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Khalil Gibran gehört mit Shakespeare und Laotse zu den meistgelesenen Poeten der Welt. Mit dem »Propheten« ist ihm ein zeitloser Welterfolg gelungen, der seinesgleichen sucht. In 26 kurzen Reden öffnet der Prophet seinen wahrheitssuchenden Lesern die Schatztruhen der östlichen Weisheit und Spiritualität und gibt Antworten auf die großen Rätsel des Lebens, auf die Fragen von Liebe, Leben, Erde, Gott und Tod. Das kleine Büchlein wurde in über 50 Sprachen übersetzt und berührt Leser jeden Alters und aller Glaubensrichtungen. Seine Botschaft ist voller Licht, Überzeugungskraft und Zuversicht. Mary Haskell hielt es für das liebenswürdigste Buch, das jemals geschrieben wurde. Die Worte Gibrans haben Dichter und Denker, Musiker und Künstler, Politiker und Redner beeinflusst, darunter Elvis Presley, die Beatles, Johnny Cash, David Bowie, John F. Kennedy und Indira Ghandi und viele andere mehr. Für jede Lebenslage findet sich ein passendes Wort. Der Prophet spricht zu den Menschen von Orphalese über Liebe, Ehe, Kinder, vom Geben und Empfangen, über Freude und Leid, Verbrechen und Strafe, Schmerz, Selbsterkenntnis, Freundschaft, das Gute und Böse, Schönheit, Religion und Tod. Sich die Poesie des Propheten ohne die Bilder Gibrans vorzustellen, ist nur schwer vorstellbar. Die zwölf Illustrationen verleihen dem Buch eine noch größere mystische Note. Sie sind Interpretationen der Worte des Propheten. Doch sind sie noch mehr, weil sie Gedanken hinzufügen, die man mit Worten nicht beschreiben kann. Sie befassen sich wie seine Texte mit den fundamentalen Fragen des Lebens. Es sind äußerst delikat ausgeführte Bilder von höchst symbolischem Charakter. Die farbigen Illustrationen sind nur sehr selten in einer Buchausgabe zu finden.
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Veröffentlichungsjahr: 2018
Gibran Khalil Gibran
mit den farbigen Illustrationendes Autors und einemausführlichen Werkbeitrag
herausgegeben vonAlexander Varell
aionas
Gibran Khalil Gibran
(1923)
ins Deutsche übertragen vonAlexander Varell
Almustafa, der Auserwählte und Geliebte, der seiner Zeit ein Morgenrot war, hatte zwölf Jahre lang in der Stadt Orphalese auf die Rückkehr seines Schiffs gewartet, das ihn auf die Insel seiner Geburt zurücktragen sollte. Im zwölften Jahr, am siebten Tag des Erntemonats Aaylool1, erklomm er den Hügel hinter den Stadtmauern und sah übers Meer; und er erblickte das Schiff, das mit dem Nebel reiste. Da schwangen die Tore seines Herzens auf und seine Freude flog weithin übers Meer. Er schloss seine Augen und betete in der Stille seiner Seele.
Doch als er den Hügel hinabstieg, überkam ihn Trauer, und er dachte in seinem Herzen: Wie soll ich in Frieden und ohne Sorge fortgehen? Nein, nicht ohne Wunde im Geiste werde ich diese Stadt verlassen. Lang waren die Tage des Leids, die ich in diesen Mauern verbrachte, und lang waren die Nächte der Einsamkeit; doch wer kann von seinem Leid und seiner Einsamkeit ohne Bedauern scheiden? Zu viele Splitter des Geistes habe ich in diesen Straßen verstreut, zu viele sind Kinder meiner Sehnsucht geworden, die nackt inmitten dieser Hügel wandeln, und ich kann mich ihnen nicht ohne Kummer und Schmerz entziehen. Es ist kein Kleidungsstück, das ich heute ablege, es ist eine Haut, die ich mit meinen eigenen Händen zerreiße. Auch kein Gedanke ist es, den ich hinter mir lasse, sondern ein Herz, das Hunger und Durst süßten.
Doch ich kann nicht länger verweilen. Das Meer, das alle Dinge zu sich ruft, verlangt nach mir, und ich muss an Bord gehen. Denn bleibt man, obwohl die Nachtstunden brennen, heißt es gefrieren und kristallisieren und auf eine Form beschränkt werden. Wie gern würde ich alles mit mir nehmen, das mich hier umgibt. Doch wie sollte das möglich sein? Eine Stimme kann Zunge und Lippen nicht mit sich tragen, die ihr Flügel verliehen. Sie muss sich allein in den Äther begeben. Allein, ohne sein Nest, zieht der Adler an der Sonne vorüber.
Als er den Fuß des Hügels erreichte, blickte er sich erneut nach dem Meer um und sah, wie sein Schiff sich dem Hafen näherte, Seeleute auf dem Bug, Menschen seines Heimatlandes.
Und seine Seele rief ihnen zu und er sagte: »Söhne meiner ehrwürdigen Mutter, ihr Gezeitenreiter, wie oft seid ihr in meinen Träumen gesegelt. Und nun erscheint ihr in meinem Erwachen, meinem tieferen Traum. Ich bin zur Abreise bereit, und mein Begehren erwartet mit voll gesetzten Segeln den Wind. Nur einen weiteren Atemzug will ich noch in dieser stillen Luft atmen, nur einen zärtlichen Blick gen Osten zurück. Dann will ich mich zu euch gesellen, ein Seemann unter Seeleuten. Und du, unermessliches Meer, du schlaflose Mutter, die allein über Frieden und Freiheit von Fluss und Bach gebietet, nur eine Windung will dieser Fluss noch schlagen, noch ein Murmeln auf dieser Lichtung, und dann werde ich zu dir kommen wie ein Tropfen ohne Grenzen zu einem grenzenlosen Ozean.«
Während er weiterschritt, sah er von Weitem, wie Männer und Frauen ihre Felder und Weinberge verließen und den Stadttoren zueilten. Und er hörte ihre Stimmen seinen Namen rufen, und von Feld zu Feld riefen sie und berichteten einander von der Ankunft des Schiffes.
Und er sagte sich: »Soll der Tag der Trennung etwa der Tag der Zusammenkunft werden? Und soll das heißen, dass mein Abend in Wahrheit mein Morgenrot war? Was soll ich dem geben, der mitten auf seinem Acker seinen Pflug verließ, oder dem, der das Rad seiner Weinpresse stoppte? Wird mein Herz ein Baum werden, schwer beladen mit Früchten, die ich pflücken und ihnen reichen kann? Und wird mein Verlangen wie eine Quelle fließen, dass ich ihre Becher füllen kann? Bin ich eine Harfe, die die Hand des Allmächtigen berührt, oder eine Flöte, durch die sein Atem zieht? Ein Stillesuchender bin ich, und welchen Schatz fand ich, den ich mit Zuversicht darreichen kann? Wenn dies der Tag meiner Ernte ist, auf welchen Feldern säte ich den Samen aus und in welchen vergessenen Jahreszeiten? Wenn dies die Stunde ist, in der ich meine Laterne erhebe, ist es dann nicht meine Flamme, die darin brennen soll? Leer und dunkel werde ich sie heben, und der Wächter der Nacht wird sie mit Öl befüllen und entfachen.«
All diese Dinge sprach er aus, doch vieles in seinem Herzen blieb ungesagt. Es war ihm unmöglich, über sein tieferes Geheimnis zu sprechen.
Als er in die Stadt kam, traten ihm die Leute entgegen, und sie riefen ihn an wie mit einer Stimme.
Die Stadtväter traten hervor und sprachen: »Verlass uns noch nicht. Ein Mittag warst du uns in unserer Dämmerung und deine Jugend hat uns Träume beschert. Weder Fremder bist du unter uns, noch Gast, sondern unser Sohn und Geliebter. Lass uns unsere Augen noch nicht leiden, die sich nach deinem Antlitz verzehren.«
Und die Priester und Priesterinnen sprachen zu ihm: »Lass die Wellen des Meeres uns jetzt nicht schon trennen und die Jahre, die du in unserer Mitte weiltest, nicht zur Erinnerung werden. Du bist als Geist unter uns gewandelt, und dein Schatten war ein Licht auf unserem Antlitz. Wie liebten wir dich! Doch stumm war unsere Liebe und von Schleiern verhüllt. Doch nun ruft sie dir laut entgegen und steht unverschleiert vor dir. Immer schon war es so gewesen, dass man die Tiefe der eignen Liebe erst in der Stunde der Trennung erkennt.«
Auch andere kamen und baten ihn. Doch er antwortete ihnen nicht. Er beugte nur sein Haupt, und diejenigen, die nahe bei ihm standen, sahen, wie Tränen seine Brust benetzten.
Da ging er mit dem Volk auf den großen Platz vor dem Tempel. Eine Frau kam aus dem Tempel, Almitra mit Namen. Sie war eine Seherin. Er sah sie mit größter Zärtlichkeit an. Denn einst, als er gerade einen Tag in der Stadt weilte, war sie die Erste gewesen, die nach ihm suchte und an ihn glaubte.
Sie begrüßte ihn und sprach: »Prophet Gottes, auf der Suche nach dem Höchsten, lange hast du in der Ferne nach deinem Schiff gesucht; nun ist es gekommen und du musst gehen. Tief ist die Sehnsucht nach dem Land deiner Erinnerungen und der Heimat deiner größeren Wünsche. Unsere Liebe wird dich nicht festhalten und unsere Not hält dich nicht auf. Doch ehe du uns verlässt, bitten wir dich, sprich zu uns und verkünde uns deine Wahrheit. Wir werden sie unseren Kindern geben und sie ihren Kindern, und sie wird nicht vergehen. In deiner Einsamkeit wachtest du über unsere Tage und in deiner Wachsamkeit hörtest du unser Lachen und Weinen im Schlafe. So enthülle uns uns selbst und erzähle uns alles, das man dir zeigte, alles von der Geburt bis zum Tode.«
Und er antwortete: »Ihr Leute von Orphalese, von was anderem kann ich sprechen, außer von dem, was jetzt im Augenblick eure Seelen bewegt?«
Da sprach Almitra: »Erzähle uns von der Liebe.«
Und er erhob den Kopf und betrachtete das Volk, und Stille senkte sich über es. Mit bedeutsamer Stimme sprach er: »Wenn die Liebe euch zuwinkt, folgt ihr, auch wenn ihre Wege hart und steil sind. Und wenn ihre Flügel euch umfassen, dann gebt ihr nach, obwohl das Schwert, das sich unter ihren Schwingen verbirgt, euch verletzen kann. Und wenn sie zu euch spricht, glaubt an sie, auch wenn ihre Stimme eure Träume zerschmettern kann, so wie der Nordwind den Garten verwüstet.
Denn so wie die Liebe euch krönt, so kreuzigt sie euch. So, wie sie euch wachsen lässt, so wird sie euch auch beschneiden. So wie sie sich in eure Höhe erhebt und eure Äste, die in der Sonne zittern, zärtlich streichelt, so steigt sie auch zu euren Wurzeln hinab, um sie, die sich an die Erde klammern, zu erschüttern. Sie liest euch auf wie Getreidegarben. Sie drischt euch, um euch zu entblößen. Sie siebt euch, um euch von der Spreu zu befreien. Sie zermahlt euch, bis ihr weiß werdet. Sie knetet euch, dass ihr geschmeidig werdet. Und dann übergibt sie euch ihrem heiligen Feuer, damit ihr zu heiligem Brot werdet für Gottes heiliges Mahl.
All dies wird die Liebe euch tun, damit ihr die Geheimnisse eures Herzens erkennt und in diesem Wissen ein Teil vom Herzen des Lebens werdet.
Doch wenn ihr in eurer Angst nur den Frieden der Liebe und ihren Genuss sucht, dann ist es besser für euch, dass ihr eure Nacktheit bedeckt und den Vorraum der Liebe verlasst, hin in die Welt ohne Jahreszeiten, wo ihr lachen werdet, aber nicht euer ganzes Lachen, und weinen, ohne all eure Tränen.
Die Liebe gibt nichts als sich selbst und nimmt nichts als sich selbst. Die Liebe besitzt nicht, noch kann sie besessen werden.