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3 in 1: Khalil Gibrans "Der Narr", "Der Vorbote" und "Der Wanderer" in einem Sammelband mit den Illustrationen des Autors In seinen englischsprachigen Werken öffnet Khalil Gibran seinen Lesern die Schautztruhen der Weisheit und Spiritualität des Orients. Vor und nach seinem mystischen Jahrhundertwerk "Der Prophet" veröffentlichte er drei kleine Bände mit einer Vielzahl an denkwürdigen, inspirierenden und lebensbejahenden Parabeln, Gleichnissen und Geschichten, die sich rund um die großen Themenkreise von Liebe, Leben, Erde, Gott und Tod bewegen. Nach wie vor zählen sie zu den beliebtesten Werken dieses berühmten Dichters, Denkers und Malers.
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Veröffentlichungsjahr: 2018
Gibran Khalil Gibran
Alle Parabeln, Gleichnisse und Geschichten aus »Der Narr«, »Der Vorbote« und »Der Wanderer«
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Gibran Khalil Gibran
Du fragst mich, wie ich ein Narr wurde? Es geschah so: Eines Tages, lange bevor viele der Götter geboren waren, wachte ich aus einem tiefen Schlaf auf und stellte fest, dass man mir alle meine Masken gestohlen hatte. Sieben Masken waren es, die ich in sieben Leben erschaffen und getragen hatte. Und so rannte ich ohne Maske durch die überfüllten Straßen und rief: »Diebe! Diebe! Diebe! Die verfluchten Diebe!«
Männer und Frauen lachten mich aus, und einige flohen aus Angst vor mir in ihre Häuser.
Als ich den Markt erreichte, rief ein junger Mann von einem Dach: »Seht nur, ein Wahnsinniger!« Ich blickte zu ihm auf, da küsste die Sonne zum ersten Mal mein eigenes nacktes Gesicht. Zum ersten Mal küsste die Sonne mein eigenes nacktes Gesicht und meine Seele entflammte in Liebe zu ihr. Meine Masken wollte ich fortan nicht mehr tragen. Wie im Rausch rief ich: »Gesegnet, gesegnet sind die Diebe, die mir meine Masken stahlen!«
So wurde ich zum Narren.
Ich fand Freiheit und Geborgenheit in meinem Wahn. Es war die Freiheit des Alleinseins und das Geboregensein vor dem Verstandenwerden, weil die, die uns verstehen, etwas in uns versklaven.
Doch lasst mich nicht zu stolz auf meine Geborgenheit sein. Selbst ein Dieb in einem Gefängnis ist sicher vor einem andren Dieb.
In meinen alten Tagen, als mir die ersten Reden noch stockend über meine Lippen kamen, stieg ich auf den heiligen Berg und sprach zu Gott: »Meister, ich bin dein Sklave. Dein verborgener Wille ist mein Gesetz, und ich werde mich dir ewig fügen.«
Gott aber antwortete nicht und entfernte sich wie ein mächtiger Sturm.
Tausend Jahre später bestieg ich abermals den heiligen Berg und sprach wieder zu Gott: »Schöpfer, ich bin deine Schöpfung. Aus Ton hast du mich erschaffen. Dir verdanke ich alles.«
Gott aber antwortete nicht und flog wie tausend flinke Flügel davon.
Nach tausend weiteren Jahren bestieg ich wieder den heiligen Berg und sprach wieder zu Gott: »Vater, ich bin dein Sohn. Voller Erbarmen und Liebe hast du mich zur Welt gebracht, und mit Liebe und Anbetung werde ich dein Königreich empfangen.«
Doch wieder gab Gott keine Antwort und zog fort wie der Nebel, der die fernen Berge bedeckt.
Nach weiteren tausend Jahren bestieg ich wieder den heiligen Berg, sprach zu Gott und sagte: »Mein Gott, mein Ziel und meine Erfüllung! Ich bin dein Gestern und du bist mein Morgen. Ich bin deine Wurzel in der Erde und du bist meine Blüte am Himmel. Gemeinsam wachsen wir vor dem Antlitz der Sonne.«
Da beugte sich Gott zu mir und säuselte mir zärtliche Worte ins Ohr. Wie das Meer, das einen Bach umarmt, der in es mündet, so umarmte er auch mich. Als ich hinabstieg zu den Tälern und Ebenen, fand ich Gott auch dort.
Mein Freund, ich bin nicht das, was ich zu sein scheine. Nichts als ein Kleid ist es, das ich trage – ein mit Sorgfalt gewebtes Kleid, das mich vor deinen Fragen schützt und dich vor meiner Rücksichtslosigkeit.
Das ›Ich‹ in mir, mein Freund, wohnt im Haus der Stille, und darin wird es stets auch bleiben, unerkannt und unzugänglich.
Ich möchte nicht, dass du glaubst, was ich sage, noch dem vertraust, was ich tue. Denn meine Worte sind nichts anderes als der Widerhall deiner eigenen Gedanken und meine Taten deine vollbrachten Hoffnungen.
Wenn du sprichst: »Der Wind weht nach Osten«, sage ich: »Ja, er weht nach Osten«; denn ich will nicht, dass du weißt, dass mein Geist nicht auf dem Wind lebt, sondern auf dem Meer.