftliche Studien, Bd. 60) S. 64 f.; Roeder, Ägyoter und Hethiter, S. 36; A. Moret und G. Davy, Des Clans aux Empires, Paris 1929, S. 374 f. Vgl. auch Mettgenberg, Zeitschrift für Völkerrecht XXIII (1939) S. 23 ff. und XXVI (1944) S. 377.

6 „Der Lage nach waren die Hochkulturgebiete der östlichen und der westlichen Halbkugel im wesentlichen kontinental, höchstens thalassisch. In der Alten Welt verteilen sie sidi mit Ausnahme des Hohen Nordens und der immerfeuditen Tropen über alle Kliniagebiete des nordafrikanisdi-europäischen Erdteilblockes. Die beiden großen Südpfeiler der altweltlidien Erdfestc, Negerafrika und Australien mit der australasiatisdien Inselwelt, bergen keine eigenständigen Hodikulturen. Sie standen zum größten Teil auch außerhalb der Ausweitungsbereidie der alten, spontanen Großraumbildungen. Pflanzengeographisdi-klimatisch gesehen haben die Kerngebiete der meisten Hochkulturen aber dodi eines gemeinsam: sie reichen aus feuchten Gebieten, die flächenhaft ausgebreiteter Bewirtschaftung zugänglich sind, aus ursprünglichen Waldländern der gemäßigten Zone, der Subtropen und des tropischen und außertropischen Monsungebietes bis an den Rand der grolien Steppen- und Wüstengürtel. Die orientalische Kulturwelt jedoch ist im Westen des altweltlidien Trockenraumes zu Hause. Sie überschritt ihn nur in ihren kolonialen Ausweitungen. Die altamerikanischen Hochkulturen scheinen in ihren ältesten Kernen mit Ausnahme der Mayakultur gleichfalls an Trockenräume gebunden zu sein, aber im Gegensatz zum Orient gleidifalls auch an die Lage der kühleren Hodiländer" (Heinrich Schmitthenner).

3. Hinweise zum Völkerrecht des christlichen Mittelalters

Das Reich des christlich-europäischen Mittelalters bedarf hier einer besonderen, kurzen Würdigung. Es war eine vor-globale Raumordnung, aber es hat, wie wir noch sehen werden, den einzigen Rechtstitel für den Ubergang zu einer ersten globalen Ordnung des Völkerrechts geliefert. Das sog. moderne, d. hi das zwischenstaatliche europäisdie Völkerrecht der Zeit vom 16. zum 20. Jahrhundert ist aus der Auflösung der mittelalterlichen, von Kaisertum und Papsttum getragenen Raumordnung entstanden. Ohne eine Kenntnis der Weiterwirkungen dieser mittelalterlich-christlichen Raumordnung ist ein rechtsgeschiditliches Verständnis des aus ihr entstandenen zwischenstaatlichen Völkerrechts nicht möglich.

Das Völkerrecht des christlich-europäischen Mittelalters wird heute in völkerrechtswissenschaftlichen Erörterungen grundsätzlicher Art, besonders in der [26] Frage des gerechten Krieges, in einer eigentümlichen und widerspruchsvollen Weise herangezogen und verwertet. Das ist nicht nur bei denjenigen Gelehrten der Fall, die das System und die Methoden der thomistischen Philosophie weiterführen und bei denen die Bezugnahme auf scholastische Definitionen ohne weiteres naheliegt. Es gilt auch für zahlreiche Argumentationen und Konstruktionen, in denen z. B. Theoretiker des Genfer Völkerbundes und amerikanische Juristen und Politiker sich bemühen, mittelalterliche Lehren, vor allem vom gerechten Krieg, heranzuziehen und sie für die Zwecke ihres Weltbildes zu verwerten. Uber diese Verwendung der Lehren vom gerechten Krieg wird in unserer Untersuchung, insbesondere bei der Lehre Vitorias (S. 89 f.), noch zu sprechen sein. Jedenfalls erscheinen mittelalterliche Zustände und Einrichtungen heute in einer sonderbaren Mischung, bald als Schreckbilder der feudalen Anarchie, bald als Vorbilder der modernen Ordnung. Es wäre vielleicht nützlich, solche Widersprüche auf ihre tieferen Ursachen und Beweggründe zu untersuchen. Das soll hier nicht ausführlich geschehen. Die Sache kann aber auch nicht einfach unerwähnt bleiben. Angesichts der eigentümlichen Verwirrung, die in dieser ganzen Diskussion vorherrscht, ist es vor allem notwendig, die Anarchie des Mittelalters von dem Nihilismus des 20. Jahrhunderts in aller Deutlichkeit abzusetzen. Die mittelalterliche Ordnung Europas war, wie schon erwähnt, sicherlich sehr anarchisch, wenn man die Maßstäbe eines glatt funktionierenden neuzeitlichen Betriebes an sie anlegt, aber sie war trotz aller Kriege und Fehden nicht nihilistisch, solange sie ihre grundlegende Einheit von Ordnung und Ortung nicht verloren hatte.

a) Die Respublica Christiana als Raumordnung

Die mittelalterliche Ordnung ist aus den Landnahmen der Völkerwanderung entstanden. Viele dieser Landnahmen, z. B. die der Vandalen in Spanien und Nordafrika und die der Langobarden in Italien (568), gingen ohne Rücksicht auf die Rechtslage der römischen Welt einfach als Eroberungen mit Wegnahme des Grundeigentums der früheren Eigentümer vor sich. Sie sprengten also den Rahmen der bisherigen Ordnung des Imperiums. Andere germanische Landnahmen dagegen, wie die Odoakers, der Ostgoten und der Burgunder auf italischem und gallischem Boden, spielten sich innerhalb der Raumordnung des Römischen Imperiums ab, indem die wandernden Stämme sich vom römischen Kaiser römischen Reichsboden zuweisen ließen. Insoweit sind die meisten Landnahmen germanischer Stämme Beispiele für zwischen-völkische Gebietsveränderungen im Rahmen einer bestehenden Ordnung und eines inner-reichischen Völkerrechts. Sie vollzogen sich nicht als Annexionen, sondern in den Formen [27] eines anerkannten Rechtsinstituts, der militärischen Einquartierung, der sog. hospitalitas. Schon seit Arcadius und Honorius war es Grundsatz, daß der Eigentümer des Hauses ein Drittel dieses Hauses dem bei ihm einquartierten militärischen hospes überließ. In solchen Fällen war die Landnahme rechtlidi eine Einquartierung von Soldaten bei einem römischen Grundeigentümer, der sein Haus, Garten, Acker, Wald und anderen Boden nach bestimmten Quoten mit dem einquartierten, landnehmenden Germanen teilen mußte. So nahm Odoaker für seine Leute ein Drittel. Später rückten die Ostgoten in das Drittel Odoakers ein. Ein besonders bekanntes, ausführlich dargestelltes Beispiel dieser Art Landnahme ist die Entstehung des burgundischen Königreiches1). Daraus, daß das Land zwischen dem germanischen Landnehmer und dem römischen Grundbesitzer geteilt wurde, sind im Zusammenleben der Stämme und Völker neue Nationen und neue politische Einheiten entstanden. Mit ihnen entstand ein neues, europäisches Völkerrecht.

Die umfassende völkerrechtliche Einheit des europäischen Mittelalters wurde Respublica Christiana und Populus Christianus genannt. Sie hatte klare Ortungen und Ordnungen. Ihr Nomos ist durch folgende Einteilungen bestimmt: Der Boden nicht-christlicher, heidnischer Völker ist christliches Missionsgebiet; er kann einem christlichen Fürsten durch den päpstlichen Auftrag zur christlichen Mission zugewiesen werden. Die im byzantinischen Reich weitergeführte Kontinuität mit dem römischen Reich ist ein völkerrechtliches Problem für sich, betrifft aber praktisch nur den Balkan und den Osten. Der Boden islamischer Reiche galt als feindliches Gebiet, das durch Kreuzzüge erobert und annektiert werden konnte. Solche Kriege haben nicht nur eo ipso eine justa causa, sondern sind, wenn sie vom Papst erklärt werden, sogar heilige Kriege2. Der Boden der [28] europäischen christlichen Fürsten und Völker selbst ist nach dem Bodenrecht der Zeit unter fürstliche Häuser und Kronen, Kirchen, Klöster und Stifter, Landesherren, Burgen, Marken, Städte, Communitäten und Universitäten verschiedener Art verteilt. Wesentlich ist, daß innerhalb des christlichen Bereiches die Kriege zwischen christlichen Fürsten umhegte Kriege sind. Sie werden von den Kriegen gegen nichtchristliche Fürsten und Völker unterschieden. Die internen, umhegten Kriege heben die Einheit der Respublica Christiana nicht auf. Sie sind Fehden im Sinne von Rechtsbehauptungen, Rechtsverwirklichungen oder Betätigungen eines Widerstandsrechts und gehen im Rahmen ein und derselben, beide kämpfenden Teile umfassenden Gesamtordnung vor sich. Das bedeutet, daß sie diese Gesamtordnung nicht aufheben und nicht verneinen. Sie lassen deshalb eine moraltheologische und juristische Beurteilung der Frage, ob sie gerecht oder nicht gerecht sind, nicht nur zu, sondern machen sie geradezu notwendig. Nur darf man dabei nicht vergessen, daß solche moraltheologischen und juristisdien Beurteilungen ihre Kraft nur aus konkreten Institutionen, nicht aus sich selber schöpfen. Insbesondere ist Friede kein raumloser, normativistischer Allgemeinbegriff, sondern stets als Reichsfrieden, Landfrieden, Kirchenfricden, Stadtfrieden, Burgfrieden, Marktfrieden, Dingfrieden konkret geortet.

b) Das christliche Reich als Aufhalter (Kat-echon)

Die Einheit dieser Respublica Christiana hatte im Imperium und Sacerdotium ihre adäquaten Ordnungsreihen und in Kaiser und Papst ihre sichtbaren Träger. Die Anknüpfung an Rom bedeutete eine Weiterführung antiker, vom christlichen Glauben weitergeführter Ortungen3. Die Geschichte des Mittelalters ist infolgedessen [29] die Geschichte eines Kampfes um Rom, nicht die eines Kampfes gegen Rom. Die Heeresverfassung des Römerzuges ist die Verfassung des deutschen Königtums4. In der konkreten Ortung auf Rom, nicht in Normen und allgemeinen Ideen, liegt die Kontinuität, die das mittelalterliche Völkerrecht mit dem Riömischen Reich verbindet5. Diesem christlichen Reich ist es wesentlich, daß es kein ewiges Reich ist, sondern sein eigenes Ende und das Ende des gegenwärtigen Äon im Auge behält und trotzdem einer geschichtlichen Macht fähig ist. Der entscheidende geschichtsmächtige Begriff seiner Kontinuität ist der des Aufhalters, des Kat-echon. „Reich" bedeutet hier die geschichtliche Macht, die das Erscheinen des Antichrist und das Ende des gegenwärtigen Äon aufzuhalten vermag, eine Kraft, qui tenet , gemäß den Worten des Apostels Paulus im 2. Thessalonicherbrief, Kapitel 2. Dieser Reichsgedanke läßt sich durch viele Zitate aus den Kirchenvätern, durch Aussprüche germanischer Mönche aus der fränkisdien und ottonischen Zeit — vor allem aus dem Kommentar des Haimo von Halberstadt zum 2. Thessalonicherbrief und aus dem Brief des Adso an die Königin Gerberga —, durch Äußerungen Ottos von Freising und andere Belege bis zum Ende des Mittelalters dokumentieren. Man darf hier sogar das Kennzeichen einer geschichtlichen Periode erblicken. Das Reich des christlichen Mittelalters dauert solange, wie der Gedanke des Kat-echon lebendig ist.

Ich glaube nicht, daß für einen ursprünglich christlichen Glauben ein anderes Geschichtsbild als das des Kat-echon überhaupt möglich ist. Der Glaube, daß ein Aufhalter das Ende der Welt zurückhält, schlägt die einzige Brücke, die von der eschatologischen Lähmung alles menschlichen Geschehens zu einer so großartigen Geschichtsmächtigkeit wie der des christlichen Kaisertums der germanischen Könige führt. Die Autorität von Kirchenvätern und Schriftstellern wie Tertullian, Hieronymus und Lactantius Firmianus, und die christliche [30] Fortführung sibyllinischer Weissagungen vereinigen sich in der Uberzeugung, daß nur das Imperium Romanum und seine christliche Fortsetzung den Bestand des Äon erklären und ihn gegen die überwältigende Macht des Bösen erhalten. Das war bei den germanischen Mönchen ein lichtvoller, christlicher Glaube von stärkster, geschichtlicher Kraft, und wer die Sätze Haimos von Halberstadt oder Adsos nicht von den trüben Orakeln des Pseudomethodius oder der tiburtinischen Sibylle zu unterscheiden vermag, wird das Kaisertum des christlichen Mittelalters nur in fälschenden Verallgemeinerungen und Parallelen mit nichtchristlichen Machtphänomenen, aber nicht in seiner konkreten Geschichtlichkeit begreifen können.

Die politischen oder juristischen Konstruktionen der Weiterführung des Imperium Romanum sind im Vergleich zu der Lehre vom Kat-echon nicht das Wesentliche; sie sind schon Abfall und Entartung von der Frömmigkeit zum gelehrten Mythos. Sie können sehr verschieden sein: Translationen, Sukzessionen, Konsekrationen oder Renovationen aller Art. Doch haben auch sie die Bedeutung, daß sie, gegenüber der Zerstörung antiker Frömmigkeit durch die spät-antike orientalische und hellenistische Vergottung der politischen und militärischen Macht haber, geistig eine Rettung der antiken Einheit von Ortung und Ordnung enthielten. Sie mußten sich organisatorisch im Hochmittelalter einer feudal-grundherrlichen Bodenordnung und den persönlichen Bindungen eines feudalen Gefolgschaftswesens anpassen, während sie, seit dem 13. Jahrhundert, eine sich auflösende Einheit gegenüber einem Pluralismus von Ländern, Kronen, Fürstenhäusern und selbständigen Städten zu behaupten suchten.

Die mittelalterliche, west- und mitteleuropäische Einheit von Imperium und Sacerdotium ist niemals eine zentralistisdhe Machtanhäufung in der Hand eines Menschen gewesen. Sie beruhte von Anfang an auf der Unterscheidung von potestas und auctoritas als zwei verschiedenen Ordnungsreihen derselben umfassenden Einheit. Die Gegensätze von Kaiser und Papst sind daher keine absoluten Gegensätze, sondern nur „diversi ordines", in denen die Ordnung der Respublica Christiana lebt. Das darin liegende Problem des Verhältnisses von Kirche und Reich ist wesentlich anders als das spätere Problem des Verhältnisses von Kirche und Staat. Denn Staat bedeutet wesentlich die erst seit dem 16. Jahrhundert mögliche Uberwindung des konfessionellen Bürgerkrieges, und zwar eine durch Neutralisierung bewirkte Uberwindung. Im Mittelalter bringen es die wechselnden politischen und geschichtlichen Situationen mit sich, daß auch der Kaiser auctoritas, auch der Papst potestas in Anspruch nimmt. Aber das Unglück entstand erst, als — seit dem 13. Jahrhundert — die aristotelische Lehre von der „societas perfectae" dazu benutzt wurde, um Kirche und Welt [31] in zwei Arten von societates perfectae zu trennen. Ein echter Historiker, John Neville Figgis, hat diesen entscheidenden Gegensatz richtig erkannt und dargelegt6. Der mittelalterliche Kampf zwischen Kaiser und Papst ist kein Kampf zwischen zwei „societates", mag man nun „societas" hier mit Gesellschaft oder mit Gemeinschaft verdeutschen; er ist auch kein Konflikt zwischen Kirche und Staat in der Art eines Bismarckschen Kulturkampfes oder einer französischen Laizisierung des Staates; er ist endlich auch kein Bürgerkrieg wie der zwischen Weißen und Roten im Sinne eines sozialistischen Klassenkampfes. Alle Übertragungen aus dem Bereich des modernen Staates sind hier geschichtlich falsch; ebenso aber auch alle bewußten oder nicht bewußten Verwendungen der unifizierenden und zentralisierenden Ideen, die seit Renaissance, Reformation und Gegenreformation mit der Vorstellung einer Einheit verbunden sind. Weder für den Kaiser, der einen Papst in Rom einsetzen oder absetzen ließ, noch für einen Papst in Rom, der die Vasallen eines Kaisers oder Königs vom Treueid entband, war dadurch die Einheit der Respublica Christiana auch nur einen Augenblick in Frage gestellt.

Daß nicht nur der deutsche König, sondern auch andere christliche Könige den Titel Imperator annehmen und ihre Reiche Imperien nennen, daß sie vom Papst Missions- und Kreuzzugsmandate, d. h. Rechtstitel auf Gebietserwerb erhalten, hat die auf sicheren Ortungen und Ordnungen gegründete Einheit der Respublica Christiana nicht beseitigt, sondern nur bestätigt. Für die christliche Auffassung des Kaisertums scheint es mir wichtig zu sein, daß das Amt des Kaisers im Glauben des christlichen Mittelalters keine in sich absolute und alle andern Ämter absorbierende oder konsumierende Machtstellung bedeutet. Es ist eine zu einem konkreten Königtum oder einer Krone, d. h. zu der Herrschaft über ein bestimmtes christliches Land und sein Volk hinzutretende Leistung des Kat-echon, mit konkreten Aufgaben und Missionen. Es ist die Erhöhung einer Krone, aber keine senkrechte, gradlinige Steigerung, also kein Königtum über Könige, keine Krone der Kronen, keine Verlängerung einer Königsmacht oder gar, wie später, ein Stück einer Hausmacht, sondern ein Auftrag, der aus einer völlig anderen Sphäre stammt als die Würde des Königtums. Das Imperium ist hier etwas zu cigenwüchsigen Bildungen Hinzutretendes, ebenso — und aus derselben geistigen Gesamtlage heraus — wie eine sakrale Kultsprache des Reiches zu den Landessprachen aus einer anderen Sphäre hinzutritt. Der Kaiser kann daher auch — wie das der Ludus de Anti-christo[32] im Anschluß an die ganz von Adso beherrschte Tradition zeigt — nach Vollendung eines Kreuzzuges seine Kaiserkrone in aller Demut und Bescheidenheit niederlegen, ohne sich etwas zu vergeben. Er tritt dann aus der erhöhten Reichsstellung in seine natürliche Stellung zurück und ist dann nur noch König seines Landes.

c) Kaisertum, Cäsarismus, Tyrannis

Freilich haben die großen theologischen und philosophischen Denker des Kaisertums ihre Lehre vom Kaisertum auch der seit dem 13. Jahrhundert vordringenden aristotelischen Lehre von den communitates perfectae ohne Mühe angepaßt. Die perfekten und autarken Gemeinschaften (communitates, civitates, societates) sind imstande, ihren Sinn und Zweck, ihr Ziel und ihr inneres Prinzip, das schöne und autarke Leben, das bene sufficienterque vivere, in sich zu erfüllen. Wenn das Kaisertum dabei, wie in Dantes Monarchia, als die „vollkommenste" Ersdieinungsform der menschlichen Gemeinschaften, als eine communitas perfectissima, behandelt wird, so ist es nicht als eine dem regnum und der autarken civitas gleichgeartete, noch perfektere Gemeinschaft gedacht, sondern nur als eine transzendente, Frieden und Gerechtigkeit zwischen den autarken Gemeinschaften bewirkende und nur aus diesem Grunde höhere, umfassendere Einheit besonderer Art.

Wir haben in diesem Zusammenhang wesentlidie Gründe, die Eigenart der mittelalterlich-christlichen Einheit und ihrer „höchsten Macht" in aller Klarheit herauszustellen. Denn hier liegt der tiefste Gegensatz, der das christliche Kaisertum einer Respublica Christiana auch von den mittelalterlichen Renovationen, Reproduktionen und Repristinationen antik-heidnischer Begriffe trennt. Alle solche Renovationen sehen vom Kat-echon ab und können folgerichtig statt eines diristlichen Kaisertums doch nur einen Cäsarismus entstehen lassen. Der Cäsarismus aber ist eine typisch nicht-christliche Machtform, auch wenn er Konkordate schließt. Als Bezeichnung und als bewußtes Problem der geistigen Sphäre ist dieser Cäsarismus eine moderne Ersdieinung. Er beginnt erst mit der französischen Revolution von 1789 und gehört geschichtlich in die Zeit der großen Parallele zwischen der Situation des ersten Christentums und der Situation des 19. Jahrhunderts, eine Parallele, die mit der französischen Revolution einsetzt. Sie wirft die ganz aus der großen Parallele entstandenen Worte und Begriffe von Caesarcntum, Bürgerkrieg, Diktatur und Proletariat auf. Diese einzigartige, alles beherrschende, große Parallele zwischen der Gegenwart und der Zeitwende, die den Beginn unserer Zeitrechnung darstellt, darf nicht mit den zahllosen [33] sonstigen geschichtlichen Parallelen verwechselt werden, von denen es bei den Historikern und Politikern wimmelt. Diese große Parallele ist von verschiedenen Seiten, von Saint-Simon, Tocqueville, Proudhon, Bruno Bauer bis zu Oswald Spengler in vielen Abwandlungen gezogen worden.

Das bonapartistische Kaisertum war das erste und auffälligste neuere Beispiel eines reinen, d. h. von einem Königtum und einer königlichen Krone getrennten Cäsarismus. Es ist daher in einer ganz anderen Bedeutung des Wortes „Kaisertum" als im Sinne des christlichen Mittelalters. Noch intensiver und moderner wurde die Parallele seit 1848 und dem „Kaisertum" Napoleons III. Jeder fromme Theologe des 9. bis 13. Jahrhunderts hätte den Unterschied dieser cäsaristischen Kaiser-Vorstellungen erkannt, schon deshalb, weil jeder Theologe des christlichen Mittelalters wußte, was es politisch-geschichtlich bedeutete, daß die Juden vor der Kreuzigung des Heilandes gerufen haben: „Wir haben keinen König als den Cäsar" (Joh. 19, 15). Dieses Wissen um den Sinn der christlichen Geschichte hörte seit dem 13. Jahrhundert allmählich auf. Die großen philosophischen Systeme haben auch hier den konkreten Geschichtssinn aufgehoben und die geschichtlichen Kreaturierungen des Kampfes gegen Heiden und Ungläubige in neutrale Generalisierungen aufgelöst.

Seitdem die deutschen Könige sich eine Hausmacht sdiufen, wurde das Kaisertum ein Bestandteil dieser Hausmacht. Damit hörte es auf, die in der Leistung eines Kat-echon begründete Erhöhung einer Krone, d.h. eines in einem Land und seinem Volk begründeten Königstums zu sein. Seit den Luxemburgern und den Habsburgern gehört die Kaiserkrone zu einem „Hause", einer dynastischen Familie; die Hausmadit dieses Hauses ist eine Ansammlung von Kronen, Besitzrechten, Erbfolgeansprüchen und Anwartschaften, eine Ansammlung, unter der sich dann auch die römische Kaiserkrone befindet, obwohl diese in einem ganz anderen Sinne „Krone" ist wie die Krone des heiligen Ludwig, des heiligen Stephan oder des heiligen Wenzel. Die deutsche Königs krone aber wurde dadurch ihrer Substanz, d. h. der räum- und landhaften Ortung beraubt, die anderen Kronen des Mittelalters, insbesondere der Krone des heiligen Stephan, in so hohem Maße zukommt. Aus dem starken Kat-echon der fränkischen, sächsischen und salischen Zeit wurde ein schwacher, nur noch konservativer Erhalter und Bewahrer. Auch die Übernahme von Begriffen des Corpus Juris hatte eine zerstörende, entortende Wirkung. Sie vermochte es nicht, Rom eine neue Weihe zu geben. In den Konstruktionen der römischrechtlichen Juristen des 14. und 15. Jahrhunderts ist die der Leistung eines Kat-echon dienende Verbindung von christlichem Kaisertum und territorialem Königtum schon völlig vergessen. Bartolus und alle anderen italienischen [34] Juristen und Publizisten des 14. Jahrhunderts wissen nichts mehr davon, daß der Kaiser diese Aufgabe des Kat-echon hat. Sie haben sogar die rechtsgeschichtliche Tatsache vergessen, daß er nicht nur römischer Kaiser, sondern gegenüber den ober- und mittelitalienischen Städten zunächst der König von Italien war.

3 Carl Schmitt. Nomos

In der Auflösung solcher raumhaften Begriffe kündigt sich bereits die allgemeine Auflösung der mittelalterlichen Ordnung an. Doch blieben selbst in der Lehre von den unabhängigen „civitates superiorem non recognoscentes" starke Elemente einer umfassenden, durch Kaiser und Papst repräsentierten Einheit gewahrt. Insbesondere blieb der Kaiser auch noch im 14. Jahrhundert der Hüter des Rechts und der Freiheit jener unabhängigen Civitates. Er hatte noch die Aufgabe, die Feinde des Rechts und der Freiheit einer civitas, inbesondere einen Tyrannen unschädlich zu machen. Die Tyrannenlehre des Policraticus von Johannes von Salisbury (1159) ist bereits ein Dokument der politischen Kraft einer selbstbewußten potestas spiritualis. Das Bewußtsein der Kat-echon- Aufgabe fehlt hier schon fast vollständig. Die Lehre der weltlichen Juristen und Autoren des späten Mittelalters (13. bis 15. Jahrhundert) aber geht noch weiter in dieser Richtung, weil jetzt eine Vielheit von anerkannt autarken Gebilden die politische Einheit der Respublica Christiana relativiert. Der Tyrann bleibt freilich auch in der Lehre dieser Zeit ein Feind der Menschheit; und zwar einer Menschheit, die im Imperium und Sacerdotium den Ausdruck ihrer Ordnung und Ortung gefunden hat. Der Tyrann ist für die Ordnung des Landes der gemeinsame Feind, so wie der Pirat für die Ordnung der See der Feind des Menschengeschlechtes ist. In derselben Weise, wie in anderen Zeiten, wenn ein Reich des Meeres entsteht, für den Ordnungsbereich der See der Pirat als Feind der Menschheit erscheint, ist der Tyrann, wegen seiner ordnungswidrigen Machtausübung in einem sonst autarken und autonomen Gebilde, sowohl der innere Feind dieses Gebildes wie auch zugleich der Feind des Reiches als der umfassenden Raumordnung. Solche universalen und zentralen Feindbegriffe wie Tyrann und Pirat erhalten ihren Sinn aus der konkreten völkerrechtlichen Ordnung eines Reiches heraus und bezeugen dessen Existenz, solange ihnen geschichtliche Wirklichkeit zukommt.

Es ist allerdings, wie eben schon erwähnt, ein Zeichen der Auflösung des mittelalterlichen christlichen Reiches, daß sich (seit dem 13. Jahrhundert) politische Einheiten bilden, die sich nicht nur tatsächlich, sondern immer mehr auch rechtlich dem Imperium entziehen, während sie die Auctoritas des Sacerdotium auf rein geistige Dinge abzudrängen suchen. Das bringt die in Frankreich entstandene Formel von den „civitates superiorem non recognoscentes" zum [35] Ausdruck. Doch ist bei dieser Formel zweierlei zu beachten. Erstens fragt es sich, wer dieser „superior" ist, der nicht oder nicht mehr anerkannt wird; und zweitens ist es möglich, daß die Formel keineswegs absolut gemeint ist, sondern doch noch Einrichtungen und Verfahrensweisen einer überlegenen potestas oder auctoritas bestehen läßt, ohne daß diese in einer senkrecht aufsteigenden Linie als Befehlshaber gedacht wird und als „superior", als „vorgesetzte Instanz" in dem absolutistischen und dezisionistischen Sinne des 16. und 17. Jahrhunderts auftritt. Zahlreiche Könige, Herren und Städte entziehen sich dem Imperium des deutschen Königs. Das gefährdet wohl die Struktur der Gesamtordnung; diese kann aber trotzdem weiterbestehen und entscheidende Raumeinteilungen, wie den verschiedenen völkerrechtlichen Status europäisch-christlichen und nicht-christlichen Bodens, die Verschiedenheit der Arten von Feinden und Kriegen, insbesondere der Kriege zwischen Christen und anderer Kriege festhalten.

Im Gegensatz zum deutschen König versuchten christliche Könige, insbesondere der den Titel des allerchristlichsten Königs führende König von Frankreich, wenn auch ohne entscheidenden Erfolg, die Stelle des Imperiums einzunehmen, indem sie die Führung des Kreuzzuges an sich zogen. Es ist töricht, das als Gegen-Reich zu bezeichnen; denn es gibt keine wohlerworbenen Rechte auf die Leistung des Kat-echon. Spanische Könige nennen sich Kaiser (Imperator), ebenfalls in Verbindung mit einem Heiligen Krieg gegen den Islam, den Feind der Christenheit. Das alles läßt sich weder mit „romfreien" ungeschichtlichen, noch mit modernen, d. h. staatsbezogenen, zentralistischen und positivistischen Vorstellungen des späten 19. Jahrhunderts begreifen. Für die italienischen „civitates superiorem non recognoscentes" blieb der deutsche König als Kaiser — wenn auch praktisch nur in Weiterwirkung seiner Stellung als König von Italien — noch bis ins 14. Jahrhundert hinein der Friedensstifter, Streitschlichter und Tyrannenbekämpfer. Selbst als die kaiserliche potestas in der Wirklichkeit zu einem machtlosen Namen geworden war, bestand die umfassende Gesamtordnung des mittelalterlichen europäischen Völkerrechts weiter, solange die auctoritas des Papstes ausreichte, Missionsaufträge und Kreuzzugsmandate zu erteilen und neue Missionsgebiete zu verleihen. Solange nämlich war in der Grundeinteilung der Raumordnung, in der Unterscheidung des Bodens christlicher Fürsten und Völker gegenüber dem der nicht-christlichen Länder, in der daraus folgenden Einhegung der Kriege, d. h. in der Unterscheidung verschiedener Arten von Kriegen und damit in der konkreten Völkerordnung selbst, immer noch ein Stück geschichtlicher Wirklichkeit enthalten.

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Erst eine völlig andere Raumordnung hat dem mittelalterlichen Völkerrecht Europas ein Ende gemacht. Sie entsteht mit dem zentralisierten, gegenüber Kaiser und Papst, aber auch gegenüber jedem Nachbarn souveränen, räumlich in sich geschlossenen, europäischen Flächenstaat, dem ein unbeschränkter freier Raum für überseeische Landnahmen offensteht. Die neuen Rechtstitel, die für dieses neue, staatsbezogene Völkerrecht kennzeichnend, dem christlichen Mittelalter aber völlig fremd waren, sind Entdeckung und Okkupation. Die neue Raumordnung liegt nicht mehr in einer sicheren Ortung, sondern in einer Balance, einem „Gleichgewicht". Bis dahin gab es auch auf europäischem Boden tumultuarische Zustände schlimmer Art, „Anarchie" in diesem Sinne des Wortes, aber es gab nicht das, was man im 19. und 20. Jahrhundert Nihilismus nennt. Wenn nicht auch noch das Wort Nihilismus zu einer leeren Redensart werden soll, muß die spezifische Negativität bewußt werden, durch die der Nihilismus seinen geschichtlichen Platz, seinen Topos erhält. Dann erst wird sichtbar, worin sich der Nihilismus des 19. und 20. Jahrhunderts von den anarchischen Zuständen der Zeiten des christlichen Mittelalters unterscheidet. In dem Zusammenhang von Utopie und Nihilismus wird nämlich sichtbar, daß erst eine endgültige und grundsätzliche Trennung von Ordnung und Ortung in einem geschichtlich-spezifischen Sinne Nihilismus genannt werden kann.

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