DER PFLANZEN-JESUS - Thomas R. P. Mielke - E-Book

DER PFLANZEN-JESUS E-Book

Thomas R. P. Mielke

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Beschreibung

Die Erde anno 2499: Dreihundert Jahre nach der großen Katastrophe reisen die Nachkommen der wenigen Überlebenden durch die menschenleeren Wälder Kareliens. Denn an der Schwelle zum neuen Jahrhundert soll am Baikalsee, dem Heiligen Auge Sibiriens, ein neuer Messias auftauchen, der den Menschen zeigt, wie Leben entsteht, ohne anderes Leben zu vernichten. Doch statt Mingo, den Pflanzen-Jesus, zu erkennen, verfolgen sie ihn – bis der Baum in Menschengestalt plötzlich blüht. Der Roman DER PFLANZEN-JESUS von Bestseller-Autor Thomas R. P. Mielke (u. a. Das Sakriversum, Gilgamesch, König von Uruk) wurde 1981 für den Kurd-Laßwitz-Preis nominiert und gilt als Klassiker der modernen Science-Fiction-Literatur aus Deutschland. Der Apex-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe des Romans.

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THOMAS R. P. MIELKE

Der Pflanzen-Jesus

Roman

Apex-Verlag

Inhaltsverzeichnis

Das Buch 

Der Autor 

 

DER PFLANZEN-JESUS 

Prolog 

1. Das Schienenschiff 

2. Identitätskontrolle 

3.  Innenwelt und Außenwelt 

4. Der Streckenkapitän 

5. Die Kinder von Asgard 

6. Ankunft in Irkutsk 

7. Im Auffanglager 

8.  Katakomben am Baikal 

9. Fährmann unter dem Fluss 

10. Die Weltstadt 

11. Inquisition 

12. Die Nacht der Sonnenhändler 

13. Das neue Jahrhundert 

14. Die Prozession 

15. Ein Baum blüht in Irkutsk 

16. Abendmahl 

17. Stadt des Lichts 

18. Urbi et orbi 

 

Erweitertes Impressum 

 

Das Buch

Die Erde anno 2499: Dreihundert Jahre nach der großen Katastrophe reisen die Nachkommen der wenigen Überlebenden durch die menschenleeren Wälder Kareliens. Denn an der Schwelle zum neuen Jahrhundert soll am Baikalsee, dem Heiligen Auge Sibiriens, ein neuer Messias auftauchen, der den Menschen zeigt, wie Leben entsteht, ohne anderes Leben zu vernichten. Doch statt Mingo, den Pflanzen-Jesus, zu erkennen, verfolgen sie ihn – bis der Baum in Menschengestalt plötzlich blüht.

Der Roman Der Pflanzen-Jesus von Bestseller Autor Thomas R. P. Mielke (u. a. Das Sakriversum, Gilgamesch, König von Uruk) wurde 1981 für den Kurd-Laßwitz-Preis nominiert und gilt als Klassiker der modernen Science-Fiction-Literatur aus Deutschland. Der Apex-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe des Romans.

Der Autor

Thomas R. P. Mielke, Jahrgang 1940.

Thomas R. P. Mielke ist ein deutscher Schriftsteller, der bevorzugt in den Bereichen Science Fiction, Krimi und historischer Roman tätig ist.

Mielke war hauptberuflich Texter, Konzepter sowie drei Jahrzehnte lang Kreativdirektor in internationalen Werbeagenturen. Er war für Slogans wie Berlin tut gut oder Mach's mit der ersten Anti-AIDS-Kampagne zuständig; überdies gilt er aus seinen Jahren in der Generaldirektion von Ferrero in Pino Torinese/Italien als Miterfinder des Kinder-Überraschungseis.

Parallel zu seiner Tätigkeit als Werbemanager schrieb er Krimis, Science Fiction und historische Romane. Sein erster SF-Roman Unternehmen Dämmerung erschien 1960 unter dem Pseudonym Mike Parnell. Es folgten einige Dutzend weitere unter den Pseudonymen Michael C. Chester (u.a. Ihre Heimat ist das Nichts, 1966), Bert Floorman, Henry Ghost, Roy Marcus, Marc McMan, Marcus T. Orban (u.a. New York 2019, 1983), John Taylor u. a.

In den 1960er Jahren schrieb er diverse Romane für verschiedene Verlage, u.a. für die gemeinsam mit H. G. Francis und Rolf W. Liersch konzipierten Serien Rex Corda und Ad Astra.

Zusammen mit Rolf W. Liersch entwickelte Mielke Mitte der 1970er Jahre das Konzept der alternativen Science-Fiction-Serie Die Terranauten, die in den Jahren 1979 bis 1987 im Bastei-Verlag erschien (und die aktuell im Apex-Verlag wiederveröffentlicht wird).

1983 wurde Mielkes Roman Das Sakriversum mit dem Kurd-Laßwitz-Preis ausgezeichnet; sein Werk Gilgamesch, König von Uruk belegte 1988 den zweiten Platz bei der Verleihung desselben Preises.

1985 erhielt er den Literaturpreis des Science-Fiction-Club Deutschland e.V. für die Politvision Der Tag an dem die Mauer brach über einen unerwarteten friedlichen Mauerfall und die Wiedervereinigung. Der Stern schrieb dem Autor dazu: »Die Berliner Mauer ist kein Thema – und wird es in den nächsten 25 Jahren auch nicht werden.«

Weitere herausragende Science-Fiction-Romane Mielkes sind Grand Orientale 3301 (1980), Der Pflanzen-Heiland (1981) und Die Entführung des Serails (1986).

Seit 1990 wandte sich Mielke verstärkt dem historischen Roman zu. So veröffentlichte er seither u. a. Inanna (1990), Karl der Große – der Roman seines Lebens (1992) und die Avignon-Trilogie (2004 – 2006).

2010 erschien sein vom Goethe-Institut-Preisträger Dr. Nabil Haffar ins Arabische übersetzter Roman Gilgamesch, König von Uruk in Syrien und anderen arabischen Ländern und kehrte damit zu seinem Ursprung zurück.

Gemeinsam mit Astrid Ann Jabusch (www.annjabusch.de) schrieb Mielke unter dem Titel Orlando Furioso eine Neu-Erzählung des Mittelalter-Bestsellers Der Rasende Roland; der Roman, erschienen im Emons-Verlag, wurde 2016 mit dem Deutschen Fantasy-Preis ausgezeichnet.

Thomas R.P. Mielke lebt und arbeitet in Berlin.

DER PFLANZEN-JESUS

Prolog

»Eine Milliarde Jahre mag ungefähr vergangen sein, seit das Leben der späteren Erdgeschichte Gestalt annahm. Es schied sich in Pflanzenwelt und Tierwelt. Das pflanzliche Leben schlug Wurzeln, baute aus der umgebenden Materie körpereigene Stoffe selbst auf und bildete feste Zellwände. Das tierische Leben überwand den Zustand willenlosen Getriebenseins, indem es eigene, zielgerichtete Bewegung entfaltete; es wurde in seiner Ernährung vom Vorhandensein fertiger Nährstoffe abhängig und war fortan zur Aufrechterhaltung des eigenen Lebens auf die Vernichtung fremden Lebens angewiesen.«

(Arno Peters, Synchronoptische Weltgeschichte, Exemplar 100. 622)

Teilnehmerverzeichnis

Mingo von Quedlinburg – einer von Milliarden Bäumen

Erdmund von Karelien – sein Großvater

Junge – Mingos Bruder

Herr Hund – ihr Begleiter

Kemal Tas Märtine – Diakon, Streckenkapitän

Gustav Naan Nemok – Esoteriker, Fahrdienstbootsmann

Elfried, der Essener senior – Burjate, Barkeeper

Boris – Energie-Direktor, Chef du Rang

Páatöowa Cashina (Big Pat) – Hopi-Häuptling

Alexander Bismarck Blockhaus – Bischof von Damaraland

Josh Hermannstadt – ein Rabbiner

Pjotr Iwanowitsch Zobel – ein Kaufmann aus Riga

Tonja – seine Tochter

Louis de Alcazaba – ein spanischer Delegierter

Estrella – seine Tochter

Irminsul, Ödrörir, Byfröst, Skidbladnir, Slidur –

Kinder von Asgard

Der Metropolit – Patriarch von Irkutsk

Ferner agieren: der Pantschen-Lama, sein buddhistischer Glaubensnachbar, der Imam vom Bosporus, der Medizinmann der Jayawijaya-Siedler, der Letzte der Ainu, ein Labrador-Prediger, Stadt-Ranger, Golems, Graue Bullen, Dschingis-Truppen, Besucher von Irkutsk sowie Mannschaften und Volk.

(Zitate und/oder Urerinnenmgen sind als »Erdmunds Erzählungen« gekennzeichnet.)

1. Das Schienenschiff

Ächzende Spanten unterbrachen die Gespräche. Fahrgäste, die schon seit Tagen in einem dumpfen, abwesenden Schweigen verharrten, seufzten plötzlich auf. Es war das Ungewöhnliche, das Nichterwartete, das zu scheuen Blickkontakten führte. Reisende, die sich die ganze Zeit abgesondert hatten, rückten näher zusammen.

Warum? Was geschieht?, fragten ihre Blicke. Müssen wir fürchten?

Fast jeder hatte instinktiv damit gerechnet, dass es im ehemaligen Kosakenland zu Zwischenfällen kommen würde. Das weite Land zwischen dem Ural und dem Östlichen Sajan war weder atomar verseucht noch neu besiedelt. Hier konnten Quarantäner leben – Restgruppen der Menschheit, die das Armageddon überstanden hatten.

Nur hinten im Schienenschiff saßen drei Menschen, die sich nicht um die Bremsgespräche zu kümmern schienen: ein junger Mann, ein halbwüchsiger Junge und eine alte Frau – seit den Wolgabrücken von Kasan die einzigen Passagiere im schäbigsten Abteil des Schienenschiffs.

Schmutz und Gestank, Lärm und die abfälligen Blicke der Kontrolleure gehörten zu den Selbstverständlichkeiten im Heck des Schienenschiffs. Wer hier reiste, war weiter von den Luxusdecks im Vorderschiff entfernt als von den Start- und Zielorten der Riga-Wladiwostok-Schienenschiff-Gesellschaft. Erst als der vierte Passagier im letzten Segment schnaubte, knurrte und schließlich bellte, blinzelte der junge Mann träge durch die Fransen seiner langen, hellbraunen Haare.

»Sei still, Herr Hund«, murmelte Mingo von Quedlinburg schläfrig. Er zischte Luft durch die Zähne, um das kleine, schwarz-zottige Tier zu beruhigen. Herr Hund stellte das linke Ohr auf, wedelte mit seinem buschigen Schwanz und kam mit feucht schniefender Nase näher. Er duckte sich und sprang in Mingos Schoß.

»Ist doch gut«, beschwichtigte Mingo. Er musste laut sprechen, um gegen das schrille Jammern der Elektrobremsen anzukommen. Herr Hund hob den Kopf.

»Waff!«, bellte er vorwurfsvoll, und hechelte. Mingo kraulte die schwarzen Haarsträhnen im Nacken von Herrn Hund. Er warf einen Blick zu Junge, der sich mit stöhnenden Kaubewegungen auf der harten Holzbank vor Mingo her umwälzte Langsam schob Mingo einen Lutschstein von einer Backentasche in die andere. Er streichelte Herrn Hund, während er Junges Gesicht studierte. Junge war genau halb so alt wie er selbst – erst zwölfmal hatte sein kleiner Bruder die langen, kalten Winternächte in den Wäldern Kareliens überstanden. Und als die Blätter wieder von den Bäumen fielen, waren sie zusammen aufgebrochen.

Mingo versuchte, im Gesicht von Junge zu lesen. Er überlegte, ob Großvaters Haar auch einmal so weizenblond und dicht gewesen war, wie jetzt das bei Junge. Er kannte den Verstorbenen nur grau und bedächtig. Aber irgendetwas erinnerte ihn bei Junge immer wieder an den Mann, der anders gewesen war als die Jäger, die schwerbewaffnet das Unterholz zertraten, Zweige abbrachen und Bäume fällten, um sich ein Feuer anzuzünden, ehe sie wahllos die Tiere des Waldes töteten.

Großvater war für Mingo und für Junge eine Bezugsperson gewesen, die alles in sich vereinte: Vater und Lehrer, Magier und Freund, Philosoph und Gefährte.

Mingo dachte daran, wie sie Großvater begraben hatten – unter leuchtenden Krokussen und mit viel Schnee über dem starren Leichnam – wegen der Wölfe. Er erinnerte sich an die letzten Worte von Großvater Erdmund:

»Geh deinen Weg und blühe, Mingo! Aber vergiss deinen Bruder nicht und achte auf den Hund.«

Das Schienenschiff wankte leicht, ehe es zum Stillstand kam. Augenblicklich brachen die Lärmkaskaden in sich zusammen. Die E-Motoren summten leise und beinahe unschuldig. Von den Bio-Dieseln war nichts mehr zu hören. Ab und zu knackte es in den hölzernen Außenwänden des Schienenschiffs. Dicht hinter der alten Frau, die noch immer mit offenem Mund am Ende des letzten Segments schnarchte, fauchte ein dünner Dampfstrahl in das fast leere Abteil. Die Babuschka stöhnte im Halbschlaf. Ihre schmutzigen Finger zuckten, und aus den Mundwinkeln lief ein dünnes Speichel-Rinnsal.

Mingo wandte sich angewidert ab. Er mochte die Kräuterhexe nicht. Herr Hund merkte, dass Junge aufwachte. Er sprang auf die gegenüberliegende Bank – und genau zwischen die Beine von Junge.

»Ach, Mensch«, protestierte der Zwölfjährige. Er richtete sich auf und wischte sich verschlafen die Augen. »Was ist denn los?«

»Wir halten«, sagte Mingo.

»Sind wir da?«

Mingo schüttelte den Kopf.

»Und warum halten wir dann?«

Mingo lachte leise. Er sah, dass die Babuschka ebenfalls aufgewacht war. Sie wischte sich die Speichelreste vom Kinn, spuckte auf den staubigen Boden und begann, in ihrer geflochtenen Tasche zu kramen.

Herr Hund hörte die Geräusche, drehte sich um und ging zum Angriff über. Er raste über den Mittelgang und versuchte, die alte Frau zu verbellen.

Die Babuschka warf ihm mit einer kurzen Bewegung ein Wurzelstück entgegen. Herr Hund stellte sich auf die Hinterbeine, tanzte im Kreis und kam jaulend zu Mingo und Junge zurück.

»Selbst schuld«, grinste Junge und wischte sich die Schlafreste aus den Augen. Er gähnte, reckte sich und rutschte zu einem schmierigen Fenster an der Seite des Abteils. Den inneren Schmutz konnte er mit dem Ellenbogen seiner Jacke wegwischen, die schrägen Schlieren auf der Außenseite nicht.

»Siehst du was?«, fragte Mingo.

»Nee, überhaupt nichts.«

Er stemmte sich höher, stockte und wirbelte plötzlich mit weit aufgerissenen Augen zurück. Herr Hund jaulte auf. Junge hatte ihn versehentlich zur Seite gestoßen. Junges Lippen bewegten sich, aber er brachte keinen Laut hervor. Sein Arm zitterte, als er auf das Fenster zeigte.

So hatte Mingo den Enkel von Großvater Erdmund noch nie gesehen. Gewiss, keiner von ihnen war je zuvor in die Nähe eines Schienenschiffs gekommen, geschweige denn, mit einem dieser fauchenden Ungeheuer gefahren. Doch selbst als sie gemeinsam zu ihrer langen Reise aufgebrochen waren, hatte Junge nicht diese Angst in seinen Augen gehabt.

Sogar Herr Hund spürte jetzt, dass etwas nicht stimmte. Er winselte leise und kroch unter die Holzbank.

»Wir... wir fliegen«, flüsterte Junge.

»Unsinn!«

Mingo lachte und fuhr mit den Fingern durch Junges Haar.

»Dann sieh doch selbst hinaus.«

Mingo zuckte die Achseln. Er schob sich an Junge vorbei. Interessiert blickte er nach draußen. Eigentlich hatte er die Weite der Tundra mit ein paar Krüppelkiefern oder Birken erwartet. Er sah weder das eine noch das andere. Auf der anderen Seite des schmutzigen Fensters war einfach nichts zu sehen. Erst als er seine Augen anstrengte, konnte er in weiter Ferne einen kleinen, dunstigen Hügelkamm am Horizont entdecken.

Mingo schob sich näher. Er sah schräg nach unten. Im gleichen Augenblick verstand er, warum Junge so verstört reagiert hatte. Tief unter dem Schienenschiff zog sich das golden glänzende Band eines Flusses durch schräg ansteigende Mohnfelder, Hangwiesen und Buschgruppen auf vorspringenden Felsen. Es war, als würde das Schienenschiff bewegungslos über dem Fluss schweben.

Mingo drehte sich um. Aus den Düsen der Klimaanlage zischte noch immer feiner Dampf. Ein paar Staubkörnchen tanzten im Sonnenlicht, das durch die schmutzigen Scheiben an der rechten Seite des Abteils fiel. Die Babuschka starrte Mingo mit trüben Augen an. Sie saß direkt neben dem Mittelschott, das das letzte Segment gegen die Außenwelt abdichtete. Mingo griff Junges Arm und drückte ihn.

»Ich sehe mal nach.«

Er stand auf und ging zwischen den abgeschabten Holzbänken nach hinten. Als er in die Nähe der alten Frau kam, schlug ihm ein merkwürdiger Geruch entgegen. Für einen Moment verharrte Mingo schräg vor der Babuschka. Sie roch wie die Kräuter in den menschenleeren Wäldern, aus denen er, Junge und Herr Hund gekommen waren.

Mingo strich über die Augen. Er ging weiter. Das ovale Schott hatte ein lederüberzogenes Handrad genau in der Mitte. Ein dünner, staubig-roter Faden mit einem Metallverschluss bildete eine zusätzliche Sicherung.

Mingo versuchte, durch das kleine, schmutzige Bullauge über dem Handrad zu sehen. Es war so verschmiert, dass er nichts erkennen konnte. Inzwischen waren auch Junge und Herr Hund näher gekommen.

»Was ist denn?«, fragte Junge ungeduldig. Offensichtlich hatte er seine erste Angst überwunden.

»Ich weiß nicht, wie es aufgeht.« Junge lachte. Schon Großvater hatte sich immer wieder über Mingos technisches Unverständnis amüsiert. Junge nahm den roten Faden in die Finger.

»Soll ich?«

»Na ja, aber dann ist es zerbrochen.«

»Quatsch«, sagte Junge. »Eine Schnur kann doch nicht brechen. Höchstens zerreißen.« Er riss an der Plombe und hielt die Fäden hoch. »Siehst du – ganz einfach!« Mit der ungestümen Kraft eines beinahe Dreizehnjährigen stemmte sich Junge gegen das Handrad. Es quietschte leise, dann drückte Junge das Schott auf. Schon in der Nacht, als sie in Kasan das Schienenschiff bestiegen hatten, war Junge aufgefallen, dass sich am Heck der konisch miteinander verbundenen Schiffssegmente eine Zierreling befand. Noch ehe sie einstiegen, waren Junge und Herr Hund einmal um das ganze Schienenschiff gelaufen. Sie hatten die Lichter in den verschiedenen Decks gesehen, die Schatten in der Aussichtskuppel ganz vorn bewundert und waren unter dem reichverzierten Bug hindurchgekrochen, der wie das geschlossene Maul eines Lachses aussah.

Mingo hatte sie laufen lassen, bis sie erschöpft und glücklich keuchend wieder zu ihm fanden. Er selbst hielt nichts von sinnlosen Bewegungen, denn – wie Großvater Erdmund ihm gesagt hatte – er war von einer eher bodenständigen und ausgeglichenen Art.

Junge wagte sich als erster auf die Heckplattform. Herr Hund schnüffelte an der geschnitzten Reling, hob sein Bein und nahm diesen Teil des Schienenschiffs in seinen Besitz.

Vorsichtig ging Mingo hinter Junge und Herrn Hund her. Helles Sonnenlicht fiel auf den Perron. Er wunderte sich darüber, dass in diesem Teil des weiten Landes noch Blumen blühten und nirgendwo Schneefelder zu sehen waren. Herr Hund knurrte, als er sich zwischen Mingo und Junge bis zur Kante vorwagte und seine schwarze Nase in die Sonne streckte. Es war, als wolle er neue, angenehme Düfte in der Luft erschnuppern.

»Ganz schön tief, was?«, meinte Junge. Mingo nickte beklommen. Direkt neben dem Schienenschiff glitzerte ein drei Meter breiter Kanal, der so hoch über dem Tal unverständlich und gänzlich unnatürlich wirkte. Die rechte Seitenflanke des Schiffs ragte über das schnurgerade Wasserbett hinaus. Mingo drehte sich um. Auf der anderen Seite sicherte nicht einmal ein Geländer den schmalen Fußweg neben den Schienen.

Für einen Augenblick musste sich Mingo an die Wand neben dem geöffneten Schott lehnen. Mit halb geschlossenen Augen blickte er an der Spur zurück, über die das Schienenschiff hierhergekommen war. Das Schienenpaar wirkte wie eine Doppelreihe aus rostigen Würmern mit glänzenden Oberflächen, die im Horizontdunst zusammenliefen.

Herr Hund hatte genug gesehen. Er stellte das linke Ohr auf, schniefte noch einmal in die Sonne und trabte ins Abteil zurück.

»Ich glaube, das ist eine Brücke über den Fluss«, überlegte Junge. »Oder ein Aquädukt.«

»Weißt du es nicht?«

»Nicht genau«, wand sich Junge und hob die Hände. »Sieh mal: Eine Brücke ist für Menschen, Straßen oder Schienenschiffe, aber eine Brücke für Wasser heißt Aquädukt. Jedenfalls hat Großvater das gesagt.«

Mingo nickte. Sein Bild der Welt war ebenso von Großvater Erdmund geprägt wie Junges Wissen von den Dingen, die er niemals vorher gesehen hatte.

»Pass mal auf Herrn Hund auf«, sagte Mingo. Er hatte sich zur Seite gebeugt. Ganz vorn am Schienenschiff bewegte sich etwas.

»Kann ich nicht mit?«

»Nein, lieber nicht.«

Junge streckte Mingo die Zunge heraus, doch der kletterte bereits über ausgebleichte Holzstufen zu den Schienen hinunter. Gleich darauf konnte er ganz unter dem Schienenschiff hindurchsehen.

»Das können die nicht machen!«, dröhnte weiter vorn eine tiefe Stimme. »Das ist doch lebensgefährlich!«

»Ein Skandal!«, rief eine Frauenstimme. »Wir sollten uns beschweren, sobald wir nach Irkutsk kommen.«

Mingo ging nach vorn. Er lächelte, obwohl er immer noch nicht verstand, wie Menschen dachten, fühlten und handelten. Sie hatten einfach keine Empfindung für die besonderen Augenblicke der Ewigkeit. Stets trieb sie irgendetwas, das sie rastlos, unzufrieden und unglücklich machte. Anscheinend konnten sie nur leben, wenn sie immer das zerstörten und veränderten, was sie gerade erst mühsam erreicht hatten.

Vorsichtig und ohne jede Hast in seinen Bewegungen ging Mingo den Steg entlang, der so schmal war, dass sich zwei Menschen nicht auf ihm begegnen durften. Der große Schatten über ihm war nur ein künstliches Objekt, doch Mingo hörte Geräusche, die ihm wie Äußerungen eines fremden Lebewesens vorkamen. Die blanken Räderpaare strahlten Wärme aus. In allen Achsen des Schienenschiffs brutzelte Schmierfett mit Graphit, und an den Bremsgestängen hingen Pflanzenreste, die sich mit Schmutz und Pollernstaub verklebt hatten.

Mingo trat aus dem Schatten unter dem Schienenschiff. Für einen kurzen Augenblick labte er sich am Sonnenlicht auf seiner Haut. Es dauerte nicht lange, bis er das große Wollen wieder in sich spürte – die Kraft, die alles Leben lenkte.

Unwillkürlich dachte er an den letzten Winter zurück. Nichts konnte ihn mehr erschrecken als Kälte, Dunkelheit und Bäume, die ihre kahlen Äste wie tote Brüder in den Himmel streckten. In diesem Jahr war das Eis spät geschmolzen. Und als Großvater Erdmund an einem trüben Morgen nicht mehr aufgewacht war, hatten Mingo, Junge und sogar Herr Hund gewusst, dass sie hinausgehen mussten in die Welt, von der sie viel gehört, aber noch nichts gesehen hatten.

Der letzte Sommer in den herrlichen Wäldern Kareliens war schön und traurig gewesen. Als die Blätter fielen, hatten sie gepackt und waren mit dem Kanu über den See bis zu den Flussläufen gepaddelt. Es war nicht viel, was die drei Gefährten besaßen. Aber sie trugen einen Schatz in sich, der gleichzeitig Auftrag und Vermächtnis war.

Erdmunds Erzählungen!

Als über Mingo Metall gegen Metall dröhnte, zuckte er zusammen. Unwillkürlich wich er auf den Schienen bis an den Rand des schnurgeraden Kanals auf dem Aquädukt aus. Er konnte die Stützpfeiler der seltsamen Brücke nicht sehen. Sie mussten sehr hoch sein.

Das künstliche Fischmaul über ihm öffnete sich. Knarrend schob sich eine Rampe über hölzerne Rollen. Sie schwankte bis zu den Schienen und klammerte sich mit Haken, die über Seilzüge gesteuert wurden, an die eiserne Doppelspur. Noch ehe die Rampe ausgewippt war, polterte ein lärmender Sturm über die schräge Ebene. Die Grauen Bullen – Kosakenreiter mit Atemmasken, in denen sich Sprachverstärker befanden. Auf kleinen, wilden Panjepferden tobten sie über die Schwelle des aufgerissenen Schienenbetts.

Neugierig kletterte Mingo von Quedlinburg an der Rampe hoch. Er legte eine Hand über die Augen. Ziemlich weit entfernt erkannte er die Reiter. Ihre Pferde bäumten sich auf vor einem hellgrün glänzenden Hindernis mitten auf den Schienen. Metall blitzte im Sonnenlicht. Reiter, Pferde und grüne, sackartige Gegenstände wirbelten hin und her. Dann kamen die Männer zurück. Fast alle hatten einen grünen Sack quer über den Sattel vor sich geworfen.

Mingo sprang von der Rampe. Er versteckte sich im Schatten des Schienenschiffs. Die Reiter sammelten sich am zerstörten Schienenstück. Mingo sah plötzlich, dass sich in den grünen Tüchern menschliche Wesen bewegten.

Die Eingefangenen wurden von den Panjepferden gestoßen. Sie stürzten auf den harten Schotter zwischen den Schwellen. Einige blieben schmerzverkrümmt liegen, andere rafften sich mühsam wieder hoch und stolperten, mit einem Seil um den Oberkörper gefesselt, bis an den Rand des geländerlosen Weges.

Die Reiter machten sich einen Spaß daraus, die jungen Menschen in ihren hellgrünen Kutten bis an den Rand des Aquädukts zu schleifen.

In diesem Augenblick rumpelte ein kleiner, bulliger Panzer über die schräge Ebene am Bug des Schienenschiffs. Kräftige Männer in gelben Overalls marschierten hinter ihm her. Kurz vor den Reitern und ihren Gefangenen stoppte der zweite Trupp. Aus dem krötenartigen Panzer wurde eine künstliche Spinne. Lange Tentakelarme schoben sich aus dem Kuppelbauch der Maschine. Das Gerät fuhr Gummirüssel aus, an deren Enden breite Hammerschaufeln angebracht waren.

Zwei der gelben Männer sprangen in den Kanal. Sie tauchten bis zur Brust ins Wasser, griffen nach den Hammerschaufeln und nieteten eine Metallplatte über ein unsichtbares Leck in der Seitenwand des Wasserweges auf dem Aquädukt. Das Wasser aus dem Leck hatte die Schienen unterspült, ehe es in einer sprühenden Kaskade über dem Fluss in die Tiefe verwehte.

Plötzlich erkannte Mingo, warum die Reiter die Gruppe der Grünen so brutal behandelte. Sie hatten sich am anderen Ende des Aquädukts auf die Schienen gesetzt, aber vorher, mitten über dem Fluss, hatten sie den Schienenweg beschädigt.

Mingo von Quedlinburg registrierte das Geschehen, aber er verstand es nicht. Die Männer in den gelben Overalls schleppten Bohlen und Flaschenzüge zum eingesunkenen Teil des Schienenbetts. Sie begannen mit der Reparatur, während die Panjereiter immer wieder mit den Grünkutten an langen Seilen hin und her ritten.

Die Männer im künstlichen Kanal riefen den anderen etwas zu. Sie kletterten aus dem Wasser und liefen über die schräge Rampe in das Schienenschiff zurück. Nur wenige Augenblicke später humpelte ein Mann ins Freie, dessen linkes Bein aus Holz bestand. Er schwang eine hölzerne Krücke und befahl den anderen, die Balken unter die Schienen zu schieben.

Mingo beugte sich vor. Der Mann mit dem Holzbein interessierte ihn mehr als alles andere. War das ein Mensch, mit dem er einen ersten Kontakt aufnehmen sollte? Ein Mann, der in technischer Symbiose mit einem Holzstück lebte?

»Ho-heh!«, kommandierte der Einbeinige. Der Panzer schob sich weiter vor. Drei, vier Männer griffen nach den Tentakeln mit den Hammerschaufeln. Sie stießen die Metallblätter in den Schotter unter den Schwellen.

Fasziniert beobachtete Mingo, wie sich das Schienenschiff selbst seinen Weg reparierte. Der Einbeinige stand jetzt in der Mitte der Rampe. Nach Mingos Meinung mochte er ungefähr vierzig Sommer alt sein. Die Haare über seiner glatten, hohen Stirn waren ausgefallen, dafür hingen lange Strähnen in der Farbe von schmutzigem Schnee bis auf den Kragen seines gelben Overalls.

»Los, Männer! Wir wollen hier nicht übernachten!«, brüllte der Einbeinige mit einer tiefen, raspelnden Stimme. »Gebt dem Baby die Brust, und dann vorwärts. Schienen hoch und Balken reingestoßen. Na komm schon, Elmar – zeig, was du kannst.«

Es klang obszön, aber die Männer gehorchten. Sie schlangen die Seile der Flaschenzüge über ihre Schultern, warfen sich gegen die Bohlen und grölten ihre Anstrengung in die Stille über dem weiten, stillen Tal.

Einer aus der Gruppe, kaum älter als Mingo, zwängte eine Stützbohle unter die weich nachgebenden Schienen. Der Schotter murrte. Ein paar Steine sprangen zur Seite. Sie fielen rechts und links vom Aquädukt in die Tiefe. Der Einbeinige klopfte den Takt mit seiner Krücke auf die Rampe. Sein »Ho« und »Heh« wirkte wie Peitschenschläge auf die schwitzenden Männer.

Durch irgendeinen Zufall rutschte die Krücke des Einbeinigen zur Seite. Sie landete direkt neben Mingo auf dem Schotter des Schienenbetts.

Der Einbeinige drehte sich schwungvoll um. Er klammerte sich mit beiden Händen an den Sicherheitsleinen der Rampe fest. In dem Moment entdeckte er Mingo.

»He, Kerl! Was stehst du da herum!«, grölte er. »Reich mir die Krücke und dann pack dich.«

Mingo bückte sich. Er hob den Stützstock des Einbeinigen auf. Zitternd hielt er ihn hoch. Der Einbeinige griff nach seiner Krücke. Als er sie fasste, zog er sie nicht höher, sondern schlug damit auf Mingo ein.

»Scher dich weg, Bastard, ehe ich dich in den Fluss schmeißen lasse.«

Mingo spürte, wie seine Ohren schlaff wurden. Seine Arme hingen wie morsche Äste von seinen Schultern. Er sah zu den Grünen hinüber. Die meisten lagen wie leblos auf den Schienen.

»Der Mensch ist des Menschen Wolf«, hörte er die warnende Stimme von Erdmund in sich. Das war es: sein einziger Schutz – Großvaters Erzählungen, seine Gedanken, sein Vermächtnis.

Es war ein eigenartiges Gefühl. Zum ersten Mal in seiner Existenz wurde Mingo von einem Menschen körperlich angegriffen. Und nicht, weil es um die Verteidigung eines Lebensraums ging, sondern einfach so. Wenn Herr Hund einen Gegner verbellte, fühlte er sich bedroht. Aber hatte er, Mingo von Quedlinburg, nicht gerade einem Menschen geholfen, indem er dem Einbeinigen seine Krücke zurückgab? Schlugen Hibiskusblüten Bienen, die ihnen halfen, weiter zu leben?

Mingo war plötzlich traurig, weil er den Wald verlassen hatte. Er dachte an Kornfelder, bei denen jede Ähre ein Teil im nachgebenden Wellenspiel unter Gewitterböen war. Würde er je die Menschen kennenlernen?

Er versuchte es. Obwohl die Säfte seines Leibes revoltierten, wich er den bösen Schlägen aus. Er trat ins Licht, vergaß den Einbeinigen und ging auf die Männer zu, die mit Gewalt die Bohlen unter die hochgewölbten Schienen schieben wollten. Nur Mingo sah, dass die Anordnung der Jahresringe im Hauptbalken Gefahr bedeutete. Wenn sie die Bohle nicht sofort drehten, würde sie brechen und die gespeicherte mechanische Energie gegen alle richten, die keine Ahnung von Holz und Bäumen hatten.

»Drehen!«, rief Mingo. Seine Stimme klang wie das Knarzen eines Astes

»Seht euch den langhaarigen Affen an!«, schrie einer der Arbeiter. »Der will wohl Vormann werden.«

»Dreht den Balken, damit er nicht zerbricht«, flehte Mingo von Quedlinburg. Diesmal hatte er seine Stimmbänder besser unter Kontrolle. Gleichzeitig sah er, dass er die höhnisch lachenden Männer nicht überzeugen konnte. Er senkte den Kopf und ging zurück. Als er die Rampe hinaufschlich, fing er noch einen harten Schlag von der Krücke des wahren Vormanns ein.

»Verschwinde, Kerl«, zischte der Einbeinige.

Mingo duckte sich. Angst und Verzweiflung standen in seinem Gesicht, doch niemand war bereit, ihn zu verstehen. Die grölenden Gesellen des Einbeinigen vergnügten sich damit, die Holzbohle mit rhythmischen Bewegungen immer tiefer in den Schotter zu bohren. Die Wölbungen der glatten Schienen bebten, und selbst die straffen Seilpaare der Flaschenzüge wippten im Takt.

Als der Druck der gebogenen Schienenschenkel zu mächtig wurde und der große, schwere Balken zerbrach, als die Muskeln der Männer in zitternder Schwäche versagten, als alles geschah, was Mingo vorausgesehen hatte – da dachte niemand mehr an den seltsamen Fremden, der lautlos im Inneren des Schienenschiffs verschwunden war.

Mingo von Quedlinburg hörte noch, wie die Todesschreie der Unglücklichen nacheinander vom Aquädukt tropften. Sie verwehten wie die letzten dünnen Wasserfäden, die aus dem provisorisch abgedichteten Leck im Hochkanal rannen.

2. Identitätskontrolle

Die schlimmen Nachrichten verbreiteten sich wie schnell aufeinanderfolgende Wellen. Zuerst kamen die eigenen Empfindungen, dann dieses unbestimmte Gefühl, dass noch viel mehr nicht stimmte. In diese Unsicherheit wogten immer neue Gerüchte. Sie liefen kabbelnd hin und her:

»Vier Mann sind abgestürzt.«

»An Bord soll ein Spion sein.«

»Und Saboteure! Man hat sie eingefangen.«

»Die Wilden aus den Wäldern?«

»Nein, keine Ur-Terraner, sondern Angehörige eines Geheimen Bundes. Vielleicht sogar Haifis.«

Ein scheußlicher Signalton, immer zweimal hintereinander, hupte durch alle Decks des Schienenschiffs: hektisch, laut, entnervend.

Unmittelbar vor Mingos Augen hing eine bedruckte Tafel an der Wand. Mühsam entzifferte er die Buchstaben:

  Mingo lehnte sich vollkommen erledigt gegen eine Wand. Direkt über ihm gellten die Alarmzeichen aus der Decke eines Verbindungsgangs zwischen zwei Schiffssegmenten. Seine Haut war fahl und farblos geworden. Sie suchten ihn, während andere verstört und aufgeregt zur Unfallstelle liefen und Männer aus der Mannschaft sich ins Tal abseilten, um die Toten zu bergen.

Mingo verstand nur die Hälfte von dem, was er da las. Großvater hatte ihm verschiedene Sprachen und Schriften beigebracht, aber was nützte es, wenn er den inneren Zusammenhang von sprachlichen Symbolen nicht kannte. Doch plötzlich, als er sich schon abwenden wollte, begriff er. Der Hupton war zuerst ein Doppellaut gewesen, der sich ständig wiederholte.

Jetzt kam in kurzen Abständen hintereinander ein hartes, fünfmaliges Blöken aus dem Schalltrichter.

Identitätskontrolle!

»Alle Fahrgäste werden aufgefordert, dort zu bleiben, wo sie sich im Augenblick befinden. Ab sofort sind die Übergänge zwischen den Segmenten und den Decks gesperrt.«

Mingo starrte nach oben. Direkt vor ihm fauchte ein Sicherheitsschott durch den Gang und riegelte ihn ab.

»Aus gegebener Veranlassung sehen wir uns leider gezwungen, die Zusammensetzung der Atemluft innerhalb des Schienenschiffs zu verändern«, dröhnte die unsichtbare Stimme. »Wir verringern den Sauerstoffgehalt und speisen mehr Kohlendioxyd in die Klimaanlage ein. Es wird gebeten, ID-Chips oder Kreditkarten bereitzuhalten.«

Über sich hörte Mingo stampfende Schritte. Er befand sich immer noch im Vorschiff, im Deck direkt über den Vorderachsen. Das Zischen aus den Deckendüsen der Klimaanlage veränderte sich. Mingo fühlte einen kühlen, angenehmen Luftzug. Trotzdem konnte er weder vor noch zurück. Er wusste, dass er es war, den sie fangen wollten. Verwirrt suchte er nach einem Ausweg aus der Falle. Der schmale Verbindungsgang hatte nur drei Türen – die beiden Schotts und den verbotenen Eingang zur Waffenkammer. Jetzt näherten sich von beiden Seiten gleichzeitig Schritte.

Mingo zögerte, aber er hatte keine andere Wahl. Seine Hände fassten nach dem Verschlussrad an der Tür der Waffenkammer. Er riss die Plombe ab, genauso, wie er es bei Junge gesehen hatte. Dieses Handrad ließ sich viel leichter öffnen als das am Heckschott. Mingo schlüpfte in einen halbdunklen Raum, der streng nach Öl und Metall roch. Schon wollte er das Schott zuziehen, als ihm einfiel, dass er ja die Schnur mit der Plombe zerrissen hatte.

Hastig griff er in eine Tasche an seinem Gürtel. Er zog ein Stück Bastschnur hervor, drillte sie zusammen und befestigte sie so am Handrad, dass sie wie eine unversehrte Plombensicherung aussah. Vorsichtig drückte er die Tür hinter sich zu.

Der Raum war acht Meter lang, kaum anderthalb Meter breit und bis auf einen schmalen Gang mit Regalen angefüllt, auf denen sich Hunderte von Waffen stapelten, die Mingo nicht kannte. Eine bläulich schimmernde Notlampe an der Decke bildete die einzige Lichtquelle. Mingo erschrak, als er das Licht sah. Damit hatte er nicht gerechnet. Der starke Ultraviolettanteil der Lampe wirkte schmerzhaft und lähmend. Es war ein anderes Licht als das der Sonne. Nur, wenn er sich vollkommen still verhielt, konnte er überhaupt etwas sehen.

Am Ende des schlauchartigen Raums befand sich eine enge Wendeltreppe. Sie führte nach oben. Mingo tastete sich blind bis zu den Stufen vor. Vorsichtig schob er sich höher. Die zweite Etage sah nicht anders aus als der untere Raum, nur dass hier schwerere und größere Waffen gelagert wurden. Wieder entdeckte Mingo eine Treppe. Er war inzwischen schon so blind, dass er nicht einmal mehr das blaue Licht sah.

Langsam kroch er die Stufen hinauf. Das blaue Licht tat weh, auch wenn er es nicht mehr erkennen konnte. Es strahlte eine Kälte aus, die seinen ganzen Körper lähmte. Nur durch den Umstand, dass sich die Luft im Schienenschiff verändert hatte, konnte er überhaupt noch weiter.

Im dritten Stock brach er endgültig zusammen. Er rollte unter ein Regal und blieb bewegungslos liegen. Sein Körper sehnte sich nach etwas Wasser. Durst und plötzlicher Hunger wurden durch das böse blaue Licht so verstärkt, dass er langsam Wahnvorstellungen bekam.

Er dachte an die Grünen. Erinnerungen an Großvater, Junge und Herrn Hund verschmolzen mit Empfindungen, die tief aus seinem Inneren kamen. Es war, als würde er langsam verdorren. Er konnte sich nicht mehr bewegen, und selbst der Name, den ihm Großvater Erdmund gegeben hatte, verlor jede Bedeutung.

Die Zeit blieb stehen, als er wieder vom Individuum zur Kreatur zurücksank. Er lebte, aber er dachte und handelte nicht mehr. Was jetzt noch in ihm nachschwang, war nur noch Speicherenergie in den Zellkernen seines Leibes.

(Erdmunds Erzählungen: Das große Wollen ist die Triebfeder des Lebens. Die Welt ist schlecht, und deshalb nehmen wir das Wollen, um sie zu verändern Erst wenn wir nichts mehr wollen, haben wir das Nirwana erreicht, in dem es Frieden gibt. Ewigen Frieden ohne Wollen!)

»Wo ist er?«, fragte der Maskenmann. Sein Atemrüssel schnaubte.

Der Junge kroch in die Ecke seiner Sitzbank. Vier Männer in hellblaugrauen Uniformen standen mit schussbereiten Waffen als Garde hinter dem 1. Offizier. Sie hatten Reithosen an, an denen sich noch Haare von Panjepferden befanden. Die Grauen Bullen!

»Na, wird’s bald?«

Herr Hund stellte das linke Ohr auf, stellte sich auf die Vorderbeine und knurrte leise. Er hatte zwischen den Beinen von Junge geruht, aber nicht geschlafen. Blinzelnd musterte Herr Hund die Fremden. Er reckte sich, stand auf und stellte seinen Schwanz zu einem schwarzbuschigen Signal auf. Sein Knurren wurde drohender.

»Die ganze Zeit waren sie beisammen«, meldete sich die alte Kräuterhexe aus der letzten Bank. »Ich habe gleich gewusst, dass sie zu Haifis gehören.«

»Schweigt«, sagte der Offizier ungehalten. Die Babuschka hob ihre krallenartigen Hände. Sie verzog ihr faltiges Gesicht zu einer bösen Fratze, bekreuzigte sich und schlief wieder ein.

»Nun, junger Mann, wollt Ihr nun reden oder nicht?« Junge kaute an seiner Unterlippe. Einerseits war er stolz darauf, dass ihn der Offizier wie einen ehrenwerten Bürger anredete, andererseits wollte er Mingo nicht verraten.

»Er ist hinausgegangen, als das Schienenschiff anhielt.«

»Aha! Und dann?«

»Ich weiß nicht.«

»Ist er zurückgekommen?«

Junge schüttelte den Kopf. Herr Hund legte die Ohren an, dann kam der Handlungswille über ihn. Laut kläffend fuhr er zwischen die Beine des Grauen. Er griff sie an, bellte, keifte, wich unter die Holzbank zurück, schoss wieder vor, riss an Stiefeln und Hosen, überschlug sich fast und sprang schließlich dem 1. Offizier des Schienenschiffs zwischen die Beine. Herr Hund biss zu.

»Verdammter Köter!«

Der Offizier krümmte sich. Ruckartig fuhren seine Hände an die empfindliche Stelle unterhalb des Gürtels. Herr Hund schnappte noch einmal zu, dann duckte er sich und schoss unter den Holzbänken über den schmutzigen Boden.

»Knallt es doch ab, das Vieh!«, schrie der 1. Offizier. Er taumelte zur Seite, sackte auf die Holzbank und griff nach Junge. In seinen Augen standen Tränen. Schmerzen und ohnmächtige Wut vermischten sich in ihnen.

Als Junge sah, dass sich Herr Hund zur Flucht entschlossen hatte, rutschte er automatisch tiefer. Nur deshalb konnte er den harten Händen des Offiziers entkommen. Er stolperte über Reitstiefel, die sich ihm entgegenstreckten, wand sich unter den Schlägen von Gewehrkolben hindurch und flog bäuchlings auf den Boden des Mittelgangs. Für einen Augenblick sah er nur Sterne.

»Bastarde!«, schrie es hinter ihm.

»Haifis!«, keifte die Babuschka.

Herr Hund kam wie ein Zerberus zurück. Er rannte über Junges Schultern, stürzte sich in den Kampf zwischen Stiefeln, Holzkolben und wirbelnden Armen, biss, bellte und verwirrte, fegte unter die Bänke und kam mit schaumigen Lefzen wieder hoch.

Während Junge sich mühsam aufrappelte, bestritt Herr Hund ein glorreiches Gefecht. Junge stolperte zum Schott zwischen dem letzten und dem vorletzten Segment des Schienenschiffs. Das Suchkommando unter der Leitung des 1. Offiziers hatte die Trennwand nicht verschlossen.

Als Herr Hund sah, dass Junge das Abteil verlassen hatte, ließ er von seinen Feinden ab und raste hinter ihm her. Junge warf sich gegen die vielen kleinen Sensortasten an der Wandplatte neben dem Schott. Und irgendwie gelang es ihm, den richtigen Kontakt zu finden. Die Eisensperre fiel nach unten.

In anderen Segmenten des Schienenschiffs ging es weniger dramatisch zu.

»Nicht einmal Zeit für ein Gebet«, sagte ein schwarzhäutiger Mann in der Bar der Aussichtskuppel, als sich das Schienenschiff langsam wieder in Bewegung setzte. Er hatte einen dunklen Anzug mit einem schmalen, weißen Stehkragen an. Kopfschüttelnd nahm er einen geschnitzten Becher mit Hirsebier vom Tresen, gönnte sich einen tiefen Schluck und wischte sorgfältig den Schaum aus seinem Vollbart, ehe er den Becher zurückstellte.

»Wir nähern uns der Vierten Welt«, sagte der einzige weitere Gast am Doppeltresen der Bar. »Die Große Katastrophe war nur der Anfang für den Übergang.«

Der Dunkelhäutige blickte auf. Seine hellblau strahlenden Augen sahen den anderen erstmals genauer an. Wie alle anderen Passagiere des Schienenschiffs hatte er sich daran gewöhnt, kein Interesse für die Mitreisenden zu zeigen. Schon ein direkter Blick konnte zu einer Identitätsklage führen.

Sein Gegenüber hatte seine langen, schwarzen Haare zu einem Knoten im Nacken verschlungen. Über einem knochig wirkenden Gesicht spannte sich helle Haut wie straffes Pergament. Faltenpaare zogen sich als Einkerbungen von Augen und Mundwinkeln nach unten. Das Auffälligste jedoch war der fast einen Zentimeter breite und zehn Zentimeter lange rote Streifen quer über die Nase des Mannes.

»Ist es vermessen zu fragen, woher Ihr kommt?«

»Nein«, sagte der merkwürdige Mann. Seine Finger umklammerten einen Becher mit Whisky. »Big Pat ist Kundiger, genau wie Ihr. Bei seinem Volk im Süden Nordamerikas heißt er Páatóowa Cashina, genannt Big Pat. Das bedeutet so viel wie großer Hüter aller Gesetze der Ermutter und fliegendes Schild über dem Wasser. Big Pat ist zugleich Verbindung zum Creator, dem großen Schöpfer Éototo.«

»Dann wären wir ja beinahe Kollegen«, lächelte der Dunkelhäutige. »Gestattet, dass ich mich vorstelle: Ich bin Alexander Bismarck Blockhaus, Bischof von Damaraland, früher Südwest-Afrika.« Er hob erfreut die Hände und stieß seinen Becher mit dem Rest Hirsebier um. Sofort kam der alte Barkeeper mit einem Stofflappen und wischte die Pfütze auf dem Tresen weg.

»Big Pat freut sich«, sagte der Indianer. »Er ist Nachfahre des großen Bären-Clans, mütterlicherseits verwandt mit den Eingeweihten der Schlange und des Coyoten, Träger der goldenen ID-Karte, I.Q. 151, Außenminister des Zwölf-Sterne-Bundes und amerikanischer Delegierter für das Konzil von Irkutsk.«

»Angenehm.« Der schwarze Bischof verbeugte sich.

»Gestattet mir, um gleichzuziehen, weitere Angaben zu meiner Person. Ich bin Neu-Parchimer – Sie wissen, das war eine Reformbewegung der Lutheraner, die in Mecklenburg entstand. Aus der Verehrung meiner Ahnen für einen Mann namens Bismarck entstand zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts mein Familienname.«

»Habt Ihr deshalb blaue Augen?«

»Nein, das kann ein Erbe aus dem Ursprung meiner Rasse sein. Das Urvolk der Boräer vor mehr als zwölf Jahrtausenden soll eine weiße Haut und helle Augen gehabt haben.«

»So sagt man auch von unserem Volk«, wunderte sich Páatóowa. Die beiden Männer empfanden – jeder für sich – eine neue, abwägende Zuneigung füreinander. Sie merkten nicht, dass sich das Schienenschiff längst wieder in Bewegung gesetzt hatte. Für eine Weile hing jeder seinen Gedanken nach. Bischof Blockhaus dachte daran, welche merkwürdige Fügung ihn mit Häuptling Big Pat zusammengeführt hatte. Er zweifelte nicht daran, dass der Indianer einer der wichtigsten Delegierten beim großen Weltkongress – dem ersten seit der Wiederbesiedlung der Erde – sein würde.

Big Pat empfand ähnlich. In einer Zeit wie dieser mussten neue Formen des Zusammenlebens gefunden werden. Traditionelle Denkkategorien galten nicht mehr. Was seit Jahrhunderten Bestand gehabt hatte, war durch die Sachzwänge einer neuen Erde verändert, umgestoßen und verfälscht worden.

»Was meint Ihr – werden wir eine neue Chance haben?« Der Hopi-Indianer starrte in seinen hölzernen Becher.

»Die neue Weltregierung? Das ist doch nur ein verzweifelter Versuch. Oder seid Ihr etwa anderer Meinung, Exzellenz?«

Bischof Blockhaus hob die Schultern. Ehe er zum Irkutsk-Delegierten gewählt worden war, hatte er sich kaum mit Weltpolitik befasst Denn es gab Dinge, die ihm weitaus wichtiger erschienen.

»Ich bin seit drei Monaten unterwegs«, sagte er nachdenklich, »Und kaum ein Tag verging, an dem ich nicht versucht habe, eine Antwort auf diese Frage zu finden. Für mich ist dieses Treffen in Sibirien ein Konzil, das über die nächsten Jahrhunderte entscheidet.«

Der alte Barkeeper füllte erneut die Becher der beiden Männer. Sie sahen nicht, dass eine Träne an seiner Nase entlang lief.

»Ja, ja! Entscheidet nur«, murmelte er. »Es hat ja immer jemand über die kleinen Leute entschieden.«

Der Indianer-Häuptling und der schwarze Bischof hörten ihn nicht.

»Wenn dieser letzte Versuch nicht gelingt, dann zerfällt die Erde in autonome Regionen, die sich wie mittelalterliche Fürstentümer bekämpfen«, sagte Big Pat.

»Die Zwietracht unter den Clans war schon immer der Anfang vom Ende, denn wer sich gegen den Plan des Schöpfers stellt, wird sich selbst vernichten.«

»… und das am Vorabend des zweitausendfünfhundertsten Geburtstages von Jesus Christus.«

»Aber was ist aus dieser schönen Hoffnung denn geworden?«, grummelte der alte Barkeeper plötzlich. »Was hat denn dieser Mann erreicht? Sie haben ihn ans Kreuz geschlagen, und seit zweitausendfünfhundert Jahren lamentieren alle über den Tod dieses einzelnen Mannes. Haben nicht Millionen und Abermillionen noch viel mehr gelitten?«

»Es war Gottes Sohn, der sich für die Sünden der Menschheit geopfert hat.«

»Sohn Gottes? Pah!«

Der Barkeeper zerquetschte einen Holzbecher zwischen seinen Fingern. Er schleuderte die Splitter auf den Boden.

»Und es war mein einziger Sohn, der sich für das Schienenschiff geopfert hat. Einer, auf den ich ein dreiviertel Jahrhundert gewartet und gehofft habe. Und niemand wird ein Buch über ihn schreiben. Mein Sohn, versteht Ihr, meine Herren?«

Der Bischof und der Kundige der Hopi-Indianer sahen sich betreten an.

»Dreihundert Jahre lang war die Erde nur noch ein schwelender Trümmerhaufen«, sagte der grauhaarige Alte bitter. »Wir haben immer gehofft, dass wir eines Tages zurückkehren könnten. Meine Eltern haben von grünen Wiesen geträumt, von klaren Bächen und Blumen auf den Feldern. Doch als wir vor hundert Jahren landeten, hatte sich nichts verändert. Die letzten Überlebenden der Großen Katastrophe hatten Nachkommen gezeugt, die wie Neandertaler mordeten. Wir selbst waren in Cliquen und feindliche Clans zerfallen. Selbst heute – hundert Jahre nach der Rückkehr – können wir uns nur in den Gebieten bewegen, die bei der Großen Katastrophe von 2099 einen atomaren Hagel nicht wert gewesen sind. Jetzt ist er tot – sinnlos gestorben! Abgestürzt, unter einem Aquädukt des Schienenschiffs zerschmettert! Wofür, frage ich Euch, wofür?«

»Ich fühle mit Euch«, sagte der Bischof. »Doch unser Trost heißt nach wie vor Irkutsk.«

Der Alte sah ihn lange an, dann schüttelte er den Kopf.

»Was hat mein Sohn davon, der letzte meines Blutes? Er stand im fünften Lehrjahr zum Fahrdienstbootsmann. Nach unserer Ankunft in Irkutsk sollte er die Prüfung bei der Riga-Wladiwostok-Schienenschiff-Gesellschaft machen. Zu Weihnachten, weil er die ID-Nummer 2500 hatte.«

Seine farblosen Lippen zitterten. Er wischte sich die Tränen aus den Augenwinkeln. Unaufgefordert stellte er zwei volle Holzbecher vor die beiden einzigen Gäste in der Bar des Schienenschiffs.

»Ich möchte, dass Ihr auf die Seele meines einzigen Sohnes trinkt. Er war kein Heiliger, kein Gott, sondern nur mein Sohn.«

Bischof Blockhaus räusperte sich und schwieg.

»Nur Weiber eines Clans klagen lange, wenn Krieger sterben«, sagte Häuptling Big Pat. »Aber wir glauben, dass niemand wirklich stirbt. Der Körper ist vergänglich, doch er wird auferstehen, wenn das Herz rein gewesen ist.«

»Ihr seid Burjate?«, fragte Blockhaus, um den Alten auf andere Gedanken zu bringen.

»Nicht ganz – eher ein Tunguse.«

»Also doch aus dieser Gegend«, sagte Big Pat mit unbewegtem Gesicht. Bischof Alexander Blockhaus wunderte sich. Der Hopi-Häuptling schien sich in der Vielfalt der Sibir-Völker auszukennen. Er fragte sich, warum der Abgesandte des Zwölf-Sterne-Bundes den langen Weg quer durch Amerika, über den Atlantik, durch Europa und durch das leere Land östlich des Urals gewählt hatte.

»Ich glaube, es ist aus«, sagte der alte Barkeeper nachdenklich. »Dabei hatten die Menschen so große, heilige Hoffnungen, als sie vor hundert Jahren auf die verseuchte Erde zurückkehrten. Damals war nicht die Bibel wichtig, sondern das Buch ,Die Waffen nieder‘. Ich weiß noch, dass ich lernte, wie Bertha Suttner als Tochter eines Feldmarschalls vor fünfhundert Jahren für den Frieden kämpfen wollte. Alles, was sie erreichte, war die Stiftung des Nobelpreises – von einem Dynamitfabrikanten.«

Er lachte trocken. Bischof Blockhaus und der Kundige der Hopi-Clans sahen sich an. Keiner von ihnen hatte erwartet, in der Bar des transsibirischen Schienenschiffs einen Mann anzutreffen, der Bier und Whisky ausschenkte, Becher wusch und gleichzeitig versteckte Ratschläge für das Konzil von Irkutsk abgab.

»Werdet Ihr klagen, wenn ich frage, wer Ihr seid?«, fragte der schwarze Bischof vorsichtig. Häuptling Big Pat fasste nach seinem Whiskybecher, doch der alte, grauhaarige Barkeeper blinzelte nur ins rötliche Licht der Sonne, das durch die getönten Scheiben der Aussichtskuppel in die Bar fiel.

»Als ich ein junger Mann war, habe ich jeden zum Duell gefordert, der es wagte, mir ins Gesicht zu sehen«, sagte er. »Solange, bis mir selbst ein Sohn geboren wurde, den ich beschützen musste. In ein paar Tagen werde ich hundert, und wenn ich mich nicht irre, war ich der erste Mensch, der nach der Rückkehr zur Erde auf diesem Planeten geboren wurde.«

»Elfried!«, stieß Häuptling Big Pat hervor. Der Alte lächelte.

»Elfried, der Essener senior!«

»Moment mal«, unterbrach Bischof Blockhaus. »Soll das heißen, dass Ihr ein Essener von Ganymed seid?«

»Mein Vater kam von Ganymed«, nickte der Alte.

»Das darf doch nicht wahr sein«, grinste Bischof Alexander Bismarck Blockhaus. »Meine Familie hat rund drei Jahrhunderte die Frachtraumer zwischen den Jupitermonden bedient. Sie waren schwarzhäutige Immun-Techniker.«

»Dann kenne ich einige aus Eurer Sippe«, sagte der alte Mann. Er spülte ein paar Gläser ab und wischte mit seinem Lappen über die Tresenplatten zwischen Bischof Blockhaus und dem Indianer-Häuptling. »Mein Vater und mein Großonkel haben mir erzählt, dass die neue Menschheit wahrscheinlich nur aus Schwarzen bestehen würde. Das war natürlich Unsinn.«

Er blinzelte zum Abgesandten der Hopi-Clans hinüber. Der Mann mit dem roten Farbbalken quer über die Nase sah ihn nicht an.

»Die Schwarzen sollen lange Zeit Sklaven gewesen sein«, sagte der Alte. »Vielleicht hat sie das anpassungsfähiger gemacht als andere Rassen.«

Erst jetzt merkte Bischof Blockhaus, dass der alte Mann die ganze Zeit auf diesen Punkt zugesteuert hatte.

»Ich verstehe nicht«, sagte er.

»Wirklich nicht?«

»Nehmt Euch in acht, Elfried«, warnte Häuptling Big Pat.

»Es kommt die Zeit der Rache für die Burjaten«, sagte der alte Mann. »Schon der Prophet Hesekiel sprach von Gog und Magog. Und wisst Ihr, wo das Jüngste Gericht stattfinden wird? Am Baikalsee. Das steht schon in der Bibel.«

»Unsinn.«

Der Barkeeper lehnte sich halb über den Tresen. Er schloss ein Auge und starrte mit dem anderen den schwarzen Bischof an.

»Elfried, der Essener senior, sagt Euch, dass er den Tod seines einzigen Sohnes bitter rächen wird. An Bord des Schienenschiffs sind nicht nur Nutznießer und Schmarotzer, sondern fremde Wesenheiten. Man wird sie finden und entlarven, so wahr ich Elfried, der Essener senior, bin.«

Im faltigen Gesicht des Alten zuckte es. Sein starr geöffnetes rechtes Auge wirkte wie eine Vergrößerungslinse über seiner trauernden Seele.

»Haifis!«, zischte die Doppelreihe aus Kunstzähnen mit gelben Zwischenräumen im Faltenmund des Alten. Für einen kurzen Augenblick verwandelte sich der alte Barkeeper in einen leibhaftigen Schamanen.

Das Schiff dröhnte über den Schienenstrang. Während die Bio-Diesel die Segmente unermüdlich weiter trieben, knarrten die Wanten und Verstrebungen. In allen Decks ächzten die hölzernen Verkleidungen. Parkettfußböden zitterten, und an den Seitenwänden klapperten die ausgeleierten Verschalungen.

Bischof Alexander Bismarck Blockhaus und Hopi-Häuptling Páatóowa Cashina, genannt Big Pat, krümmten sich unter der unsichtbaren Macht des alten Barkeepers zusammen. Sie wussten nicht, wie ihnen geschah. Der alte Essener benutzte weder Zauberformeln noch magische Beschwörungen. Es war sein Auge, das den Bischof und den kundigen Indianer lähmte.

»Ich werde rächen«, sagte der Hundertjährige. »Und wenn ich Menschen, Tiere, Pflanzen brennen muss.«

»Elfried!«

Der schwarze Bischof schrie seine Bitte um Vernunft.

»Nein, Exzellenz«, zischten die Zahnreihen unter dem starren Auge. »Es gibt so viele Wahrheiten. Und jede ist der Keim einer neuen Lüge. Wir werden bald in Irkutsk sein. Wenn Ihr versteht, was Heimat heißt, werdet Ihr erkennen.«

Die Stimme des Alten veränderte sich. Er lehnte sich zurück, öffnete auch das andere Auge und begann wieder, seine Becher zu spülen. Big Pat und Bischof Blockhaus sahen den Alten wieder so, wie jeder andere Passagier des Schienenschiffs den Barkeeper beschrieben hätte.

Für einen Augenblick der Ewigkeit kehrte Frieden ein. Die untergehende Sonne füllte die Aussichtskuppel und die Bar mit einem kupfergolden strahlenden Dämmerlicht.

Big Pat und Bischof Blockhaus ließen die Stimmung auf sich einwirken. Schweigend sahen sie nach draußen. Schatten von kahlen Bäumen huschten vorbei. Zusammen mit den langsam weiterziehenden Hügelketten wirkten sie wie dunkle Kulissen des Lebens, durch die das Schienenschiff zweimal im Monat seine Spur zog.

Am Ende dieses langen, bösen Tages war selbst der Abendfrieden nur ein höhnischer Beweis dafür, dass es keinen Stillstand gab. Während das Schienenschiff nach Osten donnerte, ließ es die Sonne um Sekunden schneller hinter sich versinken. Die Erde drehte sich und raste, eingehüllt in eine kranke Atmosphäre, im Nordlichtschleier aus Ionen und Magnetfeldern, um einen atomaren Feuerball, von dem die Energie für alles Leben auf dem zerschundenen Planeten stammte. Und selbst das scheinbar untergehende Gestirn am Rande der Galaxis zog ohne jede Zeit die Himmelskörper mit sich, die sich wie Küken um die Glucke eingefunden hatten.

Für viele Reisende war es der letzte Abend an Bord des Schienenschiffs. Als Elfried, der Essener senior, eine abgewetzte Balalaika aus einem Bord unter dem Wasserbecken der Bar hervorholte, als Himmel und Erde sich rotviolett auf die Nacht vorbereiteten und als die Gedanken in den Köpfen der Menschen schwerer wogen – da geschah etwas Seltsames in der Aussichtskuppel des rasenden Schienenschiffs.

Elfried zupfte die Saiten seiner Balalaika. Er summte leise vor sich hin. In stiller Wehmut nahm sein Herz Abschied von dem Tag, an dem er seinen Sohn verloren hatte. Er weinte. Doch plötzlich wurde seine Stimme stärker, seine Finger griffen härter in die Saiten des Instruments. Und während Tränen über das Gesicht des alten Mannes rannen, brach jenes uralte Lied aus ihm hervor, mit dem die Burjaten das große Wasser mit den einst seltensten Pflanzen an seinen Ufern besungen hatten. Big Pat und Bischof Blockhaus hatten die Melodie irgendwann einmal gehört. Aber die Worte klangen ganz anders, als der alte Mann das Lied sang:

Herrlicher Baikal – du schimmerndes Meer!

Wo schnellt der Lachs noch durch deine Fluten?

Wo sind die Bäume – an Ufern so leer?

Wunde der Welt, für das musst du bluten?

Herrlicher Baikal – Wo ist deine Pracht?

Wo ist die Schönheit aus den Legenden?

Heiliges Meer, du – hast uns gebracht

das neue Leben, aus Gottes Händen…

Die Finger des Alten glitten zärtlich über die Saiten der Balalaika. Er sang nicht vom Tod seines Sohnes, sondern von einem Stück Natur, das die Menschen schon lange vor der Großen Katastrophe umgebracht hatten. Als das Kommando der Grauen Bullen in den schon fast dunklen Barraum polterte, kratzten die Finger des Alten noch einmal über den Klangkörper des Instruments.

»Identitätskontrolle«, schnarrte es aus der Atemmaske des Offiziers. Die Ventilklappen an den Schutzrüsseln vor den Gesichtern der Männer schnaubten und klickten. Sie verteilten sich im Barraum: jeweils ein Waffenträger pro Ecke. Die anderen schwenkten Pistolenscheinwerfer, ließen Reflexschilder aufglühen und tasteten Personendaten in kleine Suchdetektoren an ihrer Brust.

»Ist hier ein Passagier aus dem letzten Segment gesehen worden?«, fragte der Anführer. Der Barkeeper schüttelte den Kopf.

»Ein Hund? Ein Junge?«

»Seit dem Halt auf dem Aquädukt war niemand mehr hier«, sagte der Alte und blinzelte misstrauisch Er hatte noch gelernt, wie sehr man vor den Nachkommen jener Unglücklichen auf der Hut sein musste, die keinen Platz mehr auf den Flucht-Raumschiffen der Großen Katastrophe gefunden hatten. Bis zur Heimkehr der Menschen aus dem Draußen hatten sie sich in entlegenen Bergtälern und an den Rändern der unverseuchten Wüsten als Sammler und Jäger am Leben erhalten.

Die Grauen Bullen bildeten keine einheitliche Kaste, sondern waren das Strandgut einer versunkenen Zivilisation in vollkommen unterschiedlichen Entwicklungsstufen.

Elfried, der Essener senior, erinnerte sich an die bösen Zeiten in seiner Jugend, als wilde Horden ihre Siedlungen zerstörten, ihre Felder in Brand steckten und auch noch das vernichteten, was während der langen Quarantänezeit übriggeblieben war.

Er hatte gesehen, wie Männer aufgespießt und Frauen vergewaltigt worden waren.

Es hatte viele Jahre gedauert, bis die Pilger einen Weg fanden, die Grauen Bullen zu zähmen. Anders als bei den Stadt- Rangern, die als stets risikobewusste Einzelgänger vorsichtig in die Ruinen der zerstörten Metropole eindrangen, galt für die wilden Grauen Bullen nur das, was sie sehen, anfassen, riechen und schmecken konnten. Daher begriffen sie auch nicht, dass sie seit drei Generationen ständig unter dem Einfluss von Psychodrogen standen. Das war die einzige Möglichkeit gewesen, aus wilden Draufgängern eine Schutztruppe zu machen.

»Tiere«, murmelte der alte Mann, als die Grauen Bullen aus der Bar polterten. Doch niemand hörte ihm zu.

3. Innenwelt und Außenwelt

 

 

Herr Hund bewegte sich tapsend durch den schmalen Gang. Wie betrunken taumelte Junge hinter ihm her. Er stieß mit den Schultern gegen Regale, versuchte sich mit kraftlosen Bewegungen an den Wänden festzuhalten und kämpfte die ganze Zeit gegen eine watteartige Benommenheit, die kein richtiger Traum, aber auch kein Wachzustand war.

Das strenge, kalte Blaulicht in der Waffenkammer erinnerte Junge an die diffuse Dämmerung in Großvater Erdmunds Kavernen unter den Wurzelstrünken. Seit er denken konnte, war ultraviolettes Licht ein Zeichen des Verbotenen für ihn. Es leuchtete nicht richtig blau, aber auch nicht weiß – ein geheimnisvolles Licht, bei dem man mehr ahnen als erkennen konnte.

Großvater Erdmund hatte ihm erzählt, dass es im gesamten Kosmos von allen Dingen eine Innenwelt und eine Außenwelt gab. Vor vielen hundert Jahren hatte ein Mann namens Teilhard de Chardin darauf hingewiesen, dass nichts so sein konnte, wie es die Menschen von außen sahen. Und wer nur nach den Eindrücken der Außenwelt urteilte, vergaß das eigentliche Geheimnis: Erinnerungen und Gefühle, Hoffnungen und die Ehrfurcht vor der Größe der Schöpfung. Junge hatte von Großvater gelernt, seinen Verstand zu gebrauchen. Aber er hatte auch gelernt, dass nichts zu gering war, um nicht geliebt und geachtet zu werden, denn selbst ein Sandkorn enthielt mehr Wunder, als man in einem ganzen Buch aufschreiben konnte.

»Ich bin so müde«, murmelte Junge. »Hast du gehört, Herr Hund?«

Herr Hund hatte die erste Treppenstufe am Ende der Waffenkammer erreicht. Er wollte hochklettern, aber er schaffte es nicht mehr. Herr Hund winselte leise, dann sank er schlaff zur Seite.