Der Racheengel - Ein Aachen Krimi - Frank Esser - E-Book

Der Racheengel - Ein Aachen Krimi E-Book

Frank Esser

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Beschreibung

Er ist auf der Jagd. Er ist gnadenlos. Und er wird nicht aufhören, bis er sein Ziel erreicht hat! Ein Mörder hält Aachen in Atem. Der Racheengel, wie ihn die Presse nennt, weil er am Tatort religiöse Botschaften hinterlässt, hat bereits zwei Menschen erschossen. Als der Krankenpfleger Mathias Bender tot aufgefunden wird, gibt es für Hauptkommissar Karl Hansen und sein Team keine Zweifel mehr. Sie haben es mit einem Serienmörder zu tun. Doch was ist sein Motiv? Zwischen den Opfern gibt es scheinbar keine Verbindung. Handelt es sich bei dem Mörder um einen religiösen Fanatiker oder steckt etwas ganz anderes hinter den Taten? Erst eine zufällige Entdeckung bringt die Ermittlungen in Schwung. Ein Wettlauf gegen die Zeit beginnt, denn Hansen ist davon überzeugt, dass der Mörder wieder zuschlagen wird. Und das möchte er um jeden Preis verhindern...

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Prolog
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Kapitel 43
Kapitel 44
Epilog
Nachwort

Impressum neobooks

Der Racheengel

Ein Aachen-Krimi

Hansens 1. Fall

Impressum

Texte: © Frank Esser Cover: © NaWillArt Coverdesign / www.nawillart-coverdesign.de

Lektorat: ©Schoneburg. Literaturagentur und Autorenberatung

Prolog

Seit seinem zweiten Mord war er der Racheengel. Die Presse hatte ihn so genannt, weil er an den Tatorten eine Visitenkarte mit einem schwarzen Engel und Fragmenten eines bekannten Bibelzitates hinterlassen hatte. Die Journalisten behaupteten, dass es sich bei dem Mörder um einen Psychopathen handelte, der glaubte, im Namen Gottes zu töten. Diese Narren! Trotzdem hatte er Gefallen an seinem Pseudonym gefunden und sich gleichzeitig darüber geärgert, dass ihm das nicht selbst in den Sinn gekommen war. Racheengel wäre die perfekte Signatur für seine Botschaften gewesen, die er an den Tatorten hinterließ. Es hätte im Einklang mit dem Engel gestanden, der seine Karten zierte. Und ebenso war das Pseudonym Ausdruck seines Motivs für die Morde: Rache! Sie war per Definition des Lexikons eine dem modernen Rechtsempfinden nicht mehr entsprechende Extremform der Vergeltung für nach subjektivem Empfinden oder tatsächlich widerfahrenes Unrecht! Ihrer Intention gemäß ist Rache eine Zufügung von Schaden an der Person, die das Unrecht begangen hat. Das klang zwar ein wenig altbacken, aber es traf den Nagel auf den Kopf. Und er hatte sich für die extremste Form der Vergeltung entschieden: für Mord! So war er der Racheengel geworden. In Fleisch und Blut. Der schwarze Engel auf seinen Botschaften hatte eine ganz besondere Bedeutung für ihn. Er war ein Symbol. Er liebte seine Schönheit und sein Antlitz. Er symbolisierte zugleich Trauer und Melancholie und stand zudem für einen geliebten Menschen, den er verloren hatte! Eine mythisch-religiöse Bedeutung hatte das Symbol des Engels und das Bibelzitat dagegen nicht, wie die Presseleute spekuliert hatten. Er war alles andere als ein gläubiger Mensch. Er hörte auch keine Stimmen, die ihm die Morde auftrugen, wie er mancherorts gelesen hatte. Ganz im Gegenteil. Er hatte ein sehr persönliches Motiv für seine Taten. Die von ihm ausgewählten Männer hatten allesamt den Tod verdient. Die Reporter gaben sich zwar alle Mühe, um in ihren Artikeln eine plausible Erklärung für die Morde oder die Bedeutung der Visitenkarte zu finden. Aber sie lagen naturgemäß alle falsch. Erst wenn er sein Werk vollendet hatte, würde die Öffentlichkeit erfahren, dass seine Opfer ein dunkles Geheimnis teilten, das sie um jeden Preis zu verbergen versuchten. Alleine dieses Wissen verschaffte ihm Genugtuung. Und deswegen war es auch egal, ob die Polizei ihn am Ende fassen würde. Zum wiederholten Mal blickte er auf seine Armbanduhr, während er auf dem Rücksitz des alten Opel Astra lag und auf sein nächstes Opfer wartete. Dreiundzwanzig Uhr fünfundvierzig zeigte das Display seiner Digitaluhr an. Wo zum Henker blieb der Kerl? Mathias Benders` Schicht war doch schon vor knapp zwei Stunden zu Ende. Er überprüfte zum wiederholten Male die Walther P88 neun Millimeter mit fünfzehn Schuss, der Schalldämpfer war bereits aufmontiert. Die Waffe hatte er erst am späten Nachmittag gereinigt und geölt. Der Abzug ließ sich ohne Probleme betätigen. Das Magazin war komplett gefüllt, nach dem heutigen Abend würde es zwei Patronen weniger zählen. Wieder warf er einen kurzen Blick auf die Uhr. Dreiundzwanzig Uhr achtundvierzig. Eigentlich hätte Bender schon längst hier sein müssen. Plötzlich hörte er Schritte, die sich dem Wagen näherten. Ein kurzer Blick genügte, um sich davon zu überzeugen, dass es sich um die Zielperson handelte. Der Krankenpfleger hatte endlich Dienstschluss. Er hörte, wie der Wagen mit der Fernbedienung entriegelt und die Tür geöffnet wurde. Bender stieg ein. Bevor der Mann den Schlüssel in das Zündschloss steckte, um das Auto zu starten, hielt er plötzlich kurz inne und schaltete stattdessen erst einmal das Autoradio an. Aus den Lautsprechern dröhnte James Brown´s »I feel good«. Sofort stimmte Bender in den Song ein. Jetzt startete der Krankenpfleger endlich den Wagen und fuhr los. Er verließ singend den Parkplatz des Krankenhauses und steuerte in Richtung Aachener Innenstadt. Das war der Moment, auf den er gewartet hatte. Er richtete sich auf und drückte seinem Opfer den Schalldämpfer seiner Pistole in den Nacken. Mathias Bender erschreckte sich derart, dass der Mann fast das Steuer des Wagens verriss. Es gelang dem Krankenpfleger gerade noch, den Astra in der Spur zu halten. Auch er wurde kurz durchgeschüttelt, aber er hatte sich geistesgegenwärtig mit der freien Hand an der Kopfstütze festgehalten, während er mit der anderen weiterhin auf den Kopf zielte.

»Verfickte Scheiße, was ...?«

Doch weiter kam Bender nicht. Ein energisches »PST«, brachte ihn zum Schweigen. »Ruhig, ganz ruhig, dann wird dir nichts passieren. Hast du das verstanden?«, sprach er leise aber bestimmt. Er erkannte im Rückspiegel die Panik, die dem jungen Mann in den Augen stand. Es ließ ein kurzes Lächeln über seine Lippen huschen.

»Ja«, erwiderte Bender mit belegter Stimme und nickte zur Bestätigung.

»Gut, sehr gut. Dann fahren wir jetzt Richtung Sportpark Soers.«

»Was ... was wollen Sie von mir?«, stotterte der Krankenpfleger, den Blick angsterfüllt geradeaus auf die Straße gerichtet.

»Das wirst du schon früh genug erfahren.«

Mittlerweile hatte es angefangen zu regnen, genau wie der Wetterbericht es vorhergesagt hatte. Vom Rücksitz aus konnte er beobachten, wie Bender zum wiederholten Mal einen verängstigten Blick in den Rückspiegel warf.

»Sie werden mich töten, oder?« Die Worte kamen dem Todgeweihten nur schwer über seine Lippen.

»Kommt darauf an«, erwiderte er ruhig, obwohl das gelogen war. Er würde Bender auf jeden Fall erschiessen.

»Ich will nicht sterben«, flüsterte der Krankenpfleger. Tränen liefen ihm übers Gesicht. Seine Finger umklammerten das Lenkrad, wie er von der Rückbank aus erkannte.

Das Fahrzeug bog auf sein Geheiß hin in die Krefelder Straße ein.

»Natürlich möchtest du das nicht.« Er lachte höhnisch auf. Das wollte sie auch nicht, schob er im Geiste hinterher.

Die Pflegekraft schluchzte, für ihn klang es wie Musik in seinen Ohren. Von Zeit zu Zeit wischte sich Bender mit dem Handrücken die Tränen aus den Augen. Er war felsenfest davon überzeugt, dass der Pfleger unentwegt darüber nachdachte, wie er unbeschadet aus der Nummer herauskommen konnte. Auch dieser Gedanke erfüllte ihn mit Freude – es gab kein Entrinnen für Bender. Sie fuhren am neuen Aachener Tivoli vorbei, dem Stadion der Alemannia, seiner heißgeliebten Kartoffelkäfer, die mittlerweile ein Dasein in der vierten Liga fristeten. Sie ließen die Arena links liegen und fuhren weiter. Mit jedem Meter, den Bender zurücklegte, umklammerten dessen Hände immer mehr den Lenker. Das Weiß seiner Fingerknöchel trat hervor, wie er selbst von der Rückbank aus erkennen konnte.

»Da vorne in den Eulersweg und direkt hinter der Kurve in den Sonnenweg abbiegen Richtung Autobahn«, gab er ihm die nächste Anweisung, während er weiterhin mit der Waffe auf den Kopf des Krankenpflegers zielte.

Bender folgte der Instruktion sichtlich angespannt. Ein Schweißtropfen rann ihm die Schläfe hinab und vermischte sich mit den Tränen, die zuvor geflossen waren.

Auf Höhe der Autobahn, knapp hundert Meter hinter einer Kurve, wo der Sonnenweg parallel zur A4 verlief, gab er den Befehl anzuhalten, woraufhin Bender auf die Bremse trat. Kein einziges Auto war ihnen bisher auf dem letzten Teilstück der Strecke begegnet, und er hoffte, dass das auch so blieb. Die Wahrscheinlichkeit, dass um diese Uhrzeit jemand auftauchte, schätzte er zwar als gering ein, aber man wusste ja nie. Diese Stelle war nicht unbedingt seine erste Wahl, aber durch das verspätete Auftauchen des Krankenpflegers war er gezwungen gewesen zu improvisieren und die Auswahl des Tatortes noch einmal zu überdenken. So waren sie am Ende hier gelandet.

»Wir gehen zu Fuß weiter. Die Scheinwerfer kannst du anlassen. Und keine Mätzchen!«, brummte der Mann von der Rückbank.

Bender nickte nur, bevor er die Wagentür öffnete und ausstieg. Auch er folgte ihm. Der Regen wurde stärker, als sie das Auto verließen.

»Da lang«, zeigte der Unbekannte mit der Waffe und wies auf eine Gruppe von Bäumen in unmittelbarer Nähe zur Autobahn. Er blickte sich um, immer noch niemand zu sehen.

Man konnte lediglich die Autos in kurzen Abständen auf der A4 vorbeidonnern hören. Hier unten gab es nicht die geringste Aussicht darauf, dass ihm jemand dazwischen funkte, sofern in den nächsten Sekunden nicht noch ein Wunder geschah und doch ein Wagen hier auftauchte. Bender folgte seinen Anweisungen wie in Trance, der Krankenpfleger schien sich seinem unausweichlichen Schicksal widerstandslos zu ergeben. Wie ein Schaf, das zur Schlachtbank geführt wurde.

»Bitte, ich will nicht sterben«, wimmerte Bender, als er die Bäume erreicht hatte. Der junge Mann wagte es immer noch nicht, sich umzudrehen. Regentropfen mischten sich mit den Tränen, die ihm unentwegt über die Wangen liefen. »Was auch immer Sie von mir wollen, ich werde es tun«, schob der Krankenpfleger hinterher.

»Da bin ich mir sicher«, erwiderte er ruhig.

Nach wie vor war keine Menschenseele auf der Straße zu sehen. Da er nicht mehr die Zeit gehabt, den Mann irgendwo außerhalb der Stadtgrenzen ins Nirwana zu schicken, war die Autobahnböschung eine gute Alternative.

»Was habe ich Ihnen denn getan?« Die Verzweiflung, die in Benders Stimme zu hören war, rührte ihn nicht im Geringsten.

»Umdrehen und hinknien«, befahl er dem Krankenpfleger. Es machte ihm nicht ansatzweise etwas aus, den Opfern in die Augen zu blicken, bevor er ihnen das Licht ausknipste.

»Bitte«, ertönte die Stimme des Pflegers jämmerlich, als er sich langsam, wie in Zeitlupe, zu ihm umdrehte. »Ich ...«

»Hinknien habe ich gesagt!«, zischte er durch die Zähne. Bender folgte seiner Anweisung. Der Krankenpfleger weinte jetzt hemmungslos. »Du hättest eine faire Chance haben können, wenn du damals zur Polizei gegangen wärst.«

Die Verwirrung stand dem jungen Mann ins verweinte Gesicht geschrieben. »Wovon zum Teufel reden Sie da?«, brachte er mühselig hervor.

»Spielt jetzt auch keine Rolle mehr«, erwiderte er mit eisiger Stimme, bevor er einen Schritt zur Seite trat und abdrückte. Zwei Mal. Der Krankenpfleger Mathias Bender war tot. Damit war sein Auftrag erfüllt. Jetzt stand nur noch ein Name auf der Liste. Die Vorbereitungen für seine letzte Mission hatten schon längst begonnen.

Kapitel 1

Als das Telefon gegen drei Uhr in dieser Nacht klingelte, hatte die Nachtruhe für Kriminalhauptkommissar Karl Hansen wieder einmal abrupt geendet. Spätestens bei dem Wort Mord war er hellwach gewesen. Wenigstens hatte sich der Kollege vom Kriminaldauerdienst kurzgefasst. Seine Frau Christine hatte nichts von dem Anruf mitbekommen. Er beneidete sie darum, weiterschlafen zu können, während für ihn die Nacht beendet war. Er arbeitete seit über zwanzig Jahren für die Polizei in Aachen, davon alleine zehn in der Mordkommission. Vor knapp zwei Jahren war dem Siebenundvierzigjährigen die Leitung des K11, der Abteilung für Tötungsdelikte, übertragen worden. Er galt als ruhiger Stratege, der sich hin und wieder schon einmal gerne von seiner Intuition leiten ließ. Gelegentlich neigte er aber auch zu impulsiven Gefühlsausbrüchen, was seine Kollegen jedoch mit der nötigen Gelassenheit hinnahmen. Sah man von dem leichten Bauchansatz ab, den er mittlerweile nicht mehr kaschieren konnte, hatte er eine schlanke Figur, obwohl er selbst keinerlei sportlicher Betätigung nachging. Er war eher der gemütliche Typ. Er liebte gutes Essen und trank gerne schon einmal einen über den Durst. Abgesehen davon hatte er ein Faible für Geschichte. Wann immer es seine Zeit zuließ, steckte er seine Nase in irgendein Geschichtsbuch.

Hansen nahm seine Kleidung, die er am Vorabend auf dem Stuhl neben dem Bett abgelegt hatte, und schlich nahezu geräuschlos aus dem Schlafzimmer. Darin hatte er mittlerweile reichlich Routine. Er stapfte ins Badezimmer, wusch sich sein Gesicht, brachte seine zu allen Seiten abstehenden braunen Haare wieder in Form und putze sich die Zähne. Knapp zehn Minuten nach dem Telefonat verließ er die Wohnung in der Innenstadt und fuhr zum Tatort, der sich in der Nähe des Sportparks Soers - unter anderem Heimstätte des Fußballklubs Alemannia Aachen - befinden musste. »Sonnenweg, bei der Autobahnbrücke«, hatte der Anrufer gesagt. Hansen wählte die Zufahrt über den Soerser Weg. Er fuhr an der Rückseite des Reitstadions vorbei, in dem jährlich der weltberühmte CHIO stattfand, und folgte dem Straßenverlauf, bis er aus der Entfernung das Blaulicht diverser Einsatzfahrzeuge erkennen konnte. Das Team der Spurensicherung hatte bereits die mobilen Flutlichtstrahler aufgestellt, um den Tatort auszuleuchten. Aufgrund der Informationen, die ihm der KDD-Kollege durchgegeben hatte, musste er davon ausgehen, dass der Doppelmörder, der Aachen seit einigen Wochen in Angst und Schrecken versetzte, wieder zugeschlagen hatte. Der Wahl des Tatortes schien schon einmal ein Hinweis darauf zu sein. Bei dem Gedanken daran verkrampfte sich sein Magen. Als der Maschinenbaustudent Michael Kämper ermordet wurde, hatten Hansen und sein Team noch nicht die geringste Ahnung gehabt, dass dieser Tat weitere Morde folgen sollten. Kurze Zeit später fanden sie den Aachener Geschäftsmann Hans-Josef Körlings. Aufgrund der Spuren, die man am Tatort sicherstellen konnte, war schnell klar, dass der Unternehmer von der gleichen Person ermordet worden war, wie kurz zuvor der Student. An beiden Schauplätzen der Verbrechen hatte die SpuSi jeweils eine Nachricht in der Größe einer Visitenkarte gefunden. Auf der Vorderseite befand sich die Abbildung eines schwarzen Engels. Auf der Rückseite Fragmente eines Bibelzitats aus dem Neuen Testament, dessen Ursprung auf einen alten Rechtssatz in der Tora zurückging, dem ersten Teil der hebräischen Bibel. Bei Kämper »Auge um Auge«. Auf Körlings Karte hatte »Zahn um Zahn« gestanden. Und die Morde wiesen noch eine Gemeinsamkeit auf. In beiden Fällen gab es bisher keinerlei Hinweis auf ein Motiv. Die einzige Verbindung zu den Taten war der Modus Operandi und die verwendete Tatwaffe. Die Opfer hatten sich nicht gekannt.

Als Hansen die Absperrung des Tatortes erreicht und den Wagen abgestellt hatte, konnte er bereits Paul Mertens, den Leiter der kriminaltechnischen Untersuchung, und seine Kollegen in ihren weißen Overalls bei der Arbeit ausmachen. Der KTU-Chef war im gleichen Jahr wie Hansen zur Truppe gelangt. Es gab kaum einen Fall, in dem die beiden nicht zusammengearbeitet hatten. Mertens war fast immer der Erste, der an einem Tatort eintraf. Und meistens auch einer der Letzten, der ihn wieder verließ. Hansen schätzte die Arbeit seines langjährigen Weggefährten sehr. Mertens besaß eine ausgeprägte Kombinationsfähigkeit, und seine bisweilen unkonventionellen Methoden hatten schon oft wichtige Anhaltspunkte geliefert, die zur Aufklärung eines Falles beigetragen hatten. Während sich Hansen dem rot-weißen Flatterband näherte, mit dem der Tatort abgesperrt worden war, bereitete er sich schon innerlich darauf vor, was Mertens ihm wohl gleich erzählen würde. Für den Fall, dass der Racheengel tatsächlich wieder zugeschlagen hatte, konnte er sich schon einmal darauf einstellen, unangenehme Fragen beantworten zu müssen. Erst seinem Chef und später der Presse.

Kapitel 2

»Schöne Scheiße«, polterte Mertens gerade in dem Moment los, als Hansen die Absperrung passiert hatte und auf den Kollegen zusteuerte, der ihm bereits entgegenkam. Die schlechte Laune stand dem hochgewachsenen, schlanken Mann ins Gesicht geschrieben.

»Ich freue mich auch sehr, dich zu sehen!«, erwiderte Hansen.

Mertens ging nicht darauf ein. »Der Platzregen hat alle Spuren weggespült. Dieser Hurensohn hat so ein Glück!«, echauffierte sich der KTU-Mann.

»Hm«, brummte der Hauptkommissar. Auch bei den bisherigen Tatorten war es ihnen bisher nicht gelungen, Spuren sicherzustellen, die mit dem Killer in Zusammenhang standen.

»Mehr hast du dazu nicht zu sagen?«

»Was soll ich denn sonst sagen? Das mit dem Regen ist ärgerlich, aber nicht zu ändern, Paul. Ihr habt eine Visitenkarte bei dem Opfer gefunden?«

»Gut kombiniert, Sherlock. Ist schon im Beweismittelbeutel verstaut. Auf der Rückseite steht der dritte Teil des Bibelzitates. Hand um Hand. Das Opfer heißt übrigens Mathias Bender. Er hatte einen Personalausweis im Portemonnaie«, erwiderte Mertens. »Ich tippe bei der Tatwaffe auf eine neun Millimeter, wie bei den letzten beiden Morden auch. Wir haben bisher allerdings keine Patronenhülse gefunden. Hat der Täter vermutlich mitgenommen. Also können wir erst nach der Obduktion etwas über die Tatwaffe sagen.«

»Gleiche Vorgehensweise, wie bei Kämper und Körlings?«, wollte Hansen wissen.

»Genauso ist es. Ein sauberer Schuss in die Stirn und einer direkt ins Herz. Der Mörder tötet wie ein Profi, aber das wissen wir ja bereits. Auch ansonsten handelt es sich um die gleiche Handschrift. Tatzeit um Mitternacht herum, brutale Hinrichtung und nicht zuletzt die Visitenkarte.«

»Wo ist der Zeuge, der den Toten gefunden hat?«, wollte Hansen wissen.

»Die Kollegen haben die Personalien des Mannes aufgenommen und ihn dann nach Hause geschickt. Der war völlig fertig mit den Nerven. Ein Rentner, konnte keine Nachtruhe finden, hat eine Runde mit seinem Hund gedreht und fand schließlich den Toten.«

»Nachtruhe wir der arme Kerl vermutlich jetzt erst recht nicht mehr finden. Kann ich einen Blick auf das Opfer werfen?«, fragte Hansen nachdenklich.

»Ja, natürlich. Er liegt gleich dort drüben bei den Bäumen an der Autobahn«, zeigte Mertens in Richtung der Stelle. »Wo ist eigentlich der Rest der Truppe?«, fragte der KTU-Chef und setzte sich in Bewegung.

»Wahrscheinlich da, wo ich jetzt auch lieber wäre – im Bett. Ich hatte heute das alleinige Glück Bereitschaftsdienst zu haben, da Riedmann bis gestern Abend noch auf einer Fortbildung war«, erwiderte Hansen, der Mertens folgte.

»Marquardt und Beck werde ich gleich informieren. Wollte erst mal abwarten, was ich hier vorfinde, obwohl der KDD mich schon vorgewarnt hatte, womit wir es vermutlich zu tun haben.«

Sie erreichten den Fundort der Leiche, wo Mertens´ Kollegen damit beschäftigt waren, ein Schutzzelt aufzubauen. Weitere Schauer waren laut Wetterbericht angesagt. Auch wenn der Regen bereits ganze Arbeit verrichtet hatte, gab es immer noch die minimale Chance, irgendwelche Spuren zu entdecken, die der Täter möglicherweise hinterlassen hatte.

Hansen betrachtete die sterblichen Überreste von Mathias Bender. »Der Abstand, in dem unser Mörder zuschlägt, wird immer kürzer. Das bereitet mir Sorgen«, meinte er nach einigen Augenblicken.

»Das stimmt. Und wenn wir ihn nicht bald schnappen, fürchte ich, dass wir schon in Kürze an einem neuen Tatort stehen werden, um die Leiche eines weiteren Opfers zu untersuchen.« Mertens holte tief Luft, bevor er weitersprach. »Mensch Karl, wo soll das alles noch hinführen? Manchmal frage ich mich ernsthaft, warum ich diesen Scheißjob weiterhin mache? In den letzten Jahren ist es immer schlimmer geworden. Erreichen wir eigentlich überhaupt noch irgendetwas mit unserer Arbeit?«

Hansen sparte es sich, auf Mertens Worte einzugehen. Auch wenn er seinen Kollegen wirklich gut verstehen konnte. Aber jetzt war weder der richtige Zeitpunkt noch der passende Ort, um eine Grundsatzdiskussion über den Sinn und Zweck der Polizeiarbeit zu führen. Sie mussten einen Serienmörder schnappen.

»Wissen wir außer dem Namen des Opfers schon mehr über den Mann?«, fragte Hansen stattdessen.

»Nicht viel. Siebenunddreißig Jahre, wohnte in Monschau. Von Beruf Krankenpfleger im Luisenhospital. Wir haben einen entsprechenden Dienstausweis in seiner Brieftasche gefunden«, fasste der KTU-Mann die Informationen zusammen.

Nach seinem Gefühlsausbruch von eben hatte sich Mertens ganz offenbar wieder gefangen, stellte Hansen erleichtert fest. »Das ist doch schon mal ein Anfang. Bei dem Astra dort drüben handelt es sich vermutlich um den Wagen des Opfers?«, fragte Hansen, obwohl er im Grunde die Antwort bereits kannte. Schon bei Kämper und Körlings hatte man die Autos der Männer in unmittelbarer Nähe der Leichenfundorte entdeckt. Offensichtlich wurden die Opfer von ihrem Mörder gezwungen, in ihrem eigenen Wagen zu ihrer Hinrichtung zu fahren.

Mertens nickte. »Wir haben schon mit der Untersuchung begonnen«, murmelte er. »Wird das hier bald mal was mit dem Schutzzelt«, blaffte er die beiden Mitglieder seines Teams mürrisch an, die mit dem Aufbau beschäftigt waren, was Hansen mit einem Kopfschütteln quittierte.

»Explosive Stimmung hier. Ich gebe mal den Kollegen Bescheid und fahre dann ins Präsidium. An Schlaf ist jetzt ohnehin nicht mehr zu denken. Ich erwarte deinen Bericht so schnell wie möglich. Das kannst du übrigens auch dem Rechtsmediziner ausrichten, wenn der denn endlich mal hier auftaucht«, erwiderte Hansen und stapfte davon, ohne eine Antwort abzuwarten.

Kapitel 3

Etwa eine Viertelstunde, nachdem Hansen den Tatort in der Soers verlassen hatte, erreichte er das Präsidium in der Innenstadt. Er stellte sein Auto auf dem Präsidiumsparkplatz ab und betrat das geschichtsträchtige Gebäude aus dem Jahr 1891. Ursprünglich handelte es sich um das ehemalige Postgebäude, das die Polizei nach einer Sanierungsmaßnahme bezogen hatte, um über einen Standort in der Stadtmitte zu verfügen. Der Neubau eines neuen Gebäudes war schon länger in der Planung. Mittlerweile bezweifelte Hansen allerdings, dass er den Tag des Spatenstichs noch jemals erleben würde. Wie er nicht anders erwartet hatte, war außer dem wachhabenden Beamten niemand im Foyer zu sehen. Er nickte ihm zur Begrüßung zu. Hansen war dem jungen Kollegen dankbar, dass er ihm kein Gespräch aufdrängte, um sich nach dem Mord zu erkundigen, von dem er zweifelsohne bereits gehört haben musste. In seinem Büro in der zweiten Etage angekommen, rekapitulierte er die Faktenlage, wie sie sich seit Auffinden des ersten Toten ergeben hatte. Immer mit dem quälenden Gedanken im Hinterkopf, bisher eine wichtige Information übersehen zu haben: Das erste Opfer war der Student Michael Kämper gewesen, vierundzwanzig Jahre alt, ledig. Er wurde vor knapp drei Wochen erschossen in einem Waldstück in Aachen aufgefunden. Er studierte im siebten Semester Maschinenbau an der RWTH. Stabiles soziales Umfeld, keine Vorstrafen, keine finanziellen Probleme. Die befragten Kommilitonen hatten Kämper übereinstimmend als hilfsbereiten, sympathischen jungen Mann beschrieben. Er galt als fleißig, was nicht zuletzt dadurch unterstrichen wurde, dass er zwei Nebenjobs hatte, um sein Studium zu finanzieren. Er arbeitete in einem Café als Aushilfskellner und jobbte bei einer Speditionsfirma im Lager. Hansen legte den Stift beiseite und dachte nach. Keiner der Befragten aus dem familiären Bereich oder im Freundes- und Bekanntenkreis konnte sich erklären, warum jemand Michael Kämper hätte töten wollen. Auch die Ermittler hatten bisher nicht fündig werden können. Anfänglich hatten sie überlegt, ob sie es mit einem Auftragsmörder zu tun hatten. Die Vorgehensweise des Mörders sprach dafür. Der Racheengel tötete kaltblütig und professionell. Die Visitenkarten erinnerten an Mafiamorde, wo die Täter zuweilen eine Spielkarte bei ihren Opfern hinterließen. Zum einen, um zu zeigen, wer für den Mord verantwortlich war, zum anderen, um eine Warnung an all diejenigen auszusprechen, die sich gegen die Auftraggeber stellten. Also hatten sie in den Datenbanken nach ähnlichen Fällen gesucht, aber nichts gefunden. Hansen glaubte auch nicht, dass es die Taten eines religiösen Fanatikers waren, wie die Presse mutmaßte. Das zweite Opfer war der Geschäftsmann Hans-Josef Körlings, der eine Firma mit dem Namen Körlings CarSystem Technology besaß, in der Zulieferteile für die Autoindustrie hergestellt wurden. Achtundvierzig Jahre alt, ledig und tot in der Nähe der Panzersperren des alten Westwalls bei Oberforstbach gefunden. Sie hatten keine Hinweise für mögliche Hintergründe der Mordtat finden können. Weder im privaten Bereich - Körlings hatte einen festen Platz in den wohlhabenden Kreisen der Aachener Gesellschaft inne - noch im Geschäftlichen. Körlings galt als integrer Geschäftsmann. Darüber hinaus war er stark sozial engagiert. Neben seinen obligatorischen großzügigen Jahresspenden für in- und ausländische Hilfsprojekte hatte er in Aachen sogar ein eigenes Projekt ins Leben gerufen. Hier sollte straffällig gewordenen Jugendlichen und Straßenkindern geholfen werden, sich wieder in die Gesellschaft zu integrieren. »Reborn e.V.« war der Name der Einrichtung. Die Recherchen hatten ergeben, dass der Verein beachtliche Erfolge feiern konnte, was die Resozialisierung junger Menschen anging. Jedenfalls lag die Erfolgsquote weit über dem Landesdurchschnitt staatlicher Institutionen. Dass der Täter aus den Kreisen der Jugendlichen stammte, konnte Hansens Team relativ schnell ausschließen. Natürlich gab es diverse Kandidaten, die schon in jungen Jahren so einiges auf dem Kerbholz hatten, aber ein Profikiller war ganz sicher nicht dabei gewesen. Ohne die Visitenkarte an den Tatorten und der Tatsache, dass beide Opfer mit der gleichen Waffe erschossen worden waren, wäre es dem Ermittlerteam wohl nie in den Sinn gekommen, eine Verbindung zwischen den Morden herzustellen. Es gab einfach nicht die geringsten Gemeinsamkeiten hinsichtlich sozialer Herkunft, Lebensstil oder anderer Aspekte! Der Täter hatte ihnen die Verbindung selbst liefern müssen. Unglücklicherweise waren unmittelbar nach der zweiten Bluttat Details bezüglich der Visitenkarte mit dem Bibelzitat an die Presse durchgedrungen. Eigentlich hatte Hansen diese Information aus ermittlungstechnischen Gründen geheim halten wollen, um Trittbrettfahrer auszuschließen. Aber irgendwie war diese Info nach außen gelangt. Die Boulevardpresse schien mit ihrem „Racheengel“ immerhin recht zu haben, was die Motivation der Taten anging. Dass es um Rache ging, hatte der Mörder von Anfang an klar gemacht. Aber Rache wofür? In welcher Verbindung stand der Killer zu Michael Kämper, Hans-Josef Körlings und jetzt Mathias Bender? Sie mussten die gesamten Ermittlungen noch einmal komplett von vorne aufrollen, daran führte kein Weg vorbei. Fast drei Wochen hatten sie bereits an den Fällen gearbeitet, und sie waren nicht weitergekommen. Und jetzt hatte man schon wieder ein neues Opfer zu beklagen. Wenn sein Team nicht schnellstmöglich einen Ermittlungserfolg vorweisen konnte, mussten sie jederzeit damit rechnen, dass sich das LKA in die Ermittlungen einschalten und sie an sich reißen würde. Die Zampanos könnten sich dann wieder aufspielen, und sie selbst ständen als inkompetent da. Der Kommissar erhob sich von seinem Schreibtischstuhl und öffnete das Bürofenster. Eine kühle Brise Frühlingsluft wehte ihm an diesem Märzmorgen ins Gesicht. Er atmete ein paar Mal tief durch und spürte, wie gut ihm der Sauerstoff tat. Ein Blick auf seine Armbanduhr verriet ihm, dass es kurz nach sechs Uhr war. Es blieb also noch reichlich Zeit, bis die Kollegen im Präsidium eintreffen würden. Deshalb widmete er sich wieder seinen Notizen. Aber so sehr er sich auch bemühte, irgendeinen neuen Ansatz für die Ermittlungen zu finden, es wollte ihm einfach nicht gelingen. Er starrte minutenlang auf sein Notizblatt und nickte schließlich ein. Als der Hauptkommissar wieder aufwachte, zeigte seine Armbanduhr bereits sieben Uhr an. Er hatte mehr als eine halbe Stunde geschlafen. Da das Fenster in seinem Büro immer noch offen stand, war es mittlerweile empfindlich kühl in dem Raum geworden. Hansen schloss das Fenster wieder und fasste den Entschluss, in die Stadt zu gehen, um zu frühstücken. Ein leerer Bauch studiert nicht gerne hatte sein Vater immer gesagt. Also machte er sich auf in Richtung Marktplatz, wo sein Stammcafé lag. Nach knapp zehn Minuten Fußmarsch hatte er den Platz vor dem altehrwürdigen Rathaus erreicht, das neben dem Dom das markanteste Bauwerk im historischen Stadtkern von Aachen war. Das im gotischen Stil errichtete Gebäude der Stadtverwaltung aus dem vierzehnten Jahrhundert hatte diverse Brände, Plünderungen und zwei Weltkriege - mal mehr oder weniger unbeschadet – überstanden und gehörte zu Hansens Lieblingsgebäuden in Aachen. Er betrat das Café direkt gegenüber von dem Gebäude und bestellte ein großes Frühstück, das die Grundlage für einen langen Arbeitstag bilden sollte. Er hatte keine Ahnung, wann er die nächste Mahlzeit zu sich nehmen konnte. Unregelmäßiges Essen gehörte leider zu den Nachteilen seines Berufes, den er im Grunde liebte. Gegen halb acht rief er Christine an. Seine Frau war vermutlich schon aufgestanden, da sie eine Stunde später ihren Dienst antreten musste. Sie war Sekretärin bei einer Firma, die Süßwaren herstellte. Christine ging sofort ans Telefon, hörbar erleichtert, dass es alles in Ordnung mit ihm war. Sie hatte immer noch Angst, wenn er so plötzlich das Haus verließ, um zu einem Tatort zu fahren. Diese Sorge konnte er ihr anscheinend nicht nehmen. Damit zu leben war wohl das Schicksal jeder Frau, die mit einem Polizisten verheiratet war. Hansen wusste, dass viele Ehen seiner Kollegen nicht zuletzt deswegen und wegen der Dienstzeiten gescheitert waren. Er selbst war aber davon überzeugt, dass er seine fünfzehn Jahre währende glückliche Ehe mit seiner Christine noch einige Zeit fortsetzen würde. Keine zwei Minuten später beendete Hansen das Gespräch und widmete sich wieder seinem Frühstück. Dabei dachte er über die Ermittlungen nach und vergaß darüber völlig die Zeit. Erst als die Kellnerin ihn ansprach, ob er noch etwas bestellen wolle, bemerkte er, wie spät es inzwischen geworden war. Bis zur Frühbesprechung war es keine Viertelstunde mehr. Hansen beendete das Frühstück, bezahlte und machte sich umgehend auf den Weg zurück ins Präsidium.

Kapitel 4

Gerade, als Hansen die Tür seines Büros aufschließen wollte, ertönte hinter ihm die sonore Stimme von Kriminalrat Richard Hellhausen. Der siebenundfünfzigjährige leicht untersetzte Mann trug wie immer einen tadellos sitzenden Anzug. Das dunkelbraune, von grauen Strähnen durchzogene Haar, war perfekt frisiert. Und im Gegensatz zu ihm selbst, war sein Chef rasiert und machte schon alleine deshalb rein äußerlich einen deutlich besseren Eindruck als er. Hellhausens Gesichtsausdruck verriet Hansen, dass der Kriminalrat schlechte Laune hatte.

»Morgen, Karl. Täuscht mich mein Gefühl oder hast du letzte Nacht wieder durchgearbeitet?«, fragte Hellhausen eher rhetorisch.

»Ich hätte ohnehin nicht mehr schlafen können, nachdem ich den Tatort verlassen habe. Also habe ich die Zeit genutzt und ein wenig gearbeitet«, antwortete Hansen.

»Und wo kommst du jetzt her?«, erkundigte sich der Kriminalrat skeptisch. »Ich habe dich mehrfach vergeblich in deinem Büro gesucht.«

»Nun hast du mich ja auch gefunden. Ich war in der Innenstadt. Frühstücken, wenn du es genau wissen willst. Das wird ja wohl noch erlaubt sein, nachdem ich mir schon die halbe Nacht hier um die Ohren geschlagen habe«, erwiderte Hansen leicht gereizt angesichts des scharfen Untertons in Hellhausens Stimme. »Ich wollte gerade meine Notizen für die Frühbesprechung holen. Warum hast du mich gesucht?«

»Das kannst du dir doch wohl denken, oder? Verdammt noch mal, Karl, wir brauchen langsam Ergebnisse bei den Ermittlungen. Der Staatsanwalt hängt mir im Nacken, von der Presse mal ganz zu schweigen.«

Sag mir mal was Neues, dachte Hansen. »Du klingst geradeso, als ob wir hier nur Däumchen drehen würden«, entgegnete der Hauptkommissar so ruhig, wie er nur konnte. »Du weißt ganz genau, dass das nicht der Fall ist!«

»Selbstverständlich weiß ich das. Aber mittlerweile haben wir es mit drei Mordopfern zu tun, und ihr habt immer noch keine brauchbare Spur. Heute Morgen um kurz nach sieben hatte ich bereits das Vergnügen unserem Polizeipräsidenten Rede und Antwort stehen zu müssen. Er erwartet, rate mal, vorzeigbare Ergebnisse. Und um ehrlich zu sein, erwarte ich das allmählich auch von euch! Menschenskind, drei Wochen und immer noch keine heiße Spur. Ich weiß nicht, wie lange ich euch da weiterhin den Rücken freihalten kann. Das LKA wartet geradezu darauf, dass es hier hereinspazieren darf.«

Man hatte seinem Chef ganz offensichtlich mächtig Feuer unter dem Hintern gemacht, vermutete Hansen, denn derartige Auftritte von Hellhausen gab es nur äußerst selten. »Sonst noch was?«, fragte der Hauptkommissar, ohne auf die Worte des Kriminalrats einzugehen. Stattdessen blickte er nur demonstrativ auf seine Armbanduhr.

»Um elf Uhr ist eine Pressekonferenz. Ich möchte, dass du daran teilnimmst.«

»Ich werde es einrichten, wenn du drauf bestehst. Obwohl ich weiß Gott Besseres zu tun habe.« Er hasste derartige Veranstaltungen, was Hellhausen auch wusste. »Und im Übrigen kannst du mir glauben, dass ich als leitender Ermittler genauso unglücklich über den Stand der Untersuchungen bin, wie du und wir absolut unser Bestes ...«

»Ich weiß, Karl, ich weiß«, schnitt der Kriminalrat ihm das Wort ab und hob beschwichtigend die Hände. »Ich fürchte nur, dass euer Bestes im Moment nicht gut genug ist. Ich erwarte dich um elf Uhr im Presseraum«, sagte Hellhausen und stapfte schnellen Schrittes davon.

»Euer Bestes ist nicht gut genug«, äffte Hansen seinen Chef leise nach, als er die Bürotür öffnete. Noch nie hatte er eine Standpauke auf dem Flur erhalten. Hellhausen musste das Wasser wirklich bis zum Hals stehen. Aber er wusste ja, dass der Kriminalrat recht hatte. Er holte seine Notizen und machte sich auf den Weg zum Besprechungsraum, wo sich außer seinem Partner Stefan Riedmann noch kein anderer Kollege eingefunden hatte. Er war das jüngste Mitglied des Teams und bekannt für seinen Ehrgeiz. Riedmann hatte es mit seinen gerade einmal vierunddreißig Jahren zu Hansens Stellvertreter gebracht. Die Beförderung zum Hauptkommissar war wohl nur noch eine Frage der Zeit. Mit seinen ein Meter zweiundachtzig überragte er Hansen um ein paar Zentimeter. Und im Gegensatz zu seinem Vorgesetzten war Riedmann eine Sportskanone. Er joggte und ging regelmäßig ins Fitnessstudio. Sein dunkelblondes, ehemals schulterlanges Haar war erst vor ein paar Wochen einer modischen Kurzhaarfrisur gewichen. Obwohl er sehr attraktiv war, fristete er sein Leben als Single, was Hansen nicht nachvollziehen konnte.

»Morgen, Stefan«, begrüßte er seinen jungen Kollegen, als der Hauptkommissar den Besprechungsraum betrat und Platz nahm.

»Moin, Chef«, entgegnete Riedmann. »Geht’s dir gut? Du siehst ein bisschen fertig aus, wenn ich das so sagen darf!«

»Ist das ein Wunder? Habe mir die halbe Nacht um die Ohren geschlagen, nachdem ich den Tatort am Sonnenweg verlassen habe. Hätte sowieso nicht mehr schlafen können. Gerade hat mir unser Chef dann auch noch einen Einlauf verpasst. Könnte der Tag besser anfangen?« Seine Stimme triefte vor Ironie. »Von Pünktlichkeit scheinen die Herren Beck und Marquardt sowie unser Chef der KTU auch nicht viel zu halten«, schob er hinterher. Der Zeiger der Uhr im Besprechungsraum war gerade auf 09:01 Uhr gesprungen.

»Ui, da ist aber jemand ganz schön gereizt.« Riedmann nippte an seinem Kaffee. Kaum, dass er den Satz ausgesprochen hatte, betrat das besagte Trio auch schon den Raum. Markus Beck setzte sich auf den freien Platz neben Hansen. Die beiden Männer kannten sich bereits seit mehr als zwölf Jahren. Der dreiundvierzigjährige verheiratete Beck war Vater von zwei Töchtern und galt im Gegensatz zu seinem Partner Jens Marquardt als grundsolide. Vier Jahre jünger, ledig und mit Hang zur Selbstüberschätzung war Marquardt ein Schürzenjäger vor dem Herrn. Ständig wechselten seine diversen Liebschaften. Außerdem trank er gerne einmal ein Glas Bier zu viel. Hansen war froh, dass er ihm den introvertierten Beck zur Seite stellen konnte und hoffte seit geraumer Zeit auf einen Lerneffekt bei Marquardt.