DIE ROSE VON AVIGNON - Thomas R. P. Mielke - E-Book

DIE ROSE VON AVIGNON E-Book

Thomas R. P. Mielke

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Beschreibung

Bertrand de Comminges ist ein angesehener Bürger der Papstresidenz Avignon. Aber hinter dem Handel mit exotischen Waren verbirgt er ein gefährliches Geheimnis: Er verkauft verbotenes Wissen. Bertrand bringt Schriften des Islam ins Land - aus dem machtvollen arabischen Spanien. Als der Papst verlangt, dass Bertrand ihm gegen die Bedrohung des deutschen Königs helfen soll, kommt Bertrand in Bedrängnis. Denn dazu müsste er sein Geheimwissen preisgeben... Mit DIE ROSE VON AVIGNON von Bestseller-Autor Thomas R. P. Mielke (u. a. Das Sakriversum, Gilgamesch, König von Uruk) setzt der Apex-Verlag die große Avignon-Trilogie fort.

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THOMAS R. P. MIELKE

 

Die Rose von Avignon

Zweiter Roman der AVIGNON-Trilogie

 

 

 

 

Roman

 

 

 

 

 

 

 

Apex-Verlag

Inhaltsverzeichnis

Das Buch 

Der Autor 

 

DIE ROSE VON AVIGNON 

Kapitel 1: Der Admiral 

Kapitel 2: Das Seeräubernest 

Kapitel 3: Lavendel-Dragees 

Kapitel 4: Rettung im Fels 

Kapitel 5: Das Gastmahl 

Kapitel 6: Der Ehekontrakt 

Kapitel 7: Ketzer und Büßer 

Kapitel 8: Das Aufgebot 

Kapitel 9: Aufbruch nach Avignon 

Kapitel 10: Lügen und Liebe 

Kapitel 11: Der Dieb im Schlaf 

Kapitel 12: Wege des Herrn 

Kapitel 13: Einzug der Mulis 

Kapitel 14: Die Straßen von Avignon 

Kapitel 15: Im Fondaco 

Kapitel 16: Baphomet 

Kapitel 17: Rue Jacob 

Kapitel 18: Die Namen der Rose 

Kapitel 19: Insel im Fluss 

Kapitel 20: Die Brücke von Avignon 

Kapitel 21: Spitzfindigkeiten 

Kapitel 22: Notre Dame 

Kapitel 23: Reinigung 

Kapitel 24: Der Schatz der Tempelritter 

Epilog 

Dramatis personae Anfang anno 1328 

 

Das Buch

 

 

Bertrand de Comminges ist ein angesehener Bürger der Papstresidenz Avignon. Aber hinter dem Handel mit exotischen Waren verbirgt er ein gefährliches Geheimnis: Er verkauft verbotenes Wissen. Bertrand bringt Schriften des Islam ins Land - aus dem machtvollen arabischen Spanien.

Als der Papst verlangt, dass Bertrand ihm gegen die Bedrohung des deutschen Königs helfen soll, kommt Bertrand in Bedrängnis. Denn dazu müsste er sein Geheimwissen preisgeben...

 

Mit Die Rose von Avignon von Bestseller Autor Thomas R. P. Mielke (u. a. Das Sakriversum, Gilgamesch, König von Uruk) setzt der Apex-Verlag die große Avignon-Trilogie fort.

  Der Autor

 

Thomas R. P. Mielke, Jahrgang 1940.

 

Thomas R. P. Mielke ist ein deutscher Schriftsteller, der bevorzugt in den Bereichen Science Fiction, Krimi und historischer Roman tätig ist.

Mielke war hauptberuflich Texter, Konzepter sowie drei Jahrzehnte lang Kreativdirektor in internationalen Werbeagenturen. Er war für Slogans wie Berlin tut gut oder Mach's mit der ersten Anti-AIDS-Kampagne zuständig; überdies gilt er aus seinen Jahren in der Generaldirektion von Ferrero in Pino Torinese/Italien als Miterfinder des Kinder-Überraschungseis.

Parallel zu seiner Tätigkeit als Werbemanager schrieb er Krimis, Science Fiction und historische Romane. Sein erster SF-Roman Unternehmen Dämmerung erschien 1960 unter dem Pseudonym Mike Parnell. Es folgten einige Dutzend weitere unter den Pseudonymen Michael C. Chester (u.a. Ihre Heimat ist das Nichts, 1966), Bert Floorman, Henry Ghost, Roy Marcus, Marc McMan, Marcus T. Orban (u.a. New York 2019, 1983), John Taylor u. a.

In den 1960er Jahren schrieb er diverse Romane für verschiedene Verlage, u.a. für die gemeinsam mit H. G. Francis und Rolf W. Liersch konzipierten Serien Rex Corda und Ad Astra.

Zusammen mit Rolf W. Liersch entwickelte Mielke Mitte der 1970er Jahre das Konzept der alternativen Science-Fiction-Serie Die Terranauten, die in den Jahren 1979 bis 1987 im Bastei-Verlag erschien (und die aktuell im Apex-Verlag wiederveröffentlicht wird).

1983 wurde Mielkes Roman Das Sakriversum mit dem Kurd-Laßwitz-Preis ausgezeichnet; sein Werk Gilgamesch, König von Uruk belegte 1988 den zweiten Platz bei der Verleihung desselben Preises.

1985 erhielt er den Literaturpreis des Science-Fiction-Club Deutschland e.V. für die Politvision Der Tag an dem die Mauer brach über einen unerwarteten friedlichen Mauerfall und die Wiedervereinigung. Der Stern schrieb dem Autor dazu: »Die Berliner Mauer ist kein Thema – und wird es in den nächsten 25 Jahren auch nicht werden.«

Weitere herausragende Science-Fiction-Romane Mielkes sind Grand Orientale 3301 (1980), Der Pflanzen-Heiland (1981) und Die Entführung des Serails (1986).

Seit 1990 wandte sich Mielke verstärkt dem historischen Roman zu. So veröffentlichte er seither u. a. Inanna (1990), Karl der Große – der Roman seines Lebens (1992) und die Avignon-Trilogie (2004 – 2006).

2010 erschien sein vom Goethe-Institut-Preisträger Dr. Nabil Haffar ins Arabische übersetzter Roman Gilgamesch, König von Uruk in Syrien und anderen arabischen Ländern und kehrte damit zu seinem Ursprung zurück.

Gemeinsam mit Astrid Ann Jabusch (www.annjabusch.de) schrieb Mielke unter dem Titel Orlando Furioso eine Neu-Erzählung des Mittelalter-Bestsellers Der Rasende Roland; der Roman, erschienen im Emons-Verlag, wurde 2016 mit dem Deutschen Fantasy-Preis ausgezeichnet.

Thomas R.P. Mielke lebt und arbeitet in Berlin.

  DIE ROSE VON AVIGNON

 

 

 

  Kapitel 1: Der Admiral

 

Das Jahr des Herrn 1328 und der schon lange befürchtete Weltuntergang begannen für Bertrand de Comminges auf hoher See. Die ganze Nacht hindurch hatte der Kaufmann aus Avignon auf der schweren Handelsgaleere dem jaulenden Sturm des Mistrals getrotzt, doch nun schäumten die rollenden Wogen und schienen sich endgültig rächen zu wollen. Brecher um Brecher klatschte über das Oberdeck.

Der Sturm hatte sie wenige Stunden nach dem Auslaufen des Schiffes aus dem Flusshafen von Pisa mit sich gerissen und nach kurzer Zeit den Hauptmast gebrochen. Sofort hatte der Schiffsführer seinem Bootsmann einen Befehl nach dem anderen zugerufen:

»Zerschlagt den Mastfuß! Kappt alle Seile!«

Gleich darauf war es noch schlimmer gekommen.

»Ruder einziehen... und alle Luken schließen!«

Von da an schwankte das Schiff ohne Ruderer und Zusatzsegel wie schweres Treibgut durch die Nacht. Drei der Seeleute hingen draußen am seitlichen Ruder der Galeere. Jedes Mal, wenn der Sturm Atem holte, wagten sie, das schwere Steuer in die Strömung zu senken, um ihren Kurs nach zu Westen halten. Dann flogen heisere Rufe durch die Nacht, die Luken an den Seiten des Schiffes sprangen auf, und zwei Dutzend Ruder zogen das Schiff voran – so lange, bis die See erneut wild aufschäumte.

Von Anfang an stand oben noch ein dritter Mann festgebunden im Hinterkastell aus starken Eichenbohlen. Der hochgewachsene Kaufmann aus Avignon steckte wie der in allen Stürmen und Untiefen erfahrene Admiral Rainier Grimaldi in einem an Armen und Beinen zugeschnürten Umhang aus geteertem Linnen. Auch er hatte im Tosen des Sturmes nicht einen einzigen Augenblick der Schwäche gezeigt. Aber sosehr er auch in die Nacht hinausspähte – kein Licht über den Wellenkämmen und kein Leuchtfeuer von irgendeinem Ufer wiesen zu einem rettenden Hafen.

Auch die zwei Dutzend angeblich vom Admiral für sich freigekauften Rudersklaven vom Schwarzen Meer und die vier aus dem Heer von König Ludwig IV. desertierten bayerischen Armbrustschützen im Vorderkastell der Galeere hatten inzwischen mit ihrem irdischen Dasein abgeschlossen. Längst kam es für alle dreißig Besatzungsmitglieder nur noch darauf an, bei Gott dem Allmächtigen die Milde zu finden, die über Fegefeuer oder den Absturz ins höllische Feuer entschied.

Bertrand de Comminges war ein erfolgreicher Kaufmann und ein furchtloser Reisender, aber kein Seemann. Dennoch hatte er für den Transport seines kleinen, doch ungeheuer wertvollen Schatzes nicht den Landweg von Cordoba nach Avignon gewählt. Auch an der italienischen Küste bis in die Provence lauerte zu viel Gesindel und gottloses Kriegsvolk und wartete nur auf Beute. Um all diesen Unwägbarkeiten zu entgehen, hatte sich Bertrand de Comminges für den riesigen Umweg von Spanien bis in die neue Residenz der Päpste entschieden. Er musste unbedingt unbehelligt nach Avignon kommen.

So hatte er sich für das vorletzte Teilstück der langen Reise einem ganz außergewöhnlichen Mann anvertraut, den andere Kaufleute und Kapitäne wie Pest und Hölle gemeinsam fürchteten. Gewiss, Rainier Grimaldi war bereits vor einem Vierteljahrhundert zum Admiral des Königs von Frankreich ernannt worden. Der knorrige, noch immer verwegen wirkende Mittfünfziger kämpfte schon lange nicht mehr für die Franzosen, aber er galt als einer der besten Navigatoren und härtesten Seeräuber im gesamten westlichen Mittelmeer. Für Männer wie ihn galt ein besonderes Gesetz der Ehre: Wer sie bezahlte, der konnte sich fester auf sie verlassen als auf irgendwelche Raubritter oder versoffene Kriegsknechte an Land. 

Schon deshalb war Bertrand de Comminges überzeugt, dass die Galeere den Sturm überstehen würde. Er besaß genügend Mut, Kaltblütigkeit und auch Gottvertrauen, um dem Sturm zu trotzen. Trotz der Gefahr, in der er und das Schiff sich befanden, bleckte er herausfordernd vor jedem Gischtschwall die Zähne. Wenn dann das Tosen über sie hinweggegangen war, glaubte er fest, dass ihm nichts Besseres hätte gelingen können, als für sich und seine Beiladung eine Passage auf dieser Galeere zu kaufen. Schließlich wurde das Schiff von einem der wildesten »Könige der Meere« befehligt. Wenn Rainier Grimaldi kein Schiff nach Marseille und weiter bis zur Rhônemündung bringen konnte, wer dann im mare nostrum? 

Bertrands erstes Schiff auf dieser Reise war ein Segler gewesen, dem auf der Fahrt von Spanien über Maiorca nur etwas Wind gefehlt hatte. Schon dadurch hatte sich die Fahrt verzögert. Mit einem zweiten Frachtschiff war er durch die gefährliche Enge zwischen Sardinien und Korsika bis nach Pisa gelangt. Im Hafen am Arno war der maiorcanische Kapitän an schwarzem Schimmel auf Schafskäse erkrankt, den das alles kahl fressende Heer des deutschen Königs auf seinem Marsch nach Rom übersehen hatte. 

Sofort hatte seine Mannschaft den fremdartigen Schmutz als böses Omen gedeutet und sich geweigert, ohne ihren Kapitän durch den Golf von Genua und dann in gefährlicher Küstennähe nach Marseille und weiter nach Aigues-Mortes, dem alten befestigten Hafen der Kreuzritter westlich der Camargue, zu segeln. Es gab genügend gute Schiffe in Pisa, die auch nach dem Durchzug des fremden Heeres noch seefähig waren. Trotzdem hatte Bertrand de Comminges mit seiner eher kleinen Fracht wegen des Mangels an guten Männern und immer neuen Sturmwarnungen tagelang in Pisa festgesessen. Wie jeder gute Kaufmann hatte er mit derartigen Verzögerungen gerechnet. 

Bertrand hielt es für seinen besten Schachzug seit Jahren, dass er mit Grimaldi ausgerechnet den im Umschiffen aller Rivieraklippen erfahrenen früheren Admiral König Philipps des Schönen für das letzte Stück seiner langen Reise gewonnen hatte. Obwohl er gut informierte Geschäftsfreunde in Pisa besaß und vom ersten Tag an so manchen Denar gezahlt hatte, um stets die neuesten Gerüchte über geplante Schiffsbewegungen zu erfahren, war ihm erst spät zu Ohren gekommen, dass sich der alte Freibeuter versteckt in Pisa aufhielt. Schließlich befand sich der Alte in feindlichem, gerade erst von plündernden deutschen Heerhaufen durchzogenen Gebiet. 

Die Grimaldis waren »Schwarze«, papsttreue Guelfen, und keine »weißen« Ghibellinen wie die kaisertreuen Spinolas in Genua oder die kaiserlichen Vikare der Sforzas und Este in Mailand oder Ferrara. 

So aber hatte ihm eine prall mit Münzen gefüllte Geldkatze im Haus seines ehemaligen Geschäftspartners Marco Ambrogio zu einem vertraulichen Abkommen mit dem Admiral verholfen. Ambrogio hatte schrecklich ausgesehen mit seiner vernarbten Gesichtshaut, die er sich bei einem Brandüberfall durch betrogene Kaufleute in Brügge zugezogen hatte. Aber der Grimaldi hatte ihn als Bürgen angenommen, obwohl Ambrogio nur noch eine Jahresrente vom Handelshaus de Comminges bezog und keinerlei Stimmrechte mehr besaß. 

Für Bertrand war das Zusammentreffen mit dem Admiral ein Geschenk des Himmels. Mit seinen Fähigkeiten konnte es ihm doch noch gelingen, rechtzeitig vor dem Rosensonntag Laetare in Avignon zu sein. Zwar mussten sie zuerst dem Sturm entkommen, um dann an Nizza, Cannes und den gefährlichen Inseln der Hyeren vorbei Aigues-Mortes, den immer noch sicheren Hafen der Kreuzritter, zu erreichen. Dort konnte er seine Fracht erneut umladen lassen und mit einem Flussboot in zwei Tagen an Arles vorbei die Brücke von Avignon erreichen. 

So jedenfalls hatte Bertrand den weiteren Verlauf seiner langen Reise erhofft. Doch dann war genau das eingetreten, wovor viele erfahrene Männer in Pisa gewarnt hatten: der Mistral, vor dem sie sich fürchteten wie vor Teufel und Beelzebub. Bertrand kannte den schrecklichen Sturm aus dem Norden, der sonst nur das Rhônetal und die Ortschaften in der Provence verwüstete. Aber er hatte nicht damit gerechnet, dass er in diesem Jahr auch noch bis zur italienischen Riviera drehte und mit seinen wirbelnden Ausläufern die Toskana peitschte.

Die Wolken rissen ein wenig auf. Im bleichen Mondlicht sahen die Männer, wie die Gischtkronen von neuen, gewaltigen Wellen auf sie zukamen. Wer immer behauptet hatte, dass ein Sturm auf See von der Mitte der Nacht gegen Morgen hin abflauen würde, musste einer der größten Lügner gewesen sein. Das Gegenteil war richtig in dieser Januarnacht. Bertrand de Comminges klammerte sich an einem Balken fest. Er konnte nicht ahnen, dass weder Sturm noch Meereswogen, sondern der Admiral selbst längst die größte Gefahr für ihn und seine geheime Mission als Kaufmann des Papstes war.

Es kam inzwischen häufiger vor, dass der Heilige Vater die ganze Nacht hindurch keinen Schlaf finden konnte. Wenn es sein Körper und seine Gesundheit erlaubten, betete der Vierundachtzigjährige in diesen Stunden auch auf den Knien.

Wenn seine alten Knochen die Schmerzen aber nicht aushielten, ließ er sich vollständig ankleiden und setzte sich in einen Lehnstuhl, den sein Vorgänger Clemens V. nach Avignon mitgebracht hatte.

In dieser Januarnacht war der Mistral, dieser höllische Sturm durch das Rhônetal, so unvermittelt nach Osten abgebogen wie eine Horde wilder Nachtdämonen. Es war die Ruhe, die fühlbare, schmerzhafte Stille, die im Kopf des Heiligen Vaters weitertobte und ihn fast umbrachte. Kein Gleichnis half, kein tröstendes Wort der Apostel, nicht einmal die Mutter Maria. Seine Unruhe wurde immer größer.

Johannes XXII. konnte nicht einmal in den Heiligenlegenden oder jenen Büchern lesen, die er in all den Jahren selbst verboten hatte. Das hoch geschätzte Teufelswerk lagerte streng verschlossen in einer Truhe im Kaminzimmer neben dem Audienzsaal im alten Palast, in dem der Papst bereits als Bischof von Avignon gewohnt hatte. Er hatte alle Bediensteten und auch die Bischöfe und Kardinäle zu Bett geschickt, die sonst stets in seiner Nähe waren. Seit Mitternacht war er allein in seinem Kaminzimmer. Er fühlte sich plötzlich wieder ganz klein und als reuiger Sünder. Die ganze Zeit starrte er am reinen Licht der Bienenkerzen vorbei auf die Truhe, die niemand außer ihm öffnen oder auch nur anrühren durfte.

Schließlich quälte er sich aus seinem Sessel, wankte ein wenig und schlurfte dann mit vorsichtigen Schritten auf eine Schatulle über dem Feuer des Kamins zu. Die Schatulle stand auf einem Vorsprung und gehörte ebenfalls zu den Heiligtümern, zu denen niemand außer ihm Zugang hatte.

Er nestelte einen winzigen Schlüssel in Form eines Herzens mit einem Kreuz in der Mitte und gespreizt nach oben ragenden Dornen von einer Kette an seiner Brust. Der Schlüssel passte in das kleine Schloss der Schatulle. Er öffnete den gewölbten Deckel und nahm sein altes Bischofskreuz mit der Kette hoch. Ein halbes Leben war vergangen, seit er das Kreuz zum ersten Mal auf der Brust getragen hatte. Damals war er zugleich Kanzler des Königs von Neapel gewesen, der auch der Graf der Provence war und eine der größten Bibliotheken mit arabischer Literatur im ganzen christlichen Abendland besaß.

Niemand in seinem alten Bischofspalast wusste, wie sich die Querbalken des Kreuzes schräg aufstellen und dann drehen ließen, um den eigentlichen Schlüssel für die große Truhe freizulegen.

Johannes XXII. hatte Truhe und Schlüssel als Geschenk von einem jungen Kaufmann erhalten, der schon seit einigen Jahren in seinem Auftrag bestimmte Bücher beschaffte, die überall als Ketzerei und Teufelswerk verdammt wurden. Aber noch immer fehlte ihm das eine entscheidende Buch, nach dem er schon so lange suchte. 

Nicht zum ersten Mal hatte er Bertrand de Comminges nach Spanien geschickt, um dort die ursprüngliche Fassung des verbotenen Buches der im Jahr des Herrn 1310 in Paris verbrannten Begine und Ketzerin Marguerite Porète zu suchen. Das Buch war ein Werk mit geheimnisvollen und für die Kirche gefährlichen Andeutungen, das die Verfasserin »Spiegel der einfachen, vernichteten Seelen, die nur im Wunsch und in der Sehnsucht nach Liebe verharren« genannt hatte. Das schon vom Vorgänger des Papstes schärfstens verurteilte Lehrbuch der Liebesmystik beschrieb den Weg der Seele über sieben Stufen zur Vollkommenheit. Und es war ähnlich aufgebaut wie das gewaltige, elf Jahre später erschienene Werk der »Göttlichen Komödie« von Dante Alighieri. 

Bei der Porète gelangte die Seele als Schülerin der Gottheit über sieben Sphären vom »Tal der Demut« über die »Ebene der Wahrheit« auf den »Berg der Minne« zur Liebes-Einheit mit Gott. Bei Dante waren es neun Stufen, die die Seelen bis ins Paradies zu erklimmen hatten. Aber das eigentliche Geheimnis hinter »Spiegel« und »Komödie« war die nur den Eingeweihten bekannte Quelle aus Arabien, die das Paradies als Rose beschrieb. 

Es war die so genannten Mi’raj-Episode, in der berichtet wird, wie der islamische Prophet Mohammed von Jerusalem ins Paradies gelangt ist. Aus dieser Erzählung, der »Himmelfahrt« des Propheten Mohammed, hatte die Porète ebenso geschöpft wie Dante. 

Johannes XXII. verzog sein Gesicht, als er an den aus Florenz verbannten Italiener dachte. Bis zu seinem Tod anno 1321 musste der den Scheiterhaufen fürchten. 

»Recht geschah ihm, diesem Gedankendieb!«, murmelte er. Der große Dichter war von Geburt und Erziehung »Schwarzer« und Anhänger des Papstes gewesen, dann aber zu den »Weißen«, den kaiserlichen Ghibellinen, übergelaufen. 

Doch dann beruhigte sich der Papst wieder. Er dachte daran, dass nicht Dante, sondern dessen Lehrer Zugang zu den arabischen Werken in der Bibliothek des Königs von Neapel gehabt hatte. Und plötzlich stutzte er. 

Auch die verbrannte Ketzerin und Begine Porète war niemals in Spanien gewesen! Doch auch sie war von einem Lehrer beeinflusst worden – von keinem anderen als Meister Eckhart. Johannes XXII. wunderte sich, dass ihm diese Eigenartigkeit bisher niemals aufgefallen war, denn noch ein Dritter war Teil des Rätsels. 

Er spürte, wie eine ungewohnte Erregung von ihm Besitz ergriff. Bertrand de Comminges, sein Kaufmann und Händler in geheimer Mission, war ebenfalls an der Sorbonne in Paris Schüler von Meister Eckhart gewesen! Und er war auch derjenige, der die drei geheimen Zeichen im Stein gefunden und seinem Vater, Papst Clemens V., in seinen letzten Stunden offenbart hatte. 

Mit seinem großen, hochgeklappten Bischofskreuz öffnete Johannes die Truhe. Er fürchtete sich vor dem Tag, an dem er zu schwach sein würde, um den Deckel anzuheben. In dieser Nacht nach dem Abzug des Sturms schaffte er es noch einmal. 

Seine Unterlippe bebte, als er den fliederfarbenen Bischofsring seines Vorgängers auf dem Heiligen Stuhl vor sich leuchten sah. Direkt daneben lag der zweite Stein mit eingravierten Zeichen der untergegangenen Armen Ritter Christi vom Tempel Salomonis zu Jerusalem. Der Rubin stammte aus der Tiara, die Clemens V. getragen hatte, als während seiner Krönung in Lyon ein Anschlag auf ihn verübt wurde. Zusammen mit dem dritten Zeichen am Eingang der alter Templer-Komturei in Avignon sollte sich das Original des Buches der Porète entschlüsseln lassen. 

Johannes XXII. hatte keinen Blick für die Bücher, auf denen die Glasschale mit den beiden Edelsteinen lag. Obwohl die Knie ihn furchtbar schmerzten, sank er vor der Truhe nieder. 

»Vergib mir, Herr«, flehte er zu Gott dem Allmächtigen, »strafe mich wie den ärgsten Sünder und Pharisäer unter der Sonne, aber verschone meinen Kaufmann Bertrand de Comminges, und lass ihn trotz Kälte und Räubern, Kriegen und Krankheiten nicht in Stürme geraten, und lass ihn mit dem schrecklichen Buch der Ketzerin Porète heil und gesund in Avignon eintreffen!« 

Er zögerte einen Moment, dann fügte er ein Versprechen hinzu: »Und wenn er es tatsächlich schafft, will ich ihn am Sonntag Laetare mit der Goldenen Rose auszeichnen!« 

Bertrand de Comminges duckte sich vor einem Schwall Wasser, der ihm entgegenpeitschte. Die Welle brach über ihm und dem Admiral zusammen, als hätten es Meer und Sturm nur auf sie beide abgesehen. Sie merkten nicht einmal, dass zwei von den Ruderern durch die Luken mitgerissen wurden.

Bertrand rappelte sich auf. Er dachte an die vielen Monate der oft gefährlichen, aber vergeblichen Suche nach dem Porète-Buch. Auch mit der Hilfe seines bei den Juden, Christen und Muslimen in gleichem Maß hoch angesehenen Schwagers Seder Ben Ariel hatte er es nirgends in Cordoba finden können. 

Inzwischen war er noch nicht mal mehr sicher, ob es sinnvoll war, die Geheimnisse der Ägypter, Babylonier und der Kabbala mit Hilfe des Buches zu entschlüsseln. Den Templern hatte ihr ganzes Wissen ebenso wenig wie ihr Gold und Silber genutzt. Wie sollten die Geheimnisse der Alten, die Zaubersprüche König Salomons und die hermetischen Formeln den Papst und die Kirche vor den Waffen und Kriegsknechten von gottlosen, machtgierigen Kaisern und Königen retten? 

Die Welt stand am Rand des Untergangs, so viel war allen klar. Nie zuvor hatte es so viel Unglauben, Eigennutz und Mangel an Christlichkeit gegeben. Doch genau deshalb fühlte sich Bertrand de Comminges verpflichtet, das Geheimnis der Templer zu finden und dem Pontifex maximus zu übergeben. Kein anderer Mensch war so nah an einem Durchbruch. Er hatte die Zeichen und konnte sie entschlüsseln. Was jetzt noch fehlte, war nur dieses eine Buch. Aber Bertrand war es nicht gelungen, es zu finden. 

Die nächste Welle rollte heran. Sie sah aus, als würde es seine letzte sein. Vielleicht deshalb dachte er plötzlich über sich selbst und sein bisheriges Leben nach. 

Er war mittlerweile dreiunddreißig Jahre alt, schlank, blond, seit zwölf Jahren verwitwet und höchst erfolgreich im Namen Gottes und des Profits. Er wusste, dass er zu den angesehensten und zugleich meistgefürchteten Kaufleuten Avignons zählte. Durch seine Almosen galt er als mildtätig, freundlich und angenehm in Gesellschaft, aber auch streng in den Regeln der Gilden bei Arbeit und Lohn, berechnend im Geschäft und verschlossen bei allem, was mit seiner Herkunft, den Juden des Papstes oder dem Vermächtnis der Templer zu tun hatte. 

Seit sein Vater als Papst Clemens V. die kleine Stadt mit ihrer berühmten Brücke über die Rhône zum neuen Sitz des Heiligen Stuhls auserwählt hatte, waren ihre Mauern viel zu eng geworden. Allein zur Kurie gehörten inzwischen vierundzwanzig Kardinäle und mehr als fünfhundert direkt Besoldete, von allem weiteren Anhang gar nicht zu reden. Und wie der Honig die Wespen hatte der Heilige Stuhl Hunderte von Gläubigen und Betrügern, Handwerker, Tagelöhner, Händler und Kriegsknechte, Gaukler und Pilger angezogen. 

Bertrand war erst nach dem Tod seines Vaters Kaufmann geworden. Obwohl er bereits an der Sorbonne in Paris bei den berühmtesten Lehrern studiert hatte, hatte ihn der hochnäsige Marco Ambrogio nur unter der Bedingung in sein Handelshaus aufgenommen, dass er wie ein Novize im Kloster mit niedrigsten Arbeiten begann. Er war jung und glücklich verheiratet, doch drei Jahre lang – bis zum Tod seiner jüdischen Ehefrau Miriam nach der Geburt ihres dritten Kindes – hatte er nicht einmal ohne Aufsicht die Handelsbücher ansehen dürfen. 

Sein Schmerz über den Verlust seines über alles geliebten Weibes war so gewaltig gewesen, dass er seine Kinder bei Verwandten der Mutter gelassen und selbst zu einem der schlimmsten Betrüger unter den Kaufleuten der Straße geworden war. Drei Jahre lang hatte er wie ein Fuhrknecht bei Hitze und Kälte, Regen und Schnee schroff und bewaffnet die Warenlieferungen Ambrogios durch halb Europa begleitet. Dabei hatte er oft genug erst bei Sonnenaufgang vor irgendeiner Messe Schimmel von Käse gekratzt, verdorbene Fische unter den frischen im Fass versteckt, Ellen mit verkürzten Einkerbungen für das Aufmaß von Tuchballen in den Ärmel gesteckt und die Gewichte von Münzwaagen ausgetauscht. 

Er hatte gelernt, wie man lügt und betrügt, Zöllner und Wachen besticht, in Herbergen ohne Zeche davonkommt, anderen die Schuld an eigenen Fehlern zuschiebt, und war einige seltene Male aus einer Weiberschlafkammer vor dem tobenden Ehemann soeben noch davongekommen. Bertrand war – bis auf einige Prügel und den gelegentlichen Verlust eines Marktstandes, eines Fuhrwerks oder eines Vertrages sowie dem kleinlichen Besuchsverbot für ein paar Städte in Frankreich und Flandern – in all den Jahren gesund davongekommen, glimpflicher jedenfalls als sein Patron Ambrogio. 

Als die Brandkatastrophe den Handelsherrn in Brügge traf, hatte die Gesellschaft kleine Betrügereien längst nicht mehr nötig. Dennoch führte das Unglück dazu, dass der schwer verletzte Ambrogio aufgeben musste und Bertrand de Comminges den Fondaco in der ehemaligen Komturei der Tempelritter in Avignon früher als vorgesehen übernahm. 

Inzwischen waren weitere vier Jahre vergangen, und er galt als einer der wenigen vertrauenswürdigen Männer von Papst Johannes XXII., der Apostolischen Kammer. Nur den entscheidenden Auftrag hatte er auch diesmal nicht erfüllt.

Noch während er nach dem Vermächtnis der ketzerischen Begine suchen ließ, hatte einer der besten arabischen Goldschmiede Cordobas eine anderthalb Spannen große Rose mit Blüte, Blättern und Stiel aus fünf Pfund Gold und Edelsteinen angefertigt. Es war eine jener Rosen, die jedes Jahr am Rosensonntag in der Privatkapelle des Papstes an einen Kämpfer des Glaubens verliehen wurden, der sich um die Heilige römische Kirche besonders verdient gemacht hatte.

In all den vorausgegangenen Jahrhunderten war die Papstrose von Goldschmieden in Rom und dann in Avignon angefertigt worden. Bertrand hatte viele Abbildungen gesehen und einige der Kopien und Wachsabdrücke aus dem päpstlichen Archiven als Vorlage nach Spanien mitgenommen. Dennoch übertraf die Goldene Rose, die er jetzt zum Papst bringen wollte, an Schönheit und Kostbarkeit alle bisher gefertigten. 

Außer dem arabischen Goldschmiedemeister in Cordoba und Bertrands jüdischem Schwager Seder Ben Ariel wusste nur er bisher, welche Geheimnisse neben ihrem Duft von Moschus und Balsam im Blütenkelch der ganz besonderen Rose verborgen waren. 

Nach mehr als zweihundert Jahren entsprach diese Rose genau derjenigen, die das eigentliche Geheimnis in sich barg und die Papst Urban II. zu Beginn des ersten Kreuzzugs verschenkt hatte. 

Sämtliche Goldenen Rosen früherer Päpste waren nur mehr oder weniger gelungene Annäherungen an das eine, das magische arabische Original gewesen, das bis auf die Kabbala und das Wissen König Salomos zurückgehen sollte. 

Dutzende von Wissenden hatten in den vergangenen zwei Jahrhunderten mit Hilfe von Zeichnungen, Beschwörungen und Gebeten wieder und wieder versucht, den besten Goldschmieden jenen Funken der Erleuchtung zu übermitteln, der aus der Goldenen Rose das Abbild des Paradieses machte. Aber die meisten dieser Rosen hatten nicht mehr viel mit dem ursprünglichen Geheimnis zu tun. Viele glaubten, dass die materia der Rose aus Gold, Balsam und Moschus die Dreieinigkeit aus der Macht, der Weisheit und der Liebe symbolisierte. Selbst Vater, Sohn und Heiliger Geist waren immer wieder mit der Goldenen Rose in Verbindung gebracht worden. 

Dabei gab es sehr wohl eine Botschaft in Bertrands Rose, die nur von den Erben der Templer und wenigen Eingeweihten zu deuten war. Nur wenn es ihm gelang, seinen Schatz unversehrt bis nach Avignon zu bringen, konnte er anstelle des verschollenen Buches der verbrannten Ketzerin zu einer starken Waffe gegen den Antichrist werden. 

 

 

 

 

  Kapitel 2: Das Seeräubernest

 

Die Gefangene in der Felsenfestung steil über dem Hafen von Monaco stand am Fenster und genoss die kalte, hin und wieder von hoch fliegendem Gischtschaum durchmischte Nachtluft. Die schwarzen Wolken über dem Meer mit ihren weiß zerfaserten Rändern zogen auf sie zu.

Catherine Grimaldi war auf der Burg geboren, in der sie jetzt als Gefangene der Spinolas aus Genua festgehalten wurde. Ihre Familie hatte ebenfalls zum Adel von Genua gehört und die Guelfen, oder auch Welfen, wie sie im Norden genannt wurden, auf der Flucht vor den Ghibellinen aufgenommen. Genau das war den Grimaldis zum Verhängnis geworden.

Die hochgewachsene, in dicke schwarze Wolltücher gehüllte junge Frau holte tief Luft. Ihr Seufzer verlor sich im Brausen des Sturms und dem donnernden Krachen der Brecher gegen die Felsen unter der Festung.

Sie strich sich die kalte Nässe der Nacht aus dem ovalen Gesicht. Ihr langes schwarzes Haar schimmerte im Widerschein des Kaminfeuers. Sie war froh, dass sie endlich wieder tief durchatmen konnte, ohne auf die ständigen Schmähungen und Drohungen jenes Mannes achten zu müssen, der seit fast zwei Jahren Herr der Grimaldi-Burg war.

Gherardo Spinola hatte sie einfach von ein paar groben Kerlen aus der anderen Stammburg der Grimaldis in Cagnes-sur-Mer zwischen Nizza und Cannes entführen und verschleiert nach Monaco bringen lassen. Er war dabei kaum anders vorgegangen als bei seinen sonstigen Raubzügen.

Die ganze Zeit über war sie zwar äußerlich gut behandelt worden, aber eine streng bewachte Gefangene gewesen. Sie konnte sich nur innerhalb der Felsenfestung frei bewegen. Es gab vom Felsplateau nur wenige Abstiege, die allerdings von Spinolas Leuten leicht zu bewachen waren. Über diese Wege war es, lange bevor Catherine geboren war, einigen ihrer Vorfahren gelungen, als Mönche verkleidet und bewaffnet in die Burg einzudringen und sie von den damaligen Besetzern für die Grimaldis zurückzuerobern. Die Großtat von 1297 war auch im Wappen der Familie verewigt worden – als zwei Mönche mit Schwertern... 

Wie sehr wünschte sie sich, dass erneut mutige Männer über das Meer kamen, um vom Wasser her in die Höhlen der Festung einzudringen und sie zu befreien. Aber sie kamen nicht.

Nach der ersten Woche in stolzem Zorn hatte Signore Spinola ihr nachgegeben und ihr einige alte Zofen aus Catherines Kindertagen zugesellt. Die furchtsamen Weiber ertrugen jedoch die Gefangenschaft von Catherine nicht und jammerten laut und im Chor klagend, sobald der Genueser auftauchte. Nach einem Monat hatte Catherine genug gehabt und sie alle barsch zurückgeschickt. Seither lebte sie allein im oberen Stockwerk der Festung. Bis auf einige tumbe Dienerinnen aus den Bergdörfern der Seealpen hatte sie keinerlei Gesellschaft mehr.

Manchmal jedoch waren Adlige und Angehörige des Rates von Genua aufgetaucht, um sie wie eine edle, noch ungezähmte Stute zu betrachten. Mehr als ein Jahr lang hatte sie sich stolz und verächtlich geweigert, mit Signor Spinola oder den lüsternen Männern aus seinem Gefolge zu sprechen. Sie hatte weder mit den Augen geblinzelt, noch einen Finger gerührt, wenn ihr etwas gereicht werden sollte. Dutzende von Tellern aus dem früheren Besitz ihrer Familie waren mit köstlichen Speisen auf dem Boden zerschellt, Flakons und Tiegel mit wertvollen Salben und Ölen zersplittert, weil sie nicht zufasste. Viele Monate lang hatte sie sogar darauf verzichtet, mehr als das Notwendigste an Brot, Wein oder Obst und Käse zu sich zu nehmen. Und auch das hatte sie einen ganzen Sommer lang oft wieder von sich gegeben, um mit dem Erbrochenen auch ihren Abscheu loszuwerden.

»Nein!«, rief sie entschlossen und stark in den Sturm hinaus. »Ich denke nicht daran, mich zu beugen!«

Der Sturm spielte ein böses Spiel mit Bertrand, Grimaldi und seinen Leuten. Es schien, als wolle er die Galeere jetzt nicht mehr aufhalten, sondern erst recht vorantreiben. Obwohl das Schiff ohne Hauptmast eigentlich manövrierunfähig war, setzte der Admiral alles auf eine Karte.

»Alle Luken mit ungeraden Nummern auf!«, rief er. Der Bootsmann pfiff trillernd wie die Schafhirten in den Bergen der Provence.

»Immer zwei Mann an ein Ruder!«, befahl der Admiral.

Bertrand bewunderte die Kaltblütigkeit des alten Piraten. Jeder andere hätte längst aufgegeben, doch dieser Mann beugte sich weder dem Meer noch dem Sturm. Und wieder beglückwünschte sich Bertrand, dass er auf diesen Mann und keinen anderen gesetzt hatte.

Aber Bertrand de Comminges war gewarnt gewesen. Allein in Avignon gab es genügend missliebige Konkurrenten, Banken und Geldwechsler, die jede Schwäche eines Handelshauses sofort ausnutzten und mit Gerüchten sogar noch förderten. Und auf der anderen Seite der Seealpen, in Norditalien, regierten inzwischen zwielichtige Familien in manchen Städten – alte Familien mit gewachsenem Einfluss oder durch Lug und Verrat hochgekommene Räuber, die keinen Vergleich mit den Piraten der Meere zu scheuen brauchten.

Seit dem Ende der Kreuzzüge und dem Verlust Jerusalems vor gut vierzig Jahren sorgten weder die Johanniter noch andere seefahrende Orden für Sicherheit auf dem Wasser. Die einst so mächtigen Templer gab es nicht mehr, und trotz der zunehmenden Bewaffnung der Schiffe wurden Piraten und Korsaren mit ihren schnellen Seglern immer dreister. Kaum ein Schiff, das noch ohne Begegnung mit den Räubern der Meere zwischen Spanien und Italien, Frankreich und den Häfen im Norden Afrikas verkehren konnte. Wer von den Gekaperten Glück hatte, konnte vielleicht noch auf ein Dasein als Sklave hoffen.

Die Eigner der Schiffe und ihre Kapitäne mussten ihr Dasein mit Handel und Erpressen von Lösegeldern fristen. Was sich für die Eroberer nicht lohnte, wurde sofort und ohne Federlesen der Tiefe des Meeres übergeben. Das galt für Schiffsladungen ebenso wie für ihre unglücklichen Besatzungen. Wer Salz oder billige Wolle von spanischen Merinoschafen für die Tuchmacher in der Toskana transportierte, kam schlechter weg als Kapitäne mit Zinn aus Cornwall für die wehrhafte Republik Venedig oder die Schiffe für Genua mit wertvollen Spezereien und Gewürzen aus dem Orient.

Bertrand spürte, wie ihm erneut das Wasser aus den langen blonden Haaren am Hals entlang durch den Kragen bis über Brust und Rücken rann. Der Admiral und auch er selbst hatten alles versucht, um die Route geheim zu halten. Wie andere Kaufleute hatten sie vor ihrer Abfahrt in Pisa Münzen in den Hafenspelunken und in den Gassen des unsittlichen Gewerbes verteilt, Gerüchte über eine geplante Route nach Amalfi im Süden verbreiten lassen und vertrauenswürdige Schreiber in Pisa und Prato, Lucca und sogar in Florenz mit der üblichen Milde in Form von geweihten Heiligenbildern, einigen Ellen Samtstoff, ein paar Schinken aus der Romagna oder einem Fässchen Moscato bedacht. Wie geplant nahmen die falschen Nachrichten ihren Weg, und zum Schluss kamen die anfangs sorgsam in die Welt gesetzten Gerüchte fast der Wahrheit wieder zu nahe:

»Ganz im Vertrauen«, flüsterte daher manch einer hinter vorgehaltener Hand. »Bertrand de Comminges, der Kaufmann des Papstes in Avignon, will nur zur Tarnung für seinen nächsten Coup allerbilligste Merinowolle mit einer Galeere des Admirals Grimaldi verschiffen.«

»Man weiß überhaupt nicht, was wirklich dahinter steckt«, hatten sich daraufhin diejenigen am Hafen von Pisa beschwert, die sonst stets eingeweiht waren.

»Vielleicht fliehen sie auch auf dem Seeweg und umschiffen das Heer des Bayern auf dem Weg nach Rom, um dem König von Neapel neue Waffen und Verstärkung zu bringen.«

»O nein«, behauptete ein anderer. »Ich weiß zuverlässig vom Verlobten meiner jüngsten Dienstmagd, deren Tante als Köchin bei dem von Gott gestraften und durch böse Brandwunden entstellten Handelsherrn Marco Ambrogio in Pisa arbeitet, dass er Waffen für den Papst mit sich führt. Und ein Kästchen aus Silberblech nach Avignon bringen will. Nein, keine Reliquie und auch keine Schmuckschatulle, sondern irgendwas ganz anderes. Die Sklaven an Bord der Galeere sollen übrigens nicht freigekauft, sondern nur heimlich getauft sein.«

»Ein gänzlich verbotenes und sündiges Tun!« 

»Ein ehrbarer Kaufmann wie de Comminges wird ganz genau wissen, was er verantworten kann. Der illegitime Sohn vom Papst Clemens V. mag hart wie ein Pirat sein, wenn es um seinen Profit geht, aber bleibt rein wie das Lamm Gottes, wenn er Geschäfte mit dem Heiligen Stuhl macht. Er würde niemals mit getauften Sklaven auf einem Schiff fahren.« 

Aber genau das tat Bertrand bei dieser riskanten Fahrt. Der Admiral hatte für alle neugierigen Blicke sichtbar Weizen aus der Toskana in Pisa geladen, dazu mehrere Dutzend mannshohe, in Wachstuch gewickelte Stoffballen, die angeblich im Auftrag der Arte della lana, der Tuchmachergilde von Florenz, über das Meer, die Rhône und dann die Maas hinab bis nach Flandern gebracht werden sollten. 

Bertrands eigene Beiladung fiel kaum ins Gewicht. Sie bestand aus einer Truhe mit Handgriffen an den Seiten, in der zwölf sorgsam geölte Schwerter mit Damaszenerklingen verpackt waren. Sie sollten ein Geschenk seines Schwagers Seder Ben Ariel und einiger anderer Kaufleute in Cordoba für den Papst sein. Dazu gehörten auch fünfmal zwölf Messer aus Toledo in verschiedenen Längen und Schliffen und mit kostbar verzierten Griffen für den päpstlichen Speisesaal. Darüber hinaus führte Bertrand nur noch einen mannshohen Ballen mit ungewaschener, gepresster Schafwolle mit sich. 

Niemand im Hafen von Pisa war der Ballen aufgefallen, der alt und unansehnlich aussah – wie zu lange in einem Hafen gelagert, in Wind und Wetter vergessen oder zu oft hin und her geworfen. Und niemand ahnte, dass dieser eine, im Inneren mit Korkschichten, Schweinsblasen und mehreren geteerten Häuten gepolsterte Wollballen mehr wert war als die angeblich freigelassenen Sklaven des Admirals, die übrige Ladung samt der Galeere und allen Waffen an Bord. 

Mel Comyn hatte Durst. Die Luft schmeckte noch immer salzig durch den großen Sturm, und der rothaarige schottische Monsignore brauchte einen großen Schluck seines teuflisch brennenden Aqua vitae, das er zusammen mit dem Messwein hinter dem Altar seiner Kirche verbarg. Comyn konnte das Destillat nach dem alten Rezept von St. Patrick nicht selber brennen, sondern benötigte dafür die Kolben und Öfen in der Sakristei der Kathedrale von Frejus. 

Es hieß, dass der heilige St. Patrick dortselbst bei seiner Rückkehr aus dem Heiligen Land zum ersten Mal in Europa das alte arabische Rezept ausprobiert hatte, aus Palmblättern Arrak herzustellen. Patrick hatte sein Wissen nach Norden mitgenommen, aber in Frejus hatten die Priester und Bischöfe über all die Jahre die Erinnerung an ihn wach gehalten und immer wieder probiert, mit den alten arabischen Apparaten jenes Wasser herzustellen, das schneller und heftiger berauschte als jeder Wein. 

Mel Comyn, der vierundvierzigjährige Schotte, war schon vor ein paar Jahren in die Kirche in der Festung von Monaco gekommen. Er hätte sich einen derartigen Ort nicht vorstellen können, als er noch ein junger Kaplan war und in der kleinen Kirche auf der Brücke von Avignon Dienst getan hatte. 

Aber vor zehn Jahren war dort etwas Merkwürdiges geschehen: Der »Fuchs von Cahors«, wie Papst Johannes XXII. seit seiner Zeit als Bischof genannt wurde, hatte dem rothaarigen Schotten ein feierliches Schweigegelübde abgenommen und ihn an seine alte Bischofskirche nach Frejus geschickt. Er sollte dort nur hin und wieder eines der Fischerboote, das dann nach Osten auslief, mit einigen Krügen Aqua vitae und versiegelten Nachrichten aus Avignon versorgen. Ansonsten sollte er nur abwarten, bis sich eine Vakanz in der Festungskirche von Monaco ergab. 

Comyn hatte niemals herausgefunden, warum der alte Papst so lange vorausplanen konnte, denn zwei Jahre später war beim blutigen Wechsel der Burgherrschaft von Welfen zu Ghibellinen neben vielen anderen auch der bisherige Prediger über die Kante des Felsens ins Meer gestürzt worden. Aus Gründen, die nur Gherardo Spinola selbst kannte, hatte dieser nichts gegen den rothaarigen Schotten als geistlichen Nachfolger. Genau darauf hatte Comyn warten sollen – auf die Kirche, ihr altes Taufbecken, das fast so groß war wie das der Familie Grimaldi in der Burg von Cagnes-sur-Mer und auf den alten, verwitterten Beichtstuhl. 

Wie auch aus vielen anderen Beichtstühlen im christlichen Abendland konnte der Papst erfahren, welche gefährlichen Sünden gegen die Kirche bereits begangen worden waren und welche gerade geplant wurden. Umso mehr war der Papst in Avignon daran interessiert, einen zuverlässigen Vertrauten inmitten der Bergfestung zu platzieren, die soeben von seinen Feinden erobert worden war. Denn dieser Beichtstuhl auf dem Felsen von Monaco besaß ein zusätzliches Geheimnis, das sonst nur eingeweihte Kathedralenbaumeister kannten. 

Das Fischerboot brachte weiterhin Krüge aus Frejus bis zum Felsen von Monaco. Comyn hingegen erhielt den Auftrag, das Sankt-Patricks-Wasser selbst nur in Maßen zu trinken. Nur im Notfall sollte er es nach dem Abendmahl zur Stärkung von reuigen, aber aus Angst verschlossenen Sündern vor der Beichte ausschenken. Wer aus einem der Krüge trank, musste bei der Mutter Maria schwören, nichts davon einem der neuen Herren aus Genua zu verraten. Auch der Priester des Papstes verhielt sich so gehorsam wie irgend möglich gegenüber den Spinolas und ihren Mitläufern. Und er hörte viel mehr, als sie ahnten. 

Die Kirche von St. Nicolas auf dem Felsen war nur wenig größer als die Kapelle für denselben heiligen Nicolas von der Brücke von Avignon. Nichts an dem Gotteshaus war besonders auffällig – nicht einmal die röhrenartigen Vertiefungen im Steinboden des Beichtstuhls. Als Comyn sie zum ersten Mal sah, hielt er sie für Wasserabflüsse. Allerdings entdeckte er draußen am Felsen keinerlei Wasserspeier wie an den Kathedralen. 

Mel Comyn hatte sich daran gewöhnt, dass die neuen Herren der Felsenfestung ihn und seine Dienste kaum noch benötigten. Sie waren nicht exkommuniziert, aber als »Weiße« nicht mehr am Personal des Papstes in Avignon interessiert. Sollte das einfache dumme Volk sich weiterhin an die Rituale halten – für Adlige wie die Spinolas war Ludwig IV. aus München der kommende Herr unter den Bannern des Adlers. 

Gelegentlich kamen einige ihrer Untergebenen noch zur Messe, häufiger auch die Köchinnen, Zofen und Stallburschen, die früher schon bei den Grimaldis gedient hatten. Sie holten sich von Zeit zu Zeit einen Segen für ihre Tiere, blieben ansonsten aber eher misstrauisch gegen den rothaarigen Schotten, der niemals »danke«, »grazie« oder »merci« sagte, sondern bestenfalls sein gutturales »ochay« ausstieß, wenn er mit etwas einverstanden war. 

Mel Comyn entdeckte die geheime Horchverbindung zum Haupthaus wie der Lauscher an der Wand, der zufällig von seinen eigenen Missetaten hört. Er war nach einem guten Maß Aqua vitae in seinem Beichtstuhl eingeschlafen und erst wieder aufgewacht, als er seinen Namen vom steinernen Boden her vernahm. 

»Und ich untersage dir, dass du noch einmal bei diesem Schotten Comyn beichtest!«, erklang die Stimme Spinolas so deutlich, als sei dieser nur ein paar Schritte entfernt. Zu Comyns größtem Erstaunen antwortete die Tochter des Admirals ebenso deutlich und schon fast aufsässig: 

»Verlangst du etwa, dass ich bei einem von euren exkommunizierten Bischöfen meine Sünden bekenne und um Absolution bitte?«

»Was hätte eine gut bewachte Jungfrau in dieser Felsenburg schon zu beichten?«, fragte Gherardo Spinola etwas anzüglich. Comyn saß weit nach vorn gebeugt in seinem Beichtstuhl und starrte im Halbdunkel auf seine Sandalen. Und dann verstand er, warum er dem Streit zuhören konnte, der weit entfernt im Haupthaus der Festung geführt wurde.

In den folgenden Wochen fand er nach und nach heraus, wie weit verzweigt das Lauschsystem war. Ähnlich wie bei einigen verborgenen Auskerbungen in den Wänden und Säulen der neuen gotischen Kathedralen im Herzen Frankreichs hatten der Admiral oder schon seine Vorgänger die Höhlungen im Berg genutzt und Röhren vom Beichtstuhl der Kirche bis in die Säle im Haupthaus der Festung aus dem Fels hauen lassen.

Das Lauschsystem war noch unvollendet, als die Grimaldis erneut die Burg verloren. Trotzdem reichten dem Schotten die beiden bestehenden Horchverbindungen im alten Beichtstuhl aus, um für den Heiligen Vater in Avignon so gut wie alles über die teuflischen Pläne der Genueser in ihrem Seeräubernest zu erfahren... 

Obwohl nichts auf ein zusätzliches Gewitter im Sturm hingedeutet hatte, zuckten plötzlich Blitze durch die Nacht. Der Admiral drehte ihm den Kopf zu und stieß einen mehrfach trillernden Pfiff in der Art aus, wie er bei den Schafhirten der Provence und an den zerklüfteten Piratenküsten als Warnung üblich war.

Es schien, als hätte der alte Grimaldi einen belebenden Trunk zu sich genommen. Er schnäuzte sich, leckte über seine geschwollenen, vom Salz aufgesprungenen Lippen und lachte. Gleich darauf trieb der Sturmwind die schwere Galeere noch mehr zur Seite. Bertrand sah die wenigen verbliebenen Ruderer. Sie kämpften darum, das Schiff voranzutreiben.

Gischt spritzte ihm ins Gesicht. Sie war wärmer als in den vergangenen Stunden. Viel wärmer sogar. Gleichzeitig hörte er vor sich ein Rauschen und Donnern wie von schweren und langen Wogen, wenn sie mit hoher Brandung gegen Felsen schlugen.

Er lockerte seinen schon starr gewordenen Griff. Schwankend schleppte er sich Stück um Stück in Richtung der hinteren Laderäume. Längst hingen nur noch Fetzen der Takelage vom Stumpf des Hauptmastes. Er sah die Überreste im Licht des Mondes, dem sich jetzt einige Sterne zwischen den aufreißenden Wolken hinzugesellten. Vorsichtig ließ er sich über die zertrümmerte Stiege nach unten gleiten. Erschreckt erkannte er, wie hoch hier bereits das Wasser stand. Zwei, drei ertrunkene Körper und losgerissene Fässer trieben an ihm vorbei, stießen gegen seine Brust, drohten ihn einzuklemmen. Noch immer hingen einige Männer über den Rudern und trieben das Schiff weiter.

Seine Hände ergriffen die Schlaufen des Ballens, der so kostbar war, dass er mit seinem Leben für ihn eintreten würde. Im selben Augenblick hob sich der Rumpf der Galeere wie der Leib einer riesigen trächtigen Seekuh in der Brandungswoge. Für einen Moment schien das Schiff mit seiner Ladung und der gesamten Besatzung zu fliegen, dann krachte es hart gegen ein Hindernis, das nur ein Bollwerk aus Fels inmitten der schwarzen, quirlenden See sein konnte.

Ein Schwall von Wasser und geborstenen Planken schoss an Bertrand vorbei. Er stieß seine Arme durch die Schlaufen an den Seiten des alten Wollballens, klammerte sich fest und stieß mit letzter Kraft ein lautes, verzweifeltes »Ave Maria« aus. Nur einer der angeblichen Sklaven antwortete auf provenzalisch:

»...jetzt und in der Stunde unseres Todes!«

Im selben Augenblick sah Bertrand die hohe Wand im Meer. Er starrte nach oben. Im ersten Licht des neuen Tages sah der riesige Felsen wie ein rosafarbener Altar mitten im Meer aus. Ein Altar mit einer Festungsmauer ganz oben. Er fasste fester in die Schlaufen des Wollballens, an dem ihm mehr lag als an seinem Leben. So schnell er konnte, schleppte er ihn nach oben.

Zurück am Oberdeck stieß er mit dem alten Grimaldi zusammen. Der frühere Admiral des Königs umschlang ihn wie ein vergnügtes Kind mit beiden Armen.

»Geschafft!«, stieß er voller Kraft und Energie hervor. »Mein Felsen! Meine Festung! Jetzt befreien wir endlich meine Tochter!«

Er lachte, bis Gischtfetzen ihm den Mund mit Wasser füllten. Bertrand sah ihn mit großen Augen an.

»Wir erobern diese Festung wie vor dreißig Jahren!«, schrie der Admiral. »Aber diesmal nicht als verkleidete Mönche, sondern mit deinen schönen Waffen für den Papst...«

Er lachte nochmals und ließ ihn los. Bertrand biss die Zähne zusammen. O ja, er hatte ihn reingelegt – dieser verdammte Seeräuber hatte ihn von Anfang an getäuscht! Nicht Marseille und nicht Aigues-Mortes war das Ziel seiner mutigen Fahrt gewesen, sondern die Felsenfestung von Monaco, in der die Ghibellinen seine Tochter gefangen hielten!

Und er, der sonst mit allen Wassern gewaschene Kaufmann aus Avignon, hatte nicht nur erstklassige Waffen an Bord gebracht, sondern auch noch für die heimtückische Sturmfahrt bezahlt!

Die ersten Männer warfen sich angeleint ins Wasser und schwammen auf die ausgewaschenen Stufen am Rande des Felsens zu. Direkt dahinter entdeckte Bertrand eine dunkle Höhlung. Die schwere Galeere krachte hart auf einen Felsvorsprung und hing wie ein hin und her schaukelnder Riesenfisch an einem Dorn aus Stein. Vollkommen entsetzt sah Bertrand, wie die ersten Männer seine Waffentruhe wegschleppten. Sie brachen die Verschlüsse auf und schwangen sich nach Piratenart mit seinen Schwertern und Messern über die Reling der gekenterten Galeere.

»Falls unser Überfall nicht gelingt, tauschen wir dich gegen Catherine«, rief der Admiral Bertrand zu. Er lachte erneut. Es sah so aus, als würde er nach ihm greifen. Etwas schlug schwer in Bertrands Nacken. Er krallte sich in die Schlaufen seines Wollballens, dann trieben seine Gedanken fort. Er dachte an Miriam, seine verstorbene Frau, an seine drei Kinder und seine ersten Tage in Avignon. Auch damals hatten sie ihn mehr tot als lebendig aus dem Wasser geholt. Das war im Schlammwasser der überschwemmten Rhône geschehen. Jetzt füllte Salzwasser seinen Mund, seinen Magen und seine Lungen.

 

 

 

 

  Kapitel 3: Lavendel-Dragees

  Bertrand kam sich vor wie unter einem seidenen Vorhang. Er hörte, wie der alte Jude Elia von Carpentras, seine Enkelin Miriam und ihr fünf Jahre älterer Bruder Seder Ben Ariel miteinander stritten. Dann sah er sich selbst am Durchgang zur Küche in der Rue Jacob in Avignon, so jung, wie er vor vielen Jahren ausgesehen hatte...

»Auch wenn du zehnmal mit dem Sohn eines christlichen Papstes verheiratet bist«, stieß Elia vor seiner Enkelin aus, »auch dann gilt noch immer unser altes Gesetz, dass Kinder im Glauben der Mutter erzogen werden und nicht in der Religion des Vaters.«

»Lass Miriam doch selbst entscheiden«, mischte sich Seder ein. »Wie viele Weiber haben das seit den alten Propheten schon getan, und kaum jemand hat sich darüber so aufgeregt wie du jetzt. Eine Frau soll ihrem Ehemann folgen und nicht ihrem Großvater, selbst dann nicht, wenn der einmal Rabbi gewesen ist!«

»Meine Urenkel werden nicht getauft!«, verlangte Elia laut und so bestimmt wie Moses mit den Steintafeln in den Armen. »Nicht in Avignon und auch nicht in Carpentras oder gar Rom!«

Er warf den silbernen Lesefinger, mit dem er sonst voller Ehrfurcht den Buchstaben in der Thorarolle folgte, auf das Lesepult zurück.

»Ihr seid jetzt zwei Jahre verheiratet, und Miriam ist nach den Zwillingen Rebecca und Magdalena erneut schwanger«, sagte Elia mühsam beherrscht zu Bertrand. Der junge Mann, dessen Lebenserfahrung bisher hauptsächlich aus einem Klosteraufenthalt und dem friedlichen Studium bei Meister Eckhart in Paris bestand, lehnte eher hilflos am Durchgang zur Küche. Er hatte einen Arm um seine hochschwangere junge Frau gelegt. »Zwei Jahre, in denen in Avignon und draußen in der Provence alles schlimmer als je zuvor geworden ist! Nach dem Tod deines Vaters, Bertrand, können sich eure zwei Dutzend Kardinäle einfach nicht auf einen Nachfolger für ihn einigen. Sie hocken schon fast zwei Jahre in Avignon und Carpentras zusammen. Aber sie schaffen dabei nur Unfrieden unter euren Gläubigen. Und was ist die Folge davon? Man schlägt schon wieder auf uns Juden ein!«

Elia ging bis zum Altar mit dem siebenarmigen Leuchter. Nacheinander zündete er die einzelnen Kerzen an. Er drehte sich nicht um, als er sagte: »Die Franzosen wollen, dass einer der Ihren zum Papst gewählt wird, die Orsinis und Colonnas aus den mächtigen römischen Familien ebenfalls. Die Knechte der Bischöfe aus der Gascogne und vielleicht auch noch Beauftragte der kaisertreuen Ghibellinen in Oberitalien schüren den Aufruhr gegen beide Parteien. Man hört bereits, dass in der Nacht brennende Fackeln und explodierende Pulvertöpfe in den Hof des Konklaves geworfen werden. Und für derartige Tempelschänder und Pharisäer soll ich meine Urenkel hergeben?«

»Warum einigt ihr euch nicht in der Mitte«, schlug Seder vor. »Wenn die beiden Mädchen jüdisch bleiben, ist unser religiöses Erbe gewahrt. Und wenn Miriam einen Sohn in ihrem Leib trägt, dann soll der nicht beschnitten werden, was ihm in Zeiten wie diesen vielleicht noch einmal das Leben retten kann.«

Der alte Jude stutzte, dann schüttelte er energisch den Kopf. Erst jetzt wandte er sich wieder zu den anderen um.

»Wenn du das willst, Seder, dann kann ein Sohn in Miriams Leib auch nicht meinen Namen tragen. Ein unbeschnittener Elia de Comminges ist weder Fisch noch Fleisch, damit das klar ist!«

»Dann soll er doch einen jüdischen Namen aus dem Neuen Testament tragen«, sagte Seder und lachte. »Nennt Miriams Sohn meinetwegen Thomas oder Andreas, Marcus oder Lucas! Das ist aramäisch und dennoch bei Christen so unverdächtig wie der Name ihres Gottessohnes Jesus von Nazareth!«

Bertrand nahm seinen Arm von Miriam und trat einen Schritt vor. Er räusperte sich zweimal, dann sagte er fest: »Unser Sohn wird wie vereinbart nach eurem Großvater und dem großen Propheten des Alten Testaments heißen. Aber nicht Elia, sondern Elias. Und jetzt möchte ich nichts mehr darüber hören!«

Die anderen blickten ihn plötzlich verwundert an. Zum ersten Mal setzte der sonst so bescheidene und zurückhaltende Sohn des verstorbenen Papstes seinen Willen durch. Er spürte, wie Miriam neben ihm seine Hand suchte und drückte.

»Und nun werde ich Miriam bei euch lassen und wieder zu Marco Ambrogio und seinem Faktor Tonio Brazzi gehen. Ich will endlich den Teilhabervertrag unterschreiben, den mir Ambrogio schon nach dem Tod meines Vaters angeboten hat. Guillelmus Gisberti, der neue junge Notar von Kardinal Godin hat bereits alles vorbereitet.«

»Einen Vertrag mit diesem Italiener?«, fragte der alte Jude abfällig. »Wie lange soll der halten? Sie drehen ihr Fähnchen doch nach jedem, der über die Alpen kommt. Ganz gleich, ob Hunnen oder Germanen, Franzosen oder deutsche Könige.«

»Das mag schon sein«, gab Bertrand besänftigend zurück. »Ich weiß schließlich auch, dass Ambrogio nicht immer ehrlich handelt und sich in manchen Gegenden nicht mehr sehen lassen darf. Eines Tages schneiden sie ihm vielleicht die Gurgel durch, doch dann käme seine Witwe Elena von Pisa an sein gesamtes Erbe. Sie hat keine Kinder, würde verkaufen und ich stünde dann mit leeren Händen auf der Straße.«

»Ich habe mit Seder und deinem Weib Miriam nur noch zwei Enkel«, sagte Elia von Carpentras. »Mit dir und den bald drei Urenkeln von euch seid ihr nur sechs Köpfe, die mich beerben werden. Ich weiß, was ich unseren Gemeinden in Avignon und Carpentras schuldig bin, aber es bliebe noch genug zum Leben für euch alle, dazu das Haus hier in der Rue Jacob. Wozu also brauchst du einen Vertrag mit diesem leichtsinnigen Händler aus der Toskana?« 

»Weil fast jeden Monat mehr Italiener nach Avignon kommen«, sagte Bertrand. »Selbst wenn sie einen Franzosen oder einen Kardinal aus der Gascogne zum neuen Papst wählen, wird man hier immer mehr Baumeister für die Paläste der Prälaten und Gesandten, dazu Maler, Tuchfärber, Goldschmiede und viele andere Handwerker aus Italien benötigen. Ganz zu schweigen von den Geldwechslern, Bankiers und neuen Handelshäusern, die sich hier ihren Teil des großen Kuchens aus Ablasshandel und anderen Abgaben für den Heiligen Stuhl holen wollen.« 

»Du glaubst wirklich, dass euer nächster Papst in Avignon bleiben wird?«, fragte Elia skeptisch. 

Bertrand nickte. »In den vergangenen Jahren habe ich hier und in Carpentras sehr viel gehört. Ich habe genügend Hebräisch und Arabisch gelernt, um zu wissen, wie ihr Juden handelt, Geld wechselt, wuchert und dennoch das meiste von Zinsen und Gewinn an jene abgeben müsst, die euch erpressen, verfolgen und beschimpfen. Jetzt aber will ich lernen, wie die Italiener in ihren Fondacos im Namen Gottes und des Profits zu immer größerem Reichtum kommen.« 

»Ich habe geahnt, dass sie dich abwerben«, meinte Elia. Er seufzte tief und gab damit seinen Widerstand auf. »Nur Unglück in dieser Familie«, klagte er kopfschüttelnd, »es gibt nur Unglück bei mir!« 

Bertrand wusste sehr wohl, worauf der alte Jude ansprach. Sein Sohn Ariel war ums Leben gekommen, als bei der Krönung von Bertrands Vater in Lyon eine Mauer einstürzte und mehrere Menschen erschlug. Es war Seder gewesen, der damals den Rubin aus der Tiara von Papst Clemens V. im Schutt der Trümmer aufgehoben und jahrelang versteckt hatte – einen der drei Steine mit dem Templer-Zeichen vom Kreuz im Herz... 

»Du hast versprochen, dass du mich nach der Geburt unseres dritten Kindes nicht allein in Carpentras zurücklässt«, wandte Miriam ein. 

»Du weißt wie ich, dass ich noch ein Jahr brauche, bis mich Ambrogio vom Gehilfen zum gleichwertigen Partner macht«, antwortete Bertrand. »Es wäre daher besser, wenn du in Carpentras bleiben würdest, denn dort leben mehr Juden als in irgendeinem anderen Ort zwischen Bordeaux und Mailand. Außerdem ist dort die Luft gesünder und die Hitze im Sommer nicht so unerträglich wie in Avignon. Ich selbst will in Avignon zuerst einmal lernen, wie ein christlicher Kaufmann zu denken. Und das ist schwieriger als jede Kriegskunst, meint Tonio Brazzi.« 

»Er muss es wissen, der alte Gauner und Waffenhändler«, meinte Seder und lachte. Nur Elia von Carpentras stand mit herabgezogenen Mundwinkeln vor seinem kleinen Altar und schmollte. 

»Was soll bloß aus der Weisheit der Alten werden, wenn sie von ihren Enkeln derart in den Wind geschlagen wird«, murrte er und schnaubte wie der Esel, mit dem er sonst samt seinem zweirädrigen Karren zwischen Avignon und der jüdischen Hochburg Carpentras hin und her zockelte. 

Vollkommen überraschend drehte sich der alte Jude wieder um. Mit einem gewaltigen Brausen wie von flügelschlagenden Engeln blies er die Kerzen auf seinem siebenarmigen Leuchter aus. Im selben Augenblick wurde es wieder dunkel im Wohnhaus an der Rue Jacob, im jüdischen Carriere von Avignon und im Traum von Bertrand de Comminges. 

Am selben Morgen, an dem die bewaffnete Handelsgaleere mit Bertrand de Comminges im Sturm des Mistrals auf hohe Wogenkämme geschleudert und bis an den Felsen von Monaco geschmettert wurde, blühten im Norden des Heiligen Römischen Reiches längst die Bäume. In Bayern reifte Getreide, und in den Annalen des Königreichs Sachsen sollte später verzeichnet werden, dass man noch vor dem Beginn der Fastenzeit vor Ostern köstliche reife Weinbeeren zum Erzbischof Heinrich II. von Virneburg von Köln geschickt habe.

Überall in Europa spielten die Wetterdämonen verrückt. Im Norden drohten bereits ähnliche Hitzeperioden und Dürrezeiten wie in den vergangenen Jahren in Oberitalien und um Toulouse. Dagegen schien diesmal eine völlig ungewohnte Kälte das liebliche Land zwischen Alpen und Pyrenäen in ihre Krallen zu reißen. 

Nichts stimmte mehr im großen kosmischen Gefüge. Auch in Catherine Grimaldi selbst war etwas zerstört worden. Sie war nicht stark genug gewesen, hatte nicht nein gesagt, als Gherardo Spinola sie vor die Wahl gestellt hatte, ihm entweder bei seinen Plänen zu Willen zu sein, oder ihren Vater durch den Schuss eines bayerischen Armbrustschützen aus einem Hinterhalt in Cagnes-sur-Mer zu verlieren. 

Sie hatte lange gebraucht, um zu begreifen, wie ernst es der Signore meinte. Catherine war anno 1305 geboren, im Jahr nach dem großen Sieg ihres Vaters, in dem seine französischen Galeeren die Flotte der Flamen im Ziriksee vernichtet hatten. Damals hatte ihn Philipp der Schöne in seinem Überschwang mit dem arabischen Titel amir albahr oder auch »Admiral von Frankreich« ausgezeichnet, was so viel wie »König des Meeres« bedeutete. Als Beute des Sieges war für Rainier Grimaldi so viel abgefallen, dass er zu seiner Festung auf dem Felsen von Monaco auch noch die Burg und das Gefängnis hoch über Cagnes-sur-Mer bauen konnte. Auch hier hatte Catherine einige Jahre gelebt, während aus dem nicht mehr benötigten Admiral des verstorbenen Königs einer der härtesten Seeräuber des westlichen Mittelmeers wurde. 

Jetzt aber, in der stürmischen Nacht gut zweiundzwanzig Jahre nach ihrer Geburt, stand sie allein am Fenster ihrer heimatlichen Burg und beklagte sich bei den jaulenden, pfeifenden Ausläufern des Sturms wie bei einer Horde böser Dämonen: