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Innerhalb weniger Tage werden der investigative Journalist Jürgen Wolf und die renommierte Wissenschaftlerin Heike Berger erschossen aufgefunden. Zwei Morde, zwischen denen auf den ersten Blick kein Zusammenhang besteht. Doch schon bald finden Hauptkommissar Hansen und sein Team heraus, dass sich beide Opfer gekannt haben und dass für ihren Tod ein international gesuchter Auftragsmörder, den die Behörden „Das Phantom“ nennen, verantwortlich ist. Schnell verdichten sich die Hinweise, dass Wolf an einer brisanten Enthüllungsstory gearbeitet hat und Berger seine Informantin war. Für Hansen ist klar, dass die beiden deshalb sterben mussten. Doch dann geschehen weitere Morde und die Ermittler stehen vor einem Rätsel. Puzzleteil für Puzzleteil setzen sie zusammen und decken nach und nach eine Verschwörung ungeahnten Ausmaßes auf …
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Veröffentlichungsjahr: 2021
Phantomjagd
Ein Aachen-Krimi
Hansens 3. Fall
Impressum
Texte: © Frank Esser Cover: © NaWillArt Coverdesign / www.nawillart-coverdesign.de
Lektorat: © Schoneburg. Literaturagentur und Autorenberatung.
Korrektorat © Marion Kaster / Heidemarie Rabe
Verlag: Frank Esser
Am Römerhof 1
52477 Alsdorf
Prolog
Montag, 21. Januar 2019
Jürgen Wolf saß in seinem Arbeitszimmer und schrieb an einem Artikel, der seinem Ruf als schonungsloser Enthüllungsjournalist wieder einmal gerecht wurde.
Der Fünfundvierzigjährige war freier investigativer Journalist und sein Ruf war ebenso legendär wie gefürchtet. An der aktuellen Story arbeitete er seit knapp vier Monaten. Ein vergleichsweise wahnwitzig kurzer Zeitraum, wenn man bedachte, wie lange seine umfangreichen Recherchen, um einen Skandal dieser Größenordnung aufzudecken, normalerweise dauerten.
Das hatte er nicht zuletzt seiner Quelle zu verdanken, der Person, die ihn im Herbst kontaktiert und ihm eine schier unglaubliche Geschichte aufgetischt hatte. Sie hatte erst gar keine lange Überzeugungsarbeit leisten müssen, um ihn davon zu überzeugen, der Sache auf den Grund zu gehen und Beweise für die aufgestellten Behauptungen zu finden. Denn die hatte seine Quelle leider nicht gehabt. Aber er hatte sofort Blut geleckt und sich an die Arbeit gemacht. Unzählige Stunden hatte er nach dem ersten Treffen mit Recherchen verbracht. Er hatte sich die Nächte um die Ohren geschlagen und zum Teil am Rand der Legalität bewegt, um an die Informationen zu gelangen, die er benötigte. Schlussendlich hatte er es seinem richtigen Riecher, seiner Hartnäckigkeit und einer Zufallsentdeckung zu verdanken, dass er nun kurz davor war, einen großen Skandal aufzudecken.
Dieser Gedanke zauberte ihm ein Lächeln auf die Lippen, doch jetzt brauchte er unbedingt eine Pause. Er hatte bereits mehrere Stunden vor dem Laptop gesessen und seine Konzentration ließ spürbar nach. Die Formulierung des aktuellen Abschnittes hatte ihn jetzt schon eine Viertelstunde gekostet, ohne dass er etwas Stimmiges gefunden hätte. Da half nur ein möglichst starker Kaffee, der seine Lebensgeister wieder zu neuem Leben erweckte.
Wolf streckte sich einmal, um den Rücken zu entspannen, und warf dabei einen Blick auf das verschneite Wurmtal, das sich malerisch schön vor seinem Fenster erstreckte. Es hatte in den letzten drei Tagen ungewöhnlich viel geschneit.
Auch jetzt in der Dämmerung war der Himmel wieder schneeverhangen. Wolf war kein Fan der Winterzeit. Er bevorzugte eindeutig den Sommer. Er wandte den Blick vom Fenster ab, erhob sich von seinem Schreibtischstuhl und schlurfte gemächlich die Treppe hinunter ins Untergeschoss. Als er die Küche betrat, fiel sein Blick erst einmal auf das Geschirr, das sich in den letzten Tagen angesammelt hatte. Eigentlich hatte er sich heute darum kümmern wollen. Genau wie um die Wäsche, die auf einem großen Haufen im Keller vor der Waschmaschine lag. Von der Unordnung im Wohnzimmer ganz zu schweigen. In diesem Haushalt fehlte eindeutig eine Frau, dachte er. Aber welche Partnerin wollte schon mit einem Kerl zusammenleben, der permanent unterwegs war, sich mit dubiosen Gestalten herumschlug oder lieber tagsüber schlief als nachts?
Er holte die Kaffeefilter aus dem Küchenschrank, steckte einen in die dafür vorgesehene Halterung der Kaffeemaschine, füllte reichlich Pulver hinein und kippte Wasser in den Tank. Dann schaltete er die Maschine ein. Während die schwarze Brühe durch den Filter lief, warf er einen Blick in den Kühlschrank. Wenigstens war der für seine Verhältnisse erstaunlich gut gefüllt. Er musste nicht noch mal hinaus in die Kälte, um einzukaufen.
Als er den Schinkenwurstkranz entdeckte, hatte er spontan Appetit darauf. Er schnitt sich ein großes Stück ab und legte die restliche Wurst zurück in den Kühlschrank. Das Messer ließ er auf der Ablage liegen. Kurze Zeit später war der Kaffee fertig. Die Wurst genüsslich kauend und mit einer dampfenden Tasse schwarzen Kaffees in der rechten Hand stieg er die Treppe wieder hinauf. Mittlerweile war es stockdunkel geworden, also schaltete er das Licht ein. Wolf stellte die Kaffeetasse auf dem Schreibtisch ab und legte das restliche Stück Schinkenwurst daneben. Dann ließ er noch einmal die Finger knacken, bevor er sich mit neuer Motivation seinem Artikel widmete. Er hatte gerade die ersten Worte getippt, als ein Schuss fiel und sich der Großteil von Jürgen Wolfs Gehirn auf dem Teppich hinter dem Schreibtisch verteilte.
Zehn Minuten später betrat das Phantom Wolfs Arbeitszimmer. Es warf einen kurzen Blick auf den Journalisten. Dann packte es den Laptop und sämtliche Speichermedien, die es in den Schreibtischschubladen finden konnte, in die mitgebrachte Reisetasche. Anschließend durchsuchte es den Raum systematisch. Weitere Speichermedien und handschriftliche Notizen verstaute es ebenfalls in der Tasche. Auch die anderen Zimmer des Hauses kontrollierte es nacheinander.
Ob es dabei Spuren hinterließ, spielte keine Rolle. Die DNA war ohnehin in sämtlichen internationalen Polizeidatenbanken registriert. Die Ermittlungsbehörden kannten das Phantom. Und doch war seine Identität bisher nicht entschlüsselt.
Nach knapp einer Stunde verließ es das Haus des Journalisten genauso unbemerkt, wie es gekommen war. Es hatte wieder angefangen zu schneien.
Mittwoch, 23. Januar 2019
»Morgen, Sven. Schon fleißig bei der Arbeit?«, grüßte der 49-jährige Kriminalhauptkommissar Karl Hansen, als er mit Stefan Riedmann auf die Eingangstür des Hauses in der Talstraße zusteuerte, aus der just in dem Moment Sven Kochs von der Spurensicherung heraustrat.
Es war sieben Uhr. Hansen, Leiter des K11 der Aachener Mordkommission, der seit seinem Zusammenbruch vor wenigen Monaten auf Anraten des Arztes deutlich abgenommen hatte, war vor fünfundzwanzig Minuten über den gewaltsamen Tod eines Mannes in Kohlscheid informiert worden und hatte sich gleich mit seinem knapp dreizehn Jahre jüngeren Partner auf den Weg gemacht. Unterwegs hatten sie dann ihre beiden Kollegen Markus Beck und Jens Marquardt zum Fundort beordert. Von ihnen war allerdings noch nichts zu sehen.
»Morgen, die Herren. Auch schon da?«, witzelte Kochs. Laura Deckers Team hatte anscheinend bereits die Arbeit aufgenommen. »Bevor du fragst, ihr findet den Toten in seinem Arbeitszimmer. Treppe hoch, erstes Zimmer rechts.«
»Wer hat den Mord gemeldet?«
»Christoph Vollmann, der Nachbar. Er wohnt gleich schräg gegenüber. Er hat sich darüber gewundert, dass Wolf schon seit Tagen keinen Schnee mehr geräumt hat. Außerdem steckten die Tageszeitungen von gestern und heute im Briefkasten.«
»Und wie ist dieser Vollmann in das Haus gelangt?«
»Er hat einen Schlüssel. Wolf war Journalist und oft mehrere Tage unterwegs. Die Vollmanns haben sich dann immer um das Haus gekümmert. Rollladen rauf und runter, Briefkasten leeren, Blumen gießen. Die Dinge, die man halt als netter Nachbar so macht. Aber Wolf hat immer Bescheid gegeben, wenn er wegfuhr. Deshalb haben sich die Vollmanns ja auch gewundert und nach dem Rechten gesehen.«
»Und wo ist der Mann jetzt?«
»Laura hat ihn nach Hause geschickt. Der war völlig fertig mit den Nerven. Na ja, ist auch kein Wunder. Wer rechnet schon damit, das Gehirn seines Nachbarn auf dem Boden verteilt zu finden?«
»So schlimm?«
»Schlimmer. Laura glaubt, dass Wolf aus großer Entfernung mit einem Scharfschützengewehr erschossen wurde. Großes Kaliber.«
»Ein Sniper? Das hat uns gerade noch gefehlt«, seufzte Hansen.
»Wolf dürfte schon ein paar Tage tot sein«, fuhr Kochs fort, ohne auf den Kommentar einzugehen.
»Wenn man die Tageszeitungen, die in dem Briefkastenschlitz stecken, berücksichtigt, tippe ich mal auf mindestens zwei Tage«, stellte Hansen mit einem Grinsen fest. »Also Tod am Montag.«
»Gut kombiniert, Herr Kriminalhauptkommissar. So, jetzt muss ich aber mit der Arbeit loslegen. Sonst bekomme ich noch Ärger mit Laura«, meinte Kochs mit einem Augenzwinkern. »Sie ist übrigens mit unserem Frischling oben und wartet auf euch.«
»Wer ist das? Habe ich da irgendwas verpasst?«
»Sebastian Maurer. Hatte gestern seinen ersten Tag.«
»Dann hat er ja jetzt einen guten Eindruck erhalten, was ihn bei uns erwartet.« Hansen wandte sich an Riedmann. »Stefan, ich möchte, dass du dich einmal mit den Vollmanns unterhältst. Vielleicht ist ihnen am Montag irgendetwas Ungewöhnliches aufgefallen?«
»Wird erledigt.«
»Gut, dann verschaffe ich mir oben schon mal einen Überblick.«
Während Riedmann durch den Schnee zum Nachbarhaus stapfte, betrat Hansen das Haus. Er holte sich die blauen Fußüberzieher aus der Manteltasche und stülpte sie über die Schuhe. Anschließend ging er die Stufen zur ersten Etage hoch. Auf Mitte der Treppe war schon deutlich ein süßlich beißender Verwesungsgeruch wahrnehmbar.
»Morgen, Karl. Wo hast du denn deinen kongenialen Partner gelassen?«, begrüßte Laura Decker, Leiterin der KTU, Hansen mit einem strahlenden Lächeln, als er das Arbeitszimmer betrat. Wie fast immer trug sie ihre langen braunen Haare zu einem Zopf gebunden. Seit sie und Riedmann ein Paar waren, schienen die beiden unzertrennlich zu sein. Beruflich wie privat, dachte Hansen.
»Morgen, Laura. Dein Stefan befragt den Nachbarn, der das unsägliche Vergnügen hatte, die Leiche zu finden. Kollege Kochs hatte recht. Es ist wirklich eine ganz schöne Sauerei hier, wenn ich mich so umblicke«, stellte Hansen nüchtern fest.
»Allerdings. Fragmente der Schädeldecke und Teile des Gehirns sind im kompletten hinteren Bereich des Zimmers verteilt. Mir gehen allmählich die Nummerntafeln für die Markierung des Tatortes aus.«
»Und Sie sind der neue Kollege im Team?«, wandte sich Hansen jetzt an den jungen Mann, der damit beschäftigt war, eine der von Decker erwähnten Tafeln zu platzieren, um ein weiteres Fundstück zu markieren.
»Das ist richtig, Herr Hauptkommissar. Mein Name ist Sebastian Maurer«, erwiderte er und streckte seine Hand zur Begrüßung aus.
»Mein Name ist Hansen. Aber wir duzen uns alle hier. Ich bin Karl.« Er schüttelte kräftig Maurers Hand.
»Freut mich sehr, Sie, ich meine natürlich dich, kennenzulernen. Dein Ruf eilt dir ja schon voraus. Ich bin Sebastian.«
»Gut, dann wären die Formalitäten ja jetzt geklärt. Sven erzählte mir, dass der Tote Journalist war.«
»Darf ich vorstellen: Jürgen Wolf. Seines Zeichens Enthüllungsjournalist«, meinte Laura Decker und zeigte auf die Leiche.
»Muss man ihn kennen?«
»Man muss nicht, aber man könnte. Er hat unter anderem letztes Jahr den Bestechungsskandal rund um den geplanten Windpark in der Eifel aufgedeckt.«
»Daran kann ich mich erinnern. Aber wer den Artikel damals geschrieben hat, habe ich nicht gewusst.«
»Sven hat dir ja schon etwas über den möglichen Tathergang erzählt. Wie du siehst, haben wir in der Fensterscheibe direkt vor dem Schreibtisch das Eintrittsloch eines Projektils. Ich gehe davon aus, dass der Schuss aus dem kleinen Waldstück dort drüben im Wurmtal abgegeben wurde. Das müssen so an die zweihundertfünfzig Meter sein. Also das Werk eines geübten Scharfschützen, wenn du mich fragst.«
»Ein Enthüllungsjournalist, der von einem Sniper erschossen wurde. Könnte mit einer Story zu tun haben, an der er gerade gearbeitet hat. Möglicherweise haben wir es hier mit einem Auftragsmord zu tun«, vermutete Hansen.
»Da könntest du recht haben. Wir haben nämlich bisher nichts gefunden, was nur im Entferntesten darauf hindeutet, dass das hier das Arbeitszimmer eines Journalisten ist. Keinen Computer, keine Kamera, keine Aufzeichnungen. Einfach nichts. Und da Wolf, wie du wahrscheinlich auch schon festgestellt hast, nicht gerade zu den ordentlichsten Menschen gehört hat, können wir mit Bestimmtheit sagen, dass hier bis vor Kurzem ein Laptop stand. Schau dir mal das Rechteck an, das sich deutlich vom Staubrand abzeichnet. Gleich neben dem unappetitlich aussehenden Stück Wurst und der Kaffeetasse.«
»Stimmt, Sauberkeit war offensichtlich nicht Wolfs oberste Priorität«, erwiderte Hansen, nachdem er einen kurzen Blick auf den Schreibtisch geworfen hatte.
»Hier hat sich jemand die größte Mühe gemacht, alles mitgehen zu lassen, was nur annähernd mit Wolfs Arbeit zu tun hat. Dazu passen die Spuren, die wir am Schloss der Haustür gefunden haben. Da hat sich eindeutig jemand widerrechtlich Zutritt verschafft. Wir haben zwar die restlichen Räume des Hauses noch nicht unter die Lupe genommen. Aber ich bin mir jetzt schon sicher, dass wir nichts finden werden, was mit Wolfs Nachforschungen zu tun hat.«
»Wenn der Tod des Journalisten tatsächlich mit einer aktuellen Story im Zusammenhang steht, muss er an einer ziemlich brisanten Geschichte dran gewesen sein. Wenn jemand dafür bereit ist zu töten, ...«
Hansen hatte den Satz noch nicht beendet, als er Stimmen im Flur hörte. Riedmann kam die Treppe herauf und unterhielt sich mit jemandem.
»Das dürfte unser allseits geschätzter Doktor Bode sein«, meinte Decker, die offenbar Hansens Gedanken erraten hatte.
»Hörte ich da gerade meinen Namen? Guten Morgen zusammen«, begrüßte der Gerichtsmediziner die Anwesenden, die seine Begrüßung freundlich erwiderten. »Na ja, so gut ist der Morgen dann doch nicht«, fügte er hinzu, als er einen Blick auf den Leichnam warf und die Hinterlassenschaften auf dem Teppich sowie an der Wand entdeckte. Er öffnete seinen mitgebrachten Koffer, holte ein Paar Einweghandschuhe und einige Instrumente heraus, die er für die Untersuchung der Leiche vor Ort benötigte.
»Konnten die Vollmanns helfen, Stefan?«, wandte Hansen sich an den Kollegen.
»Nein, nicht wirklich. Weder Christoph Vollmann noch seine Frau haben am Montag oder an einem anderen Tag etwas Ungewöhnliches bemerkt.«
»Das war zu befürchten. Wir können von Glück reden, dass der Nachbar den Toten so schnell gefunden hat. Was sagt denn die Rechtsmedizin zum möglichen Todeszeitpunkt? Wir vermuten ja, dass der Mann am Montag erschossen wurde«, wandte sich Hansen an Bode.
»Wäre ich vom CSI, könnte ich Ihnen das sicherlich jetzt auf der Stelle beantworten. Aber wir sind hier leider nicht im Fernsehen. Ein bisschen mehr Zeit müssen Sie mir dann doch schon einräumen, damit ich mir eine fachmännische Meinung bilden kann. Ich habe gerade einmal die Latexhandschuhe angezogen und einen ersten Blick auf das Opfer geworfen«, erwiderte Bode mit leichtem Kopfschütteln.
Manchmal erinnerte der Rechtsmediziner Hansen an Professor Boerne aus dem Münsteraner Tatort. Immer ein wenig borniert. Aber wie der Mann richtigerweise festgestellt hatte, waren sie hier nicht im Fernsehen und vor allem war er nicht Kommissar Thiel. Obwohl er immerhin das Hamburger Blut mit dem berühmten Fernsehkommissar gemeinsam hatte.
Hansen, Riedmann, Decker und Sebastian Maurer beobachteten Bodes Arbeit mit Neugier. Er überprüfte zunächst die Lebertemperatur des Toten. Mit einem zweiten Thermometer maß er die Raumtemperatur. Dann kontrollierte Bode, ob er die Totenflecken wegdrücken konnte, was allerdings nicht der Fall war, wie Hansen erkannte. Schließlich betrachtete er die Eintrittswunde der Patrone im Stirnbereich und begutachtete das Ausmaß der Austrittswunde. Nach Abschluss der Untersuchungen sprach er ein paar Informationen in sein Diktiergerät.
»Ich schätze, dass der Mann etwa sechsunddreißig bis achtundvierzig Stunden tot ist«, sagte er schließlich in die Runde. »Genauer lässt sich das im Moment nicht bestimmen.«
»So, wie wir vermutet haben. Das ist eine Menge Zeit für den Killer, um unterzutauchen«, erwiderte Hansen.
»Wenn hierfür ein Profi verantwortlich ist, und daran besteht für mich überhaupt kein Zweifel, ist der über alle Berge«, meinte Decker.
»Ein Profikiller?«, fragte Riedmann skeptisch.
»Ein einziger Schuss aus etwa zweihundertfünfzig Metern, der das Opfer getötet hat. Ein Enthüllungsjournalist, bei dem eingebrochen wurde, um seinen Laptop und seine Aufzeichnungen zu stehlen. Was glaubst du, wer das war? Ein Jäger, der eigentlich einen Hirsch erschießen wollte und unglücklicherweise den Mann hier erwischt hat? Und um seine Tat zu vertuschen, bricht er hier ein und lässt alles verschwinden, was mit der Arbeit des Journalisten zu tun haben könnte, um uns in die Irre zu führen?«, erwiderte Decker sarkastisch.
Lauras spitze Zunge machte also auch nicht vor ihrem eigenen Freund halt, dachte Hansen, der sich ein Grinsen nicht verkneifen konnte.
»Gute Theorie«, konterte Riedmann trocken.
»Ich unterbreche dieses Schauspiel ja nur sehr ungern«, mischte sich Bode in die Unterhaltung ein. »Aber ich wäre fürs Erste hier fertig. Wenn Sie keine Einwände haben, lasse ich den Leichnam in die Rechtsmedizin bringen. So wie ich Hauptkommissar Hansen kenne, hätte er das Ergebnis der Obduktion lieber gestern als heute.«
»Wir müssen noch ein paar Fotos machen. Aber dann können Sie Wolf abholen lassen«, erwiderte die KTU-Chefin.
»Gut, rufen Sie mich einfach an, wenn Sie so weit sind, Frau Decker. Ich wünsche Ihnen allen noch einen angenehmen Tag.« Damit verabschiedete sich Bode.
»Sind das eigentlich Geschossfragmente da vorne in der Wand?«, wollte Hansen wissen, nachdem der Rechtsmediziner den Raum verlassen hatte. In der blassblauen Tapete sah man graue Einsprengsel des darunter liegenden Putzes.
»Vermutlich, ja. Darum kümmere ich mich gleich.«
»Dann schlage ich jetzt vor, dass wir zurück ins Präsidium fahren, Stefan. Hier gibt es ohnehin nichts mehr, was wir tun können«, meinte Hansen.
»Ihr Glücklichen. Wir werden hier noch eine Weile beschäftigt sein«, entgegnete Decker. »Der oder die Täter waren im ganzen Haus unterwegs. Vielleicht finden wir ja verwendbare Spuren. Und das kleine Waldstück muss ebenfalls untersucht werden. Allerdings bezweifle ich, dass es wegen des Neuschnees noch Beweise gibt, die wir dort finden könnten.«
»Dann drücken wir euch mal die Daumen. Und wir verabschieden uns jetzt. Bis später. Komm, Stefan.«
Unten im Eingangsbereich trafen die Ermittler noch einmal auf Kochs. Er war gerade damit beschäftigt, die Haustür zu untersuchen. Zu diesem Zweck trug er mit einem Pinsel Rußpulver auf, um kaum sichtbare Fettrückstände erkennbar zu machen, die durch Fingerabdrücke entstanden sein könnten. Kochs bestätigte, dass es Hinweise darauf gab, dass das Schloss geknackt wurde.
Hansen und Riedmann fuhren gerade die Talstraße entlang, als ihnen der Dienstwagen ihrer Kollegen entgegenkam. Beide Autos stoppten auf gleicher Höhe. Riedmann und Beck ließen die Fenster der Fahrerseite hinunter.
»Tut uns leid«, ergriff Beck sofort das Wort. »Aber ein LKW hatte sich in der Nähe quergestellt und beide Fahrbahnen blockiert. Der Fahrer aus Litauen war bei dem Wetter tatsächlich mit Sommerreifen unterwegs. Es hat eine Ewigkeit gedauert, bis der LKW abgeschleppt werden konnte.«
»Ich hatte mich schon gefragt, wo ihr bleibt?«, erwiderte Hansen vom Beifahrersitz aus. »Ihr könnt aber gleich wieder umkehren. Wir fahren zurück ins Präsidium. Alles Weitere dann später.«
Zwanzig Minuten später saßen die vier Ermittler zu einer ersten Lagebesprechung im Besprechungsraum der Mordkommission.
»Ich möchte alles über Jürgen Wolf wissen«, erklärte Hansen, nachdem er Marquardt und Beck über die Geschehnisse in Kohlscheid aufgeklärt hatte. »Woran er früher gearbeitet hat. Womit er sich aktuell beschäftigt hat. Wem er dabei auf die Füße getreten sein könnte. Handydaten. Das Übliche halt. Darum kümmert ihr euch, Markus. Stefan, wir beide befragen erst mal Personen aus dem näheren Umfeld des Toten. Wir fangen mit den Familienangehörigen an. Besorg uns bitte einmal ein paar Adressen, die wir abklappern können.«
Damit war die Besprechung beendet und alle erhoben sich.
Riedmanns Ausbeute nach zwei Stunden Suche in Datenbanken und im Internet war überschaubar. Jürgen Wolf war nicht verheiratet gewesen. Sein Vater war bereits vor neun Jahren an Krebs gestorben. Die Mutter lebte, wie er erfuhr, in einem Pflegeheim. Sie litt an Demenz im fortgeschrittenen Stadium. Eine Befragung ergab daher keinen Sinn. Vom Tod ihres Sohnes würde sie nie erfahren. Die nächste Angehörige von Wolf war die Schwester, Martina Neustätter. Sie lebte mit ihrem Mann und ihrer Tochter in Alsdorf. Riedmann kündigte sich ihr telefonisch an, um sicherzugehen, dass sie nicht vergeblich in die ehemalige Kohlestadt fuhren. Den Grund für ihren Besuch hatte er nicht weiter konkretisiert, lediglich erwähnt, dass sie ein paar Fragen wegen ihres Bruders hätten. Aber Martina Neustätter fragte auch nicht weiter nach.
Eine Nachricht vom Tod eines Familienangehörigen zu überbringen, war schon schwer genug. Doch das am Telefon zu erledigen, wäre mehr als unpassend gewesen, fand Riedmann. Also befanden sich die beiden Ermittler gegen fünfzehn Uhr auf dem Weg in die Luisenstraße. Die Fahrt ging quälend langsam voran. Auf der Würselener Straße bewegte sich der Verkehr auch nur im Schneckentempo. Kaum, dass ein wenig Schnee lag, fuhren viele Autofahrer ängstlich und zögerlich. Wahrscheinlich war der Litauer nicht der einzige mit Sommerreifen, dachte Riedmann verärgert.
Es dauerte geschlagene fünf Minuten, bis Martina Neustätter wieder in der Lage war, das Gespräch mit den beiden Ermittlern fortzusetzen. Die Nachricht vom Tod ihres Bruders hatte einen regelrechten Weinkrampf bei der Frau ausgelöst. Jetzt saß die unscheinbar aussehende Enddreißigerin mit verheulten Augen und einem Taschentuch in der linken Hand den Ermittlern in einem gemütlich eingerichteten Wohnzimmer gegenüber. Sie war sichtlich darum bemüht, die Fassung zu wahren.
»Es tut uns sehr leid, was Ihrem Bruder widerfahren ist, Frau Neustätter«, begann Hansen. Auf Einzelheiten zum Tod von Jürgen Wolf hatte er zunächst verzichtet. »Hatten Sie ein enges Verhältnis?«
Für einen kurzen Moment befürchtete Hansen, dass sie wieder anfing zu weinen. Ihre Unterlippe zitterte bedenklich. Es war offensichtlich, dass sie mit ihren Tränen kämpfte. Aber schließlich atmete sie einmal tief durch, schniefte kurz in ihr weißes Taschentuch, das sie in der zur Faust geballten rechten Hand festhielt, und antwortete mit leiser Stimme.
»Jürgen war mein großer Bruder«, begann sie. »Er war zwar manchmal ein ganz schöner Idiot. Aber ich habe ihn geliebt! Also ja, wir hatten ein enges Verhältnis. Insbesondere seit dem Tod unseres Vaters.«
»Wie oft haben Sie sich gesehen?«
»Nicht so oft. Er war ja viel unterwegs. Manchmal wochenlang. Aber immer, wenn er Zeit hatte, ist er vorbeigekommen. Jürgen ist, war, der Patenonkel von unserer Sabrina. Die Kleine hat ihren Onkel abgöttisch geliebt. Und er war ganz vernarrt in sie. Oh Gott, ich weiß gar nicht, wie ich der Kleinen erklären soll, dass Onkel Jürgen tot ist und er nie mehr mit ihr herumtoben wird.« Wieder schnäuzte sie in das Taschentuch.
»Wissen Sie zufällig, ob Ihr Bruder aktuell an einer Enthüllungsgeschichte gearbeitet hat und wenn ja, an welcher?«
Sie schüttelte den Kopf. »Jürgen hat immer an irgendetwas gearbeitet. Aber er hat nie darüber gesprochen. Wir haben erst davon erfahren, wenn mal wieder ein Artikel im Spiegel, Stern oder wo auch immer veröffentlicht wurde. Er war sehr eigen, wenn es um seine Arbeit ging.«
»Hatte Ihr Bruder Feinde?«
»Die hatte er ganz bestimmt. Jürgen hat mit seinen Veröffentlichungen das Leben mancher Menschen ruiniert. Er wurde mehr als nur einmal verprügelt. Die Ironie an der Geschichte ist, dass ich schon vor Jahren gesagt habe, dass ihn die Arbeit mal seinen Kopf kosten würde. Glauben Sie, dass mein Bruder wegen der Recherchen, die er durchgeführt hat, ermordet wurde?«
»Wir wissen es nicht«, räumte Hansen ein. »Wir stehen ja noch am Anfang unserer Untersuchungen und ermitteln in alle Richtungen. Aber es könnte durchaus sein, dass der Tod Ihres Bruders im Zusammenhang mit seiner Arbeit steht. Es hat den Anschein, dass der Mörder sich Mühe gegeben hat, alles verschwinden zu lassen, was mit seiner Tätigkeit zu tun hat. Der Laptop Ihres Bruders wurde gestohlen. Und persönliche Aufzeichnungen wurden ebenfalls nicht gefunden.«
»Ich hab’s immer gewusst, dass das einmal passieren würde. Da fällt mir ein, Jürgen hatte stets ein kleines Notizbuch dabei. Und er hatte so ein elendig teures Smartphone. Ohne das hat er das Haus nicht verlassen. Damit hat er auch seine Interviews aufgenommen.«
»Dann hat das der Mörder offensichtlich mitgehen lassen«, meinte Hansen an Riedmann gewandt. »Sie erwähnten, dass Ihr Bruder mehrfach verprügelt wurde. Wissen Sie mehr darüber, Frau Neustätter?«
»Nein. Er hat immer nur gesagt, dass das eben Berufsrisiko wäre. Er hat das auch nie zur Anzeige gebracht. Für ihn war das Teil seines Jobs. So ein Dummkopf!«
»Aber von einer konkreten Bedrohung hat er Ihnen gegenüber nicht erwähnt?«
»Nein, selbst wenn er bedroht worden wäre, hätte er nicht mit mir darüber gesprochen, um mich nicht unnötig zu beunruhigen.«
»Kennen Sie weitere Personen aus dem Umfeld Ihres Bruders? Freunde, Bekannte? Hatte er zum Beispiel eine Freundin?«
»Jürgen war nicht gerade ein beziehungsfreudiger Mensch. Die Frauen haben es nie lange mit ihm ausgehalten. Bei ihm kam zu allererst seine Arbeit. Und auch sein Freundeskreis war eher überschaubar. Sie sollten vielleicht einmal mit Dieter sprechen. Dieter Abel. Er ist ebenfalls Journalist. Aber kein freier, so wie Jürgen. Dieter arbeitet bei der AZ. Er war so etwas wie der beste Freund. Sonst weiß ich leider nicht, zu wem Jürgen engeren Kontakt hatte.« Wieder schossen Martina Neustätter Tränen in die Augen.
Hansen hatte keine weiteren Fragen mehr, Riedmann anscheinend auch nicht. Mitfühlend blickte dieser die Schwester des Toten an.
»Fürs Erste wären wir hier fertig, Frau Neustätter. Wir melden uns bei Ihnen, sollten wir weitere Fragen haben. Sie können mich jederzeit anrufen«, sagte Hansen und legte seine Visitenkarte auf den rustikalen Wohnzimmertisch.
»Danke. Allerdings habe ich noch eine Frage«, meinte Neustätter, die sich langsam wieder beruhigt zu haben schien. »Wann kann die Beerdigung stattfinden, Herr Kommissar? Mein Mann und ich müssen uns ja jetzt um alles kümmern.«
»Das wird noch etwas dauern. Ich sorge dafür, dass man Sie benachrichtigt, wenn der Leichnam freigegeben wird. Wann das sein wird, kann ich allerdings im Moment nicht absehen. Wir finden dann alleine hinaus.«
Martina Neustätter nickte nur und blickte zu Boden, um ihre Tränen zu verbergen.
»Ich nehme mal an, dass du jetzt einen Abstecher zum Zeitungsverlag machen möchtest?«, meinte Riedmann im Hausflur des Mehrfamilienhauses.
»Du kannst Gedanken lesen, Stefan.«
»Guten Tag, die Herren. Da haben Sie wirklich Glück gehabt, dass Sie mich noch erwischen. Ich wollte gerade nach Hause gehen. Sabine, unsere Empfangsdame, hat Ihren Besuch angekündigt und mir gesagt, dass Sie mit dem Fahrstuhl unterwegs sind. Dieter Abel ist mein Name.«
Abel hatte bereits vor dem Aufzug auf die beiden Ermittler gewartet. Direkt vor der Glastür, die zur Sportredaktion des Aachener Zeitungsverlages führte, wo er als Journalist arbeitete. Der Mann entsprach rein äußerlich so gar nicht dem Ideal eines Sportfachmannes. Abel war stark übergewichtig. Dank seines riesigen Schnäuzers erinnerte er ein wenig an ein Walross. Und so behäbig bewegte er sich auch, als er auf die beiden Ermittler zusteuerte.
»Hauptkommissar Hansen und das ist mein Kollege, Herr Riedmann.« In Abels Augen lag eine gewisse Wärme, stellte Hansen fest.
»Wie kann ich Ihnen helfen?«
»Können wir uns vielleicht irgendwo in Ruhe unterhalten?« »Natürlich, wie unhöflich von mir. Wir können in unser Büro gehen. Da sind wir ungestört. Meine beiden Kollegen sind bei der Handball-WM im Einsatz. Darf ich Ihnen etwas zu trinken anbieten?«
»Ein Kaffee wäre nicht schlecht«, erwiderte Hansen.
»Für mich bitte auch«, sagte Riedmann.
»Dann folgen Sie mir einfach. Wir haben eine Senseomaschine in unserem Büro. Da zaubere ich uns schnell drei Tassen.«
Sie gingen den Flur entlang, vorbei an mehreren Büros, in denen offensichtlich noch gearbeitet wurde. Jedenfalls brannte Licht in den Räumen, wie man erkennen konnte. Abels Büro lag am Ende des Flurs. Dem Namensschild neben der Bürotür nach, teilte er sich den Raum mit zwei weiteren Kollegen. Wie der erwähnt hatte, war der Raum verwaist. Abel deutete auf zwei Stühle. Während die Ermittler noch ihre Winterjacken ablegten, lief bereits der erste Kaffee durch die Maschine. Glücklicherweise war das Sitzmobiliar nicht halb so unbequem, wie es den Anschein hatte, dachte Hansen, als er sich setzte.
»Milch, Zucker?«, wollte Abel wissen.
»Danke, ich trinke meinen Kaffee schwarz«, erwiderte Hansen.
»Bitteschön«, entgegnete der Journalist, der das wärmende Gebräu an den Hauptkommissar weiterreichte.
Nachdem auch die dritte Tasse Kaffee zubereitet war und Abel sich unter laut vernehmbarem Ächzen in seinen robusten Bürostuhl gezwängt hatte, konnte die Befragung beginnen.
»So, dann würde ich jetzt gerne den Anlass Ihres Besuches erfahren.«
»Sie haben es also noch nicht gehört?«, wunderte sich Hansen.
»Was soll ich gehört haben?«
»Herr Abel, ich muss Ihnen leider mitteilen, dass Jürgen Wolf tot aufgefunden wurde. Wir dachten, dass es sich schon bis zu Ihnen herumgesprochen hätte. Wir haben von der Schwester erfahren, dass Sie beide enger befreundet waren.«
»Verdammte Scheiße. Der Tote in Kohlscheid war Jürgen?«, erwiderte Abel entsetzt. »Ich habe natürlich von der Sache gehört. Wir berichten ja in der morgigen Ausgabe darüber. Aber ich hatte nicht die geringste Ahnung, dass es sich dabei um Jürgen handelte. Ist ja auch nicht mein Ressort, wie Sie ja bereits festgestellt haben«, fuhr Abel fort und trank erst einmal einen großen Schluck Kaffee.
»Wann haben Sie Herrn Wolf zuletzt gesehen?«
»Das ist schon länger her. Aber wir haben erst letzte Woche miteinander telefoniert.«
»Dabei hat Ihr Freund nicht zufällig erwähnt, woran er gerade gearbeitet hat?«
»Ha, wo denken Sie denn hin«, entgegnete Abel und schlug mit der flachen Hand auf den Schreibtisch. »Jürgen war ein Geheimniskrämer, wenn es um seine Storys ging. Der hat nie darüber gesprochen. Mein Gott, ich kann es noch gar nicht glauben, dass er tot sein soll. War es wirklich ein Profikiller?«
»Wer sagt denn so was?«
»Wird hier im Haus erzählt.«
»Ich hoffe doch sehr, dass in dem Artikel morgen nicht in dieser Hinsicht spekuliert wird?«, erwiderte Hansen.
»Da ich den Inhalt des Berichts nicht kenne, kann ich Ihnen dazu leider nichts sagen. Da müssten sie schon den Chefredakteur fragen. Aber Ihrer Reaktion entnehme ich, dass es stimmt.«
»Sagen wir es einmal so. Es besteht der Verdacht, ja. Aber das ist nicht für die Öffentlichkeit bestimmt«, meinte Hansen an seinem Kaffee nippend. Ihm war das Gebräu immer noch viel zu heiß und er fragte sich, wie Abel den Kaffee so problemlos trinken konnte. Wahrscheinlich war er auch inwendig dicker gepolstert.
»Ich verstehe«, erwiderte Abel.
»Können Sie uns Namen weiterer Freunde oder von Bekannten nennen, mit denen Herr Wolf in Kontakt stand?«
Abel überlegte einen Moment, bevor er antwortete.
»Wenn ich ehrlich sein soll, fällt mir da eigentlich nur eine Person ein. Peter Grabowski. Die beiden kennen sich aus der gemeinsamen Zeit bei der FAZ. Und ich weiß, dass sie sich gelegentlich getroffen haben.«
»Sie wissen nicht zufällig, wo der Mann wohnt?«
»Leider nein. Ich würde an Ihrer Stelle mal bei den Kollegen der FAZ nachfragen. Soviel ich gehört habe, arbeitet Grabowski da immer noch.«
»Danke, das werden wir machen.«
»Frau Neustätter hat uns gegenüber angedeutet, dass Wolf aufgrund seiner Recherchen und Artikel immer wieder in Schwierigkeiten geraten ist. Er wurde mehrfach Opfer gewaltsamer Übergriffe. Wissen Sie Genaueres darüber?«
»Wie ich bereits erwähnte, war Jürgen ein Geheimniskrämer. Das ist wohl eine Begleiterscheinung, wenn man investigativen Journalismus betreibt. Ich kenne das auch von anderen Kollegen. Ich weiß zwar, dass er hin und wieder Prügel einstecken musste, aber mehr kann ich Ihnen leider auch nicht erzählen.«
»Hatte er Feinde?«
»Ganz bestimmt sogar. Aber Sie brauchen mich gar nicht erst nach Namen fragen. Die sind mir nicht bekannt. Ich gehe davon aus, dass Sie sich im Zuge Ihrer Ermittlungen auch mit den Artikeln beschäftigen werden, die Jürgen verfasst hat. Ich denke, das ist die beste Möglichkeit, mehr zu erfahren«, erwiderte Abel und leerte seine Tasse.
»Schade, wir hatten gehofft, dass Sie uns Namen nennen könnten. Ich denke, dann sind wir jetzt auch fertig. Sollten sich weitere Fragen ergeben, wissen wir ja, wo wir Sie finden können. Sollte Ihnen noch etwas einfallen, können Sie mich jederzeit erreichen«, sagte Hansen und reichte Abel eine seiner Visitenkarten rüber.
Der Journalist seufzte, als er die Karte entgegennahm. »Ich kapier immer noch nicht, dass es sich bei dem Mordopfer um Jürgen handelt. Ich hoffe, dass Sie das Schwein schnell fassen. Jürgen war ein guter Freund. Ein wenig eigen, aber das bringt der Beruf einfach mit sich.«
»Sie können uns glauben, dass wir alles daransetzen, den Fall so schnell wie möglich aufzuklären. Einen angenehmen Abend noch«, erwiderte der Hauptkommissar und verabschiedete sich. Riedmann stand ebenfalls auf. Seine leere Kaffeetasse stellte er neben Hansens nahezu unberührter Tasse ab.
»Ihnen auch.«
»Nach allem, was wir bisher herausgefunden haben, war Wolf einer der bekanntesten Enthüllungsjournalisten in Deutschland«, begann Marquardt. Gleich nachdem Hansen und Riedmann ins Präsidium zurückgekehrt waren, hatten sie sich erkundigt, ob es den Kollegen bereits gelungen war, Informationen zusammenzutragen. Was der Fall war.
»Wolf wurde am 27. Februar 1974 in Würselen geboren, der Rest seiner Vita bis einschließlich seines abgeschlossenen Studiums ist unspektakulär. Deshalb überspringe ich das jetzt einmal. Nach dem Studium hat er bei der Frankfurter Allgemeinen Zeitung den Grundstein für seine spätere Karriere gelegt. Er hat dort schon durch seine kritische Berichterstattung auf sich aufmerksam gemacht. 2009 hat er den Otto-Brenner-Preis für Journalisten erhalten. Die Auszeichnung wird für kritischen Journalismus vergeben. Wolf hat ihn für einen Artikel mit dem Titel: Deutschland strahlt bekommen. Er hatte herausgefunden, dass Mitarbeiter der Deutschen Atomaufsichtsbehörde die Untersuchungsergebnisse zweier Atommeiler in Rheinland-Pfalz und Baden-Württemberg gegen entsprechendes Entgelt frisiert hatten. Nach der Veröffentlichung seiner Ergebnisse wurden beide Atomkraftwerke umgehend stillgelegt. Es gab einige Verhaftungen und später auch Verurteilungen der Beteiligten.«
»Da sollte sich die belgische Regierung einmal ein Beispiel dran nehmen, wenn ich da an Thiange und Doel denke. Im Gegensatz zu dem Skandal, den Wolf damals aufgedeckt hat, weiß hier allerdings jeder über die Missstände Bescheid, aber nichts passiert!«, unterbrach Riedmann die Ausführungen seines Kollegen.
»Jedenfalls war das Wolfs größter Coup, bevor er als freier Journalist weiterarbeitete«, fuhr Beck unbeirrt fort. »Wobei die anderen Enthüllungsstorys auch nicht ohne waren. Er hat einige Wirtschaftsmanager in arge Erklärungsnot gebracht, weil er herausgefunden hatte, dass sie sich während der Finanzkrise die eigenen Taschen vollgemacht haben. Ich sage nur Bankenrettungsschirm. Auch weitere brisante Aufdeckungen von Korruptionsfällen gehen auf sein Konto. So unter anderem sein letzter großer Artikel über den geplanten Windpark in der Eifel aus dem vergangenen Jahr. Das war schon höchst erstaunlich, wer da alles die Hand aufgehalten hat, um das Projekt gegen die vorhandenen Widerstände durchzusetzen. Von dem gefälschten Gutachten ganz zu schweigen.«
»Das bedeutet, dass die Liste der Feinde und somit der potenziellen Verdächtigen, die einen Auftragsmord in Auftrag gegeben haben könnten, sehr lang sein dürfte«, stellte Hansen fest.