Der Satellit - Kooky Rooster - E-Book

Der Satellit E-Book

Kooky Rooster

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Beschreibung

Thomas und Sandra sind ein Paar, doch die traute Zweisamkeit will sich einfach nicht einstellen. Ein Satellit kreist um sie herum. Er heißt Max und statt ein eigenes Leben zu führen, ist der stille Zeitgenosse ständig zu Besuch und fährt sogar mit zu Familienfeiern. Etwas muss geschehen, denn Max' ständige Präsenz stellt die Beziehung auf eine harte Probe. Sandra beschließt, den lästigen Dauergast mit ihrer besten Freundin Nicole zu verkuppeln. Doch da hat sie die Rechnung ohne Max gemacht. Der hat nämlich kein Interesse an der rassigen Schönheit, sondern ein Auge auf Thomas geworfen. Aber den besten Kumpel küsst man nicht. Zumindest nicht ungestraft. Kooky Rooster präsentiert hiermit eine weitere Gay-Romance mit Herz, Humor und Leidenschaft.

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Kooky Rooster

Der Satellit

Liebe in der Umlaufbahn

Der Liebe im Verborgenen. Möge Euch der Weg aus dem Schatten wachsen lassen.BookRix GmbH & Co. KG81371 München

1| Satellit

 

Sie sah aus wie Kleopatra.

Thomas reihte auf dem Laptop die Musiktitel um. Der nächste Song musste mehr Sexappeal haben. Nicole glitt mit fließenden Bewegungen an den Melodien entlang und wenn Thomas nur den richtigen Song auflegte …

»Bist du schwerhörig?« Sandra kniff Thomas in den Po. Sie war das genaue Gegenteil von Nicole, aber auf ihre Art nicht weniger anziehend. Sie entsprach dem Typ Kate Blanchet. Unterkühlt. Verletzt. Akkurat.

Thomas schlang einen Arm um ihre Taille und drückte seiner Liebsten pflichtschuldig einen Kuss auf den Mund. Hoffentlich hatte sie nicht bemerkt, wie er ihre beste Freundin anglotzte. Aber Sandra war viel zu beschäftigt, alles perfekt zu arrangieren.

Sie schaute sich suchend um. »Wo ist er?«

Thomas ließ den Blick durchs Wohnzimmer gleiten.

Auf dem Sofa hatten sich zwei Grüppchen gebildet. Vier Mädels, die sich über Menstruationsbeschwerden und stimmungssensitiven Nagellack unterhielten; und fünf Jungs, die in eine hitzige Diskussion über die optimale Ausrüstung für einen legendären Dungeon in einem Online-Rollenspiel vertieft waren. Außer Nicole tanzten noch zwei weitere Mädels zur Musik, und neben Thomas versuchten noch drei andere Jungs zu erraten, ob Kleopatra überhaupt Unterwäsche trug. Dabei klammerten sie sich mit einer Hand an einer Bierdose fest und vergruben die Faust der anderen in der Hosentasche, um eine Erektion zu kaschieren.

Von Max fehlte jede Spur. Dabei fand diese Party nur seinetwegen statt. Offiziell, weil Max dreiundzwanzig wurde, inoffiziell, weil Sandra ihn mit Nicole verkuppeln wollte. Thomas stand zwar hinter diesem Plan, aber mit einem anderen Langzeitziel. Während sich Sandra erhoffte, dass Max seine Umlaufbahn um sie und Thomas endlich verlassen wollte, um mit Nicole in Galaxien aufzubrechen, die er noch nie zuvor gesehen hatte, baute Thomas auf einen Partnertausch. Natürlich erst, wenn sich die Beziehung zwischen Nicole und Max gefestigt hatte.

Dazu musste allerdings zuvor eine Sache passieren: Die beiden mussten zusammenkommen.

An Nicole scheiterte es nicht. Seit zwei Monaten kreiste sie wie Max in der Umlaufbahn um Thomas und Sandra. Anfangs aus Liebeskummer, weil Jürgen (der Arsch) sie betrogen hatte. Dann entdeckte sie den anderen Satelliten und seitdem versuchte sie, bei ihm zu landen. Thomas war ein Rätsel, was sie an Max reizte. Nicht, dass er seinem Kumpel nicht gönnte, von einer Frau ihres Kalibers begehrt zu werden, aber was konnte er ihr schon bieten. Max war ein stiller Typ, menschenscheu und nicht gerade ein Adonis. Er war nicht hässlich, aber unscheinbar und konnte völlig mit seiner Umgebung verschmelzen.

Wie jetzt.

Thomas konnte ihn nicht entdecken. Auch nicht, als er ein weiteres Mal Nicoles Hüftschwung bewunderte. Das war auch so ein Mysterium. Max war Nicoles Reizen gegenüber immun. Thomas bemerkte schon eine ganze Weile, dass Max’ Interesse an Liebe und Sex zu wünschen übrig ließ, dabei sollte ein Mann seines Alters kaum andere Hobbys haben. Eine Zeit lang vermutete Thomas sogar, dass Max das Asperger-Syndrom hätte. Zumindest zeigte sein Freund manchmal erstaunlich viele Parallelen zu so einem Typen, den Thomas mal in einem Film gesehen hatte. Aber Max war nicht zwanghaft. Er war zwar gehemmt, aber nicht so grausam an Routine und Rituale gefesselt, wie es Menschen mit diesem Persönlichkeitsbild entsprach. Max drehte auch nicht gleich durch, wenn ihn jemand anfasste, aber er mied Körperkontakt so gut er konnte.

»Verflucht, wir veranstalten das Ganze hier nur für ihn!« Sandra wand sich aus Thomas’ Armen und stemmte die Hände in die Hüften. »Wenn der Idiot es vermasselt, kriegt er Hausverbot.«

»Das ist nicht dein Ernst, oder?« Bis jetzt hatte Thomas die Verkupplungsaktion für eine Option gehalten, nicht für ein Ultimatum.

»Mein voller Ernst.« Sandra funkelte Thomas an. »Er ist dein Freund. Sorge dafür, dass es zwischen ihm und Nicole heute endlich funkt! Meine Gastfreundschaft hat Grenzen und die hat er schon lange überstrapaziert.«

Sandra reagierte in Bezug auf Max überzogen. Er tanzte doch nicht auf dem Tisch und zündete Vorhänge an! Sie konnte sogar froh sein, dass er immer da war. In seinem Bestreben, nicht zur Last zu fallen, erledigte er die Hälfte des Haushalts, füllte regelmäßig den Kühlschrank auf und zahlte den Tank, wenn sie gemeinsam zu Familienfeiern fuhren. Okay, Max kam sogar zu Sandra und Thomas’ Eltern mit, aber er war umgänglich und ein gern gesehener Gast. Wenn überhaupt jemand einen Grund zur Beschwerde hatte, dann Thomas. Nicht nur Sandras Eltern hielten Max für einen besseren Schwiegersohn, sogar Thomas’ Eltern wollten ›diesen adretten jungen Mann‹ am liebsten adoptieren.

»Wahrscheinlich ist er nur auf dem Klo, also reg dich wieder ab.« Ups. Sandra zu sagen, sie solle sich abregen war die beste Methode, sie auf die Palme zu bringen. Thomas zog instinktiv den Kopf ein. Dann ging es auch schon los.

»Die Party dauert nun schon vier Stunden und hat dein lieber Freund auch nur ein einziges, verdammtes Wort mit Nicole oder irgendjemandem sonst hier gewechselt?«

»Mit mir hat er …«

»Er redet nur mit dir, ist dir das schon einmal aufgefallen? Alle hier sind nur seinetwegen da – und was macht er? Der Scheißkerl versteckt sich!«

»Er kennt doch auch keinen …«

»Ist das meine Schuld? Ist das unsere Schuld, dass er hier so gut wie niemanden kennt? Wir haben ihm verdammt noch einmal gesagt, er soll seine Freunde einladen. Ist auch nur ein einziger da? Nur einer?«

»Ich bin doch …«

»Das ist nicht der Punkt, Thomas. Der Kerl hat kein Leben! Er ist wie ein Parasit. Merkst du das denn nicht? Das zerstört unsere Beziehung. Willst du das? Willst du, dass er uns auseinanderbringt?«

»Also jetzt übertreib mal nicht …« Wieder so eine Formulierung, die Sandras Blut zum Kochen brachte.

»Mir reicht’s! Du sorgst dafür, dass das ein Ende hat! Wenn es sein muss, schleifst du ihn an den Ohren hierher und verpasst ihm einen Tritt, damit er in Sachen Nicole in die Gänge kommt. Andernfalls kannst du ihm gleich sagen, dass er sich dahin verziehen soll, wo der Pfeffer wächst. Und wenn dir daran irgendetwas nicht passt, kannst du gleich mit ihm mitgehen!«

Thomas schluckte. »Du willst Schluss machen?«

»Nein, eben nicht! Aber wenn Max hier noch länger herumschleicht, wird genau das passieren. Verdammt, ich hab das Gefühl, ich führe eine Dreierbeziehung, nur ohne Sex, und darauf hab ich echt keinen Bock!«

»Aber wir beide haben doch Sex.« … jeden Mittwoch und Samstag. Sex mit Nicole war sicher spontaner, wilder, entfesselter. Vermutlich rannte sie auch nicht gleich nach dem Koitus los, um zu duschen und Bettlaken zu wechseln, weil sie sich davor ekelte, ›in der Suppe zu liegen‹.

»Mein letztes Wort ist gesprochen. Wenn Max auch in Zukunft hier abhängen will, dann muss er das als Freund von Nicole tun. Verklickere ihm das!« Sandra machte auf dem Absatz kehrt und suchte den Balkon auf.

Nach einer Auseinandersetzung musste sie immer eine rauchen, um sich wieder zu beruhigen. Zumindest behauptete sie das. In Wahrheit brütete sie dann vor sich hin und kam noch frustrierter zurück, als sie davongestürzt war.

Thomas riss sich schweren Herzens von Nicoles Hüftschwung los und begab sich auf die Suche nach Max.

 

»Du hast dich aber nicht gut versteckt.«

Max stand in der Küche und blätterte in der Bedienungsanleitung für die Mikrowelle. Wahrscheinlich unterhielt er sich mit kreativen Übersetzungen, oder stöberte ihm bekannte Schriftzeichen im japanischen Teil der Beschreibung auf. Max ruckte hoch und strahlte Thomas an, als hätte er eben herausgefunden, dass man mit der Mikrowelle Dinge beamen konnte.

»Welche Musikgruppe war das vorhin? Die mit dem traurigen Roboter – hat mir echt gefallen!«

»Pornophonique. Sad Robot.« Thomas öffnete den Kühlschrank. »Bier?«

»Klar. – Hast du mehr von denen? Sind die anderen Sachen auch gut?« Max legte die Bedienungsanleitung zur Seite und nahm die ihm hingestreckte Dose entgegen.

Den Hintern gegen die Arbeitsfläche gelehnt, stellte sich Thomas neben seinen Freund. »Wie gefällt dir die Party eigentlich?«

Max warf ihm einen verwunderten Blick zu. »Gut. Wieso?«

»Warum amüsierst du dich dann nicht?«

»Aber … ich amüsiere mich doch!«

Sie öffneten synchron die Bierdosen und tranken einen Schluck.

»Du stehst in der Küche herum und …«, Thomas griff nach der Broschüre, die Max eben weggelegt hatte, und schaute sich das mies entworfene Cover an, »… liest Bedienungsanleitungen! Unter ›sich amüsieren‹ verstehe ich etwas anderes.« Er schleuderte das Heft wieder auf den Tisch und musterte seinen Kumpel. Gut möglich, dass er sich wirklich mehr dabei amüsierte, in Bedienungsanleitungen zu blättern, als ein paar neue Leute kennenzulernen. »Was hältst du eigentlich von Nicole?«

Max’ Gesichtsmuskeln zuckten unschlüssig und er nahm einen großen Schluck Bier. »Sie ist nett.«

»Nett.« Thomas schüttelte belustigt den Kopf. »Nicole ist nicht nett, sie ist heiß! Und sie steht auf dich.«

Max wog die Dose in seiner Hand und starrte Löcher durchs Alu.

»Du musst nur da rausgehen und sie dir schnappen. Einfacher geht es nun wirklich nicht mehr.« Was ein Skandal war, wenn man es genauer bedachte. Warum hatte es Thomas noch keine Frau so leicht gemacht?

»Kann es sein, dass du sie willst?«

»So ein Quatsch!« Thomas straffte die Schultern und warf einen Blick auf eins der Fotos an der Kühlschranktür. Max hatte es bei einer Wanderung vor drei Jahren aufgenommen. Es zeigte Thomas und Sandra. Sie war die ganze Zeit über stinksauer gewesen, weil das ein romantischer Exklusivausflug zum zweiten Jahrestag ihrer Beziehung hätte sein sollen – nur sie und Thomas. Nun. Immerhin hatte Max den Rucksack mit der Picknickausrüstung geschleppt.

»Ich sehe doch, wie du sie immer anstarrst.« Max drehte die Bierdose in den Händen. War da Eifersucht in seiner Stimme? Vielleicht gefiel ihm Nicole ja doch ein bisschen.

»Schauen wird doch noch erlaubt sein. Du kannst eh beruhigt sein, Nicole hat nur Augen für dich. Außerdem bin ich mit Sandra zusammen.« … aber nicht mehr lange, wenn du dich in Sachen Nicole weiterhin so zierst.

Thomas boxte Max gegen den Oberarm. »Lass uns zu den anderen gehen und tanzen!«

Max schaute zur Stelle, die Thomas berührt hatte. »Ich tanze nicht.« Er machte einen Augenaufschlag, der die Welt in Brand steckte. So scheu Max auch war, den Höschenstürmerblick hatte er drauf. Würde er den auch mal bei Frauen einsetzen, könnte er jede haben. Aber mit seiner elenden Schüchternheit stand er sich selbst im Weg.

Thomas wandte sich ab und setzte die Bierdose an die Lippen. Es war jedes Mal dasselbe, wenn sein Freund ihn so anschaute. Thomas vergaß die Welt um sich herum und war wie hypnotisiert. Vielleicht sollte Max Kapital aus dieser Gabe schlagen. Nikotinentwöhnung durch Augenaufschlag. Schlank durch einen tiefen Blick. Thomas würde ihm ein Logo entwerfen, Folder, Visitkarten …

»Du musst ja nicht tanzen … Nicole würde dir auch ohne Vorglühen ins Schlafzimmer folgen.«

Max verschluckte sich und prustete eine Schaumfontäne heraus. Bier prickelte über seine Finger und tröpfelte auf den Küchenfußboden.

Thomas lachte.

»Das versuche ich schon die ganze Zeit, dir zu verklickern. Du musst ihr nur einmal tiefer in die Augen schauen und sie macht die Beine breit. Die ist total scharf auf dich.«

Max fischte einen Schwamm aus der Spüle und wischte das Bier von den Fliesen. Dann säuberte er die Dose und wusch sich die Hände. Er konzentrierte sich auf die Aufgabe und führte sie so behutsam – geradezu verstörend sanft – aus, als hantiere er mit Sprengstoff. Das Gespräch schien er dabei völlig zu vergessen. Als folge er einem fehlgeleiteten Impuls, begann er auf einmal, den Herd zu putzen und schrubbte ihn so verbissen, als wäre dieser entsetzlich verdreckt.

In einem Haushalt, in dem eine Sandra und ein Max walteten, gab es keine verdreckten Oberflächen.

»Lass das. Komm mit ins Wohnzimmer. Die anderen fragen sich bestimmt schon, wo wir bleiben.«

Max bearbeitete ungerührt das blitzblank glänzende Ceranfeld.

»Sauberer wird’s nicht! Da draußen findet außerdem deine Party statt. Alle sind nur deinetwegen hier, also kommt jetzt mit und amüsier dich!« Von der Tür aus beobachtete Thomas, wie Max der Erosion durch Scheuereskalation Vorschub leistete. Das war ja kaum zum Mitansehen.

Thomas machte einen Schritt auf ihn zu und legte eine Hand beruhigend auf die um den Schwamm geballte Faust. »Hör auf damit.«

Max hielt ruckartig inne und wirkte, als hätte man ihn spontan in Bernstein gegossen. Was war bloß mit ihm los? Warum stellte er sich so an? Jeder Kerl würde sich alle zehn Finger ablecken, wenn ihn eine Frau wie Nicole abschleppen wollte.

Eine seltsame Eingebung schnitt eine Schneise durch Thomas’ Gedanken – eine völlig absurde Erkenntnis, wenn er bedachte, dass Max schon dreiundzwanzig war. Es war vielleicht verrückt, aber … konnte es sein, dass sein Kumpel noch Jungfrau war?

Thomas wurde heiß.

Warum war ihm die Idee nicht schon viel früher gekommen? Alle Indizien sprachen dafür. Max wich dem Thema Sex und Liebe stets großräumig aus, und so lange Thomas ihn kannte, hatte er noch nie eine Freundin gehabt, geschweige denn einen One-Night-Stand. Da Max seit fünf Jahren mehr oder weniger bei Thomas und Sandra wohnte (obwohl er eine eigene Wohnung hatte), hätte er eine Affäre kaum verheimlichen können.

Es war zu offensichtlich! Max war kein verkappter Asperger, sondern Jungfrau! Kein Wunder, dass es ihm Angst machte, wenn ihm eine Sexbombe wie Nicole zu Leibe rückte.

Thomas ließ die Faust seines verstörten Freundes los und legte ihm stattdessen eine Hand in den Nacken.

»Warum hast du denn nichts gesagt, Mensch?« Thomas musste schmunzeln. Das erklärte so vieles. Das erklärte alles. »Du bist noch Jungfrau, richtig?«

Max rührte sich keinen Millimeter.

»Das ist nichts Schlimmes. Okay, es ist ein bisschen ungewöhnlich in deinem Alter, aber es ist nichts, das man nicht beheben könnte.« Thomas wuschelte Max durchs Haar. »Wir kriegen das zusammen hin. Vielleicht ist das Thema ja schon morgen früh Schnee von gestern. Mit Nicole hast du einen echten Glücksgriff gemacht, sie hat Erfahrung und wird …«

»Hör auf!« Max riss sich los und schleuderte den Schwamm ins Spülbecken. Er wich einen Schritt zurück und seine Brust wölbte sich im raschen Rhythmus seines Atmens. An seiner Wange entstanden rosa Flecken und sein Blick raste durch die Küche, als hielte er nach einer Fluchtmöglichkeit Ausschau. So aufgelöst hatte Thomas seinen Freund noch nie erlebt. Späte Jungfräulichkeit war nichts, mit dem man sich gern erwischen lassen wollte. Das wusste Thomas aus eigener Erfahrung. Er war bei seinem ersten Mal auch bereits achtzehn gewesen und hatte diesen Umstand wohlweislich für sich behalten. Nur Max hatte er davon erzählt – aber auch erst, als er es hinter sich gebracht hatte.

»Nicole ist sicher ganz …«

Max raufte sich die Haare. An seinen Unterarmen traten die Sehnen und Muskeln hervor. »Hör endlich auf, dauernd von dieser blöden Kuh zu reden!«

»Nicole ist keine …«

»Wenn du mit ihr ficken willst – dann mach’s doch einfach, aber lass mich in Ruhe damit! Ich will davon nichts wissen! Ich will von ihr nichts wissen!« Max rieb sich übers Gesicht. Seine Augen glänzten und er presste die Lippen zusammen.

Thomas warf einen Blick durch die Küchentür hinaus in den Flur. Hoffentlich hatte das niemand gehört. Gott sei Dank war die Musik recht laut und Sandra schmollte wahrscheinlich noch immer auf dem Balkon.

»Geht’s noch? Willst du mich in Teufels Küche bringen?«

»Denkst du, ich weiß nicht, dass ihr mich loswerden wollt?« Auf Max’ Stirn gruben sich Falten. Seine Mundwinkel bebten. »Diese Party, die ihr angeblich für mich gebt, dient nur dazu, mich aus eurem Leben zu schmeißen.«

Thomas wurde heiß. »Das … also … das ist ein bisschen drastisch formuliert.« War es wirklich so offensichtlich? »Es war Sandras Idee, nicht meine!«

Seufzend schüttelte Max den Kopf und griff nach der Bierdose neben der Spüle. Er betrachtete sie und seine Schultern sanken mit jedem Atemzug tiefer. Schließlich stellte er sie, ohne einen Schluck getrunken zu haben, wieder ab und zog Thomas mit einem weiteren betörenden Augenaufschlag in den Bann. Unter nassen Wimpern hervor glühte ein derart intensiver Blick, dass Thomas ganz mulmig wurde.

Max stieß sich von der Arbeitsfläche ab. »Es ist wohl besser, wenn ich gehe.« Seine Stimme war eigenartig heiser und sein Kinn kräuselte sich immer wieder für einen kurzen Moment. »Du kannst Sandra sagen, dass ihr mich los seid.« Er wandte den Blick ab und wollte an Thomas vorbei aus der Küche stürzen.

Scheiße.

Thomas stellte sich ihm in den Weg. »Du hast da etwas missverstanden.«

Max schaute ihn an, als wäre er überraschend in die Klinge eines Dolches gelaufen, den Thomas unter einem Cape versteckt hielt.

»Ich will nicht …« Thomas rollte mit den Augen – der Gott des Kitsches köpfte gewiss gerade eine Flasche Champagner. »… ich will nicht, dass du gehst.«

»Ich hätte es schon lange tun sollen. Ich sollte euch dankbar, sein, es mir wenigstens jetzt so leicht zu machen.«

Eine Magnum.

»Was redest du denn da für einen Quatsch? Wenn du schon so lange abhauen willst, warum hängst du dann jeden Tag bei uns herum? Wir halten dich nicht fest!«

Von Max’ Wimpern stürzte eine einzelne Träne und zog eine nasse Spur abwärts zu den bebenden Mundwinkeln. Max mahlte mit dem Kiefer und kämpfte gegen die nächste Träne an.

Thomas fröstelte. Wie Max sich verhielt, das hatte etwas Endgültiges.

»Moment Mal!« Thomas packte Max an den Ellenbogen. »Du willst doch nicht unsere Freundschaft beenden, oder?«

Max wandte den Blick ab, blinzelte verzweifelt und verlor den Kampf. Immer mehr Tränen kullerten über seine Wangen und sammelten sich am Kinn als zitternde Tropfen.

Thomas verstärkte den Griff. »Warum denn, verdammt!«

Max schüttelte den Kopf und versuchte sich loszureißen.

»Ist es, weil du Jungfrau bist?« Thomas schnaubte. »Scheiß drauf, das ist mir doch egal. Meinetwegen kannst du das bleiben, bis du hundert bist. Das mit Nicole war ja nur ein Vorschlag!«

Max schniefte und versuchte sich weiterhin zu befreien.

Thomas packte die Arme noch fester. »Jetzt krieg dich mal wieder ein! Wir wollen dich nicht loswerden, sondern nur … etwas mehr Freiraum. Wir mögen dich. Also … zumindest ich mag dich und Sandra mag dich auch, sie ist nur ein bisschen gestresst in letzter Zeit …«

Lippen landeten auf Thomas’ Mund. Weiche, von Tränen nasse und salzige Lippen.

Thomas erstarrte, lockerte den Griff, ließ Max los.

An seinen Wangen kitzelten zitternde Fingerkuppen, dann wurde sein Gesicht behutsam von warmen Händen umfasst. Thomas zuckte, doch er ließ geschehen. Das war so verführerisch sanft. Viel zu zärtlich für einen Mann – viel zu liebevoll, für eine Berührung unter Kumpels.

Thomas stand unter einem Bann, konnte sich nicht rühren, atmete nicht einmal. Mit weit aufgerissenen Augen starrte er seinen Freund an, der die Lider geschlossen hatte und sich über die Lippen leckte, um sie für einen weiteren Kuss weich, aber mit Nachdruck, auf seinen Mund zu drücken. Das war kein Bruderkuss. Das war kein freundschaftlicher Schmatz.

Behutsam forderten Max’ Lippen, den Mund ein bisschen zu öffnen und Thomas tat es. Er konnte der zärtlichen Aufforderung nichts entgegensetzen, stand unter Schock, begriff nicht, was da gerade passierte.

Etwas Nasses schlüpfte in seine Mundhöhle, stupste gegen seine Zunge, weckte sie.

Es war wie ein Rausch, ein betörender Sog, Automatismus. Was sonst sollte es sein, als der über Jahre hinweg antrainierte Reflex, einen Kuss zu erwidern? Thomas konnte nicht anders, als darauf reagieren, auf ihn eingehen. Er brüstete sich stets damit, ein guter Küsser zu sein und das erforderte vollen Einsatz – von der ersten Berührung an. Kein Zaudern und Zögern, sondern Instinkt und Fertigkeit. Es war Routine. Nein. Keine Routine. Vielmehr … Begierde. Nein. Das konnte nicht sein. Max war ein Kerl.

Verdammt.

Thomas küsste Max!

Er hatte die Zunge seines Kumpels im Hals!

Scheiße – was machte er denn da?

Thomas stieß Max von sich, wischte sich über den Mund und schaute sich nach Zeugen um. Niemand da. Puh! Keiner hatte es mitgekriegt. Hoffentlich.

Bis auf Max.

Thomas’ Lippen pulsierten, sein Herz raste und im Schritt kribbelte es angenehm.

Das konnte nicht sein.

Das durfte nicht sein.

»Spinnst du? Warum hast du das gemacht?« Thomas klang nicht so wütend, wie er hätte klingen müssen. Es war viel zu schön gewesen, um sauer zu sein.

Nein, nein, es war ekelig, widerwärtig!

Das nun auch wieder nicht.

Es war … anders gewesen. Irgendwie … speziell. Ach, zum Teufel, warum wollte Thomas das überhaupt bewerten? Es war … ein Unfall, oder Zufall. Es war ein Zwischenfall. Es würde nicht mehr passieren. Warum war es überhaupt passiert?

»… dich.«

Thomas hatte es nicht gehört. Max hatte etwas gesagt, aber es war nicht bis zu Thomas’ Ohren vorgedrungen. Vielleicht hatte die Botschaft zwar die Ohren erreicht, aber vor lauter Chaos im Kopf keinen Zuständigen gefunden und lag noch in der Poststelle, im Briefkasten, in der Pfütze vor dem Briefkasten, auf der Kommode daheim. Vielleicht wollte Thomas auch gar nicht wissen, wie sie lautete. Ein unbeschriebener Briefbogen. Der Füller lag unangetastet daneben.

Es war nicht geschehen.

Plötzlich knallte die Wohnungstür.

Max war weg.

Thomas stand noch immer in der Küche. Es tat weh. Dass Max weg war, schmerzte in der Brust und im Kopf brüllten tausend Gedanken durcheinander.

Es hat dir gefallen. – Es war schrecklich. – Warum ist es passiert? – Was sagt wohl Sandra dazu? – Sie darf es nicht erfahren. – Niemand darf es erfahren. – Es hat nichts zu bedeuten. – Es verändert die Welt. – Schwul. – Jetzt bist du … – Nein, ein Kuss macht noch niemanden … Dings. – Sandra. – Ich liebe Sandra. – Und Nicole finde ich scharf. – Ich bin nicht … Dings.

Thomas würde es treiben. Mit beiden Frauen. Noch heute Nacht.

Aber jetzt musste er erst einmal dringend … einen Schluck Wodka trinken.

 

2| 45 Minuten

 

Thomas ackerte sich rhythmisch durch die Lust. Seit fünfundvierzig Minuten. Allmählich plagte ihn die Übersäuerung der Muskeln. Immer wieder begannen seine Arme oder Schenkel zu zittern.

Normalerweise war er laut und Sandra gab keinen Mucks von sich, nun war es genau andersrum.

»Das war ja wieder einmal typisch. Die Salamibrötchen gingen sofort weg und die mit Hummus sind übrig geblieben. Wenn für ihre Mahlzeit kein Tier abgeschlachtet wurde, essen sie es nicht.«

Max’ Kuss prickelte immer noch auf Thomas’ Lippen und die Zunge durchlebte diese unvergleichlich zaghaft-wilde Berührung in der Erinnerung immer und immer wieder. Der Kuss dauerte nach wie vor an. Zwei Gläser Wodka, und Max’ Geschmack beherrschte noch immer Thomas’ Mund. Nicht einmal Sandras penetrantes Aroma nach Aschenbecher und Kichererbsen war in der Lage, diesen köstlichen Gaumenkitzel zu ersticken. Ihren Küssen fehlte dieser fordernde Nachdruck, diese lebendige Kraft, mit der Max’ ihn ganz blöd gemacht hatte.

»Ich hätte Markus umbringen können, als er Jägermeister über das Sofa geschüttet hat. Das klebrige Zeug ist eh so schwer rauszukriegen. Und dann lacht er auch noch blöd und meint, es wäre ja nichts Schlimmes passiert. Nichts Schlimmes? Offenbar hat er noch nie …«

Thomas erhöhte das Tempo. Das Bett quietschte. Sandra versuchte, es zu übertönen.

»Wegen der Cola habe ich einen echten Thrill ausgestanden. Kerstin säuft das Zeug wie Wasser. Nächstes Mal, wenn wir sie einladen, müssen wir ein paar Flaschen mehr kaufen. Die hat unseren ganzen Vorrat …«

Es war nur ein Kuss. Heerscharen Jugendlicher küssten im Zuge einer Mutprobe vermutlich genau in diesem Augenblick jemanden eigenen Geschlechts, ohne homosexuell zu werden. In seinen Teenagerjahren hatte Thomas Flaschendrehen gespielt und öfter miterlebt, dass sich zwei Mädchen oder zwei Jungs küssen mussten. Auch wenn es aufregend war, hatte deswegen keiner seine sexuelle Ausrichtung geändert. Thomas konnte sich also wieder beruhigen. Immerhin fickte er gerade Sandra. Wäre er dazu in der Lage, wenn er … Dings wäre? Nein.

Sandra bevorzugte den Ausdruck ›miteinander schlafen‹, was sehr gut ihren Part beim Sex beschrieb. Nicole war sicher aktiver und experimentierfreudiger und Max vermutlich ungestüm. Wenn man aus dem Kuss darauf schließen konnte, wie er im Bett war, schien dieser schüchterne Kerl überraschend engagiert, richtiggehend übermütig zu sein.

Verdammt! Was interessierte Thomas, wie sich Max beim Sex anstellte?

Plötzlich jagte ein gellender Schmerz von seinen Brustwarzen aus durch den ganzen Körper – keine geile Qual, sondern bestialische Pein. Grausam. Brutal. Vernichtend. Thomas schrie auf und flutschte aus Sandra heraus.

»Spinnst du? Was soll das?« Er blickte an sich herab und erwartete, dass anstelle seiner Nippel Fleischwunden klafften. »Bist du völlig übergeschnappt?«

Sandra setzte sich auf und funkelte Thomas verärgert an. »Wo bist du mit deinen Gedanken, sag mal?«

»Was? Wieso ich?Du quatschst doch die ganze Zeit von toten Tieren und solchen Sachen. Das ist übrigens nicht besonders hilfreich, wie dir aufgefallen sein dürfte!«

»Und du machst denselben Blick wie auf dem Laufband. ›Noch fünf Minuten volle Pulle, Rambo.‹«

»Rambo?«

»Ich hab dich drei Mal gefragt, warum Max abgehauen ist. Nicole hat seinetwegen sogar geheult.«

»Die heult doch immer, wenn sie besoffen ist.«

»Der Scheißkerl ist andauernd hier, andauernd, aber ausgerechnet dann, wenn er hier sein soll, haut er ab! Max ist ein Freak.« Sandra zischte und schüttelte den Kopf. »Ich begreife echt nicht, was Nicole an ihm findet.«

»Ich, ehrlich gesagt, auch nicht.«

Sandra runzelte die Stirn. »Ach?«

Thomas wurde heiß. »Na ja, sie ist doch mehr der … impulsive Typ. Sie braucht einen richtigen Mann, einen mit Erfahrung, der weiß, wie man eine Frau anfasst …«

»Du meinst, so einen wie dich?«

Na prima. Das Minenfeld war ausgelegt. Was auch immer Thomas ab jetzt sagte, er konnte nur noch verlieren.

»Wollen wir nicht weiterbumsen?«

Sandra schnaubte, verdrehte die Augen und sprang aus dem Bett, um im Bad zu verschwinden.

Thomas ließ sich auf den Rücken fallen und starrte an die Decke. Meinte Max das ernst, dass er die Freundschaft beenden wollte? Immerhin – mit dem Kuss hatte er ein verdammt gutes Argument dafür geliefert, ihm den Rest des Lebens aus dem Weg zu gehen. Aber Max war nicht berechnend. Wenn er die Freundschaft wirklich beenden wollte, würde er sang- und klanglos verschwinden. Sollte er es – aus welchem Grund auch immer – auf einen dauerhaften Bruch angelegt haben? Dafür hätte er allerdings eine weit weniger … verstörende Methode wählen können. Zum Beispiel, sich an Sandra ranzumachen. Andererseits … nachhaltig hätte das die Freundschaft auch nicht zerstört. Mit einer gebrochenen Nase wäre die Sache bereinigt gewesen.

Wieso war Thomas eigentlich nicht auf die Idee gekommen, Max für den Kuss den Kiefer zu brechen?

Das war eine wirklich gute Frage.

Thomas rollte sich auf den Bauch, schichtete die Fäuste übereinander und legte das Kinn darauf ab. Plötzlich musste er grinsen. Er wollte es nicht und er wusste nicht warum. Die Mundwinkel zogen sich einfach Richtung Ohren und dann drang auch noch ein tiefes Seufzen aus seiner Brust. Was Max wohl gerade machte? Er war nicht gerade gut drauf gewesen, als er abhaute. Hätte ihm Thomas, als sein bester Freund, hinterherrennen müssen? Das Lächeln erstarb. Hoffentlich machte Max keinen Unsinn! Er hatte so verzweifelt gewirkt – sogar geheult.

Das letzte Mal, als Thomas einen Mann hatte weinen sehen, war er sieben Jahre alt gewesen. Oma war gestorben und sein Vater hatte richtig geheult. Thomas war damals mehr darüber erschüttert, als über den Tod seiner Oma. Warum auch immer, aber bis dahin hatte er geglaubt, Männer wären biologisch nicht dazu in der Lage zu weinen – das wäre genetisch so verankert, sie hätten keine Tränendrüsen. Nächtelang lag er wach vor Sorge, die Welt stünde nicht mehr lange. Wenn ein Kerl wie sein Vater, der stärkste Mensch, den er bis dahin kannte, weinte, gab es keine Gesetze mehr. Dann herrschte Chaos. Dann konnte alles passieren. Schließlich kam Thomas zu dem Schluss, dass Männer durchaus weinen konnten, aber nur, wenn jemand starb, den sie liebten.

Plötzlich hatte Thomas das Gefühl, als risse ihm jemand mit einem Ruck das Bett unter dem Körper weg und er stürze in die Tiefe.

›Ich liebe dich.‹

Der Postbote hatte die Botschaft zugestellt. Die Worte, die einige Stunden in Thomas’ Ohrmuscheln gelegen hatten, krochen die Gehirnwindungen hoch, schmissen wahllos Dinge um und arrangierten nebenbei Blumengestecke. Das war Chaos.

Thomas fuhr hoch, drehte sich – einmal zu viel – herum und purzelte aus dem Bett.

Einen Turban aus Handtüchern auf dem Kopf spazierte Sandra herein und stutzte. »Du machst Liegestütze? Jetzt?«

»Mh.« Sportlich ächzend stemmte sich Thomas hoch und klatschte in die Hände.

Die Schranktür knarrte und Sandra zupfte ein frisches Laken aus dem Kleiderkasten. »Dusche ist frei.«

Welch subtiler Hinweis darauf, seinen lustbesudelten Leib zu säubern! »Hat dir schon einmal ein Mann die Liebe gestanden?«

Sandra fuhr herum und runzelte die Stirn. »Willst du mich verarschen?«

Thomas kratzte sich im Nacken und tappte an ihr vorbei ins Bad. »Also nicht.«

 

3| Minenfeld

 

Thomas saß alleine beim Frühstück. Es war Sonntagmorgen. Die Sonne strahlte, der Orangensaft war schimmlig, das Ei hart, der Toast verbrannt und Sandra noch immer sauer. Seit zwei Wochen behandelte sie Thomas wie Luft. Dabei hatte sie endlich erreicht, was sie wollte. Max war weg. Dafür war jetzt Nicole Dauergast und spielte Sandras Seelenmülleimer.

Wenn er den Worten der Frauen Glauben schenken wollte, war Thomas zu einem wahren Monster mutiert. Dabei hatte er sich entschuldigt. Für das, was er gesagt hatte, die Rechtfertigung dafür und die Rechtfertigung der Rechtfertigung. Eigentlich für fast jedes verdammte Wort, das ihm in den letzten vierzehn Tagen über die Lippen gekommen war. Seine Formulierungen nannten sie jetzt ›Sprüche‹. »Den Spruch kannst du dir sparen.« Oder: »Mit welchem Spruch kommst du mir diesmal?« Oder: »Zieht der Spruch auch bei deinem Chef?«

Offenbar gelang es Thomas neuerdings, nur noch das Falsche zu sagen, und zu tun. Er sollte das Geschirr abwaschen, aber nicht so viel Spülmittel verwenden, die Wäsche zum Trocknen aufhängen, aber nicht so, dass sie wieder zerknitterte, einkaufen, aber doch nicht nur Junkfood. An jedem Handgriff hatte Sandra etwas auszusetzen und seine Anwesenheit mutierte für sie zum reinen Störfaktor. Thomas’ Trinkgläser hinterließen Ringe auf den Tischen, im Waschbecken sammelten sich seine Bartstoppeln, der Spiegel war von seinen Zahnpastaspritzern übersät, seine Sachen lagen im Weg herum, er saß immer ausgerechnet da, wo Sandra gerade sitzen wollte und er sollte endlich damit aufhören, ständig so nervtötend vor sich hinzusummen. (Dass er das tat, war ihm gar nicht bewusst.)

Dreimal täglich stand Sandra plötzlich wie ein Geist neben ihm und fragte: »Was hast du dir dabei gedacht?« Dabei ließ sie Thomas im Unklaren darüber, worauf sich ihre Frage bezog, und wenn er nachbohrte, schaute sie ihn an, als hätte er ihr in die Brust geschossen. »Na, wenn du das nicht weißt.«

Mittlerweile stand der Haussegen nicht bloß schief, sondern senkrecht. Sandra sprach so gut wie kein Wort mehr mit ihm, und sobald Thomas denselben Raum wie sie betrat, rollte sie mit den Augen und stakste hinaus.

Zeit für sich selbst zu haben, kam Thomas gerade sehr gelegen. In seinem Hirn tobte Max’ Liebesgeständnis, schmiss nach wie vor Sachen um und arrangierte hübsche Gestecke. Obwohl Thomas bereits direkt nach dem Kuss die Angst entwickelt hatte, möglicherweise … Dings zu sein, war ihm der Gedanke, dass Max auf Männer stehen musste, erst nach einer Woche gekommen. Seitdem war er damit beschäftigt, in jeder noch so banalen Erinnerung weitere Indizien für diesen Verdacht aufzustöbern.

 

Nicole tappte aus dem Schlafzimmer. Ihr schwarzes Haar stand in alle Richtungen ab, und sie gähnte herzhaft. Vorübergehend schlief sie bei Sandra, während Thomas aufs Sofa verbannt worden war.

Interessant war das schon, dass Frauen weit weniger Probleme damit hatten, miteinander ein Bett zu teilen, als Männer. Manchmal, wenn sich Thomas schlaflos auf der Couch wälzte, stellte er sich vor, wie Nicole und Sandra es miteinander trieben. Alberne Fantasien. Sandra tat schon seit langem alles, um im Bett so unattraktiv wie möglich zu sein. Sie trug einen Flanellpyjama mit rosa Häschen! Sie meinte, er spende ihr Geborgenheit. Zwei Nächte pro Woche ließ sie sich das unsägliche Kleidungsstück für ein paar Minuten vom Leib zupfen, nur um es nach erfolgter Rammelei und der obligatorischen Dusche wieder überzustreifen. Zumindest bis vor vierzehn Tagen. Seitdem wurde sie – beleidigend effizient und in satter Frequenz – von Thomas’ rechter Hand vertreten.

Sollten Nicole und Sandra wirklich lesbische Erfahrungen sammeln, würde Thomas es sofort mitkriegen. Dann standen nächtliche Duschen und Bettlakenwechsel auf dem Programm.

Nicole trug ein T-Shirt in x-large, das nur knapp ihr Schambein verhüllte, und einen roten Slip, der seine Aufmerksamkeit magisch auf sich zog. Er saß verboten eng und das Material war verwegen dünn, fast ein bisschen durchsichtig. Dass Thomas Nicole unentwegt in den Schritt glotzen musste (wann verspeisten die Schamlippen das arme Höschen?), war ihm peinlich. Zugleich beruhigte es ihn. War seine Faszination für die Gier des weiblichen Sexualorgans nicht der unerschütterliche Beweis dafür, dass er nicht(!) … Dings war?

Plötzlich machte Nicole etwas, das erstens so schnell ging, dass Thomas es gar nicht sofort kapierte, und zweitens so … verrückt war, dass er es nicht glauben konnte. Sie hob das Shirt an und zog vorne ihren Slip runter. Es dauerte nur eine Sekunde – weniger als eine Sekunde – lang genug, dass Thomas auf einem Stück Papier hätte aufzeichnen können, wie ihr Schamhaar getrimmt war.

»Neugier befriedigt?«

Thomas schnappte nach einem Happen Luft und schluckte ihn runter.

Lachend wandte sich Nicole der Kaffeemaschine zu und prüfte, ob noch etwas in der Kanne war, (was nicht der Fall war). Aufreizend mit dem Po wackelnd inspizierte sie den Kühlschrank, um, wie Thomas vorhin, festzustellen, dass der Inhalt zu wünschen übrig ließ. Nicole warf einen neugierigen Blick auf Thomas’ Frühstück. »Würde dir ein Zacken aus der Krone brechen, wenn du dich bei Sandra entschuldigst?«

»Wofür denn jetzt schon wieder? Ich entschuldige mich doch ständig!«

Nicole griff nach der Packung Orangensaft und öffnete sie. »Ja, aber direkt nach der Scheiße, die du angerichtet hast.« Sie schnupperte und rümpfte die Nase.

›Direkt nach der Scheiße‹ … sollte das ein Argument sein? Thomas’ Blick folgte der Packung, die Nicole unverrichteter Dinge wieder abstellte.

Sie neigte sich über den Tisch und grapschte den verbrannten Toast von Thomas’ Teller.

»Direkt danach gilt nicht.« Mit einem kleinen Hopser setzte sie sich breitbeinig auf die Arbeitsfläche, griff nach einem gebrauchten Messer im Spülbecken und begann, die verkohlte Schicht vom Toast zu kratzen. Die Brösel rieselten auf den Küchenfußboden. »Es gilt auch nicht, wenn du danach denselben Fehler noch einmal machst. Das hebt die Entschuldigung praktisch auf.«

Thomas versuchte, nicht allzu auffällig zwischen ihre Schenkel zu starren.

»Das ist doch ganz logisch.« Nicole biss vom Toast ab und sprach mit vollem Mund weiter. »Dein Unterbewusstsein treibt dich dazu, Sandra dauernd zu verletzen – zumindest gehe ich nicht davon aus, dass du es mit Absicht machst, oder?«

Thomas schüttelte den Kopf. Er lebte auf einem Minenfeld. Es war unmöglich, Detonationen zu vermeiden.

»Du kannst dich also nicht sofort für etwas entschuldigen. Und weißt du auch, warum?« Nicole blickte ihn erwartungsvoll an.

Thomas schüttelte wieder den Kopf. Die Auflösung versprach, abenteuerlich zu werden.

»Ganz einfach: weil du darüber noch nicht reflektiert hast. Wenn du nicht weißt, warum du Sandra verletzt hast, kannst du dich auch nicht dafür entschuldigen. Du musst aus deinem tiefsten Inneren bereuen, was du getan hast, und dafür musst du in deinem Unterbewusstsein nach den Ursachen forschen. Das machst du aber nicht. Du hältst eine Entschuldigung für eine Art Knopf, mit dem du Sandras Zufriedenheit wieder einschalten kannst. So funktioniert das aber nicht. Du musst dich anstrengen. Hast du das so weit verstanden?«

»Könntest du das noch einmal nackt erklären?« Es war ein Scherz. Ein Reflex. Die bescheuerte Reaktion auf eine bescheuerte Standpauke.

Nicole verstand das. Sie lachte.

Sandra nicht.

Und wieder in eine Tellermine getreten.

Seit wann, zur Hölle, stand Sandra schon in der Tür und hörte ihnen zu? Sie schaute zwischen Thomas (der, wie ihm nun bewusst wurde, lediglich Boxershorts trug) und Nicole hin und her. ›Der Spruch‹, den Thomas eben abgelassen hatte, hallte in seinem Kopf wider und wider, wie ein diabolisches Echo.

Sandra sagte nichts. Als säße sie in den Zuschauerreihen beim Davis-Cup, sprang ihr Blick zwischen Thomas und Nicole hin und her.

Max fehlte.

In solchen Situationen hatte er wie ein Blitzableiter funktioniert. War er anwesend, störte sich Sandra nicht daran, wenn Thomas mit Nicole halbnackt im selben Raum saß. Wohnte man – mehr oder weniger – zusammen und war mit seinem Körper im Reinen, gehörte das zum Alltag. Vermutlich aber kochte Sandra nicht wegen der Abwesenheit von Textilien.

Durfte sich Thomas jetzt gleich für seinen blöden Spruch entschuldigen, oder musste er erst einmal in sich gehen und seine Worte reflektieren?

»Ich … ähm … bin unter der Dusche.« Thomas sprang hoch, zwängte sich an Sandra vorbei aus der Küche und sperrte sich im Badezimmer ein.

Max’ Abwesenheit hätte die Beziehung verbessern sollen, aber dieses Projekt scheiterte gerade gewaltig. Thomas vermisste seinen Freund. Er wollte den Max zurück, der immer hier herumgeschlichen war, und mit seinem stillen Gemüt, wie ein Schlechte-Laune-Staubsauger funktioniert hatte. Max absorbierte negative Schwingungen und verwandelte sie in Harmonie. Er war ein Schutzschild, das Thomas vor den Launen …

»Scheiße!«

Thomas warf den Kopf in den Nacken und starrte eine halbe Ewigkeit mit offenem Mund an die Decke. Auf einmal lag es so klar, so greifbar vor ihm, dass er sich fragte, wie er es all die Jahre hatte übersehen können. Max hatte ihn beschützt. Er hatte ständig die Schuld auf sich genommen, hatte alles getan, um Thomas das Leben so angenehm wie möglich zu gestalten. Wenn er den Kühlschrank füllte, dann mit Thomas’ Lieblingsspeisen, und … er wusste, welches seine Lieblingsspeisen waren. Sandra wusste es nach fünf Jahren immer noch nicht – was allerdings auch Max’ Schuld sein könnte. Er räumte hinter Thomas her, sodass Sandra nie meckern musste, weil er irgendetwas herumliegen ließ. Er setzte Sandra stets auseinander, welch edle Gedanken und Motive hinter Thomas’ stümperhaften Taten und ungeschickten Worten steckten, und dass besonders dumme Sprüche lediglich auf Stress und Traumata aus der Kindheit zurückzuführen waren.

Verdammt, Max hatte Thomas in Watte gepackt. Er hatte ihn zum Superman erklärt. Natürlich war Sandra schockiert, wenn sie plötzlich Clark Kent an ihrer Seite hatte – einen chaotischen, peinlichen, dummen – einen durch und durch dilettantischen Clark Kent.

Epochal wie eine Planetenkollision krachte eine Erkenntnis in Thomas’ Bewusstsein, die ebenso beunruhigend wie berührend war: Max kannte Thomas. Er wusste, wie unperfekt er war, sonst hätte er kaum all die Fehler kaschieren können. Trotzdem hatte er ihm die Liebe gestanden. Ihn geküsst.

Und Thomas hatte den Kuss erwidert.

Er drehte das Wasser auf und steckte den Kopf unter die Brause. Thomas wurde geliebt. Von seinem besten Kumpel. Einem Kerl, den er gerne geküsst hatte. Das war furchtbar. Das war eine Katastrophe. Das war erregend.

Thomas stützte sich mit einer Hand an den Fliesen ab und ließ die andere über den Bauch abwärts gleiten. Heiße Tropfen liefen über seine Wangen und leckten an seinen Lippen. Ein Kuss – wie eingebrannt – dazu verdammt, im Geiste immer und immer wieder genossen zu werden. Keine Erinnerung hielt sich bisher so nah, so körperlich, obwohl sie so unerwünscht war. Thomas gab sich ihr hin, tauchte in sie ein. Er wurde von einem Mann begehrt.

Die Welt drehte sich weiter, aber sie war nicht mehr dieselbe.

 

4| Verlierer

 

»Es ist besser, wenn du mal für eine Weile … nicht hier bist.« Nicole stellte einen prall gefüllten Rucksack neben die Wohnungstür. Thomas’ Rucksack. Sandra kauerte schniefend auf dem Sofa und starrte an die Wand.

Was. Ging. Hier. Ab?

»Du schmeißt mich raus?« Thomas versuchte, Sandras Blick zu erhaschen, aber sie drehte sich weg.

Nicole nahm Thomas’ Jacke von der Garderobe. »Bitte … mach es ihr nicht schwerer, als es ohnehin schon ist.«

»Ist das wegen vorhin? Weil ich diesen blöden Spruch abgelassen habe?« Das war doch nur ein schlechter Scherz. Thomas sprang über die Lehne des Sofas und kniete sich vor Sandra auf den Teppich. »Schatz, meinst du nicht, dass du übertreibst? Ich habe doch nur einen dummen Witz gemacht.«

Sandra wandte ihm schwerfällig das Gesicht zu. Lider und Nase waren gerötet. Sie schaute durch Thomas hindurch und knetete ein Papiertaschentuch.

»Denkst du, ich will Nicole wirklich nackt sehen?« Thomas zischte belustigt und machte eine ausladend abwehrende Geste. »Ich bitte dich!«

»Stimmt es, dass du ihre Mumu gesehen hast?« Sandras Stimme klang wie ein stumpfes Messer, das versuchte, eine Konservendose zu zersägen. ›Mumu‹ – Sandra konnte manchmal reden wie eine Zwölfjährige. Nichtsdestotrotz trieb sie Thomas mit dieser Frage in die Enge.

»Ich … ahm …« Er warf Nicole einen hilfesuchenden Blick zu.

Sie hob die Augenbrauen, schürzte spöttelnd die Lippen und zuckte mit den Schultern.

»Also … ich … das ist …«

»Hast du, oder hast du nicht?« Sandra durchbohrte Thomas mit eisigem Blick.

»Sie hat …« Thomas stöhnte genervt auf, wirbelte die Hände in die Luft und rollte mit den Augen. »Wo hätte ich den hinsehen sollen, bitteschön!« Er hatte den Raum als Verlierer betreten und würde ihn auch als solchen verlassen. »Okay.« Thomas richtete sich auf. »Wie du willst. Aber halt mir dann nicht vor, bei jedem Problem abzuhauen …«

Sandra zuckte am ganzen Körper zusammen und glupschte ihn eingeschüchtert an.

Wofür hielt sie ihn denn um Gottes Willen? Einen Gewalttäter?

Thomas riss Nicole die Jacke aus der Hand, stopfte die Füße in die Schuhe und schulterte den Rucksack. Wow. Der war wirklich prall gefüllt. Offenbar hatten die Frauen für ihn eine längere Beziehungspause geplant. Wieso eigentlich? Warum er? Wieso war Sandra nicht auf Nicole sauer? Hätte sie etwa ihre beste Freundin aus der Wohnung geworfen, wenn Thomas ihr seinen Schwanz gezeigt hätte? Wohl kaum. Warum musste er dafür geradestehen, dass Nicole ein exhibitionistisches Luder war?

Ehe er die Tür hinter sich ins Schloss fallen ließ, drehte sich Thomas noch einmal um. »Und, Mädels, nicht vergessen, Bewegung und gesunde Ernährung helfen bei Cellulite.«

 

5| Vermieter

 

Thomas drückte sich im Hausflur herum und grüßte jedes der achtundzwanzig Mitglieder einer muslimischen Großfamilie, die sich ins obere Stockwerk hocharbeitete. Achtundzwanzig Mal nickte man ihm freundlich zu, achtundzwanzig Augenpaare stellten die bange Frage, ob er ein Serienkiller war, oder ein Nazi oder beides zusammen. Erst, als sie an ihm vorüber waren, begannen sie wieder wild miteinander zu schnattern. Bis sich alle die Schuhe ausgezogen hatten, verging eine viertel Stunde. Der Geräuschkulisse nach hatte die ganze Prozedur Volksfestcharakter. Schließlich knallte die Tür und die Stimmen drangen nur noch gedämpft in den Hausflur.

Thomas stand vor einer großen Aufgabe. Den ganzen Tag über hatte er herumtelefoniert, Freunde und Bekannte angerufen, doch niemand hatte einen Schlafplatz für ihn. Die Ausreden waren mannigfaltig, der Grund jeweils derselbe: Der gemütliche Sonntag sollte nicht durch die Beziehungsprobleme eines Freundes zunichtegemacht werden, oder/und die Frau oder/und Freundin hatten etwas dagegen. Thomas’ Eltern wohnten zu weit außerhalb.

Es gab nur einen Menschen, bei dem Thomas sicher sein konnte, dass keine Frau Einspruch erheben würde, wenn er das Sofa belegen wollte, doch diese Option schob er bis zuletzt vor sich her. Max hatte ihm die Freundschaft gekündigt und dann die Liebe gestanden. Wenn Thomas also nicht mehr der Kumpel war, als wer oder was stand er nun vor Max’ Tür?

Sollte er sich irgendwann dazu durchringen können, die Klingel zu betätigen, würde er es herausfinden. Natürlich hatte er Max nicht angerufen, ehe er hierher kam. Zu feige. Als bedürfte es weniger Mut, hier zu stehen und Max einen Überraschungsbesuch abzustatten. Vielleicht sollte er doch vorher anrufen. Thomas wog das Telefon in der Hand und ließ den Daumen über der Kurzwahltaste kreisen. War es nicht total albern, Max anzurufen, wenn er bereits vor seiner Tür stand?

Thomas führte die Hand zur Klingel. Das Herz hämmerte wild und das Blut rauschte in seinen Ohren.

Er drückte den Knopf.

Stille.

Die Welt hielt mit knarzenden Achsen an, dachte einen Moment nach und entschied, wegen dieses kleinen bisschen Muts nicht unterzugehen. Mit einem Ächzen setzte sie ihren behäbigen Tanz durchs Universum fort.

Ein Schlüssel klimperte, kratzte im Schloss, dann öffnete sich die Tür und er stand da.

Max. Der Kumpel. Der Ex-Kumpel. Der Mann, der Thomas liebte. Der Schwule.

Das dunkle Haar stand ihm strubbelig vom Kopf ab und das sonst so akkurat rasierte Kinn zierte ein Dreitagebart. Er starrte Thomas an wie ein linksdrehendes Teletubby. Vermutlich hätte er sogar eher mit einem solchen gerechnet, als mit seinem ehemaligen besten Kumpel. Seine Gesichtsmuskeln zuckten überrascht, unschlüssig, verletzt, erfreut. Eine ganze Weile schien er hin und her gerissen zwischen dem Impuls, Thomas die Tür vor der Nase zuzuknallen und … Thomas die Tür vor der Nase zuzuknallen. Er strich sich hastig durchs Haar, um es ein wenig in Form zu bringen, und zupfte am verschlissenen Shirt und der ausgeleierten Jogginghose herum.

Was sollte Thomas sagen? Nicht einmal ein Gruß wollte ihm über die Lippen kommen. Seine Gedanken stolperten über Unmengen von Blumengestecken und kamen nicht einen Schritt vorwärts.

Auch Max schien es die Sprache verschlagen zu haben. Mund auf – Mund zu – aber kein Mucks.

Fast eine Minute standen sie einander gegenüber und jede Sekunde dehnte sich zu einer Stunde aus.

»Ich habe Nicoles Möse gesehen.«

Max blinzelte und seine Brauen zuckten kurz. »Okay.«

»Ich habe Nicole aufgefordert, sich auszuziehen – und Sandra hat’s mitgekriegt.«

Max runzelte die Stirn und nickte ganz langsam. »Okay.«

»Nicole schläft seit zwei Wochen in meinem Bett … also … statt mir … nicht … mit …«, dann brach es aus Thomas heraus: »Max, es ist ein einziges Chaos, du glaubst es nicht. Der Kühlschrank ist halb leer, überall steht gebrauchtes Geschirr herum, die Dreckwäsche hat das Sofa übernommen und überall auf dem Fußboden ist dieser ekelige Belag. Nicole ist eine Katastrophe auf zwei Beinen und Sandra … Sandra …«

»… hat dich rausgeworfen?«

Thomas ließ die Anspannung aus dem Körper fahren und seufzte resigniert. »Ja.«

»Komm rein!« Max drehte sich um und verschwand im Inneren der Wohnung.

 

»Ich sage ihm noch: ›Ralf, du kannst die Headline nicht in ›Comic Sans‹ setzen, wir haben ein halbes Jahr an einem Corporate Design gearbeitet, das kannst du nicht einfach abschießen.‹ Und weißt du, was Ralf darauf geantwortet hat? ›Ich finde das ironisch.‹ Kannst du dir das vorstellen? Was bitte soll daran ironisch sein, die Arbeit von Monaten in den Sand zu setzen? Ich also zu Ralf: ›Das ist nicht ironisch, das ist Scheiße. Das ist fucking, gestapelte Scheiße. Das kannst du nicht machen! ›Comic Sans‹ ist seit den Neunzigern ein Witz!‹ Und was sagt Ralf? ›Wir machen das so, und basta.‹ Kannst du dir das Vorstellen, Max? Die ganze Seite ultraprofessionell, und, ich meine, auf das Konzept bin ich echt stolz, und dann, Peng, ›Comic Sans‹ als Headline. Ich hab Ralf gesagt: ›Okay, mach, was du willst. Ich nehme das Geld, aber wehe, du schreibst meinen Namen ins Impressum.‹«

Max stellte Thomas einen Teller Spaghetti vor die Nase. »Parmesan?«

Das war das erste Wort, das ihm über die Lippen kam, seit Thomas die Wohnung betreten hatte. Er drehte sich um und öffnete den Kühlschrank. Die schlabbrige Kleidung schmiegte sich an seinen Körper und Thomas’ Blick glitt, wie schon während des Kochens, von Max’ breiten Schultern den athletischen Schwung des Rückens abwärts und hielt sich an den Hinterbacken fest. Was fanden Schwule an Männern bloß so anziehend? Okay, sie waren muskulöser und irgendwie präsenter als Frauen, verströmten durch ihre Kraft mehr Dominanz …

Max schloss die Kühlschranktür, drehte sich wieder herum und Thomas starrte einen verstörenden Augenblick lang (unabsichtlich) auf die markante Wölbung in seinem Schritt. Donnerwetter! Thomas ruckte hoch und verbrannte auf der Stelle. Max schaute ihm direkt in die Augen.

Thomas schluckte, wandte sich rasch ab und räusperte sich. »Jedenfalls … äh … glotzt mich Ralf dann an wie die Kuh vorm Tor und sagt … ähm … ›Aber klar schreibe ich dich ins Impressum, du hast doch das ganze Design gemacht.‹ Ich – kurz davor, ihm bei lebendigem Leib die Milz zu entfernen – erkläre es ihm noch einmal ganz langsam. ›Ich finde auf Gottes scheiß Planeten nie wieder einen Job, wenn mein Name mit dieser scheißbeschissenen Schrift in Verbindung gebracht wird! Du kannst es dir aussuchen: entweder ›Comic Sans‹ oder mein Name im Impressum. Beides zusammen: Nope!‹«

Max nahm Thomas gegenüber Platz. Er hatte sich ebenfalls eine Portion Spaghetti hingestellt, doch er rührte sie nicht an. Stattdessen stützte er die Ellenbogen auf den Tisch, verschränkte die Hände, und streifte verwirrend sanft mit Nase und Mund über die Fingerknöchel. Er musterte Thomas abwartend und brachte damit den Redefluss ins Schleudern. Die Worte stoben auseinander und ließen sich immer schwerer einfangen.

»Jedenfalls … sagt Ralf …«

»Thomas.« Max sprach den Namen mit zärtlichem Nachdruck aus, und plötzlich war es still. Die Wohnung wirkte wie aus der Welt geholt – an einen Platz im Universum, an dem kein irdisches Geräusch mehr stören konnte. »Wollen wir den Elefanten ansprechen, der im Raum steht?«

»Den …« Thomas’ Herz sackte in den Bauch. Genau davor lief er doch mit seinen Anekdoten von der Arbeit die ganze Zeit davon. Er legte das Besteck zur Seite. Jetzt war ihm der Appetit vergangen. Was gab es denn noch zu sagen? Das Wichtigste war doch schon gesagt, oder?

»Du kannst gerne hier übernachten, bis die Sache mit Sandra wieder eingerenkt ist. Aber wir sind keine … es gibt keine Freundschaft mehr.« Max holte tief Luft. »Am besten, du betrachtest mich als Vermieter oder so, nur dass ich dir kein Geld abknöpfe, natürlich.«

Wums. Warum schabte Max nicht gleich mit einem Löffel Thomas’ Eingeweide aus dem Bauchraum?

»Ich habe kein Problem damit, dass du … dass du … schwul bist.«

Der Augenaufschlag! Ein Blinzeln in Zeitlupe. Die Wimpern flatterten gleich Schmetterlingsflügel, lüfteten den scheuen Schleier und ein Blick von ungeheurer Intensität traf Thomas’ Seele und beleuchtete wie Scheinwerfer das, was er zu verstecken suchte. Max wusste es. Er wusste, dass Thomas der Kuss gefallen hatte. Wie auch immer, er konnte es sehen.

»Ich weiß, dass das nicht dein Problem ist.«

Wie er das sagte. Als wüsste er mehr als Thomas. Als hätten ihm schon vor tausenden Jahren Urahnen unter der Auflage der Verschwiegenheit alles Nennenswerte über ihn verraten.

»Dann verstehe ich nicht, wieso wir nicht weiterhin Freunde sein können.«

Max betrachtete Thomas’ Mund und leckte sich über die Lippen. »Du weißt warum.«

Weil du mich liebst?

Thomas rutschte hin und her. »Für mich hat sich nichts geändert.« Lügner.

»Spiel nicht den Gönner. Es geht nicht darum, ob du mich akzeptierst oder meine Gefühle für dich okay findest.« Max atmete tief durch. »Ich kann so nicht mehr weitermachen.«

»Aber … das geht doch irgendwann vorbei. Ich meine … willst du unsere Freundschaft wirklich auf Spiel setzen, nur weil du …?«

Max lächelte gequält und schüttelte den Kopf. »Es geht nicht einfach vorbei.«

»Doch! Das flaut bald ab, und am Ende bleibt dann doch wieder die Freundschaft übrig.« Thomas lehnte sich gerade sehr weit aus dem Fenster, aber das musste sein, wenn er Max als Kumpel behalten und ihn aufbauen wollte. »So ist es mir mit Sandra auch ergangen. Es wird alles zur Gewohnheit und dann unterscheidet sich nichts mehr von einer Freundschaft – im Gegenteil. Das mit uns beiden war sogar immer weit mehr … und … also … es muss nur ein bisschen Zeit vergehen, dann ist alles wieder beim Alten.« Hier in der Küche wurde es verdammt heiß.

»Du irrst dich. Es flaut nicht ab.« Max blinzelte, als hätte er etwas im Auge, und seine Stimme klang kratzig. »Es wird von Tag zu Tag schlimmer.«

Thomas schluckte. »Seit wann bist du denn … na ja, du weißt schon.«

Max stierte auf die Tischplatte, als stünde es dort geschrieben. »Fünf.« Er schaute hoch, streifte Thomas’ Blick – flüchtig, scheu, beschämt. »Fünf Jahre.«

Ach du liebe Scheiße!

Thomas stieß im Reflex unabsichtlich gegen das Tischbein und brach sich dabei fast die Zehen. Er musste weg hier, aufstehen, raus, Luft holen, irgendetwas, nur bloß nicht hier sitzen bleiben. Nicht vor einem Typen, der seit fünf Jahren in ihn verknallt war und es fertigbrachte, jeden einzelnen verdammten Tag um ihn herum zu sein, ohne etwas davon durchblicken zu lassen, ohne etwas zu sagen. Der aus Liebe die Beziehung seines Angebeteten reparierte, ohne selbst Anspruch auf Glück zu stellen. Sandra hatte recht. Max war ein Freak. Das war zu viel. Das war nicht bloß ein bisschen Verliebtsein, das nahm krankhafte Ausmaße an.

Thomas sprang hoch und blieb einen Moment lang unschlüssig in der Küche stehen, dann stürzte er über den Flur ins Zimmer. Dem einzigen Zimmer. Max schlief auf einem ausziehbaren Sofa. Der einzigen Schlafgelegenheit in dieser Wohnung. Fünf Jahre. Das war total verrückt. Thomas fühlte sich bereits wie ein Olympiasieger, weil er mit Sandra seit fünf Jahren zusammen war. Aber er bekam etwas dafür. Max erhielt nichts. Wie machte er das? Wie hielt man die Gefühle so lange aufrecht, ohne die geringste Aussicht auf Hoffnung?

Der Blick auf das Bettsofa beunruhigte Thomas. Wie hatte er vergessen können, dass er neben Max würde schlafen müssen? Das ging nicht. Nein. Auf gar keinen Fall. Er konnte nicht das Bett mit einem Mann teilen, der sich seit fünf Jahren nach ihm verzehrte. Völlig ausgeschlossen. Was, wenn er sich vergaß – wenn sich die aufgestauten Gefühle Bahn brachen … Fünf Jahre!

Thomas lief hin und her, wie ein Tier, das man in die Enge getrieben hatte. Das war er auch. Max hatte ihn in die Enge getrieben. Die Wut schäumte durch Thomas’ Adern und er ballte die Fäuste. Max hatte ihm etwas vorgemacht. Fünf verflucht beschissene Jahre lang! Sie waren Freunde, verdammt, beste Freunde! Belog man sich da in einer so wichtigen Angelegenheit? Thomas fühlte sich wie ein Idiot. Er war immer offen gewesen, hatte Max all die peinlichen Dinge erzählt, die man seinem besten Freund anvertraute. Und Max? Er war sauber. Rein. Er hatte keine peinlichen Dinge. Er war so scheißperfekt, dass Thomas ihm sogar eine Persönlichkeitsstörung unterstellt hatte. Dabei hatte Max bloß die ganze Zeit ein Spielchen gespielt.

Das war verachtenswert!

Thomas stürzte aus dem Zimmer und rannte den Scheißkerl im Flur fast über den Haufen.

Max war bleich. Sogar die Lippen hatten an Farbe verloren. Nur die Lider waren gerötet und unter den schreckgeweiteten Augen vertieften sich die Schatten. Er lehnte sich mit der Schulter gegen den Türrahmen, als hätte er Angst umzukippen, und wischte nervös die Handflächen über die Hose.

»Fünf Jahre!« Thomas rang um Luft. »Scheiße! Fünf Jahre! Bist du Irre? Fünf Jahre – und du sagst nichts?«

»Was hätte es gebracht?«

»Wie … ›was hätte es gebracht?‹ Ich dachte, wir wären Freunde. Denkst du nicht, es wäre mein gutes Recht, so etwas zu erfahren?«

Max zuckte bei jedem Wort zusammen. »Um was zu tun? Mich anzufahren?«

»Wieso sollte ich dich …« Scheiße.

Thomas musterte Max von Kopf bis Fuß. Da stand ein Fremder vor ihm. Der Freund, wie er ihn kannte, hatte nie existiert. Max war nichts weiter, als die Schablone eines Versteckspiels. Was ihn am meisten bewegte, hatte er vor Thomas verheimlicht. Bis jetzt.

»Und warum rückst du jetzt damit heraus?«

»Weil ich dich verliere.«

Thomas verlor auch – und zwar den Boden unter seinen Füßen. Die Schwerelosigkeit griff nach ihm und ihm wurde schwindelig. »Nur, weil Sandra und ich … ein bisschen Abstand brauchen?«

Max senkte den Blick.

»Wieso hast du das überhaupt so lange mitgemacht? Du hättest schon viel früher einen Rückzieher machen müssen. Warum, zur Hölle, ziehst du den Scheiß so lange durch?«

»Ich wollte in deiner Nähe sein.«

Über Thomas’ Rücken kribbelte Gänsehaut. »Auf diese Weise?«

»Das ist alles, was ich kriegen kann.« Max schaute hoch. Sein scheuer Wimpernschlag jagte Thomas’ Puls hoch. Der zärtliche Blick weckte die warmen Gefühle, die der Kuss ausgelöst hatte, bis sie plötzlich ganz nah waren, sich entblößten und weit öffneten. Sie erschienen auf einmal so natürlich und selbstverständlich, waren willkommen.

Thomas leckte sich über die Lippen, sein Atem jagte dem Herzschlag hinterher. Was geschah hier? Es war, als hätte sich eine Blase über Max und Thomas gestülpt, draußen die Welt mit all ihren Unmöglichkeiten, und hier drin … Zuneigung. Die Angst war fern, tobte außerhalb des Kokons, hämmerte gegen die Wände, konnte nicht herein.

Thomas streckte die Hand aus und strich über Max’ Schulter weiter bis in den Nacken. Er zog ihn sanft zu sich und Max wehrte sich nicht, kippte geradezu dankbar gegen Thomas’ Brust. Dabei ließ er die Arme baumeln und vergrub sein Gesicht an Thomas’ Hals. Seine Bartstoppeln kratzten.

Thomas schloss die Augen und drückte die Nase in Max’ Haar. Wie vertraut ihm der Geruch doch war, dabei hatte er nie bewusst darauf geachtet! Er schlang die Arme um seinen Freund – musste ihn an sich drücken, spüren, wissen, wie er sich anfühlte.

Da war Kraft, ein kompakter Körper mit harten Muskeln, den man fest anpacken konnte. Max glühte und sein Shirt klebte an seiner verschwitzten Haut.

Ein Gewicht schob sich zaghaft in Thomas’ Rücken. Hände. Max schmiegte sich vorsichtig an ihn ran, erwiderte die Umarmung.

»Du hast mehr verdient.« Thomas flüsterte die Worte so nah an Max’ Ohr, dass er es beinahe mit den Lippen berührte. »Aber ich bin der Falsche. Ich kann es dir nicht geben.«

Max versteifte sich. Seine Hände rutschten abwärts, bis sie wieder herunterbaumelten.

»Lass uns Freunde sein. Lass uns ehrlich sein. Lass uns von vorn anfangen.« Thomas stieß unabsichtlich gegen Max’ Ohr und wurde von Verlangen gepackt – der Versuchung, es noch einmal zu berühren. Er leckte sich über die Lippen und berührte dabei, wie zufällig, mit der Zunge die Ohrmuschel.

Max bebte unter einem Schauer und sog hörbar Luft durch die Zähne. Heißer Atem kletterte über Thomas’ Hals und stellte seine Nackenhärchen auf. Verdammt, das war …

Zaudern und Zögern war gestern. Thomas schnappte nach Max’ Ohrläppchen, saugte es zwischen die Lippen, biss hinein und leckte mit der Zungenspitze die äußere Linie der Muschel entlang. Er drückte Max fester an sich, grub die Finger in sein Haar.

Etwas Nasses glitt über seinen Hals, wurde immer wieder von weichen Lippen umschlossen, die zärtlich an der Haut saugten. Thomas bebte am ganzen Körper, jeder Muskel vibrierte. Er stöhnte leise auf, schloss die Augen und neigte den Kopf zur Seite, bot sich an, wollte mehr. Und Max gab ihm mehr. Er fuhr mit den Händen über seinen Rücken und zeichnete mit den Fingern jede Furche nach. Abwechselnd hauchte er ihm seinen heißen Atem über den Hals, leckte über Thomas’ empfindsame Haut und saugte sie zwischen die Lippen.

Das fühlte sich verdammt gut an. Längst kribbelten nicht bloß Thomas’ Hoden – seine Erektion presste sich gegen den Hosenstall. Darüber konnte Thomas glatt die ganze Welt vergessen. Trieb und Gewohnheit ließen ihn das Becken gegen den anderen Körper drängen, ihn spüren, was die Zärtlichkeiten anrichteten.

Er rammte etwas Hartes.

Schlagartig war er wieder nüchtern, der Rausch der Leidenschaft verpufft. Es war Max’ Ständer, den er durch die Jeans hindurch an seinem Schritt spürte.

Oh! Mein! Gott!

Vor lauter Scham und Peinlichkeit ging Thomas fast in Flammen auf.

Er rückte mit den Hüften zuerst ab und bemühte sich, Max nicht ganz so grob von sich zu schieben, wie ihn verlangte – aber er tat es mit deutlichem Nachdruck.